Aufmerken: Was heisst Aufmerksamkeit? – Bedeutung und Geschichte der Aufmerksamkeit

Loader Wird geladen …
EAD-Logo Es dauert zu lange?

Neu laden Dokument neu laden
| Öffnen In neuem Tab öffnen

Download [162.00 B]

 

 

Aufmerken: Was heisst Aufmerksamkeit?1 – Bedeutung und Geschichte der Aufmerksamkeit

 

Erste Vorlesung

I          Vergleichende  sprachanalytische  Klärung: Was heisst

“Aufmerksamkeit” und was heisst “aufmerken”

  1. 1. in der persönlichen Erfahrung und individuellen Verwendung  des Wortes,
  2. in der Bedeutung der Synomina,
  3. in anderen Sprachen der europäischen  Geistesverwandtschaft,
  4. in der unterschiedlichen  substantivischen und verbalen Bedeutung

I 1.   Welche Bedeutung hat der Begriff “Aufmerksamkeit” in individueller Hinsicht?

Womit verbindet sich das Wort? Ist “Aufmerksamkeit” mit Kindheitserfahrungen verknüpft?

– oder erst später (a) begrifflich, (b) als Forderung oder ( c) als Bedürfnis bewusst geworden? Wann und in welchem Zusammenhang?

 

I 2.   Synonima von

–  “Aufmerksamkeit”:   Achtsamkeit Beachtung Andacht Apperzeption Erstaunen Sorgfalt Besonnenheit Bedächtigkeit Wachsamkeit Konzentration

– “aufmerken”:   merken, kapieren, wahrnehmen, aufpassen, erwägen, ermessen, abschätzen, achtsam sein, acht geben, acht haben, beachten, sorgsam sein, Sorge tragen, höflich sein, nachdenklich sein, bedenken, sich konzentrieren

I 3.  Ausdruck von “Aufmerksamkeit” in Sprachen lateinischer Etymologie, die in der Schweiz häufig gebraucht werden:

Lateinisch   “attentio” – attentus,  attendere

Französisch  “attention” – contention; etre attentif; attente, attendre; empressement, concentration

Italienisch    “attenzione” – far attenzione, stare attento; premura, cortesia (interessanterweise auch im Isländischen  “kurteisi “)

Spanisch      “atencion” – prestar atencion, estar atento, vigilar sobre, tener cuidado, fijarse Portugiesisch  “atencäo” – prestar atencäo, chamar atencäo; deferencia; tomar cuidado,vigiar Englisch      “attention” – attentive, mindful, observant; pay attention, note, spy

Die etymologische  Bedeutung (gr.  “etymos” – “eteos”: wirklich, wahr; “logos”- Wort, Lehre Kunde) von “Aufmerksamkeit” in der Ableitung aus dem Lateinischen  beruht auf dem Wortsinn von “at”-“tendere” (an-)spannen,  (aus-)richten. Das Substantiv  “attentio / attentionis bedeutet in erster Linie Spannung, in zweiter Aufmerksamkeit. Der bildhafte Ausdruck  “animum ad cavendum attendere” hat die Bedeutung von sinnen,  “ad cavendum attendere” heisst beachten, acht geben, merken und aufmerken.  Schon im Lateinischen findet sich in der verbalen Verbindung von “attendere” und  “cavere” (- caveo,  cavi,  cautus: anschauen, sich vorsehen, sich hüten, in acht nehmen; vorsorgen,  Fürsorge treffen,  sichern, sicherstellen,  Gewähr leisten) das grosse Bedeutungsraster  von Aufmerksamkeit, das im Wort selber und in den Synonyma zum Ausdruck kommt. Ein wichtiger Teil dessen, was bei der Anwendung  des Wortes gemeint ist, wird somit über dessen Herkunftsbedeutung – dessen genetische Geschichte – vermittelt.

“Aufmerksamkeit”  lässt sich somit verstehen als Anspannung einzelner- oder aller-Befähigungen der menschlichen Wahrnehmung  zum Zweck der Ausrichtung des Menschen in seinem Subjektwert auf die Vielzahl der ihn umgebenden  und sich auf ihn ausrichtenden Kräfte (ob von Aussen oder von Innen), denen er als Objekt ausgesetzt ist, mit dem Ziel, über Empfindung  oder Erkenntnis  spüren oder wissen zu können, wie das Verhalten oder das Handeln zu entscheiden  ist.

Auf die Bedeutung auf Grund der etymologischen  Klärung will ich näher eingehen. Die menschlichen  Fähigkeiten der Wahrnehmung- die sinnesmässigen (des Sehens, Hörens und Riechens, der körperlichen Berührung),  die empfindungs- und gefühlsmässigen (Hunger, Durst, Neugier, Freude, Betroffenheit,  Glück oder Angst, Sorge, Schrecken, Traurigkeit, Todesangst, innere Lähmung), welche die nervlichen (neurologischen)  Reaktionen bewirken (Entspannung und Entlastung oder Anspannung, Abwehr, Unruhe, Depressivität und Aggressivität),  sodann die intellektuellen,  welche das Erkennen, Denken, Urteilen und Entscheiden möglich machen. Alle diese Fähigkeiten

verbinden  sich mit der Tatsache, dass der Mensch als Subjekt sich ausrichtet auf das, was um ihn und in ihm geschieht, dass er sich dabei anspannt, um aufzunehmen und zu begreifen, was die Bedeutung dessen ist, was er aufnimmt und wahrnimmt, ob es gut und wohltuend sei, oder schlecht, widerlich oder gar bedrohlich. All dies verbindet sich mit “Aufmerksamkeit”, deren schon das kleine Kind – vermutlich  schon das Kind in der pränatalen Phase – fähig ist, da es deren bedarf, um sich selbst zu schützen, um den Blick auf sich und seine Bedürfnisse zu lenken resp. um beachtet zu werden, um seiner Neugier gerecht zu werden und seinem Wissenshunger nachzukommen.

I 4.  Die Bedeutung der substantivischen  und der verbalen Aussage

Die Untersuchung  der Synonyma ermöglicht es, Unterschiede sowohl in der Sinngebung wie zwischen  der substantivischen  und der verbalen Aussage von “Aufmerksamkeit”, von “aufmerksam sein” und von “aufmerken” zu erkennen. Fritz Mauthner ging in seinen “Neuen Beiträgen  zu einer Kritik der Sprache'” gerade auf diese Unterschiede  ein. Er hält fest, dass “an dem Substantiv Aufmerksamkeit alle Definitionsversuche  scheitern mussten,  weil niemand zu sagen vermochte, ob es ein Zustand oder eine Tätigkeit, ein Gefühl oder eine Leistung  sei; weil nicht einmal ein Oberbegriff feststand, unter den man etwa diese Tätigkeit hätte einordnen können”3

Als Beispiel geht Fritz Mauthner auf den Lehrer ein, “der dem Schüler eine Zensur über den Grad seiner gewohnten Aufmerksamkeit erteilt; er hat natürlich von diesen Schwierigkeiten keine Ahnung. Der Lehrer weiss nicht, dass Aufmerksamkeit und Zerstreutheit  die subjektive und die objektive Seite des gleichen Zustandes sind, dass man aus lauter Aufmerksamkeit für seine besonderen Interessen zerstreut sein kann für die allgemeinen Schulinteressen,  dass Talent Aufmerksamkeit ist, aber nicht immer Aufmerksamkeit für die geforderten Interessen.  ( … ) Es gibt in der Wirklichkeitswelt überhaupt keine – heiten und – keiten, auch keine Aufmerksamkeit. Es gibt in der psychologischen Wirklichkeit nur eine besondere Arbeitsleistung,  die wir nach mangelhafter  Selbstbeobachtung aufmerken nennen. Das ganz unklare Gefühl, das diese Arbeit zu begleiten pflegt, wird gewöhnlich unter dem Substantiv Aufmerksamkeit verstanden. Wenn dieses Gefühl ausbleibt und wir dennoch aus den Folgen darauf schliessen, dass wir aufgemerkt haben, dass wir ohne Aufmerksamkeit aufmerksam waren, dann redet die Wissenschaft von passiver Aufmerksamkeit'”.

Was Fritz Mauthner unterscheidet, ist einerseits das über die Sinnesorgane- über das Sehen, das Hören, das Riechen, das Berühren und Spüren – geweckte aktive Aufmerken,  das einem bestimmten  Interesse entspricht, wodurch ein Erkennen und Handeln bewirkt werden kann, andererseits  das passive Aufmerken,  das sich nicht auf den Intellekt auswirkt, sondern auf Empfindungen  und damit auf ein Verhalten, das mit Sorgfalt und Achtsamkeit,  oder mit Sicherheit, mit Mut, eventuell mit Angst im Sinn der Defensive oder mit Aggression einhergeht. Der erste Teil von Mauthners Unterscheidung  gehört einerseits zum Forschungsbereich der Physiologie und Neurologie, andererseits zu jenem der Philosophie  im Zusammenhang der Erkenntnistheorie.  Der zweite Teil deckt sich mit der geheimnisvollen Kraft des Unbewussten,  die für die Psychoanalyse  von grosser Bedeutung ist.

Es ist somit weniger die substantivische  Aufmerksamkeit, die für Fritz Mauthner im Mittelpunkt seiner sprachkritischen Untersuchungen  steht als das passive und das aktive Aufmerken.

Für Mauthner geht jeder verbale Ausdrucks nicht nur mit einem Tun, sondern mit einer Arbeitleistung  einher. Jede Arbeitsleistung  in diesem Sinn steht in Verbindung mit existentieller  Sinngebung. Aufmerken im aktiven Sinn hat für Mauthner eine analoge Bedeutung wie sich erinnern.  Beide Verben bringt er in Verbindung mit wollen, d.h.  es geht um “Tätigkeiten, die wirklich sind, insofern Verben überhaupt wirklich sind.( … ) Wenn ein Gegenstand der Umwelt mein Interesse erregt hat, so kann sich meine Arbeitsleistung  darauf beschränken,  ihn zu apperzeptieren,  ihn zu begreifen, oder ich kann den Willen empfinden,  ihn zu ergreifen. Man denke z.B.  daran, wie die Muskeln und Nerven des Sehapparates fein zusammenarbeiten  müssen, damit das Kind einen Schmetterling auf den Fleck des deutlichsten Sehens bringen, ihn genau wahrnehmen, ihn als die gesuchte seltene Species erkennen, ihn begreifen könne. Wie nachher die Muskeln und Nerven der Beine und Arme arbeiten müssen, will das Kind den Schmetterling als Beute ergreifen.  Unser Aufmerken geht also auf die Gegenwart,  Wollen auf die Zukunft”5

Es ist tatsächlich so, dass jede verbale Aussage sich mit der Zeit verknüpft,  ob mit der Zeit, die mit der aktuellen, mit der nicht mehr aktuellen oder mit der noch nicht aktuellen Wirklichkeit konnotiert ist, oder ob mit der  Zeit, die von Bedingungen  abhängig ist und damit zur Eventualität wird:  ob mit dem flüchtigen Moment, den wir Gegenwart  nennen, ob mit der vergangenen, eben vergangenen  oder vorvergangenen Zeit, ob mit der bevorstehenden,  die Zukunft heisst. Dass Aufmerken sich auf die Gegenwart bezieht, wie Fritz Mauthner schreibt, heisst, dass es sich dem Warten entgegenstellt, dass es dabei um den Augenblick  geht -Augenblick im eigentlichen Sinn des Wortes, was Wahrnehmung durch den Blick der Augen meint, im analogen Sinn auch Wahrnehmung  von Laut oder Ton durch die Ohren, die hören, von Duft und Geruch über die Nase, die beim Einatmen auch riecht, von Geschmack, der mit der Zunge aufgenommen wird, von Wahrnehmungen, welche durch Berührung von der Haut vermittelt wird. All dies macht deutlich, dass Aufmerken eine vielfache und vielschichtige,  komplexe und zugleich subtile Kraft der Wahrnehmung  und der Vermittlung weiteren Handelns bedeutet. Anzunehmen  ist, dass durch das passive Aufmerken – durch das Unbewusste – frühere, zum Teil verdrängte resp. vergessene Wahrnehmungen  das aktive Aufmerken durch die Sinne mitbeeinflussen,  so dass Verhaltens- und Handlungsentscheide möglich werden, die überraschen,  die erschrecken oder die eine klärende Wirkung haben.

Der Bereich verdrängter Erlebnisse und Erfahrungen, der im Unbewussten,  dem verborgenen Bereich der “psyche” schlummert, kann geweckt werden, wenn eine analoge Erfahrung, ob im Traum oder in der Aktualität und Wirklichkeit  des gelebten Lebens, ein Aujinerken fordert. Dass “aufmerken” möglich ist,  setzt voraus, dass Unbewusstes bewusst wird, dass Vergangenes im Augenblick präsent wird. Aufmerken lässt deutlich werden, dass Bilder, Düfte und Töne, Abläufe und Zusammenhänge  von Geschehnissen  und von Empfindungen,  die zurückliegen  – eventuell weit zurückliegen-, als Er-Innerung gewahrt wurden, jedoch verschlossen oder zugedeckt blieben, solange sie nicht geweckt werden konnten. Dass im “Innern” jedes einzelnen Menschen eine gespeicherte Zeitenabfolge im Sinn von Dauer  besteht, obwohl jeder Mensch der Vergänglichkeit  der Zeit unterworfen ist – eine erstaunliche Paradoxie. Gewiss finden sich dafür Erklärungen  in der neurobiologischen Erforschung der hochkomplexen  cerebralen Potenzen, die das “Gedächtnis”  ermöglichen: das “Gedächtnis”, vom Begriff her ein substantiviertes Partizip, das die Bedeutung einschliesst,  “gedacht” zu haben resp. Wahrnehmungs- und Erkenntnisarbeit – “Denk”arbeit – geleistet zu haben.

Die Erinnerungskraft resp. das Gedächtnis, das dem Menschen  ermöglicht, den Wert jeder Passage des gelebten Lebens erhalten zu können und- eventuell- wiederzugeben,  ist eine der erstaunlichsten und geheimnisvollsten  geistigen Kräfte, die dem Menschen zustehen”. Die sokratische Erklärung der dem Zeitlichen enthobenen, der Vergänglichkeit  nicht ausgesetzten  “psyche” mag in der Verbindung von Unbewusstem und von Bewusstsein dieser je individuellen, nicht austauschbaren  Bedeutung von Erinnernkönnen und von tatsächlichem Erinnern näherkommen  als die wissenschaftlichen Erklärungen der neurobiologischen Prozesse7

Sie stimmt überein mit jener Aufmerksamkeit, die sich auf das Vergangene bezieht, so dass was nicht mehr ist, wieder erscheint und präsent ist. Aufmerksamkeit in diesem Sinn wird damit Synonym von Vorstellung resp. Vorstellungskraft ( s. 2. Vorlesung).

1     Vortrags- und Gesprächszyklus   an der Universität Bern, Salongespräche am Falkenplatz  WS 2004-2005

2  Fritz Mauthner.  Wörterbuch  der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Diogenes  Verlag, Zürich  1980 (Nachdruck  der Erstausgabe von 1910/11)

3   a.a.O. Bd.  I, S. 61

4  a.a.O. Bd. I, S. 62

5  ibid.

6 cf.  Genesungsmöglichkeiten nach Apoplexie,  auch Bedeutung von Gedächtnis  in der analytischen Traumatherapie.

7  Dazu mehr unter II.

 

Was heisst Aufmerksamkeit?[1]

 In der antiken Philosophie vom Staunen und Wahrnehmen über die Tugend zur Skepsis

  1. Vorlesung

 Die europäische Philosophiegeschichte fand ihre Anfänge in der griechischen Denkgeschichte. Jede philosophische Auseinandersetzung – in der Erkenntnistheorie und Logik, in der Ethik und Ästhetik, in der Existenzphilosophie, in der Psychologie und Theologie, in den Staats- und Naturwissenschaften – hat sich im Lauf der Jahrhunderte auf den einen oder den anderen Teil dieser Anfänge abgestützt und tut dies heute noch, als ginge es um das Ergründen und Belegen der geschichtlichen Ressourcen des Denkens, in allem, was Denken bedeutet: Staunen und Fragen, Erkennen und Weiterfragen, Folgern, Schlüsse ziehen, kritisch Erforschen, Suchen und Bohren, Entschlüsseln und Verarbeiten, weiter Fragen und Suchen nach Erkenntnis, vielleicht sogar nach Wissen.

So geht auch der Begriff der Aufmerksamkeit in die Ursprünge des frühhellenischen Denkens zurück, in welcher der Wandel vom mythologischen (“my”- “mu” – lauten, tönen; “legein”  – sagen, sprechen, erklären) ins abstrakte Sprachvermögen geschah, in die Philosophie, über religionsähnliche Wege, insbesondere die orphische Theogonie und Kosmogonie, die sich jedoch nicht zu einer zeitüberdauernden Religion entwickelte.

I          Aufmerksamkeit im Streben nach Erkenntnis

      I 1.      Orpheus und Eurydike

Orpheus hatte vermutlich noch vor dem 6. Jahrhundert v.Chr. in Thrakien tatsächlich als Sänger sowie als Lehrer und Vermittler in schwierigen Situationen gelebt und war eines tragischen Todes gestorben.  Im Mythos wurde er als Sohn des thrakischen Flussgottes Oiagras (oft auch als Sohn von Apollon, dem Zwillingsbruder von Artemis) und der Muse Kalliope verehrt, der dritten unter den neun Schwestern, die als Töchter des Zeus die musischen Kräfte der Menschen schützen. Interessanterweise galt Kalliope nicht als Muse der Saitenmusik, obwohl Orpheus, ihr Sohn, über die betörende Kraft der Musik – der Kithara – verfügte, sondern wurde als Muse der epischen Dichtung (resp. der rhythmisch oder metrisch gebundenen Sprache) und der Wissenschaft verehrt und mit Tafel oder Buchrolle und Griffel in der Hand dargestellt.

Dass Orpheus dank seiner göttlichen Herkunft mit dem Rhythmus und dem Ton seines von der Kithara begleiteten Gesangs vermochte, die Aufmerksamkeit der Pflanzen und Tiere, der Winde und Wellen bei der Fahrt der Argonauten nach Kolchis auf sich zu lenken und so das Leben der abenteuerlichen Helden zu schützen – auch Jason’s Leben, dem Medea zur Eroberung des Goldenen Vlies’ verhalf, der ihr Ehemann wurde und den sie aus Verzweiflung ermordete -, dass Orpheus mit seinen innigen und rhythmisch atembewegenden Tönen sogar Hades’ Aufmerksamkeit gewinnen und diesen über die Verstorbenen waltenden Gott der Unterwelt bewegen konnte, Eurydike, seine geliebte, durch den Biss einer Schlange vergiftete und getötete Frau, wieder dem Leben in der Oberwelt und seiner Liebe zu überlassen[2]. Eurydike wurde von Hades zugestanden, die Welt der Toten wieder zu verlassen, unter der Bedingung, dass Orpheus ihr vorausginge und sie ihm folgte, ohne dass er sich nach ihr umwandte. Hades verlangte von Orpheus gegenüber dieser Bedingung die gleiche Aufmerksamkeit, die er dem Ausdruck seiner seelischen Bedürfnisse gegenüber gezeigt und durch die Freigabe von Eurydike bewiesen hatte. Doch Orpheus war in seiner Menschlichkeit dazu nicht in der Lage, er versagte, wandte sich um, um der Erfüllung seiner Sehnsucht sicher zu sein – und verlor dadurch Eurydike für immer. Sie gehörte fortan der Unterwelt an. Was blieb war die Fortsetzung der Liebe zu ihr über die Trauer, die Orpheus schliesslich zerriss. (Gemäss der Mythologie waren es die Mänaden, die im Auftrag von Dionysos Orpheus zerrissen).

Trotz dieses menschlichen Versagens wurde Orpheus, der seiner inneren Sprache der Trauer, der Sehnsucht und der Liebe eine überzeugende, ja überwältigende Umsetzung in den richtigen “Ton” geben konnte, der dadurch des Totengottes Aufmerksamkeit gewinnen und das Unmögliche in Mögliches – Tod in Leben – verändern konnte, die Bedeutung des wundertätigen, in Freundschaft und Liebe verlässlichen Gottessohnes gegeben. Nach seinem Vorbild entstand die orphische Lehre, die sich über die griechischen Siedlungsgebiete im Mittelmeer, insbesondere über Sizilien und Unteritalien ausbreitete, zu deren zentralen Regeln die Aufmerksamkeit und Achtung vor dem Leben gehörte (die u.a. die rein vegetarische Ernährung zu beachten verlangte).

Die Unterschiedlichkeit des über Generationen erzählten Mythos von Orpheus ging einher mit dem individuell menschlichen Suchen nach der Bedeutung von Leben und Tod. Dazu gehörte einerseits das Erlernen der “Behutsamkeit” (gr. eulabeia), der inneren Akzeptanz des geheimnisvollen, vom Göttlichen dem Menschlichen auferlegten Ordnungssystems, eine Entwicklung, die in den religionswissenschaftlichen Untersuchungen von Karl Kerényi[3] mit der römischen “religio” – ursprünglich “gewissenhaftes Beachten  von Heiligem” – ziemlich übereinstimmt. Andererseits ging die Auseinandersetzung mit dem Mythos mit der frühesten, alltagssprachlichen Bedeutung von “philosophia” einher.

I 2.     Philosophie – “Ausgerichtetsein auf das Aneignen von Wissen”

Gemäss Wolfgang Schadewaldt[4] ist “philosophia” geprägt vom “Ausgerichtetsein auf das Aneignen von Wissen”[5], resp. von der spürbaren, inneren Spannung des Aufmerkens: was erzählt wird, soll geprüft werden. So wird z. B. in den orphischen Fragmenten die Erkenntnis vom “Leib als dem Gewahrsam der Seele”[6]  wiedergegeben.  Was im Mythos sich mit Orpheus’  Schmerz über den Tod der geliebten Eurydike verbindet, ist einerseits die Erkenntnis der Verbindung von Körper und Seele im Menschen, andererseits die Tatsache der Sterblichkeit des Menschen in seiner Körperlichkeit, schwer erträglich, mit Auflehnung verbunden, jedoch nicht korrigierbar, gleichzeitig die Tatsache der Unsterblichkeit der Seele, spürbar in der Fortsetzung der Verbindung mit einem Menschen über den Tod hinaus durch die Liebe. Was auf mythologischem Weg über Leben und Tod, über den Wert menschlicher Existenz und über die Kraft der Liebe erzählt wird, wird durch die Religion zur gläubigen Annahme und zum Gebot der Befolgung erklärt, auf philosophischem Weg dagegen “hinterfragt”, resp. auf das Überindividuelle hin befragt, beantwortet und von neuem befragt. Es geht in der Philosophie, wie sie sich in jener Zeit zu entfalten begann, um fortgesetzte Aufmerksamkeit dem menschlichen Bedürfnis gegenüber, dem “nomos” menschlichen Lebens näher zu kommen, dem allgemein gültigen “Gesetz”, das die Welthaftigkeit und den Zusammenhang von Weite, Höhe und Ort, von Anziehungskraft, Schwere- und Schwebezustand, von Erde, Wasser und Luft, vom Unbekannten des Erdinnern, das sich im vulkanischen Ausbruch äussert, von Feuer, Donner und Blitz, von Licht und Dunkelheit regelt, dem auch das menschliche Erdenleben untersteht. Es ging um ein erstes kritisches Hinterfragen der menschlichen Empfindungen, welche die Handlungsentscheide beeinflussen, Angst und Schmerz, Leid und Wohlbehagen; es ging um ein erstes Unterscheiden zwischen dem Nicht-Wählbaren im menschlichen Leben und der Möglichkeit zu wählen; es ging um eine Benennen des Erkennbaren und Regulierbaren, dessen, was Freiheit und was Erkenntnis bedeutet, das sich auch hinter den Schwierigkeiten und den erforderten Gesetzen des Zusammenlebens der Menschen befindet, das auch den Geheimnissen der Sprache zugrunde liegt – jenen von Ton, Zeichen und Bild, von Worten und Regeln des Verstehens.

Kerényi geht in seinen Untersuchungen vor allem auf die Aufzeichnungen ein, die von Hesiod, von Pindar und Heraklit erhalten blieben, in welchen wegen der Schlechtigkeit der Menschen vor allem die Anerkennung des göttlichen “nomos” gefordert wurde, die u.a. mit dem Königtum die Wiederspiegelung der Weltherrschaft von Zeus[7] deutete. Auch Kerény war sich bewusst, dass die religiöse Erklärung und gläubige Unterwerfung der Komplexität des menschlichen Wissenshungers nicht genügen kann. Bei Schadewaldt findet sich der Hinweis auf Herodot I 30, auf eine der frühesten Stellen, wo von Solon (643-559 v.Chr.), einem Vorfahren von Platons Mutter Periktione – mithin einem Vorfahren Platons -, gesagt wird, er sei über die Erde gegangen nicht wie ein Handelsmann, um äussere Zwecke zu erreichen, sondern als “philosophéon” d.h. aufmerksam auf die Welt, die er in Freiheit zu erkennen wünschte. Solon wurde zu einem der ersten grossen Gesetzgeber, die den Ausgleich zwischen den Mächtigen und den Schwachen, zwischen dem Adel, den Händlern und den Bauern anstrebte, entgegen den willkürlich erlassenen Gesetzen rivalisierender Machthaber, die sich ablösten und deren Folgen, geprägt von Ungerechtigkeit und Gewalt, seiner Aufmerksamkeit nicht entgingen.

Aufmerksamkeit bedeutete somit in der vorsokratischen Zeit, über das vielfältige Aufmerken und Staunen zum Erkennen eines Regelsystems zu gelangen, durch welches das individuelle Leben – der Sinn des Existierens -, das In-der-Welt-Leben und das gemeinsame Leben im ehelichen, familiären und staatlichen Beziehungsgeflecht, in der Freundschaft und in der Feindsituation nicht nur für einen einzelnen, sondern für alle Menschen ertragbar werden konnte. Aufmerksamkeit bewirkte somit in der Verbindung von Intellekt, von “psyche” (Seele) und  “soma” (Körper) ein Achten auf die warnende und die fordernde Kraft der Triebe und des Willens, auch auf die hemmende oder ausgleichende und heilende Kraft der Gefühle, ebenso im Bereich des Denkens auf die erkennende, die benennende und die regulierende Kraft des Verstehens und Entscheidens, im Bereich des Handelns auf die Widersprüchlichkeit und die Nichtübereinstimmung der Erklärungen des Richtigen und des Falschen.

Der zeitliche Rahmen ermöglicht nicht, auf die zugleich aufklärerische, rigurose und manchmal oberflächliche Entwicklung der Sophistik einzugehen. Auch die vielen Denker, Tragödiendichter und Historiker dieser Zeit müssen ausgelassen werden (mit Ausnahme von Euripides, auf welchen ich in Verbindung mit der Aristotelischen “Ethik” kurz eingehen werde). Im Zusammenhang der Bedeutung von Aufmerksamkeit drängt es sich auf, insbesondere die sokratische Zeit zu beachten. Die Untersuchung von Platons Geschichte und Werk ermöglicht einen ersten Konnex mit unserer Aktualität.

Die Zeit des Übergangs vom fünften zum vierten Jahrhundert vor der christlichen Zeitrechnung, als Platon in Athen zur Welt kam (im Jahr 427 v. Chr.), dort heranwuchs und gegen 90 Jahre alt wurde, war eine Zeit voller Kriege und politischer Wirren gewesen, voller Intrigen und gegenseitigem Betrug der Mächtigen und Machthungrigen, voller Ausdehnungs- und Beherrschungswünsche im Mittelmeerraum und weit darüber hinaus.  Platon hiess eigentlich Aristokles, Sohn seines Vaters Ariston und seiner Mutter Periktione, die, wie ich schon erwähnt habe, von Solon (643-559 v. Chr.), dem Nachfolger Hesiods,  abstammte. Solon hatte auf besondere Weise das wache, kritische Denken –  Aufmerksamkeit im Sinn von Aufmerken – wahrgenommen und als Gesetzgeber umgesetzt. Die Bedeutung seines Erkennens gerechter politischer und gesellschaftlicher Ordnung, seines Einsatzes gegen Machtwillkür sowie gegen Herabsetzung der einen Menschen durch andere, seiner Verteidigung des Werts der Arbeit, des Rechts und der Sittlichkeit, bewirkten, dass er verehrt wurde als der männliche Verteidiger der Werte, welche in der Mythologie durch die drei Horen Eunomia, Dike und Eirene, der Töchter des Zeus und der Themis (einer Tochter der Urmutter Gaia), dargestellt wurden. Es waren diese drei Schwestern, welche je einzeln die Gesetzlichkeit, das Recht und den Frieden vertraten, alle drei gemeinsam die Zeit, die etwas reifen lässt und letztlich Reife und Schönheit selbst bedeutet.

I 3.     Platon – die “Betrachtung des Schönen” und das Streben nach Wahrheit

Platon gehörte somit einer gesellschaftlich privilegierten, “von den Göttern” bevorzugten Familie an, deren Familienwert von seiner Mutter geprägt wurde. Sie stellte die schöpferische und gerechte, lebensschützende Kraft des Weiblichen dar. Anzunehmen ist, dass er von seiner Mutter so geliebt wurde und sie so sehr liebte, dass er keiner weiteren Frauenliebe mehr bedurfte oder keiner mehr zugeneigt war, sondern, wie er in einigen seiner Texte festhielt, “die Knabenliebe vergöttlichte”.

In seiner Funktion als Sohn aber wurde der junge Platon von seinem Vater unter Druck gesetzt, dem väterlichen Vorbild in beruflicher  resp. karrieremässiger Hinsicht nachzukommen und Politiker zu werden. Platon, der nicht nur im Geistigen, sondern auch im Sinnlichen hingerissen war von allem, was er als “schön” erachtete – “Wenn es etwas gibt, wofür zu leben lohnt, dann ist es die Betrachtung der Schönheit” (Symposion  211 d) – hatte Mühe, dem ihm als Pflicht auferlegten Streben nach Erfolg nachzukommen. Er wünschte, ein Dichter – ein Künstler – zu werden, kam damit jedoch in Konflikt mit sich selbst: mit seinem “daimonion”, seinem Gewissen. Als Nachkomme Solons, als den er sich und sein eigenes Handeln beurteilte, hätte er als Künstler wie als gesellschaftlicher und politischer Karrierist “Gewissensbisse” empfunden.

Dass er das Recht hatte – “Recht” im Sinn von Dike, der mittleren der drei Horen –, sowohl den weiblichen wie den männlichen Teil in sich zu akzeptieren und zu fördern, d.h. sowohl das Streben nach Schönheit wie nach Gerechtigkeit und Ordnung im Staat zu beachten, dass diese Teile in ihm nicht Widerspruch, sondern Ergänzung bedeuteten, ja dass in der Verbindung der unterschiedlichen Kräfte in ihm letztlich sein tiefstes Streben – jenes nach dem Erkennen der Wahrheit des Seins selbst  –  bestand, all dies wurde ihm klar, als er Sokrates (469 – 399 v.Chr.) begegnete. Sokrates konnte den jungen Aristokraten von dem, was “Philosophie” heisst – zugleich Streben nach Wissen und Liebe zur Weisheit –, so überzeugen, dass dieser sich der Philosophie verpflichtete und sich selber als “Philosophen” empfand.

So begann Platon, aufmerksam zu sein auf das, was im praktischen Leben seiner Zeit erfordert war. Im Gespräch mit Sokrates erkannte er, dass es der kritischen und  sorgfältigen Neuorientierung des Staates bedurfte und er begann, sich als Philosoph für die “polis” einzusetzen, für das gute und gerechte Zusammenleben der Menschen in der Stadt und im Staat. “Es entsteht eine Stadt (resp. ein Staat), wie ich glaube, weil jeder einzelne von uns sich selbst nicht genügt, sondern vieler bedarf”[8]. Mit grosser Aufmerksamkeit hatte er die Verfassungen verglichen, ohne eine finden zu können, die sich auf das Gute und Gerechte ausrichtet, resp. auf das, was “philo-sophia” bedeutet. “Denn jedermann glaubt, dass ihm für sich die Ungerechtigkeit weit mehr nützt als die Gerechtigkeit, und glaubt auch recht, wie der sagt, der sich dieser Rede annimmt. (…) Die höchste Ungerechtigkeit ist, dass man gerecht scheine, ohne es zu sein. (…) nachdem wir nun diesen so gesetzt, so lass uns den Gerechten neben ihn stellen in unserer Rede, den schlichten und biederen Menschen (…), der nicht gut scheinen will, sondern sein[9]“. Das heisst, dass “gut sein wollen” sowohl Verzicht auf Schein wie auch Verzicht auf Habgier, auf Neid und Rache bedeutete, ein Streben, das dank dem Erkennen des Seins des Guten dem Wert der Tugend – analog zur wahren Bedeutung von “philosophia” – entsprach. Damit  kam Platon  zum Schluss, dass als “sehende Hüter des Staates Philosophen”[10] ernannt werden müssten, dass dies jedoch voraussetzen müsste, dass Philosophen geachtet würden. Nur so wäre es möglich, dass “Knaben und Kindern auch kindliche Bildung und Weisheit zugestanden würde, damit sie sich vorzüglich Sorge tragen, solange sie wachsen und einst der Philosophie eine dienstbare Hilfe erwerben[11]“. Interessant ist, dass er dabei Frauen und Männern – mit dem Vergleich der weiblichen und der männlichen Schäferhunde – das gleiche Recht auf gleiche Erziehung und Bildung in der Kindheit zuspricht; sie seien zwar vom Geschlecht her verschieden, von den geistigen Anlagen her jedoch gleich. Allerdings komme es den Männern zu, Frauen und Kindern als Schutz zu dienen, da diese schwächer und sie stärker seien[12].

War es eine utopische Idealisierung der Philosophie und der Philosophen? Für Platon galt die Achtsamkeit dem Falschen gegenüber resp. die kritische Auseinandersetzung mit dem trügerischen Schein als Voraussetzung, um der zentralen Aufgabe des Erkennens der Wahrheit des Seins gerecht werden zu können. Daher konnte der Entwurf einer guten “polis” nur sinnvoll sein, wenn der einzelne Mensch als Teil der “polis” nicht nur nach dem Guten strebte gemäss der persönlichen “Lust, da Gutes und Schlechtes dabei auf trügerische Weise als dasselbe erscheinen”[13], sondern ebenso nach der Erkenntnis der Idee und damit des Seins des Guten. “Gutes aber genügt niemandem nur Scheinbares zu haben, sondern jeder sucht, was gut ist, und den Schein verachtet hierbei schon jeder. (…) Was also jede Seele anstrebt und um dessen willen alles tut, ahnend, es gebe so etwas, aber doch nur schwankend und nicht recht treffen könnend, was es wohl ist, noch zu einer festen Überzeugung gelangend wie auch bei anderen Dingen, daher sie aber auch anderes mit verfehlt, was irgend nütze wäre: sollen über diese so wichtige Sache auch jene Besten im Staat so im Dunkeln sein, in deren Hände wir alles geben wollen? – Wohl am wenigsten, sagte er. – (…) Also unsere Verfassung wird vollständig geordnet sein, wenn ein Hüter, der dieser Dinge kundig ist, die Aufsicht über sie führt.”[14]

Gewiss, Platons dialogische Vermittlung von Fragen und Wissen, welche Sokrates als das “Hebammenwerk”[15] des Philosophen verstand, bedurfte immer der Kunst der Sprache,  jedoch nicht gemäss der dichterischen Freiheit im Vermitteln der Affekte, sondern gemäss der reinigenden und klärenden Sorgfalt des Denkens. “Wem auch nur einige Überlegung innewohnt, der muss sehr achtsam sein, um das Ziel seines Lebens zu erreichen”[16]…  Der Achtsamkeit bedurfte es,  um das Richtige vom Falschen zu unterscheiden. Allein die Herrschaft der Vernunft war für Platon Gewähr für die richtige Ordnung der Seele im Entscheiden und Handeln, doch bedurfte es dazu des guten Gebrauchs aller menschlichen Vermögen des Erkennens und Denkens, wie sie im Lauf der von Platon festgehaltenen sokratischen Gespräche und seiner eigenen Werke festgehalten werden: das Erstaunen, wovon Sokrates sagt, es gebe keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen[17], das Wahrnehmen resp. die je persönliche Wahrnehmung, dank welcher das Wahrgenommene und Erkannte “gleichsam ein neugeborenes Kindlein ist”[18], schliesslich die Besonnenheit, die Sokrates im langen Gespräch mit Charmides zuerst von der Bedächtigkeit und von der Scham resp. vom sich Schämen unterscheidet, schliesslich als “Erkenntnis ihrer selbst und der anderen Erkenntnisse” versteht, jedoch vor allem im Wissen des Nichtwissens. Er hielt fest,  “… dass die Besonnenheit ein grosses Gut für die Menschen wäre, wenn jeder das täte, was er wisse, was er aber nicht wisse, anderen überliesse, die es wissen”[19].

Es wundert nicht, dass Platon schliesslich in seiner Überlegung, worin die höchste Tugend bestehe, nach welcher die Menschen streben, die Besonnenheit der Weisheit[20] gleichstellt. Doch diese Erkenntnis genügt nicht. Der Besonnenheit ist die Achtsamkeit nahe, damit das kritische Aufmerken resp. die Aufmerksamkeit, welche vom reinen Erkennen auf das weitergeht, was Massstab für das richtige Handeln bedeutet und dieses vom falschen Handeln, welches Schuld nach sich zieht, unterscheidet. Sokrates’ Gespräch mit Charmides, das Platon aufgezeichnet hat, führt gegen Ende zur – spöttischen oder tragischen – Frage: “Was kann also die Besonnenheit nützlich sein, wenn sie uns gar keinen Nutzen irgend bewirkt?[21]

Die Frage bezieht sich auf die moralischen Kriterien, die gerade in den Kreisen der gesellschaftlichen bevorzugten, reichen Männer, welche das Nichtstun als “Besonnenheit” vorgaben, zwar im theoretischen Rahmen des philosophischen Gesprächs von Bedeutung waren, jedoch im praktischen Leben kaum. Sie drückt somit den Zweifel aus, ob es dank der Besonnenheit ein Aufmerken hinsichtlich der Übereinstimmung in der Beurteilung und Bewertung der eigenen Handlungsentscheide mit den übergeordneten ethischen Werten gebe, oder ob diese bloss im Urteil über fremdes Handeln zum Ausdruck kommen. Den Fragen über Trug und Schein ging Platon in der “Politeia” mit Sorgfalt nach. Sein Schmerz über die Fehlbeurteilung von Sokrates durch die Mächtigen, die zum Todesurteil und zum Tod durch den Giftbecher seines Lehrers führte, “unseres Freundes, des Mannes, der unserem Urteil nach von den damaligen, mit denen wir es versucht haben, der trefflichste war, und auch sonst der vernünftigste und gerechteste”[22], wühlte ihn zutiefst auf.

II      Aufmerksamkeit in der Beurteilung in der Beurteilung anderer Menschen

II 1.   Aristoteles’ Erkenntnis der Paradoxien

Als ich mich im vergangenen Jahr an eine neue Untersuchung der Medea-Geschichte wagte[23], war für mich gerade diese Frage von zentraler Bedeutung: Worauf richtete sich im alten Griechenland die Aufmerksamkeit der Kommentatoren der damaligen Zeitgeschichte, was bewirkte den Massstab der Bewertung menschlichen Handelns? Warum kam z.B. Euripides (geb. um 480 v. Chr, also rund 50 Jahre vor Platon) dazu, Jason nicht als rücksichtslos berechnenden Draufgänger im Kreis der Argonauten (begleitet von Orpheus), nicht als Mörder im Kampf ums Goldene Vlies und nicht als Verräter seiner Frau Medea zu qualifizieren, jedoch Medea als unverzeihlich schuldhafte Versagerin?

Es mag nützlich sein, in diesem Zusammenhang auf Aristoteles’  Nikomachische „Ethik”[24] als Theorie des richtigen oder des falschen Handelns und damit des gelingenden, ev. des guten Lebens einzugehen, die infolge der aufmerksamen Auseinandersetzung dieses grossen Philosophen mit den Ursachen der Krise im damaligen Athen in der Peripatetischen Schule erarbeitet und diskutiert wurde. Es war ca. ein Jahrhundert nach Euripides‘ Tragödie, als sie  aufgezeichnet wurde, als Fortsetzung und erneute kritische Befragung der Komplexität in der Verbindung menschlichen Denkens und Handelns mit den Empfindungen – die Verbindung von Intellekt, körperbedingter Triebhaftigkeit und Seele, von Gutem und von Verfänglichem, Trügerischem und Bösem -, die zu den beunruhigenden philosophischen Neuerungen gehörte, welche schon zur Zeit Euripides‘ bedeutende Denker, von denen nur Fragmente erhalten blieben  – u.a. Protagoras, Prodikos, Anaxagoras – und einen Teil des Volkes beschäftigte, gleichzeitig einen Teil der Machthabenden skeptisch stimmte.

Aufmerken lässt Aristoteles, dass es bezüglich des ethischen Regelsystems widersprüchliche Entscheidungs- und Handlungssituationen gibt, d.h.. „Paradoxien“. Die Paradoxien werden mit drei Bereichen von Entscheidungskonflikten verbunden, von denen jeder Bereich wiederum eine Menge von widersprüchlichen Situationen beinhaltet. Die Geschlechterdifferenz spielt dabei insofern eine Rolle, als ausschliesslich von männlichen Handlungssubjekten die Rede ist. Für Aristoteles gelten Frauen in allem, was Empfinden und Denken, Urteilen und Handeln anbelangt, im Schatten der Männer als deren Objekte.

Von den drei Bereichen, in welchen die Wahl des richtigen Handelns konfliktuös ist, mag im Zusammenhang von Euripides‘ Darstellung von Jason und von Medea der erste und der dritte von Bedeutung sein. Der zweite Bereich erscheint mir diesbezüglich weniger massgeblich (er wird jedoch in unserer späteren Auseinandersetzung mit “Aufmerksamkeit” von Bedeutung sein), da er von theoretischer und wissenschaftlicher Relevanz ist. Er geht auf die Nicht-Übereinstimmung unterschiedlicher philosophischer Schulen ein, die widersprüchliche Theorien von Ethik vertreten, z.B. eine konfessionelle Ethik und eine Berufsethik, die eventuell unter dem Einfluss verschiedener Wirtschaftstheorien oder Religionen stehen etc.

Der erste Bereich betrifft die Paradoxien, die sich durch das Aufeinanderprallen von Urteilen, Meinungen und Lehren von „Weisen” – resp. von Intellektuellen, Philosophen, Lehrern etc. – und von alltagsorientierten Menschen ergeben. Aristoteles erklärt, dass diese Widersprüche unausweichlich seien, und dass es keine Position gebe, welche die Wahrheit für sich beanspruchen könne, ja dass häufig keine der antithetischen Positionen zustimmungswürdig sei. Als Beispiel führt er u.a. die Fragen an: „Muss man seinem Vater oder dem Weisen gehorchen?”, oder „Muss man tun, was gerecht oder was nützlich ist?” oder auch „Muss man eher Unrecht leiden als Unrecht tun?”.

Diese Paradoxie weckt Aufmerksamkeit im Zusammenhang von Medea. Medea ist die weise Fürstentochter aus Kolchis. Ihr „herkunftsbedingter Alltag“ ist tatsächlich anders als der Alltag des jungen Griechen Jason, der elternlos-verwahrlost aufwuchs und von seinem fürstlichen Onkel um das Erbe betrogen wurde. Betrug und Mord gelten für beide als Unrecht. Während nun Jason allein das, was für ihn nützlich ist, als richtig erachtet und zu tun entscheidet, ohne zu überlegen, wie sich die Folgen des Entscheids auf andere auswirken – auf Medea’s Bruder, auf seine Frau und auf die Kinder -, beschliesst Medea, nicht länger Unrecht zu leiden, sondern eher Unrecht zu tun. Sie weiss um das Unrecht, das sie zu tun sich entscheidet, letztlich um die Paradoxie des Entscheids: sie entscheidet auf männliche Weise – und nicht auf weibliche. Dies ist der Skandal, der Euripides als Inhalt der Tragödie beschäftigt. Hätte ein Mann so entschieden und nicht eine Frau, der nach der Aristotelischen Ethik gar keine Wahl zusteht, sondern der die Pflicht auferlegt ist, Unrecht zu leiden, so wäre vermutlich die tödliche Rache unter den Millionen vergleichbarer Handlungen versickert. Die „Tragödie“ wäre nicht bis in die heutige Zeit als festgemauertes Bild der „bösen Frau“ in der Literatur geblieben. Ein Gedicht von Nelly Sachs mag Beispiel dafür sein:

„Fürstinnen der Trauer                                                     Die Nacht eure Schwester

wer fischt eure Traurigkeit auf?                                      Nimmt Abschied von euch

Als letzte Liebende“[25]

Wo finden die Beisetzungen statt?

Welche Meerenge beweint euch

mit der Umarmung eines inneren Vaterlandes?

Mit dem dritten Bereich der Paradoxien thematisiert Aristoteles Widersprüche im einzelnen Menschen selbst, d.h. Widersprüche zwischen Psyche und Intellekt, zwischen Empfinden und Denken. Aristoteles spricht von Widersprüchen zwischen den geheimen Wünschen und den ausgesprochenen Grundsätzen des Handelns. „Die Wünsche stimmen ja oft nicht zu den Worten”, sagt er deutlich, „sondern man hält die schönsten Reden und will doch nur, was vorteilhaft erscheint”. Jason, dem als Mann in der damaligen Zeit das Recht zusteht, seine Wünsche schamlos kund zu tun und zu realisieren, täuschte und enttäuschte Medea, die ihm zum Goldenen Vlies verhalf und ihm zwei Kinder gebar, in allem, was sie unter „Liebe“ verstand und was er vorgab, für sie zu empfinden. Nicht Liebe war es im Sinn der dauerhaft verlässlichen Beziehung, sondern narzissstischer Wunsch nach Herrschaft und nach Söhnen, letztlich schrankenlose Begehrlichkeit nach Besitz. Medeas Antwort auf diesen Betrug in Korinth war ihr betrügerisches Spiel mit der scheinbaren Akzeptanz des Verlustes, hinter welchem sie die grauenerregende Rache plante, die sie umsetzte. Es ist eine erschütternde letzte Paradoxie, darüber besteht kein Zweifel. Erschütternd ist auch die Tatsache, dass Jason’s Täuschung in dem, was er als „Liebe“ vorgab, offenbar als „normal“, d.h. als den „Normen“ entsprechend, beurteilt wurde. Dass er durch diese Täuschung Medea’s destruktiv-täuschendes Rollenspiel als Teil ihrer Rache verursachte, ja dass er durch seinen Liebesbetrug überhaupt Anlass zur Rache als Ausdruck der ausweglosen Verzweiflung seiner Frau gab, das wurde ihm nicht angelastet.

Wieder mag Dichtung zum Ausdruck bringen, was damals Aristoteles aufmerksam machte und was immer erneut die Aufmerksamkeit weckt: die Nichtübereinstimmung von Gesagtem und Gedachtem, von Sagen und Tun, von Worten, die gesprochen werden, von Gemeintem und Getanem. (Wir werden in der dritten Vorlesung und später näher darauf eingehen):

„Diese Jahrtausende                                                             aus dem Bienenkorb der Sonne

geblasen vom Atem                                                              stechende Sekunden

immer um ein zorniges Hauptwort kreisend                        kriegerische Angreifer

geheime Folterer“[26]….

Ist Liebe das „zornige Hauptwort“? Erneut zeigt sich in dieser Paradoxie das Verhängnis der nicht-übereinstimmenden Normativität bezüglich des Verhaltens von Männern und von Frauen, insbesondere bezüglich der Beurteilung des Verhaltens, im ständigen Nichtübereinstimmen der Werte, die einerseits, zumeist von Seite der Frauen, mit dem emotional stützenden, beziehungsorientierten und existentiell aufbauenden Bedürfnis nach Liebe und andererseits mit der – männlicherseit häufig triebhaften – Willkür dessen Erfüllung verbunden ist. Dabei ist die Frage der Zumutbarkeit von zentraler Bedeutung. Jason hätte selber nicht ertragen können, was er Medea zumutete resp. als zumutbar erachtete[27].

Wichtig erscheint mir zu beachten, dass Medea weder die Möglichkeit zugestanden wurde, in der Öffentlichkeit ihre Klage anzubringen und ernst genommen zu werden noch die Möglichkeit, selber ihre Geschichte zu schildern. Wären ihr diese Möglichkeiten zugestanden worden, hätte sie vermutlich der Flucht in die Rache nicht bedurft, da ein gestärkter, eventuell geheilter Selbstwert sie getragen hätte.

Die aufmerksame Auseinandersetzung der Medea-Geschichte mit Aristoteles’ Paradoxien mag deutlich machen, von welcher Bedeutung das skeptische Betrachten der Beurteilung von Richtig und Falsch, von Gut und Böse durch Mächtige ist, die sich selber gegenüber – ihrem Entscheiden und Handeln gegenüber – die  kritische Selbstbetrachtung unterlassen und den uneingeschränkten Richtigkeits-  und Wahrheitsanspruch beanspruchen. Diese Tatsache setzte sich über alle Jahrhunderte fort. Ist diesbezüglich Fortschritt möglich? Wir werden in der nächsten Vorlesung die Entwicklung des philosophischen Aufmerkens in der Bedeutung der Skepsis über die Aufklärung bis in die Neuzeit hinein verfolgen.

* Copyright: Dr. Maja Wicki-Vogt, Bellerivestrasse 221, 8008 Zürich  Tel. 01’383 01 44

[1] Vortrags- und Gesprächszyklus im Herbst 2004: A) an der Universität Bern, Salongespräche am Falkenplatz WS 2004; B) am Institut für Philosophie und Ethik, Zürich.

[2]

[3] Karl Kerényi. Die antike Religion. Ein Entwurf von Grundlienien. Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf/Köln 1952; S. 76-78

[4]  Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen. Tübinger Vorlesungen Bd. I. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1978

[5] a.a.O. S. 13

[6] Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch von Hermann Diels, hrsg. von Walter Kranz. I. Bd., Verlag Weidmann, 1974; S. 7

[7] Karl Kerényi. a.a.O., S. 80

[8] Platon. Politeia. 11. Kapitel, 369 b

[9] Platon. Politeia, Zweites Buch, 3.-4. Kapitel  360d /361 a-b

[10] Platon. Politeia. Sechstes Buch, 1. Kapitel 484a

[11] Platon. Politeia, 11. Kapitel, 498b

[12] Platon. Politeia. 5. Buch, 449 a ff

[13] Platon. Politeia. 6. Buch, 17. Kapitel, 505 b

[14] a.a.O. 505e-506a

[15] Platon.  Theaitetos, 15. Kapitel, 160e; auch 7. Kapitel, 150b-e, 151a-d

[16] Platon. Nomoi, 5. Buch, 2. Kapitel, 730a

[17] Platon. Theaitetos, 11. Kapitel, 155d

[18] Platon. Theaitetos, 14,-15. Kapitel, 160e

[19] Platon. Charmides, 20. Kapitel, 172e

[20] Platon. Nomoi, 5. Buch, 3. Kapitel, 730e

[21] Platon. Charmides, 22. Kapitel, 175a

[22] Platon. Phaidon.. 118a

[23] Maja Wicki-Vogt. Wie steht es mit dem Herzen der “herzlosen” medea? Über das Verhängnis von Rache und über Möglichkeiten der Korrektur von Leiden. In: Ueli Mäder und Hans Saner (Hrsg.). Realismus der Utopie. Rotpunkt Verlag, Zürich 2004, S. 331- 370

[24] Nikomachische Ethik, übersetzt von Eugen Rolfes, herausgegeben von Günther Bien. Felix Meiner Verlag, Hamburg 1972.

[25] Nelly Sachs, a.a.O. S.166

[26]ibid. , a.a.O. S. 225

[27] Im Zusammenhang meiner psychotraumatologischen Untersuchungen nehme ich an, dass jede Rache Antwort auf die verhängnisvolle Täuschung der Zumutbarkeit ist: Ausdruck der Flucht aus der Erfahrung von Ohnmacht in ein destruktives Aufbegehren und gleichzeitig Ausdruck erneuter Ohnmacht in der Wahl von Korrektur der nicht ertragbaren Folgen von Erniedrigung, Verlust und weiteren Traumatisierungen.

 

Was heisst Aufmerksamkeit?

Von der Philosophie der Skepsis  in die Aufklärung und Neuzeit

  1. Vorlesung

 

  1. Definitorische Präliminarien

Skepsis (skepesthai: spähend umherblicken, betrachten, untersuchen): Grundhaltung des an seiner Befähigung zu erkennenüberhaupt zu erkennen, Wahres zu erkennen – zweifelnden Menschen, woraus die Infragestellung scheinbar gesicherter Erkenntnisse folgt, sowohl der eigenen wie fremder, ob diese die Aussen- oder die Innenwelt des Menschen betreffen, wissenschaftliche Erklärungen, psychische Wahrnehmungen oder metaphysische, transzendente Inhalte. Daraus wiederum folgt die ethische resp. moralische Vereinzelung des sich seiner prinzipiellen Begrenztheit und ausschliesslich subjektiven Verantwortung bewussten Menschen in allen Bereichen des Urteilens und Handelns, dem „daimonion“ folgend (nach Sokrates dem Gewissen, von der griech. Bedeutung her zugleich dem Göttlichen).

“Skepsis” entspricht der kritischen und selbstkritischen Aufmerksamkeit, dem Aufmerken infolge der zweifelnden Auseinandersetzung mit allem, was als “wahr” oder als “richtig” erklärt wird:

  • In kognitiver Hinsicht liegt der Skepsis das Wissen um die Unmöglichkeit oder zumindest Vorläufigkeit, Relativität, Unabschliessbarkeit und Unvollkommenheit allen Erkennens zugrunde, damit das Wissen um die Berechtigkeit jedes Zweifels an jeglichem Urteil. Daraus folgt die Infragestellung autoritär begründeter Theorien und Lehren, die einen Richtigkeits- und/oder Wahrheitsanspruch behaupten und verteidigen. Die Skepsis ist die aufmerksame Gegenhaltung zum Glauben und zum Wissen. Sie begründet die Philosophie als Lehre und Geschichte des Nichtwissens, des Fragens und Zweifelns.
  • Zum kognitiven Aspekt der Skepsis gehört auch die sprachanalytische Aufmerksamkeit, welche die Worte hinsichtlich der Richtigkeit der Aussage befragt. Sie richtet sich einerseits auf die intuitive, andererseits auf die logische Erkenntnis der richtigen Wahl der Worte aus, durch welche Denken und Empfinden sich in Übereinstimmung fühlen oder wissen.
  • In ethischer Hinsicht ist die Skepsis die Grundhaltung der Freiheit, resp. die Ablehnung autoritär begründeter normativer Handlungsanweisungen, wiederum eine Haltung der bewussten Inkaufnahme des persönlichen Irrens, aber auch der Eigenverantwortung für die Folgen, ev. für die Korrektur des Handelns. Die Skepsis wird dadurch zur Gegenhaltung des blinden Gehorsams. Sie ermöglicht die Beachtung zentraler zwischenmenschlicher Regeln des Zusammenlebens, indem die Reziprozität als Subjekt und Objekt in der vielschichten, wechselseitigen Abhängigkeit der Menschen von einander im Zentrum der Achtsamkeit steht.
  • In emotionaler und psychoanalytischer Hinsicht ist die Skepsis verbunden mit Aufmerksamkeit und Sorgfalt in Bezug auf die persönlichen Empfindungen, die geprägt wurden durch Beurteilungen des Verhaltens in der frühen Kindheit durch hierarchisch übergeordnete Personen, ob Familienangehörige, LehrerInnen etc. (“wehr dich nicht”, “führ dich nicht so schüchtern auf”, “hör mit deinem Trotz endlich auf”, “stell nicht ständig Fragen” u.a.m.). Sie ermöglicht, das durch Anpassung angelernte emotionale Verhalten auf die Übereinstimmung mit den wirklichen persönlichen Empfindungen und Bedürfnissen zu befragen.
  • Der Alltagsgebrauch von “skeptisch” und “Skepsis” widerspiegelt eine weitere Bedeutung von Aufmerksamkeit. Wenn Sie zum Beispiel den meteorologischen Nachrichten gegenüber “skeptisch” sind, oder wenn mein Sohn den Plan seiner Schwester, ein altes Haus selbst zu renovieren, “mit Skepsis” aufnimmt, bedeutet dies, dass Sie und dass er dem Gehörten gegenüber “aufmerken”, dass Sie und er sich “kritisch” zeigen. Ein kritisches Verhalten und ein skeptisches Verhalten wird im Alltagsgebrauch gleichgesetzt, die Bedeutung der beiden Begriffe ist tatsächlich auch nah verwandt. In der Philosophie jedoch werden sie unterschiedlich verwendet und bezeichnen unterschiedliche Inhalte (Strömungen, Schulen etc.). Darauf werden wir nun eingehen.

II. 1.  Skepsis in der griechischen Denkgeschichte

Es sind tatsächlich antike Vorbilder, auf welche sich die europäische Denkgeschichte der Skepsis abstützt. Deren meist als Fragmente überlieferten Aussagen wurden schon vor de christlichen Zeit, dann erneut im Mittelalter ins Lateinische, ab dem 18. Jahrhundert in weitere Sprachen übersetzt und gelesen; heute ist deren Beachtung eher zur Seltenheit geworden.[1] Was aber war die Lehre der eigentlichen Begründer der Skepsis? Ich wähle einige wenige als Beispiel aus (wie auch die spätere Auswahl von DenkerInnen in der Darstellung dessen, was ich als Philosophie der Aufmerksamkeit verstehe, aus zeitlichen Gründen einhergeht mit dem Nichtbeachtenkönnen vieler weiterer):

Pyrrhon von Elis (360 – 270), der Begründer einer nach-aristotelischen Schule, war 39 Jahre alt, als Sokrates durch den Giftbecher starb (469 – 399), war der Überzeugung, dass sich die Wirklichkeit der menschlichen Erkentnis entziehe. Daher könne von nichts gesagt werden, es sei schön oder nicht-schön, und von keinem Tun, es sei gerecht oder ungerecht. Jedes Urteil werde dadurch hinfällig, da alles, was sich der sinnlichen oder der intellektuellen Wahrnehmung anbiete, “adiaphoron” d.h. ununterschieden / gleichgültig, sei. Wenn von irgend etwas bestimmte Eigenschaften behauptet würden,  so beruhe dies auf reiner Willkür, resp. sei nichts wie eine menschliche Setzung, eine Konstruktion. Der Weise unterscheide sich von den gewöhnlichen Menschen, indem er sich jeden Urteils enthalte und gegenüber allem, was sich zeige und was ihm widerfahre, unerschütterlich aufmerksam bleibe. Auch  bezüglich des Handelns seien feste Kategorien von Gut und Böse nicht zulässig (was in ethischer Hinsicht einen Relativismus nach sich zieht, der wiederum in moralischer Hinsicht sich als überaus entlastend oder als belastend auswirkt, je nach dem)[2]. Höchste Tugend des/der skeptischen Weisen ist, nach Pyrrhon, die auf das ständige Fragen bezogene Unerschütterlichkeit resp. “Unverwirrtheit” (ataraxia) der Aufmerksamkeit.

[3]Pyrrhons Lehre blieb nicht direkt erhalten, auch nicht in Fragmenten, wie andere Werke vorsokratischer Denker. So wie Sokrates Lehre auch nur indirekt über die platonischen Dialoge vermittelt wurde, wurde die pyrrhonische Philosophie nur dank dem griechischen Arzt und Denker aus Alexandria, Sextus Empiricus (220 – 250 ) und dessen Schrift “Pyrrhonische Grundzüge” übermittelt, sodann dank der Schriften eines anderen griechischen Denkers, Änesidemos, der mehr als zweihundert Jahre vor Sextus Empiricus ebenfalls in Alexandria lebte und wirkte. Bei Änesidemos finden sich die sog. “10 Tropen” (“trope” – Wende, Umkehr, Wendpunkt; Gründe), welche die Zögernden zu einer “Wende” zum Skeptizismus, d.h. zu einer durch das Aufmerken erfolgenden, grundsätzlichen Sorgfalt im Befragen und Untersuchen aller Wahrnehmungen der Aussenwelt bewegen sollten. Als “Gründe” führt Änesidemos an:

  • die Verschiedenheit der Lebewesen
  • die Verschiedenheit der Menschen voneinander
  • die Verschiedenheit der Sinnesorgane der Menschen
  • die Verschiedenheit der Zustände im einzelnen Menschen selbst
  • die Tatsache der unterschiedlichen Lagen, Entfernungen und Orte
  • die Unabgetrenntheit resp. die Verbindung oder Vermischung des Objekts der Wahrnehmung mit anderen Objekten
  • die Verschiedenheit der Art und Weisen, in denen das Objekt erscheint, je nach der Verschiedenheit der Verbindungen
  • die Relativität überhaupt, resp. der Einfluss aller äusseren und inneren Bedingungen auf eine Wahrnehmung
  • die Abhängigkeit der Wahrnehmung von der Anzahl resp. Widerholung der Wahrnehmungen

(10) die Abhängigkeit und Beeinflussbarkeit der Wahrnehmung von Bildung, von Sitten,    Gebräuchen und Gesetzen sowie von religiösen und philosophischen Lehren.

Auf die “Tropen” einzugehen, erscheint mir von grosser Bedeutung, wird darin doch klar verständlich, dass Aufmerksamkeit bezüglich des richtigen Erkennens des Neuen und Fremden – eher denn Misstrauen – sowohl die Wahrnehmung in der Vielfalt der Bedingungen wie das Urteilen resp. Beurteilen dessen, was mit der Wahrnehmung sich in Verhalten oder Handeln auswirkt, unter “Skepsis” verstanden wurde. Werden damit nicht menschliche Grenzen im Erkennen deutlich gemacht, die generell gelten und daher der Sorgfalt auf reziproke Weise bedürfen?

Als einer der bedeutendsten Skeptiker der Antike galt Karneades ((214 bis 129 v.Chr.) von Kyrene (Nordafrika), der etwa zwei Generationen nach Pyrrhon lebte und der die Leitung der dritten Akademie übernahm, später in Rom als griechischer Gesandter wirkte und dort auch  Philosophie lehrte. Seine Theorien wurden durch Cicero überliefert. Karneades bezweifelte infolge seiner skeptischen Aufmerksamkeit jegliche Möglichkeit, Wahrheit zu erkennen. Höchstens Wahrscheinlichkeit liess er zu, wobei alles Wahrscheinliche sich ebenso auch als nicht-wahrscheinlich erweisen konnte. Insbesondere griff er die Gottesbilder und Gottesbeweise der Stoiker an, die er mit unerbittlicher Logik dekonstruierte. Dabei berief er sich auf Protagoras aus Abdera, der mehr als zweihundert Jahre vor ihm jegliches Wissen um die Götter in Frage gestellt hatte, worauf er als 70jähriger Mann aus Athen verjagt wurde und auf der Flucht starb (410 v.Chr.). Im Fragment 4, das von Protagoras erhalten blieb, heisst es: “Über die Götter allerdings habe ich keine Möglichkeit zu wissen, weder dass sie sind, noch dass sie nicht sind, noch wie sie etwa an Gestalt sind. Denn vieles gibt es, was das Wissen hindert: die Nichtwahrnehmbarkeit und dass das Leben des Menschen kurz ist”[4].

Karneades’ Aufmerksamkeit richtete sich auf die Tatsache, dass es, wie er feststelle, weder eine Übereinstimmung unter den Völkern in Bezug auf Gott gebe, noch verweise die Welt, wie sie sei, noch die menschliche Vernunft auf eine göttliche Fürsorge. Selbst der Begriff der Gottheit, wie er vertreten werde, sei dermassen widersprüchlich, dass man besser davon absehe, überhaupt von Gott zu sprechen. Auch brauche es weder für die Erklärung der Weltbildung noch für die Erschaffung der Materie noch für jene des Menschen einen Gott. “Angenommen, es hätten sich am Anfang Keime von allem gebildet, indem die Natur sich selbst befruchtete, wozu braucht man dann Gott als Schöpfer? … Der Mensch und jedes lebende Wesen, das geboren wird, erhält Leben und Wachstum infolge willkürlicher Verbindung der Elemente, in die jeder Mensch und jedes Tier sich wieder scheiden, auflösen, verflüchtigen…. Der Blitz schlägt da und dort ein… ohne Wahl trifft er heilige und unheilige Ort, bald erschlägt er schuldige, bald fromme Menschen…. Wenn die Welt durch eine göttliche Vorsehung regiert würde, so hätten Phalaris und Dionysios niemals einen Thron…  Sokrates nie den Giftbecher verdient. Entweder wird die dunkle Wahrheit uns verborgen und verhehlt oder, was eher zu glauben ist, es herrscht, frei von jedem Gesetz, in wechselvollem und schwankendem Spiel der Zufall” [5]. Anderswo hielt Karneades fest: “Es gibt keinen grösseren Gegensatz zu einer ursächlichen Gesetzlichkeit als den Zufall, so dass meines Erachtens nicht einmal ein Gott wissen könnte, was zufällig oder von ungefähr geschehen wird. Denn Zufall ist das, was sich so ereignet, dass es auch anders hätte ausfallen können.” Seine Skepsis dehnte Karneades auch auf die Ethik aus, wiederum im Rekurs auf Protagoras, der in Fragment 6a festhielt: “Über jede Sache gibt es zwei einander entgegengesetzte Aussagen”[6].

Entsprechend handelte Karneades in zwei Vorträgen in Rom die Frage der Gerechtigkeit ab. Am ersten Tag führte er aus, weshalb Rom, um gerecht zu handeln, alle Eroberungen an die früheren Besitzer zurückerstatten müsse; am zweiten Tag, weshalb Rom, gemäss dem Recht des Stärkeren, seine Imperium behalten könne. Marcus Tullius Cicero (3. 1. 106 v. Chr. –  7. 12. 43 v. Chr.), dessen skeptische Verurteilung aller apodiktischen Urteile  sowohl zu seiner Ermordung führte und wie zu seiner Bedeutung unter den Denkern der Renaissance und des Humanismus – z.B. können Francesco Petrarca (20. 7. 1304 – 18. 7. 1374) wie auch Erasmus von Rotterdam ( 28. 10. 1466 – ev. 1465 oder 1469; hiess ursprünglich Gerhard Gerhards) als seine Schüler betrachtet werden – , berichtete in seiner Schrift “De republica” wie Karneades’ akrobatische Widersprüche ernsthafte Männer, wie etwa Cato, vor den Kopf stiessen. Vom Standpunkt der Skepsis aus aber sei sein Verhalten von folgerichtiger Bedeutung und verdiene der Aufmerksamkeit.

Karneades’ Philosophie erregte umso grösseres Aufsehen, als sie ja aus der platonischen idealistischen Akademie herausgewachsen war, in welcher die Wahrheitsfrage als Seinsfrage generell positiv beantwortet wurde. Eine bestimmte Ausgestaltung der Skepsis findet sich bei Platon höchstens in der Auseindersetzung um Sein und Nicht-Sein, wie sie in den Dialogen “Theaitetos” (das Sein) und “Sophistes” (das Nicht-Sein) dokumentiert ist. Platon (427 bis 347 v.Chr.), dessen ganzes Denken um das Sein kreiste, stellte fest, dass das Nicht-Seiende nicht nur die Negation des Seienden ist, sondern dass es für alle Vorstellungen gilt, die keine Realität haben oder haben können: Schein, Wahn, Täuschung, Trug und Irrtum. Mit anderen Worten: dass etwas nicht-seiend ist, bedeutet, dass etwas nicht das wahrhaft Seiende ist und dass es zugleich die Existenz des Nicht-Seins hat, resp. Schein oder Trug ist. Das Nicht-Seiende hat somit für  Platon die Bedeutung des ganz anderen. Das ganz andere aber betrifft den Bereich der trügerischen Sophisten, die er zutiefst ablehnt.

Dass ausserhalb von Platons Idealismus Seiendes und Nicht-Seiendes miteinander verwoben sind, und dass daher die Urteilsbildung unsicher ist,  gehört zu den skeptischen “Tropen” des Änesidemus, die aufmerken liessen. So stellte er fest, dass zum Beispiel Licht und Dunkel miteinander verwoben sind, wobei das Dunkel im Verhältnis zum Licht sowohl das Nicht-Licht ist wie etwas ganz anderes (oder das ganz andere als das Licht). Das Beispiel wird von einem gelehrten, streckenweise auch konfusen schwedischen Theologen, Thorleif Boman[7], als Kommentar zur platonischen Auseinandersetzung benutzt.

  1. 2. Die sephardisch-marranische Skepsis als Überlebenskraft

In der jüdischen Geschichte, von welcher ein bedeutender Teil der europäischen Philosophie geprägt worden war, ist es die Zeit nach der Vertreibung aus Spanien, durch welche die jüdische Präsenz in Westeuropa enorm dezimiert wurde und das jüdische Leben, damit die jüdische Gelehrtheit, sich nach Osten zu verlagern begann. Obwohl im damaligen Europa so viele Vertreibungen der jüdischen Bevölkerung vorausgegangen waren – 1182 erstmals aus Frankreich, 1290 aus England, 1306 wiederum aus dem schon grösseren Königreich Frankreich und 1394 erneut, sodann im Lauf des 14. und 15. Jahrhunderts aus den meisten mitteleuropäischen Städten – trotz all diesen Vertreibungen wurde diejenige aus Spanien im Jahre 1492 als Weltenwende verstanden. Ein Jahr später wurden die Juden auch aus den spanischen Besitzungen Sizilien und Sardinien verjagt, und im selben Jahr wurde in den damals spanisch regierten Niederlanden für Juden ein strenges Niederlassungsverbot erlassen. Und damit war es noch nicht getan: 1497 befahl der portugiesische König Emanuel I. die Zwangstaufe aller portugiesischen sowie aller aus Spanien geflüchteten Juden und setzte dies mit grosser Brutalität durch, 1498 wurden die Juden aus dem damals noch unabhängigen Königtum Navarra vertrieben, 1501 aus der Provence mit ihren bedeutenden Gemeinden in Nîmes, Lunel und Montpellier, 1510 aus dem Königtum Neapel und praktisch aus ganz Süditalien, wo insbesondere die Gemeinde von Bari hohes Ansehen genoss. Das 16. Jahrhundert, als Michel de Montaigne lebte (1533 – 1592) – Sohn einer marranischen Mutter und eines katholischen, aber höchst autoritätskritischen Vaters -, war eine Zeit des Umbruchs, eine Zeit der grossen Krise.

Aufmerksamkeit im Sinn der skeptischen Vorsicht wurde zur Bedingung des Überlebens, im Sinn des Erinnerns zur warnenden Kraft. Ich will kurz auf einige der Denker jener Zeit eingehen, um verständlich zu machen, was ich meine. Joseph Hayim Yerushalmi, der als Historiker dem “Exil Jerusalems in Spanien” (galut Yerushalayim asher bi-Sefarad)[8] und dessen Ende, sowie den daraus sich entwicklenden Folgen, sein ganzes  Forschungsinteresse widmet, vermutet, dass das Bewusstsein der Weltenwende mit dem nicht mehr verstehbaren Paradigmenwechsel zu tun hatte: mit dem Verlust des Exils als Domizil, mit dem Sturz aus der höchsten Blüte der religiösen und der weltlichen Akzeptanz  in die Heimatlosigkeit. Viele zeitgenössische Berichte dokumentieren gemäss Yerushalmi das aufmerkende Entsetzen, etwa jene von Isaac Abravanel oder jene von Abraham Zacuto, einem Halacha-Chronisten, oder, vielleicht am ergreifendsten, die an Hiobs Klage erinnernde “Consolação às tribulações de Israel” des ehemaligen Marranen Samuel Usque: “Europa, welches mich verschlang mit seinem verderblichen Mund, erbricht mich nun wieder … Ach, Europa, Europa, du meine Hölle auf Erden! (Póis Europa, Europa, mi inferno na terra)”.

Im Judentum bewirkten die traumatisierenden Ereignisse, die zum Verlust von Hab und Gut, von sozialer Stellung und Heimat, ja häufig zum Verlust des Lebens führte zu einer – ebenfalls auf persönliche, auf rabbinische Autoritäten, die “Acharonim” abgestützten – religiösen Neuorientierung. Sie bedeutete jedoch in erster Linie eine fanatisierte Verteidigung des allein richtigen Glaubens.[9] Rabbinischer Autorität und kabbalistischer Mystik, die von Safed ausstrahlte (zu erwähnen sind insbesondere Jakob Cordovero (1522 – 1570) und Isaak Luria (1534 – 1572), gelang es, die durch die Verfolgungen und Vertreibungen  bewirkten Verunsicherungen aufzufangen. Wo und wie hätte da eine Philosophie der Skepsis sich etablieren können? Nein, das Gegenteil war gefragt, eine von Autoritäten vorgelebte Stärkung des Glaubens war gefragt, und der “Schulchan Aruch” führte auch zu einer Fixierung, wenn nicht gar zu einer “Versteinerung” der jüdischen Religion. Jakob Cordovero, den Gershom Scholem[10] als den “tiefsinnigsten jüdischen Mystiker” bezeichnet, vermochte allerdings, philosophisch erstaunliche Erkenntnisse zu formulieren, die, hundert Jahre vor Baruch de Spinoza (1632 – 1677) den zentralen Widerspruch der religiösen Spekulation zusammenfassen: “Gott ist alles Wirkliche, aber nicht alles Wirkliche Gott ist”. Doch bei Cordovero wie bei Luria wie später beim Messianismus des Sabbatai Zwi oder des Nathan von Gaza wie bei der ganzen daraus folgenden sabbatianischen Bewegung ist nicht Skepsis die Grundhaltung, sondern ein überzeugter, ja sogar ein fanatischer Glaube. Trotzdem gab es spärliche, ganz persönlichen Ansätze eines skeptischen Aufmerkens resp. einer Orientierung am Eingeständnis des Nichtwissens oder an der Unmöglichkeit eines sicheren Urteils. Wir werden später darauf eingehen.

Wichtig scheint mir festzuhalten, dass Yerushalmi in der Zeit nach der Shoa an die Zeit nach der Vertreibung aus “Sefarad” erinnerte, um bei den Überlebenden ein neues Aufmerken zu wecken: immer wieder gab es eine Zeit der Entwurzelung und der Verzweiflung. Welcher Achtsamkeit bedarf es, damit sie sich nicht ein weiteres Mal wiederholt? Liesse sich das heutige Israel durch ein neues Aufmerken zu einem Verhalten der Achtsamkeit – statt der Gewalt – den palästinensischen Menschen gegenüber bewegen, die auf Grund des jüdischen Heimatwunsches der eigenen Heimat verlustig gegangen sind und weiter verlustig gehen?

II. 3. Skepsis im Zwiespalt zwischen Glaube und Vernunft

Auch die nicht-jüdische Geschichte des 16. Jahrhunderts war von aufwühlenden Krisen und Umbrüchen geprägt. Martin Luther (1483 – 1546) rief zum Kampf gegen Papsttum und Priesterschaft auf und leitete damit die Reformation ein, durch welche er die Lehre vom unbekannten Willen in Gott, über den keine menschlichen Autoritäten, sondern allein die Bibel und der Glaube auszusagen vermögen, verkündete, worauf die katholische Kirche mit ihrer Bewegung der religiösen Skepsis menschlicher Autorität gegenüber eine Art Anerkennung verschaffte, dabei aber der Bibel und dem Glauben umso grössere Autorität zubilligte. Die Krise im katholischen Bereich führte zu einer Verstärkung der autoritären Tendenzen. Jede Art des kritischen Aufmerkens wurde als Fehlleistung im Glauben und damit als ketzerisch schuldhaft diffamiert oder verfolgt; die  Entwicklung der Inquisition, dieser foltermässigen “Untersuchung” und “Erforschung” (dies die lat. Bedeutung von “inquisitio”), die schon im 12. Jahrhundert begonnen hatte, verschärfte sich, breitete sich aus und wurde bis Ende des 18. Jahrhunderts, teilweise noch länger als Demonstration destruktiver Aufmerksamkeit umgesetzt. Diese sollte der Nichtantastbarkeit von Macht, Herrschaft und Wahrheit dienen, gegenüber Menschen, deren kritisches Denken als Anfeindung, ja als Verbrechen mit Folter und Todesstrafe verurteilt wurde – eine unsägliche, über Jahrhunderte fortgesetzte  Verdeutlichung der in Fanatismus ausufernden destruktiven Aufmerksamkeit, welche der Kontrolle des Denkens der Anderen, der Verhinderung von kreativer Skepsis und der Infragestellung von “Wahrheit” dient.

Dass  jedoch kritisch fragendes, skeptischen Denken resp. Verstand und Vernunft sowie religiöser Glaube sich nicht ausschliessen, sondern sich ergänzend stärken, war seit Aurelius Augustinus (13. 11  354 – 28. 8. 430) immer wieder auf je neue Weise in der Philosophiegeschichte eine Tatsache. Ich will kurz auf Augustinus’ “Confessiones” eingehen, diese “Selbstgespräche”[11], in welchen er sich auffordert “aufzumerken”, wozu die Vernunft ihn heisst: “Merk auf! Nimm an, du hättest eine Entdeckung gemacht: wem willst du sie anvertrauen, um zu anderem weiterschreiten zu können? Augustinus antwortet darauf: “Dem Gedächtnis doch am besten”. – Vernunft: “Ist dieses so gut, dass es alle deine Funde getreulich aufbewahren kann?” – Augustinus:  “Das wird schwer sein, oder vielmehr ganz unmöglich.” – Vernunft: “Daher gilt es zu schreiben.[12] Doch was willst du tun, da deine Gesundheit die Schreibarbeit nicht zulässt? – solches darf auch nicht diktiert werden, da es reine Einsamkeit verlangt.” – Augustinus: “Du hast recht, und so weiss ich ganz und gar nicht, was ich tun soll.” Vernunft: “Bete um Gesundheit und Hilfe, welche die Erfüllung deiner Wünsche ermöglicht, schreibe auch schon dieses Gebet nieder, auf dass dein Erzeugnis dir neuen Mut gebe. Fasse darauf deine Funde zu wenigen, schlüssigen Sätzen kurz zusammen und verlange nur nicht nach der  Aufmunterung eines grossen Leserkreises. Es wird dies für einige wenige unter deinen Mitbürgern genügen.” – Augustinus: “So will ich es tun.”[13] Darauf folgt ein langes Gebet, das den intensiven Dialog mit Gott wiedergibt, den Augustinus als “Gründer de Weltalls” anruft und ihn bittet, dass sein Gebet “recht” sei, dass “ich mich deiner Erlösung würdig erweise, endlich, dass du mich erlösest”. Er bezeichnet ihn als “Vater der Wahrheit, der Weisheit, Vater des wahren und vollendeten Lebens, Vater der Seligkeit, Vater der Güte und der Schönheit, Vater des Lichtes der Erkenntnis, Vater unserer Erweckung und Erleuchtung, Vater des Pfandes, das uns Ermahnung ist, zu Dir zurückzukehren. Dich rufe ich an.[14]

Interessant ist, dass Augustinus in seinen “Selbstgesprächen” (lat. “Soliloquia”) von zwei in ihm nicht-übereinstimmenden geistigen Kräften ausgeht, von denen die eine, welche sich als suchende und zweifelnde Kraft äussert, seinen Namen trägt. Diese Kraft bemüht sich um die Realisierung des Bedürfnisses, eine Möglichkeit – resp. die Sprache – zu finden, um das  vermitteln zu können, was die Erkenntnis als wichtig erachtet; gleichzeitig stellt sie diese Möglichkeit in Frage. Die andere Kraft, die im “Selbstgespräch” mitwirkt, ist die “ratio” resp. die Vernunft, die Augustinus als ordnende, regulierende Kraft versteht. Diese Kraft setzt sich mit jener der Skepsis auseinander, damit diese nicht zur lähmenden, sondern zur kreativen Kraft wird. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf den inneren Disput, der nur gelöst werden kann, wenn gleichzeitig der Glaube als Kraft der Vermittlung zwischen dem Zweifel des erkennenden Geistes und dem Nichterklärbaren der Wahrheit – dem Göttlichen – miteinbezogen werden kann.

Augustinus’ Erkenntnisse, die mich am stärksten betroffen machen, da sie in dieser Klarheit eigentlich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch Albert Einsteins Relativitätstheorie[15] sowie durch einzelne VertreterInnen der Existenzphilosophie bestätigt wurden, betreffen die Widersprüchlichkeit dessen, was Zeit heisst. Sie finden sich in seinen Überlegungen “Von der Unsterblichkeit der Seele”, welche den “Selbstgesprächen” angehängt sind.

Es ist eine interessante Nichtübereinstimmung zwischen dem ursprünglichen lateinischen Text und der Übersetzung ins Deutsche, wie sie generell wiederholt wird. In dieser heisst es, dass “Wenn die  L o g i k  irgendwo ist, und wenn sie nur in einem Lebendigen ist, und wenn sie ewig ist, und wenn alles, in welchem etwas Ewiges ist, selber ewig sein muss: dann lebt das ewig, in dem Logik ist.” Im Lateinischen steht für Logik “disciplina”, das ursprünglich im Sinn von “Unterweisung, Lehre und Unterricht”, sodann für “Bildung, Kenntnis, Wissen und Kunst”, sowie für “Methode, Lehrgang, System und Schule” verwendet wurde. In einer weiteren Bedeutung, die ebenfalls in der Antike schon gebräuchlich war, kommt “Erziehung, Zucht, straffe Ordnung” hinzu[16]. Mit der Bedeutung des griechischen Wortes “logos”, das in erster Linie mit Wort, aber auch mit Vernunft und mit Wissenschaft einher ging und aus welchem der Begriff “Logik” entstand, ist im Begriff “disciplina” wenig gemein, ausser die Bedeutung der Ordnung. Nun aber bedeutet das, was in Augustinus’ Überlegungen mit “Logik” übersetzt wird, die menschliche Seele: “Est enim disciplina quarumcumque rerum scientia. Semper igitur animus humanus vivit. Ratio profecto aut animus est aut in animo. – Denn Logik ist Wissen um bestimmte Dinge. Also lebt die menschliche Seele ewig. Die Vernunft ist gewiss entweder die Seele selbst oder sie ist in der Seele.[17]

Deutlich wird, dass Augustinus’ Skepsis weniger dem Denken als den Empfindungen gegenüber Ausdruck findet, da ja das Denken der aktive Teil der Vernunft ist, die Seele aber mit der Vernunft übereinstimmt. Denken und Glaube resp. Erkennen, Wissen und Nichtwissen dürfen sich nicht ausschliessen. Wie aber verhält es sich mit der Zeit, wenn die Seele des Menschen, der als Mensch der Sterblichkeit ausgesetzt ist, nicht zeitlich begrenzt, sondern ewig ist? Gibt es somit für den Menschen, der durch die Tatsache der Seele, die ihn prägt, der Ewigkeit teilhat, weder Vergangenheit noch Zukunft? In den “Confessiones”[18], die in ihrer merkwürdig persönlichen Dichte, die das Zwiegespräch mit Gott aufweist, immer wieder gelesen werden können, heisst es: „Was aber ist die Zeit? – Wenn mich niemand danach fragt, weiss ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiss ich es nicht. Aber zuversichtlich behaupte ich zu wissen, dass es vergangene Zeit nicht gäbe, wenn nichts verginge, und nicht künftige Zeit, wenn nichts herankäme, und nicht gegenwärtige Zeit, wenn nichts seiend wäre. Diese beiden Zeiten, Vergangenheit und Zukunft, wie sollten sie seiend sein, da das Vergangene doch nicht mehr ‘ist’, das Zukünftige noch nicht ‘ist’? Die Gegenwart hinwieder, wenn sie stetsfort Gegenwart wäre und nicht in Zukunft überginge, wäre nicht mehr Zeit, sondern Ewigkeit? Wenn also die Gegenwart nur dadurch Zeit ist, dass sie in Vergangenheit übergeht, wie könnten wir dann auch von der Gegenwartszeit sagen, dass sie ist (…)?“

Augustinus Fragen machen die Unabschliessbarkeit der Auseinandersetzung mit der Zeit deutlich, mit jedem Zeitbezug, mit jeder Zeiterfahrung und allen Zeitverhältnissen. “Ist es nicht ein ehrliches Bekenntnis, wenn meine Seele Dir bekennt, dass ich die Zeit messe? Also wirklich, Herr, ich messe, und was ich messe, kenne ich nicht?” Verzweiflung tut sich kund, die gleichzeitig abgewehrt wird. Ist die Zeit Ausdehnung? – aber Ausdehnung wovon? Um welche “Spannung”[19] geht es bei der “Zeitspanne”? “Was also ist es, das ich messe? Wo ist die kurze Silbe, mit der ich messen will? Wo ist die lange, die ich messen will? Beide sind verklungen, verflogen, vorbei, sie ‘sind’ nicht mehr. (…) In dir, mein Geist, messe ich die Zeiten. Nein, lärme mir nicht dagegen an! Es ist so: lärme mir nicht dagegen mit dem Schwall deiner sinnlichen Eindrücke!”

Viele Fragen stellen sich erst über das wiederholte analytische Lesen von Texten, viele bleiben unbeantwortet. Eine Verbindung zwischen Sokrates und Augustinus drängt sich auf,  eine weitere zwischen Augustinus und Blaise Pascal (19. 6. 1623 – 19. 8. 1662) sowie Baruch de Spinoza (1632 – 1677), zusätzlich zu anderen DenkerInnen, für welche Skepsis und Glaube nicht unvereinbar sein durften.

Für Blaise Pascal, der einerseits als “Schüler” Descartes’ die Klarheit des Denkens in keiner Weise in Frage stellen mochte und der als Begründer der Wahrscheinlichkeitsrechnung ein ungewöhnlicher klarer Denker und Mathematiker war, der aber gleichzeitig als Anhänger von Cornelius Jansen (1585-1638), einem kritisch-religiösen katholischen Reformator auf der Linie von Augustinus, mit einer kleinen Gruppe, die sich als “Jansénistes” bezeichnete, im Kloster von Port-Royal in Paris ein asketisches Leben lebte, für Blaise Pascal war die Widersprüchlichkeit zwischen Vernunft und Herzen, zwischen rationaler Erkenntnis und aufwühlender Erkenntnis menschlicher Bedürfnisse, die in das schlechte Handeln münden, ernst zu nehmen. In seinen “Pensées”, die er mit beinah mathematischer Genauigkeit aufbaut, geht es auf zentrale Weise um den Disput der Bedeutung von “Religion”, welcher der Mensch in seiner Menschlichkeit – geschaffen um zu denken und um zu leiden -, als Möglichkeit der Erlösung aus der triebhaften Ausweglosigkeit ausgesetzt ist. Denken zu können und gleichzeitig den Bedingungen menschlichen Lebens nicht entfliehen zu verglich mit einem Gefängnis: dem Tod kann nicht ausgewichen werden. In der Tatsache der Widersprüchlichkeit von “grandeur et misère” gibt es für Blaise Pascal keine Logik. Trotzdem richtet er seine ganze Aufmerksamkeit darauf, da die Widersprüchlichkeit die menschliche Realität bedeutet. Gemäss seiner Überzeugung bedarf es gleichzeitig der Vernunft des Denkens und der Vernunft des Herzens. Eine der knappen Zusammenfassungen, die er festhielt, dass “Le coeur a des raisons que la raison ne connaît pas” wurde zu einer oft zitierten Vorgabe von Erklärung des Nichterklärbaren in Beurteilungen und Handlungsentscheiden. Für Pascal selber kam darin die Notwendigkeit des Glaubens – eines selber zu erarbeitenden Glaubens, nicht eines gebotenen oder auferzwungenen Glaubens im Wettstreit unter Vertretern von Glaubenserklärungen[20] –  zum Ausdruck, damit die Mögllichkeit bestand, den Zwiespalt, die Nichtübereinstimmung von Erkenntnis und Handeln, letztlich um das Menschsein ertragen zu können.

Sehr vergleichbar mit Blaise Pascal erscheint mir Baruch de Spinoza, der – allerdings nicht im katholischen, sondern im jüdischen Glauben – im Zwiespalt mit dem von der Autorität resp. vom Rabbinertum ausgeübten Druck einer kritiklosen Unterwerfung unter die religiösen Richtigkeitserklärung wie im ständig aufmerkenden Suchen nach einer nicht-trügerischen Erklärung des Nichterkennbaren war. „Nachdem mich die Erfahrung belehrt hat, dass alles, was das gewöhnliche Leben häufig bietet, eitel und nichtig ist, und ich gesehen habe, dass alles, was ich fürchtete und was Angst vor mir hatte, Gutes und Böses nur soweit enthält, als es das Gemüt bewegt, so beschloss ich, endlich zu erforschen, ob es ein wahres Gut gibt, das seine Güte für sich allein, ohne Beimischung anderer Dinge, dem Geist mitteilen kann: ja, ob es etwas gibt, durch dessen Auffindung und Erlangung stete und höchste Freude für immer gewonnen werden kann.[21]  Sein Ziel war, aus dem erlangten Wissen „stete und höchste Freude“ für das noch bevorstehende Leben zu gewinnen, war doch die gelebte Zeit unter den Bedingungen der Zeitlichkeit aufwühlend, verunsichernd und schwer. Sich auf “Ehre, Reichtum oder Genusssucht” auszurichten, erschien ihm in keiner Weise der richtige Weg zu sein, um das eigentliche, das wahre Ziel zu erreichen. Seine Skepsis richtete sich gegen Gebote, die mit dem “einzuschlagenden Weg” nicht übereinstimmten. Es galt für Spinoza, sich nicht täuschen zu lassen, sondern über die Philosophie die Klarheit des Denkens und Lebens entsprechend “der Idee des höchst vollkommenen Seienden”[22] anzustreben.

Der 1632 in Amsterdam geborene Sohn einer aus Spanien geflohenen Familie war damals, als er „Über die Vervollkommnung des Verstandes“ schrieb, noch nicht dreissig Jahre alt. Mit vierundvierzig Jahren, am 21. Februar 1677, starb er, nicht zuletzt infolge einer schweren Lungentuberkulose, die er sich schon Jahre vorher durch das Schleifen optischer Gläser zugezogen hatte. Den Handwerksberuf hatte er während der Jugend erlernt, zusätzlich zum Studium aller wichtigen hebräischen und lateinischen Abhandlungen. Die Sprachen zu erlernen gehörte zur Kindheit, wie dies für jüdische Knaben üblich war/ist; die darauf folgenden Lektüren, Kritiken und Neuentwicklungen philosophischer Werke setzten unmittelbar nachher mit einem skeptischen Erkenntnis- und Wissenhunger ein, der nicht dem gebotenen jüdischen Verhalten entsprach. Er war erst 23 Jahre alt, als er infolge persönlicher Äusserungen zu Glaubensfragen auf härteste Weise aus der jüdischen Gemeinde ausgeschlossen wurde. Doch was vom Vorgehen der Mächtigen als schmerzende und zutiefst verletzende “Strafe” geplant war und umgesetzt wurde, bewirkte bei Spinoza keine Vereinsamung, beeinträchtigte auch seine innere Freiheit nicht. Sein Denken und Schreiben, in Buchtexten festgehalten, von denen er bloss ein einziges Buch selber veröffentlichte, und in Briefen, führten weit über das damalige Holland hinaus zu einem zunehmenden philosophischen Austausch, auch zu Bewunderung und Anerkennung, ohne dass er dadurch sein bescheidenes Leben aufs geringste verändert hätte.

Weitere bedeutende Ansätze kreativer Skepsis – etwa bei Michel de Montaigne (28. 2. 1533 – 13. 9. 1592) und Etienne de la Boëtie (1530 – 1563), bei René Descartes (1596 – 1650)und bei weiteren DenkerInnen – finden sich im gleichen 16. und 17. Jahrhundert, in dieser Zeit der Krise und des Umbruchs.

 

II. 3. “Der Geist, wie ein entsprungener Hengst”

Das Bild, das den skeptischen Geist einem “entsprungene Hengst” gleichstellt, habe ich Michel de Montaigne entliehen. Das Bild ist mangelhaft, aber es gefällt mir. Ich stelle mir vor, wie der Hengst den Kopf aufwirft, wie er sich von Zügel und Reiter (oder Reiterin) befreit, wie er sich aufbäumt, die Zäune überspringt, die Gehege hinter sich lässt und in die Wildnis hinausstürmt. Das Bild steht für das passive Aufmerken, wie es sich im Traum kundtut: eine Befreiung aus der gewohnten Unterordnung und Abhängigkeit, ev. gar der Unterdrückung, etwas Ungewöhnliches, das den immer gleichen Trott oder Trab unterbricht, das dem Leiden, eingesperrt zu sein, gelenkt und gezüchtigt zu werden, aufkündigt, das der Sicherheit valet sagt, um das Wagnis der Unsicherheit einzugehen, das Wagnis der Freiheit, wo fortan kein Herr und Meister mehr für den Unterhalt, für Wasser und Brot, für die Zukunft und wofür immer zuständig ist, wo Existenz sich nur noch nach den eigenen Kräften misst, wo der Weg, der eingeschlagen wird, von der aktiven Aufmerksamkeit gewählt wird. Ist Hochmut dabei? Überheblichkeit? Oder im Gegenteil eine Haltung des Verzichts und der Selbstbescheidung?

Auch Michel de Montaigne, 1533 auf dem väterlichen Schloss in der Nähe von Bordeau geboren, hatte sich die Frage gestellt. Auf jeden Fall war für ihn der Entscheid für die Skepsis ein Entscheid für die Freiheit, damit ein Bekenntnis zum Nichtwissen des Menschen und zur Kraft der Aufmerksamkeit. Er verstärkte sogar Sokrates’ klare Aussage “Ich weiss, dass ich nichts weiss”, indem er diese der apodiktischen Form entledigte und den Ausdruck des Nichtwissens zur Frage machte: “Que sais-je?” Was weiss ich? Was kann ich überhaupt wissen? Montaigne stellte in einem seiner Essais fest, dass die Welt, die ihn umgab, aus Verstellung, Doppelzüngigkeit Täuschung und Betrug bestand, dass “was wir heute Wahrheit nennen, nicht ist, was wahr ist, sondern was man anderen einreden kann”. Er selber verfügte über eine blendende Rhetorik und damit über die sprachlichen Mittel möglicher Täuschung, er nahm auch wichtige öffentliche Funktionen wahr – hatte zum Beispiel einen Parlamentssitz -, doch in seiner selbstkritischen Aufmerksamkeit spürte er die mit hohen Ämtern verbundene  Gefahr der Eitelkeit und verpflichtete sich früh, entgegen dem Trend der Zeit, sich dem Aufmerken bezüglich Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit zu widmen und auf jeglichen Rang und Glanz zu verzichten.

In dieser Haltung fühlte Michel de Montaigne sich nicht allein, sondern in Übereinstimmung mit Etienne de la Boëtie (1530 – 1563), mit dem ihn eine tiefe Freundschaft verband, der jedoch im Alter von 32 Jahren an einer damals nicht heilbaren Dysenterie starb. War es dieser Verlust, den Michel de Montaigne zeitlebens nie überwand, war es die überzeugende Befassung mit den Schriften des Freundes, mit dessen scharfen Analyse der knechtischen Korrumpierbarkeit der Menschen – Contr’un ou de la Servitude volontaire[23] -, dass er deren Publikation  1570/71 realisierte?’ Es war auch das zunehmende Studium antiker Denker – Seneca, Marc Aurel, Cicero, Sextus Empiricus u.a.m. -, das Montaigne’s immer klarere Distanzierung von der Welt, wie sie war, erklärt. Auf jeden Fall entschloss sich Montaigne an seinem 38. Geburtstag, am 28. Februar 1571, sich in der Bibliothek im Turmzimmer seines Schlosses einen Ort des Rückzugs, der Reflexion und der Selbstprüfung zu schaffen, einen Ort, wo er das tun konnte, was “ihn selbst anging”, wo er sich selbst finden konnte, ohne dass er sich deswegen völlig von der Welt abgewandt hätte. Er wollte in allem, was bei ihm ein Aufmerken bewirkte, das Denken neu ansetzen und vertiefen. Pflichten, die ihm auferlegt wurden, nahm er weiterhin wahr, etwa als Schiedsrichter in öffentlichen Angelegenheiten. Ab 1572 aber begann er, in Texten, die er “Essais” nannte, seiner grundlegenden Skepsis in Bezug auf die Welt, auf die scheinbaren Autoritäten und “Götzen”, aber auch in Bezug auf sein eigenes Innenleben wie auf sein äusseres Verhalten Ausdruck zu geben. “Unter unseren gewöhnlichen Handlungen ist nicht eine unter tausend, die uns selbst angehe (…). Wer gibt nicht gerne Gesundheit, Ruhe und Leben hin um Ehr und Ruhm, so unnütz, leicht und falsch die eingetauschte Münze auch sein mag?” heisst im Kapitel “Von der Einsamkeit” im Band I der “Essais”.

Montaigne’s ganzes Bemühen richtete sich auf ein Ziel aus. Für ihn war entscheidend, dank der Aufmerksamkeit jene “ataraxia” zu gewinnen, die es ihm erlauben würde, die Furcht vor dem Tod zu verlieren sowie angesichts der Abwesenheit Gottes und der Nichtigkeit des eigenen Ich nicht der Verzweiflung zu verfallen. Im 1. Band der “Essais” hält er fest: “Warum fürchtest du deinen letzten Tag? Er trägt nicht mehr zu deinem Tode bei als jeder andere. Der letzte Schritt macht nicht die Müdigkeit: er tut sie nur kund.  Alle Tage gehen zum Tod, der letzte langt an”. Sokrates war für ihn Beispiel und Vorbild. Der Tod bedeutete für Montaigne zugleich das ganz andere und nicht das ganz andere, da jeder Tod dem Leben gleiche, das vorausgegangen ist und wie es vorausgegangen ist. Ebenfalls im 2. Band der “Essais” findet sich die Überlegung: “Wir werden nicht anders, um zu sterben. Ich deute immer den Tod aus dem Leben”. Im Angesicht des Todes werden somit das Ich und das so nichtige Leben wiederum bedeutungsvoll, die strenge Antinomie von Sein und Schein, von Maske und Antlitz wird gemildert, auch wenn sie nicht ganz wegfällt: “Wir wachen schlafend, und wachend schlafen wir. Ich sehe nicht so hell im Schlafe; aber das Wachen finde ich niemals rein und wolkenlos genug. Der Schlaf in seiner Tiefe schläfert wenigstens manchmal die Träume ein. Aber unser Wachen ist nie so wach, dass es gänzlich die Hirngespinste vertriebe und zerstreute, welche die Träume den Wachenden sind, und schlimmer als die Träume”.

Die Skepsis verbindet sich bei Montaigne mit dem Zugeständnis an die notwendige Akzeptanz des Gemischten, Widersprüchlichen und Unvollkommenen. Seine Aufmerksamkeit bezieht sich auf das Verborgene und Verschlüsselte, bis es ich öffnet, wobei sich dann sofort das fragende Aufmerken einmischt, da das Erkannte auch richtig sei.

Michel de Montaigne’s umfangreiches Essais-Werk bietet schier unerschöpfliche Anregungen für die je eigene Auseinandersetzung mit der Welt und den Menschen, die auf und in ihr leben, für die Auseinandersetzung mit sich selbst, mit den eigenen Schwächen und Masken, mit der eigenen Hinfälligkeit und Sterblichkeit, aber auch mit der Bedeutung eines in sich gesicherten Ich, mit dem Göttlichen und der Schöpfung. Montaigne war ein hervorragender Schriftsteller, für den das Schreiben nicht Selbstzweck darstellte, sondern Kommunikation bedeutete, wie er im 3. Band der “Essais” festhielt: “Das Wort gehört zur Hälfte dem, welcher spricht, und zur Hälfte dem, welcher hört”, auch dem, welcher schreibt und dem, welcher liest. Der Einfluss Montaigne’s wirkte sich auf viele nachfolgende Denker aus – auf Pascal, Descartes, Schopenhauer, Kierkegaard, Bergson, auf die Vertreter und Vertreterinnen der Existenzphilosophie – eigentlich bis heute.

Im Zusammenhang der Untersuchung von “Skepsis” kurz auf die Bedeutung René Descartes’ (1596 – 1650) einzugehen, kann nicht übergangen werden. Ein Meisterstück skeptischer Reflexion ist dessen erste “Meditation” von 1641. Nicht dass Descartes von seinem gesamten philosophischen Werk her als Vertreter der Skepsis bezeichnet werden könnte. Wie Blaise Pascal war er Mathematiker, ein erklärter Positivist, in der Philosophie einer der Begründer des modernen Rationalismus. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf die Sorgfalt des Erkennens und Denkens, durch welche er sein Ich bestätigt fand, wie er schon 1637 im “Discours de la méthode”[24] feststellte. “Alsbald aber fiel mir auf, dass, während ich auf diese Weise zu denken versuchte, alles sei falsch, doch notwendig ich, der es dachte, etwas sei. Und indem ich dachte, dass diese Wahrheit: ich denke, also bin ich so fest und sicher ist, dass die ausgefallendsten Unterstellungen der Skeptiker sie nicht zu erschüttern vermöchten, so entschied ich, dass ich sie ohne Bedenken als ersten Grundsatz der Philosophie, die ich suchte, ansetzen könnte”[25].

Mit der ersten seiner sechs “Méditations métaphysiques”[26] stellte er das ganze Fundament der Belehrungen, die er in der Jugend erhalten hatte, alles Wissens, das er sich angeeignet und aller Meinungen, die er sich gebildet hatte, in Frage. “Schon vor einer Reihe von Jahren habe ich bemerkt, wieviel Falsches ich in meiner Jugend habe gelten lassen und wie zweifelhaft alles ist, was ich hernach darauf aufgebaut, dass ich daher einmal im Leben alles von Grund aus umstossen  und von den ersten Grundlagen an neu beginnen müsse… So habe ich denn heute zur rechten Zeit meine Gedanken aller Sorgen entledigt (…), und werde endlich ernsthaft und unbeschwert zu diesem allgemeinen Umsturz meiner Meinungen schreiten”, beginnt  Descartes seine “Meditation”. Er stellt fest, dass die Sinnenvermittlung trügerisch ist, dass “Wachsein und Träumen niemals durch sichere Kennzeichen unterschieden werden können”. So etwa kann es sein, dass er tatsächlich “mit dem Winterrock angetan, am Kamin sitzt, das Papier mit den Händen betastet” etc., es kann aber ebenso sein, dass er “während der Nachtruhe sich einbildet, mit dem Rock bekleidet, vor dem Kamin zu sitzen” etc. Nachdem er den Zweifel radikalisiert hat, kommt Descartes allerdings zum Schluss, dass es ein paar wenige Erkenntnisinhalte gibt, die sich dem Zweifel entziehen: so das ganz Einfache der körperhaften Erfahrung – die Ausdehnung -, auch die Idee Gottes müsse jedem Zweifel überlegen sein, folgert Descartes, da diese ja nicht eine menschengeschaffene Idee sei, obwohl er sich gleichzeitig fragt, woher er denn wisse, ob er (Gott) nicht bewirkt habe, dass es überhaupt keine Erde, keinen Himmel, kein ausgedehntes Ding, keine Gestalt, keine Grösse, keinen Ort gebe und dass dennoch dies alles genau so, wie es ihm jetzt vorkomme, bloss da zu sein scheine; ja sogar auch, wie er überzeugt sei, dass andere sich bisweilen in dem irren, was sie vollkommen zu wissen meinen, ebenso könnte auch er sich täuschen, sooft er 2 und 3 addiere oder die Seiten eines Quadrats  zähle, oder was man sich noch leichteres denken möge. Descartes lehnt es jedoch ab, diesen Zweifel mit Gott in Verbindung zu bringen, dem “allgütigen”, dem “Quell der Wahrheit”. Eher sei anzunehmen, fährt er fort, dass “ein böser Geist,  der zugleich allmächtig und verschlagen ist”, all seinen Fleiss dran gewandt habe, ihn zu täuschen.”

Descartes’ “böser Geist” muss nicht nur der grosse metapysische Einflüsterer, mithin der Gegenpart Gottes sein. Es liesse sich darunter auch, im Sinn Freuds, das Unbewusste verstehen, oder, im Sinn der kritischen Theorie, die ideologischen und propagandistischen Verführungsmächte. Auf jeden Fall steht fest, dass für Descartes auch scheinbar “objektive” Meinungen über die Aussenwelt  – er zählt “Himmel, Luft, Erde, Farben, Gestalten, Töne usw. “ auf – durch interne oder externe Kräfte beeinflusst werden, da wir ja nie aus uns und nie aus der Welt heraustreten können[27]. Was jedoch für Descartes unbestreitbar bleibt, ist gerade die Tatsache dieses “Innen”, resp. die Tatsache, dass “ich denke”. Ob ich richtig oder falsch denke, ist unwichtig; was zählt, ist,  dass “ich denke, mithin, dass ich bin” (cogito ergo sum).  Mit der Affirmation dieser drei wichtigsten Erkenntnisinhalte – die Aussenwelt (res extensa), Gott (res divina) und die Innenwelt (cogito / res cogitans) – erreichte Descartes, worauf er das höchste Mass an Aufmerksamkeit ausrichtete: ihm galt, die Skepsis zu überwunden.

Rund achtzig Jahre nach den cartesianischen “Meditationes”, 1719, erscheint anonym ein Dokument  “Le Traité des trois imposteurs”, das der durch Descartes vorgenommenen rationalen Begründung Gottes auf radikale Weise absagt, ein Dokument sowohl des sog. neuen pyrrhonischen Skeptizismus wie des Atheismus. Dass es anonym erschien, hatte mit der Tatsache der Verfolgungen zu tun, denen Glaubensdissidenten ausgesetzt waren, etwa der 1619 als Ketzer verbrannte Lucilio Vanini, der übrigens öfters als Verfasser des Buchs über die drei Betrüger vermutet wurde. Wahrscheinlich geschah dies zu Unrecht, da er – darin dem Renaissancephilosophen Pietro Pomponazzi ähnlich – seine ideologiekritischen (macht- und verführungskritischen) Überlegungen zu Religion und Glauben, zu den Wundergeschichten und zu den Religionsbegründern unter eigenem Namen verbreitet hatte.

Es bleibt nicht genug Zeit, um die skeptischen Ansätze in der Philosophie der Aufklärung aufzuarbeiten, insbesondere die durch diese geleistete Vorurteilskritik, die sich als Kritik dogmatischen Glaubens, Wissens oder Machtanspruchs weiterentwickelte, in England etwa bei Francis Bacon, bei Thomas Hobbes, John Locke und David Hume, in Frankreich bei den Enzyklopädisten d’Alembert, Diderot, Voltaire[28] etc., in Deutschland bei Lessing, Mendelssohn und Kant. Auf diese Denker und deren Zeitgeschichte einzugehen, ist von grossem Reiz. Es ist allerdings in der in der Schweiz gepflegten Philosophiegeschichte eines der bekanntesten und meist untersuchten Gebiete, so dass ich sie aufschiebe. Vielleicht ist Kant’s Aufruf “Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!”[29], mit welchem er 1784 in der “Berlinischen Monatsschrift” im Rahmen der “Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?” dem Menschen die innere Einstellung des eigenen Denkens nahelegte, die genaueste Wiederspiegelung von Aufmerksamkeit im Sinn von Sorgfalt und Intensität beim skeptisch prüfenden Fragen, Suchen und Denken. Bei Schopenhauer und Kierkegaard sind es auf unterschiedliche Weise Ansätze einer Philosophie des Nichtwissens.

Auch Karl Marx’s Kritik an den ökonomischen Verhältnissen, die ihn zu seiner Entfremdungstheorie führte, oder Sigmund Freuds Kritik am ausschliesslich naturwissenschaftlichen, neurologischen Zugang zu den psychischen Störungen und Leiden der Menschen, die ihn zur Entdeckung des Unbewussten führte, oder die ideologie- und herrschaftskritische Arbeit der sog. Frankfurter Schule  – Theodor W.Adorno, Herbert Marcuse, Max Horkheimer, auch Walter Benjaminn -, dann die Herrschaftskritik der Frauenbewegung seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts wie auch die länderübergreifende antiimperialistische Friedensbewegung der Frauen, u.a. insbesondere Rosa Luxemburgs oder Bertha von Pappenheims, d.h. die Kritik an Aufrüstung, Rassismus und Krieg – all diese bedeutenden Theorien und Bewegungen enthalten skeptische Elemente, jedoch weniger im Sinn der philosophischen Definition von Skepsis als im Sinn der Alltagsverwendung des Begriffs, die, wie ich eingangs erwähnte, jener von “Kritik” nahe kommt.

Wichtige Aspekte werden Thema der 4., 5. und 6. Vorlesung sein. Ich möchte im grossen Bereich von Skepsis, bevor ich heute zum Schluss komme, nur noch ein Beispiel neuzeitlicher Philosophie vorlegen, die, meiner Meinung nach, dem sokratischen Vorbild sehr nahe kommt, die sich auch mit Michel de Montaigne’s Werk messen kann. Es handelt sich um Ludwig Wittgenstein sprachanalytische Arbeit, von welcher er das wenigste selber publiziert hat. Auf seine Geschichte will ich etwas ausführlicher eingehen.

II 4.  “Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen”.

Ludwig Wittgenstein kam 1889 als achtes und jüngstes Kind einer der wohlhabendsten Familien Wiens zur Welt, einer Familie, die sich scheinbar rückhaltlos assimiliert hatte, seit Ludwigs Grossvater Hermann aus dem Judentum zum Protestantismus übergetreten und den Vornamen Christian angenommen hatte, ein erfolgreicher Wollhändler, der 1838 Fanny Figdor, Tochter einer bedeutenden jüdischen Familie Wiens heiratete, die sich ebenfalls taufen liess. Um 1850 liess sich die Familie in Wien nieder. Berühmtheiten wie Grillparzer und Brahms gehörten zum Freundeskreis. Den Familiennamen Wittgenstein hatte der Urgrossvater Moses Meier erworben, der als Gutsverwalter beim Grafen Sayn-Wittgenstein angestellt gewesen war. Hermann Christian trieb die Assimilation so weit, dass er seinen acht Töchtern und drei Söhnen strikte verbot, Juden resp. Jüdinnen zu heiraten. Die meisten unterwarfen sich seinem Willen. Eine Ausnahme bildete Karl (der spätere Vater des Philosophen), der ein Rebell war, von der Schule verwiesen wurde, weil er die Unsterblichkeit der Seele geleugnet hatte, von zu Hause ausriess und nach New York floh, wo er sich während zwei Jahren als Geiger und Kellner über Wasser hielt, 1867, als er nach Wien zurückkehrte, Ingenieur wurde und schliesslich als Zeichner in einem Walzwerk in Böhmen, das dem Bruder seines Schwager gehörte, zu arbeiten begann. Nach fünf Jahren war er leitender Direktor, nach zehn Jahren einer der geschicktesten und reichsten Industriellen des kaiserlich-königlichen Österreichs. Seine Ehefrau war Leopoldine Kalmus, deren Vater jüdisch und deren Mutter katholisch war. Die acht Kinder, darunter Ludwig, wurden getauft und katholisch erzogen. Die Familie lebte im Stil der Aristokratie, verfügte über schier unbegrenzte Mittel, und das “Palais Wittgenstein” an der heutigen Argentinerstrasse war ein Zentrum der Musikkultur, der Kultur überhaupt, auch wenn Karl Wittgenstein den modernen, materialistisch denkenden, kapitalistisch aggressiven Unternehmer repäsentierte. Seine Kinder liess er von Hauslehrern nach seinen Vorstellungen erziehen, von seinen Söhnen verlangte er, dass sie ihm in seinen Spuren folgten. Ausser Kurt, der sich dem Vater beugte und Firmendirektor wurde, im Ersten Weltkrieg auch Offizier und Truppenkommandant, sich jedoch gegen Ende des Kriegs erschoss, als seine Truppen gegen ihn meuterten, folgte keiner der Söhne dem väterlichen Diktat. Hans, ein musikalisches Wunderkind, emigrierte nach den USA, sprang 1902 in der Chesapeak Bay von einem Boot und ertränkte sich. Rudolf, ebenfalls künstlerisch hoch begabt, zog nach Berlin, wo er 1904 seinem Leben mit Zyankali ein Ende bereitete.

Nach den entsetzlichen Verlusten von drei seiner Söhne wurde der Vater einsichtiger, er liess die beiden jüngsten Söhne Paul und Ludwig ein öffentliches Gymnasium besuchen und ihre Laufbahn selber wählen. Paul wählte die Musik, während Ludwig nicht recht wusste, was er tun sollte. Da er technisch nicht unbegabt war, wurde er in Linz am Realgymnasium eingeschrieben[30]. In Linz fühlte  sich Wittgenstein unglücklich und begann, an allem zu zweifeln. Den stärksten Einfluss übte auf ihn seine älteste Schwester Margarete – Gretl – aus, die Intellektuelle der Familie, die bei Freud eine Analyse machte, sich mit Freud auch befreundete und diesem 1938, nach dem Anschluss, in letzter Minute zur Flucht nach London verhalf. Über Gretl wurde Wittgenstein auch mit den Schriften von Karl Kraus bekannt, las dessen satirische Zeitschrift “Die Fackel”, kannte wohl auch dessen antizionistisches Traktat “Eine Krone für Zion”, worin Kraus Herzl als reaktionär verhöhnte, überzeugt, dass die Juden sich nur durch bedingungslose Assimilation und durch eine mutige sozialistische Parteinahme befreien konnten. In derselben Zeit wurde auch Otto Weininger zur Kultfigur. 1902 hatte er sein von Selbsthass und Frauenhass geprägtes Buch “Geschlecht und Charakter” veröffentlicht, 1903 beging er Selbstmord. Weiniger übte auf Ludwig Wittgenstein grossen Einfluss aus.

Auf Wittgensteins Biographie näher einzugehen, wäre bedeutungsvoll, um den zwischen Zustimmung und Ablehnung hin- und hergerissenen Intellekt des Denkers und seine ebenso zerrissene Psyche leichter zu verstehen. Die Skepsis, die das Fundament des ganzen Wittgenstein’schen Werks bildet, hat im Elternhaus, in der Beziehung zum Vater, in den Zeitzusammenhängen zwischen Assimilationdruck, Rassismus und Kriegsvorbereitung ihren Ursprung. Wittgenstein wurde Flugzeugbauingenieur, nahm als Freiwilliger am Ersten Weltkrieg teil, schrieb in Galizien hinter der Front seinen “Tractatus logico-philosophicus”, war als Kriegsgefangener in Italien interniert, von wo aus er verzweifelt einen Verleger suchte, trat mit Gottlob Frege und Bertrand Russell in Briefkontakt, wurde Volksschullehrer in einem armen kleinen Dorf – Trattenbach – in Nieder-Österreich, versagte in dieser Tätigkeit und brach das Experiment ab, verzichtete auf sein gesamtes Vermögen zu Gunsten seiner Schwestern, zog für zwei Jahre nach Berlin, dann nach Manchester, vordergründig beide Male wegen des Flugzeugbaus, tatsächlich aber wegen der immer stärkeren Neigung zur Philosophie, der er schliesslich folgte und bei Russell in Cambridge mathematische Logik studierte, bis dieser seinem “Schüler” nichts mehr beibringen konnte. Cambridge wurde Wittgensteins Wohn- und Wirkungsort, bis zu dessen Tod im Jahre 1951, mit Unterbrüchen in Norwegen und in Wien oder auf dem Wittgenstein’schen Sommergut in Tirol, wurde auch Ort des prekären Exils während der Zeit der Naziherrschaft, des Kriegs und der Bedrohung Englands.

Wittgensteins Leben und Werk war während Jahrzehnten legendenumwoben. Wie konnte man sich ihm nähern, dem  kryptischen Sprachphilosophen, Skeptiker, Asketen, Homosexuellen, Dichter? Er selbst hatte nur den “Tractatus”[31] veröffentlicht. In den letzten Jahrzehnten erschien nun eine wachsende Anzahl von Wittgenstein’schen Manuskripten, Gesprächen und Aufzeichnungen seiner Vorlesungen durch seine Schüler, schliesslich Tagebücher und einzelne gute Monographien, so auch die hervorragende Biographie von Ray Monk “Wittgenstein. Das Handwerk des Genies”[32].

Wittgenstein als bedeutenden modernen Vertreter der Skepsis einzuschätzen, ist zulässig. Vom letzten Satz im “Tractatus” aus – “Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen”-  geht ein grosser Bogen durch Wittgensteins ganzes Lebenswerk, nicht ein einheitlicher, sondern ein häufig unterbrochener und durch Widerrufungen und Widersprüche gezeichneter Bogen. Was im ganzen Werk bleibt, ist, dass der Sprache gegenüber immer äusserste Skepsis geboten ist. Einige Paragraphen vor dem Schlusssatz des “Tractatus” stellt Wittgenstein fest: “Zu einer Antwort, die man nicht aussprechen kann, kann man auch die Frage nicht aussprechen (6.5).” Selbst der Skeptizismus erscheint ihm als Theorie noch zu affirmativ: “Skeptizismus ist nicht unwiderleglich, sondern offenbar unsinnig, wenn er bezweifeln will, wo nicht gefragt werden kann. Denn Zweifel kann nur bestehen, wo eine Frage besteht; eine Frage nur, wo eine Antwort besteht, und diese nur, wo etwas gesagt werden kann” (6.51).

Über sorgfältige logische Schritte und Ableitungen versucht Wittgenstein, Fragen zu stellen, um Antworten formulieren zu können, die er in der Folge wieder als ungenügend verwirft. Die Zweifel betreffen sowohl die Begriffe selbst, sie betreffen deren Bedeutung, wie das, wofür die Bedeutung steht: die Dinge der Aussenwelt, das eigene Denken, die Vorstellungen und deren eventuelle Entsprechung in der Welt, Gott, das Leben. Mit den letzten Aufzeichnungen, die bis kurz vor dem Tode erfolgten und unter dem Titel “Über Gewissheit” 1969 erstmals deutsch/englisch erschienen[33], 1989 in einer von den Herausgebern nochmals durchgesehenen Ausgabe verdichtet Wittgenstein die Skepsis schonungslos. So heisst es (§§ 249 – 253): “Man macht sich ein falsches Bild vom Zweifel. – Dass ich zwei Hände habe, ist unter normalen Umständen so sicher wie irgend etwas, was ich als Evidenz dafür anführen könnte. Ich bin darum ausserstande, den Anblick meiner Hand als Evidenz dafür aufzufassen. Heisst das nicht: ich werde unbedingt nach diesem Glauben handeln und mich durch nichts beirren lassen? – Aber es ist doch nicht nur, dass ich in dieser Weise glaube, dass ich zwei Hände habe, sondern dass jeder Vernünftige das tut. – Am Grunde des begründeten Glaubens liegt der unbegründete Glaube”.

Was “Glauben” und “Wissen” bedeuten, wird immer unklarer. Jede subjektive Annahme ist hinfällig. “Unser Wissen bildet ein grosses System. Und nur in diesem System hat das Einzelne den Wert, den wir ihm beilegen” (20.3), sodann (415): “Ja, ist nicht der Gebrauch des Wortes Wissen, als eines ausgezeichneten philosophischen Wortes, überhaupt ganz falsch? Wenn ‘wissen’ dieses Interesse hat, warum nicht ‘sicher sein’? Offenbar, weil es zu subjektiv wäre. Aber ist ‘wissen’ nicht ebenso subjektiv? Ist man nicht durch die grammatische Eigentümlichkeit getäuscht, dass aus ‘ich weiss p’ (auch) ‘p’ folgt?  ‘Ich glaube es zu wissen’ müsste keinen minderen Grad der Gewissheit ausdrücken. – Ja, aber man will nicht subjektive Sicherheit ausdrücken, auch nicht die grösste, sondern dies, dass gewisse Sätze am Grunde aller Fragen und alles Denkens zu liegen scheinen.”

Die Grundhaltung entspricht dem sokratischen “Ich weiss, dass ich nichts weiss”. Selbst mit der letzten Aufzeichnung (§ 676), die Wittgenstein am Tag, bevor er ins Koma fiel, machte, nimmt der Zweifel kein Ende, obwohl er kurz vorher schreibt, dass “ein Zweifel ohne Ende nicht einmal ein Zweifel ist”. Das Ende des Zweifels wird allein durch das Handeln gesetzt, durch die Praxis. “Das Kind lernt nicht, dass es Bücher gibt, dass es Sessel gibt, etc. etc., sondern es lernt Bücher holen, sich auf Sessel setzen etc.” Fritz Mauthner’s Erklärung der genaueren Aussage der Verben, da sie sich auf ein Tun beziehen, findet hier eine Ergänzung. Ray Monk, Wittgenstein interpretierend, hält fest, dass letztlich auch das Zweifeln – wieder in der verbalen Aussage –  eine spezielle Art der Praxis sei, die man allerdings erst erlernen könne, wenn man viel Selbstverständliches beherrsche. Doch Wittgenstein selber geht noch weiter. Ist nicht alles Selbstverständliche, was wir zu beherrschen meinen, eventuell nur geträumt? “Aber wenn ich mich auch in solchen Fällen nicht irren kann (einer sagt, er sitze jetzt am Tisch und schreibe) – ist es nicht möglich, dass ich in der Narkose bin? Wenn ich es bin, und wenn die Narkose mir das Bewusstsein raubt, dann rede und denke ich jetzt nicht wirklich. Ich kann nicht im Ernst annehmen, ich träume jetzt. Wer träumend sagt, ‘ich träume’, auch wenn er dabei hörbar redete, hat so wenig recht, wie wenn er im Traum sagt “es regnet”, während es tatsächlich regnet. Auch wenn sein Traum wirklich mit dem Geräusch des Regens zusammenhängt”.

Was Wittgenstein mit seiner Haltung der Skepsis erreicht, ist Furchtlosigkeit vor dem Tod. Schon als ganz junger Mann, angesichts des Tötens und Sterbens auf den Kriegsschauplätzen, hielt er im “Tractatus” fest (§ 6.4311) “Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht. Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt.” Wenige Tage vor seinem eigenen Tod besuchte ihn ein Freund in Cambridge, dem er – entsprechend der weit zurückliegenden Überlegung – sagte: “Es ist seltsam – obwohl ich weiss, dass ich nicht mehr lange zu leben habe, denke ich nie an ein ‘künftiges Leben’. Alle meine Interressen sind nach wie vor mit diesem Leben und mit dem verbunden, was ich noch schreiben kann” (Ray Monk, S.613). Und als ihm am Tag, bevor er das Bewusstsein verlor, die Frau seines Arztes, die bei ihm gewacht hatte, erklärte, dass am nächsten Tag seine engsten Freunde ihn besuchen würden, nickte er und bat sie “Sagen Sie ihnen, dass ich ein wundervolles Leben hatte”.

Die Praxis des Lebens, die gelernt werden muss, um dem Zweifeln ein Ende zu setzen, ist zugleich die Praxis des Sterbens. Was in der Skepsis mag diese Furchtlosigkeit vor dem Tod bewirken, die nicht nur Wittgenstein, sondern auch Sokrates und Montaigne, Blaise Pascal und Spinoza an den Tag gelegt haben? Sind feste Meinungen, Glaubensinhalte, sogenannte “Sicherheiten” mit Besitztümern vergleichbar, um deren möglichen Verlust man voller Unruhe bangt? Führt der Verzicht auf alle diese Sicherheiten letztlich zu jener Freiheit und Gelassenheit – zur “ataraxia” -, die das wahre Ziel der antiken Skepsis war? Könnten Sie sich vorstellen, dass diese Haltung auch heute noch angestrebt und befolgt werden könnte?

Wir werden versuchen, im Gespräch auf diese Fragen einzugehen

Zusätzliche Literatuangaben:

Friedrich Battenberg. Ds europäische Zeitalter der Juden. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1990

Etienne de la Boétie. Von der freiwilligen Knechtschaft. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt a.M. 1980

Thorleif Boman. Das hebräische Denken im Verlgeich mit dem griechischen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1977

René Descartes. Les Méditations métaphysiques. Presses universitaires de France, Paris 1963

Hermann Diels / Walther Kranz. Die Fragmente der Vorsokratiker. 2 Bde. Verlag Weidmann, o.O. 1974

Hermann Greive. Die Juden. Grundzüge ihrer Geschichte im mittelalterlichen und neuzeitlichen Europa. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1980

Thedor  Grundmann / Karl Stüber. Philosophie der Skepsis. UTB für wissenschaft,Verlag  Schöningh. Paderborn-München-Wien-Züruch 1996

Julius Guttmann. Philosophies of Judaism. Schocken Books, New York 1976

Mose ben Maimon. Führer der Unschlüssigen. 3 Bde. Felix Meiner Verlag, Hamburg 1972

Michel de Montaigne. Essais. 3 Bde. Union générale d’éditions, Paris 1964

Wilhelm Nestlé. Griechische Geistesgeschichte. Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 1944

Platon. Sämtliche Werke, Bd.4 (u.a. Theaitetos, Sophistes). Übersetzung von Fr. Schleiermacher. Rowohlt Verlag, Reinbek b. Hamburg 1960

Richard H.Popkin. The History of Scepticism. Unversity of California Press, Berkely-Los Angeles-London 1979

Gershom Scholem. Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Suhrkamp Verlag, Frnakfurt a.M. 1967

Jean Starobinski. Montaigne. Denken und Existenz. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1986

Yosef Hahim Yerushalmi. Ein Feld in Anatot. Versuche über jüdische Geschichte. Wagenbach Verlag, Berlin 1993

*

[1] In Alexandria – à propos – kam in der Gestalt und im Werk von Philon, um 25 vor – 50 nach Chr., der Philo Judeaus genannt wurde, eine erstaunliche Synthese von griechischer Philosophie und jüdischer Tradition zustande, in dessen Fortsetzung Mose ben Maimon – Maimonides – und dessen Werk zu verstehen ist, das ebenfalls in Nordägypten, in Fustat, Alt-Kairo, geschrieben wurde und das insbesondere mit dem “Môreh Nebûkim”, dem “Führer der Unschlüssigen”, die Verbindung von Glaubenslehre und Aristotelismus wieder aufnahm und vervollkommnete. Allerdings waren weder Philon noch Maimonides Skeptiker; sie versuchten, im Gegenteil, die Glaubensinhalte mit einer  rationalen Begründung in Einklang zu bringen, weswegen sie von den – rein – religiösen Autoritäten wiederum angegriffen und angefeindet wurden.

[2] Diesbezüglich finden sich bei Kierkegaard Anleihen, stärkere bei Nietzsche

[3] Ob eventuell Salomon als einer der frühen Skeptiker bezeichnet werden kann, so dass sich auch in dieser Linie, in der Linie der Skepsis, im Mittelmeerraum gleichzeitige Denkentwicklungen finden, stelle ich als Frage. Der Überlieferung nach soll er einen Ring getragen haben, der ihn glücklich machen sollte, wenn er traurig war, und umgekehrt, und auf den eine Inschrift ingraviert gewesen sein soll: “Auch dieses wird vorübergehen”.

[4] Hermann Diels. Die Fragmente der Vorsokratiker.Weidmann Verlag 1951. Bd.II, S.265

[5] Cicero. De natura deorum.  II 10, 24 f

[6] Hermann Diels, a.a.O. II, S.266

[7] Boman hatte Anfang der fünfziger Jahre ein Buch veröffentlicht “Das hebräische Denken im Vergleich mit dem griechischen”, das in den siebziger Jahren nochmals aufgelegt wurde, das nun vergriffen ist und das gerade in Hinblick auf die Abgrenzung des Nicht-Seienden vom Seienden interessante Stellen aufweist. Boman machte es sich zur sprachanalytischen Aufgabe, Parallelen und Unterschiede im Verständnis und in der Bedeutung wichtiger griechischer und hebräischer Begriffe herauszuarbeiten. Er hob etwa hervor, dass im Griechischen unter “to on”, dem Seienden, etwas Ruhendes, im Hebräischen unter “dabar” etwas Dynamisches, Bewegendes verstanden wurde. Er führt auch aus, dass der Begriff “dabar”, der alle Realitäten bezeichnet – Wort, Tat, Sache -, in der Negation “lo dabar” sowohl die Nicht-Realität, das Nicht-Seiende bedeutet, als auch zugleich das ganz andere als “dabar”, das eine eigene Existenz hat, etwa Lippenworte, Lügenworte. Daher, führt Boman aus, ist “lo dabar” allen Begriffen, die etwas Nichtiges bezeichnen, von der Bedeutung her nahe, etwa “kazab”, Lüge, oder “habal”, Hauch, aber auch Täuschung, Wahn, oder auch “tohu”. Zur  Verstärkung seiner These führte er aus den Psalmen die Verse 62.10 an: “Ja, ein Hauch (habal) sind die Menschenkinder, eine Lüge (kazab) die Menschen; werden sie auf die Waage gehoben, so sind sie allzumal leichter als ein Hauch.”  Selbst das, was als “Chaos” übersetzt wird – ob “tohu” allein oder in Verbindung mit “bohu” – bedeutet vor allem das Nichtige, das was der Realität entbehrt. Allein durch die Begriffe wollte er somit als  klar erweisen, dass der Gott Israels nicht lügen kann, dass aber die Götzenbilder Lüge sind. Das göttliche Wort “dabar” sei jeder Skepsis entzogen.

[8] Yosef Hayim Yerushalmi. Ein Feld in Anatot. Versuche über jüdische Geschichte. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1993. – Zachor: Erinnere Dich! Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1988.

[9] Diese Neuorientierung ging zuerst von Safed in Galiläa aus und wirkte von dort aus aufs askenasische Judentum. Den Anfang machte der mit seinen Eltern aus Toledo vertriebene Joseph ben Ephraim Caro (1488-1576), der nach längerem Aufenthalt in der heutigen Türkei, in Konstantinopel (Istanbul), Adrianopel (Edirne)und Nikopolis (Prevesa), schliesslich in Safed eine Jeschiwa gründete, ein bedeutender Talmudgelehrter, der zugleich  ein Mystiker der Kabbala wie ein religiöser Lehrer war, dessen “Schulchan Aruch”, das erstmals in Venedig erschien und ungezählte Neuauflagen erfuhr, nicht nur im sephardischen, sondern auch im askenasischen Judentum eine begeisterte Aufnahme fand, vor allem dank der Vermittlung durch Moses ben Israel – Isserles – gen. Ramo aus Krakau, der von 1525 bis 1572 lebte.

[10] Gershom Scholem. Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Wissenschaftliche Sonderausgabe. Suhrkamp Verlag, suhrkamp Verlag 1967

[11] Aurelius Augustinus. Selbstgespräche. Von der Unsterblichkeit der Seele. (lat.-dt.). Artemis Verlag, München /Zürich 1986

[12] “Ergo scribendum est”… a.a.O.( cf. 11)  S. 6

[13]  a.a.O. (cf. 11) S. 11

[14] a.a.O. S. 9 (resp. S.9 – S. 17)

[15] 1905 veröffentlichte Albert  Einstein (geb. 14. 3. 1879 in Ulm – gest. 18. 4. 1955 in Princeton/New Jersey) die spezielle und 1916 die allgemeine Relativitätstheorie.

[16] Damit verwandt “discipulus” – Schüler, Lehrling, Zögling, abgeleitet von “discipere” – geistig aufnehmen, aus “dis-” – gänzlich, “capere” (in Zusammensetzungen –cipere) – erfassen, ergreifen, aufnehmen.

[17] ibid. (11), S. 156 / dt. S. 157

[18] Aurelius Augustinus. Confessiones (lat.7dt.). Kösel Verlag, München 1955

[19] lat. “distentio”, also auch abgeleitet von “tendere” wie “attentio”

[20] Die “Jansénistes” von Port-Royal wandten sich insbesondere gegen den Macht- und Richtigkeitsanspruch der Jesuiten in Glaubensfragen.

[21]Baruch de Spinoza. Abhandlung  über die Verbesserung des Verstandes. (lat.-dt.). Felix Meiner Verlag, Hamburg 1993, S. 7

[22] ibid. S. 41

[23] dt.: Etienne der la Boëtie. Von der freiwilligen Knechtschaft. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt a.M. 1980

[24] René Descartes. Discours de la méthode (franz./dt). Felix Meiner Verlag, Hamburg 1960. S. 52: “Et remarquant que cette vérité: je pense donc je suis était si ferme et si assurée que toutes les plus extravagantes suppositions des scéptiques n’étaient pas capables de l’ébranler, je jugeai que je pouvais la recevoir, sans scrupule, pour le premier principe de la philosophie que je cherchais.”

[25] a.a.O.  S. 53

[26] René Descartes. Les méditations métaphysiques. Presses universitaires de France, Paris 1963.

[27]  was auch ein Kerngedanke der Wittgenstein’schen Reflexion ist – cf. später.

[28] Unter der grossen Anzahl kritischer Untersuchungen verweise  ich auf: Fritz Schalk. Studien zur französischen Aufklärung. Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt a.M.1977

[29] Interessant in diesem Zusammenhang Norbert Hinske. Kant als Herausforderung an die Gegenwart. Fermenta Philosophica. Verlag Karl Alber, Freiburg/München 1980

[30] Zwei Jahre unter ihm besuchte Adolf Hitler die gleiche Schule, wurde jedoch wegen ungenügender Noten entlassen.

[31] 1918 war die Niederschrift abgeschlossen, 1921 erstmals im letzten Band von Ostwalds “Annalen der Naturphilosophie” erschienen, 1922 als zweisprachige Ausgabe bei Routledge  & Kegan Paul Ltd., London; 1933 eine zweite Auflage, von Ludwig Wittgenstein noch korrigiert, auf welche die Ausgabe beruht, die 1960 unter “Schriften”  (Tractatus logico-philosophicus – Tagebücher 1914-1916 – Philosophische Untersuchungen) im Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. erschien.

[32] Ray Monk. Wittgenstein. Das Handwerk des Genies. Ernst Klett Verlag, Stuttgart 1992

[33] 1969 erstmals beiBasil Blackwell, Oxford; 1997 dt. beim Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M.

 

Was heisst Aufmerksamkeit? – Existenzphilosophie  – Phaenomenologie – Psychoanalyse

 

  1. Vorlesung

“Wenn zutrifft, dass die Philosophie, sobald sie sich als Reflexion oder als Koinzidenz deklariert, das zu Findende urteilend vorwegnimmt, so muss sie alles noch einmal aufgreifen, muss sie die Werkzeuge der Reflexion und der Intuition ablehnen, muss sie sich dort einrichten, wo diese sich noch nicht unterscheiden, in Erfahrungen, die noch nicht “verarbeitet” sind, sondern uns ein ganzes Gemisch auf einmal anbieten – ‘Subjekt’ und ‘Objekt’, Existenz und Wesen -, wodurch es der Philosophie möglich wird, diese Begriffe neu zu definieren.[1]

“In gewissem Sinn besteht jede Philosophie (…) in der Wiederherstellung eines Bedeutungsvermögens, einer Entstehung des Sinnes oder eines wilden Sinnes, eines Ausdrucks der Erfahrung durch die Erfahrung, die vor allem den Sonderbereich der Sprache aufhellt”[2] .

  1. Einführung

Die beiden Überlegungen, die Maurice Merleau-Ponty festhielt, mögen vermitteln, wie ich in den breiten Fächer der neueren Auseinandersetzung um die Bedeutung von “Aufmerksamkeit” eintreten werde.  Es wird sich insbesondere um Existenzphilosophie und Psychoanalyse handeln.

Die Aufmerksamkeit richtet sich auf die Existenz selbst, auf den Menschen als Subjekt und als Objekt in der vielfältigen Zeithaftigkeit und Zeitgebundenheit, in der dunkeln Geschichte der über die Sinne vermittelten Erfahrungen des Unbekannten sowie des als Aufgabe gestellten Lebenssinns. Ich selber habe darin meine philosophische Entwicklung angefangen und vielfach fortgesetzt. Ich wähle daher den analytischen Weg der Untersuchung. Es gilt aufzuzeigen, ab wann und warum der erkenntnistheoretisch kritische Ansatz von Kant nicht mehr genügte, d.h. ab wann und warum die Auseinandersetzung mit Erkennen, Denken und Handeln im Rekurs auf Verstand und Vernunft als ungenügend galten, ab wann auch die Hegel’sche Dialektik eine Erweiterung fand und der Mensch in der eigenen Subjekthaftigkeit, Individualität und Zeitabhängigkeit miteinbezogen wurde, im Sinn der auf die Existenz bezogenen Erweiterung auch des kartesianischen Ansatzes: Der Mensch als denkendes Subjekt machte sich selbst zum Objekt seiner Aufmerksamkeit. Er beachtete die geheimnisvollen Kräfte der Empfindungen und Bedürfnisse, die sich nicht durch den Intellekt, sondern durch die Psyche jedes Menschen entschlüsseln lassen, durch die emotionalen Bereiche des Ich-Seins, durch die Besonderheit der individuellen Existenz in deren Ohnmacht,  in deren vielseitigen Abhängigkeit und Ausgesetztheit, aber auch in deren dialektischen geistigen Möglichkeiten, denen sowohl eine kritische und eine verstehende wie eine kreative, zielstrebige Kraft zukommt, die Eros heisst.

Es war in mehreren Etappen, dass sich mit Denkern und Denkerinnen[3] die revolutionäre Bewegung in Europa, die mit der Französischen Revolution fortsetzte, was in England begonnen hatte und was sich in Deutschland, in den übrigen europäischen Ländern, schliesslich in Russland vom Bürgertum auf die Arbeiterklassen ausweitete, sich auf das Menschsein überhaupt verdichtete, unabhängig von Klassen- und Religionszugehörigkeit. Durch das Werk eigenwilliger Frauen und Männer, welche die Philosophie aus den universitären Tempeln befreiten und welche auf je eigene Weise wagten, die Kriterien des Intellekts im wissenschaftlichen Fortschritt zu durchbrechen, richtete sich die Aufmerksamkeit auf das Unbehagen des Menschen mit sich selbst, auf die Suche nach Glück, auf die Verlorenheit angesichts der – mit der wachsenden Industrialisierung zunehmend sich verstärkenden – Ausbeutung,  Rationalisierung und Entwertung des Menschseins. Sie wagten, sich dem Gefühl der Ohnmacht entgegenzustellen und sich mit einem anderen Blick auf den Menschen und das Menschsein – allmählich auch auf die Besonderheit des Kindseins, Frauseins und Mannseins – auseinanderzusetzen. Es ging dabei

  • um die je individuellen Bestrebungen der Suche nach Sinnhaftigkeit der Existenz durch die Auseinandersetzung mit dem Willen, mit den Erfahrungen der Abhängigkeit und des Eigenwertes, mit der Angst angesichts der Erfahrung von Sinnlosigkeit, angesichts der Unausweichlichkeit des Todes (cf. Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche; Sören Kierkegaard),
  • um das Erkennen der zeitlich und räumlich bedingten, je individuell gekennzeichneten Lebensbedingungen, in denen Flüchtigkeit, Vergänglichkeit und Dauer sowie Vieldimensionalität das Dasein prägen, in der kritischen Auseinandersetzung mit den sich verdichtenden wissenschaftlichen Erkenntnissen (Lebensphilosophie – cf. Henri Bergson, Maine de Biran, Nicolaj A.Berdjajew; Georg Simmel, Wilhelm Dilthey),
  • um die Unterscheidung von “Tatsachenwissenschaft”, die von sinnesabhängigen Erkenntnissen geprägt ist, die sich bis in die Zusammenhänge der Logik manifestieren lassen, und von “Wesenswissenschaft”, die zum “reinen Bewusstsein” führt (Phänomenologie – cf. Edmund Husserl, Max Scheler, Maurice Merleau-Ponty, Emmanuel Levinas),
  • um das Verstehen der Prägungen der individuellen Besonderheit des Ich durch das Unbewusste in der Abhängigkeit und Beziehungsstruktur des Ich vom Über-Ich und vom Es, des Ich vom Anderen, vom Du, des Ich von der Masse, immer von Gefühlen, die durch das Ausgesetztsein entstehen und damit einhergehen (Psychoanalyse, Dialogik, Existenzphilosophie – cf. Sigmund Freud und die auf Freud folgende und sich diverzifizierende psychoanalytische Schule, darunter C. G. Jung, sodann Arthur Schnitzler, Martin Buber und Franz Rosenzweig, Norbert Elias, Martin Heidegger und Karl Jaspers),
  • in der Untersuchung der Abhängigkeit des/der Menschen von der Sprache, vom Sinn der Worte und der Grammatik (cf. Ferdinand de Saussure, Ludwig Wittgenstein),
  • um die Beachtung, Klärung und Erläuterung individueller Existenz in der vielfachen Prägung durch die gesellschaftlichen Bedingungen, einerseits im Zusammenhang der Geschlechtlichkeit, andererseits im Zusammenhang politischer Ideologien oder Religionen sowie durch Machtmissbrauch in beiden Bereichen, schliesslich durch Hinterfragung dessen, was Freiheit heisst, insbesondere infolge der Erfahrung von Machtlosigkeit und Ohnmacht – Erfahrung des existentiellen Seins und des Nichts – im Zusammenhang der  Masslosigkeit von Verführbarkeit und Umsetzung menschlicher Destruktivität im Vorfeld und während des  Ersten und Zweiten Weltkriegs (Existentialismus/politische und analytische Existenzphilosophie, gesellschaftsanalytische und politische Theorien – cf. Gustav Landauer, Rosa Luxemburg; Gabriel Marcel, Jean-Paul Sartre, Albert Camus;  Simone Weil, Hannah Arendt, Simone de Beauvoir, Margarete Susman, Jeanne Hersch, Sarah Kofman; Julia Kristeva, Luce Irigaray; Walter Benjamin, Max Horkheimer, Adorno, Herbert Marcuse u.v.a.m.).

Philosophie blieb auch in dieser Entwicklung der ursprünglichen griechischen Wortbedeutung treu, die einhergeht mit “philosophia”: “philein” – lieben, “sophia” – Wissen, Weisheit. Es ging allen Denkern und Denkerinnen zugleich um Wissbegierde und um die Liebe zur Weisheit. Dabei weitete sich Philosophie durch die zentrale Bedeutung der individuellen Existenz in der Tragik und im Wert des menschlichen “ex-sistere” (aus, heraus – treten, stellen) auf Dichtung und weitere Teile der Literatur aus, in der Vielfalt dessen, was über Sprache und Sprachen vermittelt werden kann.

Philosophie wird in dieser Zeit zur existentiellen Verdichtung im grossen, sehr individuellen Orchester der über die Sprache in der Bedeutung von “Literatur” – d.h. über die Sprache, die gelesen wird – zustande kommenden zwischenmenschlichen und interkulturellen Kommunikation[4].

Die Knappheit der Zeit, die uns zur Verfügung steht, erfordert, dass ich eine Auswahl treffe. Ich werde mich auf einige wenige, zentrale Fragen im grossen Fächer der Existenzphilosophie konzentrieren, unter Miteinbezug der psychoanalytischen und traumatherapeutischen Erkenntnisse. Aus der Fülle der Denker und Denkerinnen werden nur einzelne in den Mittelpunkt rücken. Aufmerksamkeit bedarf immer auch der klärenden Einschränkung. Es wird daher in erster Linie um eine gute Klärung gehen von

  • Existenz und Transzendenz,
  • Bewusstsein und Unbewusstem,
  • Flüchtigkeit und Dauer.

 

II       Existenz und Transzendenz

 II 1. Existenz als Realität und Absurdität

“Seltsamster Gott, wie ein Janus mit doppeltem Antlitz! Einerseits starrt er mit zwei seiner Augen nur auf die Vergangenheit, verlangt er, sich nur in rückwärtiger Richtung zu bewegen. Apoll irrte, wenn er, um dem Imperativ ‘Erkenne dich selbst!’ zu genügen, die Helle besonnter Gegenwart empfahl; denn gerade im Halbdämmer und gar in der Nacht gelingt die Selbstdurchdringung, findet man die ununterbrochene Folge aller Ichs wieder, eines im Schlepptau des anderen.[5]

“L’existence n’est pas prouvée, elle se constate… Et la réalité pour un homme est d’exister ici-bas.[6]

“Notre vie est impossibilité, absurdité… C’est que nous sommes contradictoires, étant des créatures, étant Dieu et infiniment autres que Dieu…La contradiction est notre misère, et le sentiment de notre misère est le sentiment de la réalité.[7]

Jede Art von System entzieht sich der Existenzphilosophie, erweist sich als ungenügend oder gar als falsch. Ein System wäre, wie Sören Kierkegaard (1813-1855) festhielt, “ein abstraktes Drittes”[8].  Das lässt aufmerken: ein System allein könnte nicht dem fragenden und erkennenden Geist gerecht werden, der ein je persönlicher, subjektiver, existierender Geist ist, der nicht nach  d e r  Wahrheit sucht, sondern nach Wahrheit, die seinem von Angst geleiteten Streben nach Erkennen dessen, was Existieren bedeutet, gerecht zu werden sucht. Jede Art von philosophischer Methode gleitet ins Abstrakte oder ins “Phantastische” ab, seit, wie Kierkegaard bemerkte, “Kants ‘ehrlicher’ Weg verlassen worden ist”[9], seit die kritische, vom persönlichen Denken geleitete Infragestellung von  Wissenschaft und Religion sich umgewandelt haben in “diese unselige Gier nach Gedanken, gewagten Ausdrücken und dergleichen”[10]. Zwar stellt Kierkegaard nicht in Frage, dass der Mensch dank der Tatsache, dass “Geist” ihm eigen ist, dass zugleich “Gott Geist ist”, dass er somit als “‘der Einzelne’ in Verwandtschaft steht mit Gott, aber nur als ‘der Einzelne'”[11], in einem Zerwürfnis und Zwiespalt mit der ebenso sicheren Tatsache ist, dass er als “Einzelner” nicht leben kann, da er in seiner Welthaftigkeit und Geschlechtlichkeit Teil der animalischen Schöpfung ist, geboren ohne Wissen und Wahl in ein Leben im Schatten des Todes, der Triebhaftigkeit ausgesetzt und der Macht der Menge. “Das Steigen der Zivilisation, das Aufkommen der grossen Städte, die Zentralisierungen und was all diesem entsprach und es wesentlich hervorbrachte, die Presse als Mitteilungsmittel hat dem ganzen Dasein eine völlig verkehrte Richtung gegeben. Das persönliche Existieren hörte auf[12].”

Es ist dieser nicht lösbare Widerspruch, auf den sich Kierkegaard konzentriert, als Einzelner  – mit dem Auftrag zu existieren – sich immer im Ungenügen zu spüren und dem Auftrag nicht gerecht zu werden. “Je mehr ein Mensch sich daran gewöhnt, an allem zu partizipieren, bis hin, überall mitzumachen, desto mehr wird der Geist in ihm abgestumpft[13]. Zwar werde Karriere, ein Posten als Professor oder Beamter möglich, aber letztlich sei dies eine “satirische Kollision” der Eitelkeit, der Suche nach Vorteil und der Mittelmässigkeit. “Die andere Klasse – die Ungleichartigen – von ihnen gilt meistens: sie haben keinen Vorteil, qualvoll und leidvoll ist ihr Leben, nur getröstet durch den Gedanken an den Tod, aber die Welt hat Vorteil davon, dass sie gelebt haben, denn sie sind es, die das Neue einsetzen”[14].

Doch das Neue lässt sich nicht voraus sehen, was noch nicht ist, ist auch dem aufmerksamsten Blick auf die Sinnhaftigkeit verhüllt. Kierkegaard selber sieht sich in diesem Verhalten des Nichtwissens. “Dies, dass ich beständig rücklings gehe, ist ein qualitativer Ausdruck für Furcht und Zittern. Ich bin nicht so gewendet, dass ich mit feierlichen Redensarten über das Zukünftige und darüber, was ich will, spreche. Nein, so herum gewendet, verstehe ich, dass ich gar nichts vermag. Dann wende ich mich rückwärts, strebe heute mit äusserster Kraft so gut ich kann; und so geht es Monat um Monat, Jahr und Jahr – und nun erst sehe ich das Erreichte.[15] Das Nichtwissen aushalten, das Gewahrwerden der Angst annehmen, den kritischen Rückblick auf das Gesagte und Gelebte nicht scheuen, das Nichtübereinstimmen mit der Menge und deren Bewertung ertragen – all dies ist Kierkegaard’s Aufmerken und Erkennen auf einem mäanderhaften philosophischen Weg, der den Vergleich mit Sokrates – auch jenen mit Blaise Pascal – nahe legt. Als Mensch war er verstrickt in die Zeit der Umwälzung Europas in die Diktatur der industriellen Massenproduktion, welcher sich die Existenzphilosophie durch den Blick auf das Dasein des Menschen – auf den Menschen selbst – entgegenstellte.

Kierkegaard war für Martin Heidegger, der 1889 zur Welt kam, gewissermassen Vorbild des Zugeständnisses der Tatsache des “Geworfenseins” des Menschen, des von Angst und von Sorge geprägten  “In-der-Welt-seins”, dem er ausgeliefert ist, einem Da-Sein zum Tode – zum Nichts – hin[16], das über “das Sagen” – die Sprache – das Unausgesprochene und Verborgene von sich selbst vermitteln kann. Auf Kierkegaards selbstkritischen Blick – gewissermassen auf die Umsetzung der Skepsis im Blick auf den Spiegel, damit des erkennenden Mutes in Demut – verzichtete Heidegger (oder fand dazu erst sehr spät). Ähnlich verhielt er sich auch im Verhältnis zu seinem Lehrer Edmund Husserl, dessen sorgfältige erkenntnisanalytische Phaenomenologie sich dem damals modischen Psychologismus entgegenstellte, jedoch die psychischen Phaenomene, die das menschlichen Erkennen mitprägen, in die Erarbeitung seiner kritischen Erkenntnistheorie miteinbezog. Heidegger war ein virtuoser und zugleich selbstverliebter Aesthet in der Sprache, strebte nach professoraler Beachtung und Macht, ohne sich selbst zu hinterfragen, irgendwie geprägt durch die von ihm vertretene Fundamentalontologie[17]. Existenz wird bei Heidegger schliesslich als “Ekzistenz” – als Ausstand – verstanden, als nach Aussen umzusetzender Gehorsam gegenüber dem vom Menschen nicht gewählten, ihm unbekannten, aber auf ihn in seinem Da-sein in der Zeitlichkeit übertragenen Sein, das “über das Denken sich in die Sprache, aus der Verborgenheit ins Licht  bringt“. Gemäss Heidegger ist der Mensch zwar ins Dasein geworfen und von Sorge getragen, jedoch als verstehendes und den anderen Menschen gegenüber fürsorgendes Wesen der Sinnhaftigkeit fähig.

Es ist eine Art “pfarrerartige” Abwehr des kritischen Hinterfragens bei Heidegger spürbar, eine Art narzissstischen Selbstgefallens, das mich beim aufmerksamen Untersuchen seiner Schriften im Rahmen der Existenzphilosophie umso kritischer stimmte, als er vor allem in Frankreich eine eigentliche Anhängerschaft um sich scharte. Doch was bedeutet seine vom universitären Katheder verkündete Theorie angesichts der Tatsache seines nationalsozialistischen Mitläufertums, des perfiden Verhaltens, das er seinem alten jüdischen Lehrer Husserl gegenüber zeigte, seines Übergriffs als Lehrer auf die junge Hannah Arendt, seiner Überheblichkeit in Bezug auf den kaum älteren philosophischen “Kollegen” Jaspers?

Gewiss, es sind Überlegungen im Zusammenhang der Frage nach Übereinstimmung von existenzphilosophischem Denken und persönlicher Existenz der Philosophen, die in kritischer Hinsicht auch bei Jean-Paul Sartre eher unbefriedigt bleiben. Besteht Überheblichkeit auch in der Skepsis, die Teil der Aufmerksamkeit ist? In philosophischer Hinsicht war Sartre von Heidegger beeinflusst hinsichtlich der in “L’être et le néant” erarbeiteten Darstellung des menschlichen “Ansichseins” und des Ausgesetztseins dem Blick der anderen als einer Tatsache der existentiellen Gestaltungsmöglichkeit, die dem Menschen dank der Freiheit zusteht, einer Kraft, die gesteigert wird durch “dégout” angesichts der Vernunftlosigkeit und Verweigerung der Akzeptanz des Nichts. Für Sartre führen die von ihm entworfenen “chemins de la liberté” in die Ertragbarkeit von Sein und von Nichts im Dasein, steht doch die Widersprüchlichkeit des Alleinseins in der nicht-wählbaren Besonderheit der individuellen Existenz. Im gleichen Menschsein jeder Existenz  gibt es jedoch Wahlmöglichkeiten des Handelns, die in Sartre’s “Existentialisme est un humanisme” ausgesprochen werden.

II 2. Existenz und Kommunikation

“Philosophieren heisst nicht, phantastisch zu phantastischen Wesen reden, sondern in der Philosophie wird von Existierenden zu Existierenden geredet.[18]

Nochmals verweise ich im Übergang existenzphilosophischer Ausrichtungen auf Kierkegaard. Auch für Karl Jaspers, der von der Psychopathologie zur Philosophie kam, ist es dem Menschen in seinem individuellen Dasein nicht von Nutzen, Gegenstand von Theorien zu sein. Theorien betreffen nicht die Realität der Komplexität seiner Existenz. Die Untersuchung der grossen philosophischen Lehrgebäude, die Jaspers vornimmt, gestatten den aufmerkenden Erkenntniseinblick in die Geschichte des Denkens.

Für Jaspers ist von zentraler Bedeutung, dass in jeder Aktualität “Existenzerhellung” dank der von Mensch zu Mensch umsetzbaren “Kommunikation” möglich ist; sie kann “angeeignet werden” als persönlicher existentieller Wert: Erkennen ist “Appell an die Freiheit”. Gemäss Jaspers stehen dem Menschen, der sich seiner Subjekthaftigkeit und gleichzeitig seiner Objekthaftigkeit bewusst ist, Wahlmöglichkeiten zu, die über das Denken hinausgehen, die getragen werden von der Psyche, die nach der praktischen Umsetzung des Erkennens strebt. In der Nichtübereinstimmung der Vielzahl menschlichen Bestrebungen bedarf es einerseits der Aufmerksamkeit der Kommunikation, andererseits des staatlichen Ordnungssystem, damit sowohl ein Verstehen möglich ist wie eine Alltagspraxis des Tuns, die verbindlich sein kann. Denn für Jaspers ist der einzelne Mensch in seinem Dasein Teil der Welt. Dank dem Bewusstsein sucht er Gegenständliches zu ergründen und Antwort auf Erfahrungen zu finden; in seiner Geistigkeit – Geist und Seele im Sinn von “psyche” – ist er auf die Transzendenz ausgerichtet, die sich in philosophischer Hinsicht – anders als von den Religionen her – jeglicher Objektivierung entzieht. Transzendenz steht in aller Offenheit der Aufmerksamkeit des suchenden Geist  über die ihm eigene Möglichkeit der Kommunikation zu.

“Kommunikation” wiederum verweist auf die Tatsache des menschlich Gemeinsamen (“communis”). Auf diesen wichtigen existenzphilosophischen Aspekt bei Karl Jaspers (vor allem in “Philosophie II” und “Philosophie III”) geht Martin Buber ausführlich in seiner Klärung der “Geschichte des dialogischen Prinzips”[19] ein, die er in der Philosophiegeschichte zurückleitet, auf Friedrich Heinrich Jacobi (noch Ende des 18. Jhdts.), auf  Sören Kierkegaard, die er über Ludwig Feuerbach und Hermann Cohen u.a.m. auf unterschiedliche Weise fortgesetzt findet und die, wie er nachweist, sich in der Zeit des Ersten Weltkriegs als Ausweg aus der kaum mehr tragbaren Verzweiflung der Einsamkeit verdichtet (u.a. Franz Rosenzweig). Existenzphilosophie, Kommunikation und Dialogik können daher als sich ergänzende Bewegungen verstanden werden.

Das Dialogische ist Teil der Kommunikation. Es meint das Zwei-/ Zwiegespräch, nicht den doppelten Monolog des ins Dasein geworfenen Ich, sondern ein Neben- und Miteinander im Gespräch zwischen Ich und Du, ein gegenseitiges An- und Zuhören, dabei auch Aushalten und Stehenlassenkönnen der Differenz, des anderen Arguments, der anderen Überzeugung, der Andersheit des anderen Menschen, des – vielleicht störenden – Widerspruchs, all dies in Anerkennung der Parität des Menschseins im je eigenen Anderssein, ohne Herabsetzung oder Entwertung.

“Dialogik” bedeutet somit Überwindung der monokausalen und/oder apodiktischen Theorien der einzigen, alleinigen Wahrheit. Diese gibt es nicht, wie das aufmerksame, skeptische Ergründen nahe legt. Jedes Erkennen macht nur Sinn, wenn es dem anderen Erkennenden vermittelt werden kann. Die dialogische Veränderung kann heissen, dass es möglich ist, dass das Ich über das Du auch das Es in die Beziehungsvielfalt des In-der-Welt-seins aufnehmen kann, dass auch die von Jaspers entworfene Offenheit zur Transzendenz hin Sinn macht. Martin Bubers Sprache erinnert eher an Mystik denn an Philosophie, wobei er die eine und die andere Art der Vermittlung von Erkenntnis verbindet. “Freilich setzt die Akzeptation, je weiter der Mensch sich in das Abgetrenntsein verlaufen hat, ein um so schwereres Wagnis, eine umso elementarere Umkehr voraus; ein Aufgeben nicht etwa des Ich, wie die Mystik zumeist meint: das Ich ist wie zu jeder Beziehung so auch zur höchsten unerlässlich, da sie nur zwischen Ich und Du geschehen kann; ein Aufgeben also nicht des Ich, aber jenes falschen Selbstbehauptungstriebs, der den Menschen vor der unzuverlässigen, undichten, dauerlosen, unübersehbaren, gefährlichen Welt der Beziehung in das Haben der Dinge flüchten lässt”[20].

Die Flucht aus der Einsamkeit in das “Haben der Dinge” resp. in Kapital und Kapitalismus wurde interessanterweise kaum als Versagen der Kommunikation im existenzphilosophischen Sinn untersucht. Im Zusammenhang von Karl Jaspers und Hannah Arendt, auch in jenem von Simone Weil bin ich diesen Aspekten nachgegangen[21]. Darüber später mehr. Bei Jaspers weckt ein skeptisches Aufmerken, dass er  “den Menschen” als “aristokratische” Verwirklichung menschlichen Daseins versteht, der sich von derjenigen des “Massenmenschen” abhebt, dass er nur denjenigen als zu echter Kommunikation fähig erachtet, die er als “Solidarität der Besten” versteht, ein elitäres Menschenbild, das – so 1931 in “Die geistige Situation der Zeit” festgehalten – in späteren Ausgaben nicht korrigiert wurde. Selbst nach der aufwühlenden Erfahrung des Kriegs blieb für ihn das sozialistische Postulat der Gleichheit der Menschen hinsichtlich des Menschseins – im Sinn gerechter Eigentums- und Einkommensverhältnisse resp. einer Korrektur des kapitalistischen Elitensystems – zweitrangig, auch wenn er den “Sozialismus als Grundzug unseres Zeitalters” bezeichnete. Erst in einem späten Interview findet sich, in Abstützung auf Rosa Luxemburg, eine Erklärung, dass Kommunismus und demokratische Freiheit miteinander einhergehen können resp. einer dualen Ethik der Kommunikation entsprechen können.

Bei Hannah Arendt ist das für die Existenzphilosophie wichtige Gleichheitspostulat menschlichen Lebenswertes in rechtlicher Hinsicht auf Chancengleichheit reduziert; in ethischer Hinsicht geht es auf sokratische Weise viel weiter. Irgendwie galten für sie unterschiedliche eigene Massstäbe. Auch war sie auf doppelte Weise beeinflusst – sowohl durch ihren Lehrer Karl Jaspers, den sie sehr verehrte und nach dem Krieg Jahr für Jahr besuchte, wie durch ihren Mann Heinrich Blücher, einem Berliner Arbeitersohn, der ein vehementer Anhänger der von Rosa Luxemburg geschaffenen marxistischen Spartacus-Bewegung war. So vertrat sie die Auffassung einer oligarchischen “aristokratischen Staatsform”, die letztlich dem Modell der griechischen “polis” entsprach. Es würde ihrer Meinung nach “keine Schande bedeuten, von der Politik ausgeschlossen zu sein”, das wäre “nicht zu vergleichen mit der Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte… Nur wer an der Welt wirklich interessiert ist, sollte eine Stimme haben im Gang der Welt[22].”  Für Hannah Arendt hatte der Blick auf die Zeitgeschehnisse eine Resignation bewirkt; sie stellte fest, dass der den Revolutionen zugrundeliegende Geist der “arché” – der Freiheit – sich nicht umsetzen liess, da immer wieder Machtmissbrauch überhand nahm.

Hannah Arendt verharrte jedoch nicht auf der Resignation, welche durch die Erfahrungen im öffentlichen Bereich auf ihr lastete; sie ging auf den ethischen Wert der Kommunikation im Beziehungsgeflecht des Menschen ein, gewissermassen auf eine existenzphilosophisch kreative Vertiefung der Dialogik.  Gemäss ihrem Entwurf in “Vita activa”[23] befähigt die dem Menschen durch seine “Gebürtlichkeit” innewohnende Freiheit ihn zum existentiellen Neubeginn im Zusammenleben mit anderen Menschen: dank dem Vermögen “zu sprechen und zu verzeihen”, Zukunft zu setzen und Vergangenheit nicht zu annulieren, aber zu akzeptieren. “Beide Fähigkeiten können sich nur unter den Bedingungen der Pluralität betätigen, der Anwesenheit von anderen, die mit-sind und mit-handeln. Denn niemand kann sich selbst verzeihen, und niemand kann sich durch ein Versprechen gebunden fühlen, das er nur sich selbst gegeben hat. Versprechen, die ich mir selbst gebe, und ein Verzeihen, das ich mir selbst gewähre, sind unverbindlich wie Gebärden vor dem Spiegel. Die Fähigkeit zu verzeihen und zu versprechen sind im Vermögen des Handelns verwurzelt; sie sind die Modi, durch die der Handelnde von einer Vergangenheit, die ihn noch immer festlegen will, befreit wird und sich seiner Zukunft, deren Unabsehbarkeit bedroht, halbwegs versichern kann[24]“.

Dank dieser existentiellen Befähigung kann der Mensch das Getane nicht ungetan machen, doch er kann sich der oft lähmenden Gefühle der Ohnmacht teilweise entbinden, hält Hannah Arendt weiter fest, nicht indem er eine religiöse Pflicht befolgt – sie bezieht sich dabei auf das hohe Ethos des Verzeihens, das Jesus von Nazareth, den sie als grossen jüdischen Lehrer bezeichnet und dessen Lehre zur Begründung des Christentums führte – sondern indem er ernst nimmt, was ihm als Menschen zusteht. Wir finden hier eine mit faszinierender Aufmerksamkeit bestätigte Bedeutung des Prinzips der Reziprozität.  Doch, können Verbrechen von der Tragweite des “radikal Bösen” verziehen werden, “Verbrechen an der Menschheit” (nicht “gegen die Menschlichkeit”, wie Karl Jaspers formuliert hatte und wie noch meist gesagt wird)? In einem unveröffentlichten Vortrag von 1954 hielt Hannah Arendt  fest, dabei gehe es um “eine Erfahrung des Grauens und des sprachlosen Entsetzens über das, was Menschen tun, und darüber, was aus der Welt werden kann”. Doch selbst wenn es um das “radikal Böse” gehe, das den zwischenmenschlichen Bereich zerstöre, seien Schuld und Verzeihen ganz und gar persönlich. “Der Schuldbegriff macht nur Sinn, wenn er auf Individuen angewendet wird. Dergleichen wie kollektive Schuld oder Unschuld gibt es nicht”, hielt sie in einer Radiosendung von 1964 fest. Immer ist es der Mensch – und wieder der Mensch, und wieder der Mensch – in seinem eigenen Urteilsvermögen resp. seinem Gewissen, der auf seine kritische oder warnende innere Stimme horcht oder sie verdrängt und beseitigt, immer ist es das persönliche Urteilsvermögen des Menschen, das ihn für sein Handeln verantwortlich macht, auch wenn er einer unter vielen ist, die sich einer “höher stehenden” Macht im Gehorsam unterwerfen.

Hier zeigt sich die Schwierigkeit in der Nichtübereinstimmung von Hannah Arendts elitärer politischer Machtlegitimation und der existenzphilosophischen Bedeutung der handlungsbestimmenden menschlichen Urteilskraft. Es ist gerade in der heutigen Zeit von grosser Bedeutung, darauf einzugehen. Die Urteilskraft resp. das Gewissen des Menschen wird zugleich von rationalen wie von psychischen Kräften geleitet , die wiederum beeinflusst werden von den frühesten Erfahrungen in der Kindheit, welche die Massstäbe für Werte, für das Gute und das Böse resp. für das “richtige” Handeln setzen. Werden zentrale Bedürfnisse des Kindes nicht beachtet, sondern von Erwachsenen missachtet, übergangen oder von Bedingungen abhängig gemacht, die das Kind nicht erfüllen kann, entwickelt sich aus Überlebensgründen eine Haltung der Unterwerfung und des blinden Gehorsams, eventuell eine Anpassung an die Spielregeln von Gewalt, Gegengewalt und Rache.

Wie kann sich bei einem Menschen, der in der Kindheit durch die Erfahrung der Ohnmacht, des Ausgeliefertseins und der Hilflosigkeit nur Leiden erlebte, auf den übertragen wurde, was seit Generationen erlebt worden war, im Erwachsenenleben das Bedürfnis nach Freiheit so entwickeln, dass es dem Entwurf Hannah Arendts entspricht? Schuld und Leiden, Leiden, Scham und Schuld sing eng miteinander und untereinander verwoben. Damit mit dem Erkennen ein “Neubeginn” möglich wird, bedarf es anderer Erfahrungen der Kommunikation: jener des Respekts, der dem Unbewussten zulässt, sich zu öffnen, der Verstehen und “sym-pathein” miteinbezieht, der Trauer und Heilung möglich macht. Psychoanalyse und Traumatherapie erweitern über die Sorgfalt der Aufarbeitung verborgener, häufig vielfach verschlüsselter Teile im Menschen, aus denen Angst vor dem eigenen Ich und Angst vor dem Anderen übermächtig werden kann, dass tatsächlich kreative seelische Kräfte auf die Entschlüsselung warten. Es ist die Erfahrung der Reziprozität (“recus” – rückwärt, “procus” – vorwärts), zugleich des gleichen menschlichen Wertes wie der einzigartigen existentiellen Besonderheit, die in der zwischenmenschlichen Kommunikation, die als Dialog wie als dialogische Dialektik immer den gleichen Subjektwert voraussetzt und umsetzt, mehr als existentiellen Neubeginn eröffnen kann. Diese “Grammatik” des menschlichen Zusammenlebens lässt sich halten und fortsetzen[25].

 

III  Existenz – Flüchtigkeit und Dauer

III 1. Zeit und Existenzzeit

Ich werde zum Abschluss nicht auf die wissenschaftlichen Zeituntersuchungen eingehen, sondern auf die existentiellen, in Verbindung von Philosophie, Psychoanalyse und Traumatherapie.

Wie erlebt der Mensch die Zeit? Generell lässt sich sagen: auf je subjektive Weise, als einen Teil seiner selbst, zumeist bestrebt, dass die guten Spuren der Zeit sorgfältig gehütet und bewahrt werden, als könnten sie das Zerrinnen der Zeit aufhalten und eine Garantie darstellen gegen das Vergehen, während die lebensbedrohlichen Spuren ins Unbewusst eingepackt werden, als sei mit der Verdrängung eine Heilung verbunden – was nie der Fall ist.

Beim unbewussten psychischen Vorgehen der Verdrängung geht es um das mit der Zeitvernetzung verbundene Vorausschauen auf Zeitabläufe, die noch nicht sind, bei einzelnen Menschen eine sorgenvolle und ängstigende  Unsicherheit, bei anderen ein vorausschauendes Streben und Hoffen, wiederum bei anderen Menschen ein Berechnen und Planen, immer gestützt auf die psychischen Voraussetzungen, je nachdem auf die im Innern verborgene, auf das Erleben und Erkennen sich abstützende Kraft, die Bergson „l’élan de la conscience“ nennt, d.h. den mit dem Bewusstsein verbundenen Schwung[26]. Ob das Bewusstsein es vermag, wie Bergson annimmt, dass die im Unbewussten eingebetteten und daher sprachlos gewordenen, geheimen Erfahrungen der gelebten Zeit sich im Dunkeln rühren und eventuell gar lichterfüllt in die sprachliche Mitteilung und so in die Verarbeitung vorrücken, ob sie dadurch die kommende Zeit des Ich-Seins im nicht abwendbaren Vergehen der körperlichen Lebendigkeit auf stärkende Weise beeinflussen, ist sehr unterschiedlich. Dass es auf gute, beruhigende Weise gelinge, ist ein grosser Wunsch. „Zu wissen, dass die Zeit eine Einbildung ist und nichts mich zur Eile drängt. Ich möchte einmal wirklich schauen dürfen und die Dinge so sehen, wie sie sich uns nie zeigen“, hielt Marlen Haushofer fest, die ungewöhnliche österreichische Schriftstellerin, für welche die Sprache als Weg aus der Kolonisation in die Autonomie und die geheimnisvollen Kräfte, die Liebe heissen, die grösste Bedeutung hatten. Ob Liebe mit der Lebenskraft des Atems übereinstimmt, mit dem warmen Hauch, in welchem die Sprache in der Weiblichkeit wie in der Männlichkeit zum verstehenden Austausch wird und zugleich die Differenz trägt, oder ob sie die stärkste Manifestation der in der Menschlichkeit kaum erfüllbaren, tiefen Sehnsucht nach Aufhebung der Zeit ist, mittels der Sexualität – des „schönen Beischlafs“, wie Elfriede Jelinik schreibt -, wie dank der Fortsetzung des eigenen begrenzten Lebens in einem Kind – vielleicht in mehreren Kindern -, wie gemäss Bergson dank der Erfahrung zeitunabhängiger Dauer durch Erfahrung von Verlässlichkeit in zwischenmenschlicher Zusammengehörigkeit, immer ist Liebe verbunden mit der zeitlosen Zeit, mit dem nicht begrenzten Raum und mit der vielseitigen Kraft der Aufmerksamkeit, d.h. Liebe ist die in der Menschlichkeit am stärksten spürbare Dauer.

Die Frage, wie und warum sowohl die vergangene wie die noch nicht erlebte Zeit die jeweilige Bedeutung der Zeit vorweg beeinflussen, trifft im Bereich der Existenzphilosophie mit der ethischen Kernfrage zusammen, auf welche wir im Zusammenhang von Kierkegaard bis zu Hannah Arendt schon gelangten: mit der Frage, was ein „gutes“ und was ein weniger gutes, eventuell gar ein „schlechtes“ Leben sei und was es bewirke. Wäre Zeitlosigkeit die „condition humaine“ und nicht Zeit, und würde Zeit nicht immer im Zeichen des Todes stehen, würde sich die Frage nach dem „guten Leben“ nicht stellen. Die Kernfrage der Ethik hat mit der Tatsache zu tun, dass die zu lebend Zeit befristet ist, dass dem Menschen die Aufgabe gestellt ist, die Frist mit Hilfe der Erkenntismöglichkeiten, trotz aller Einschränkungen in der Umsetzung des Erkennens ins Handeln, möglichst gut zu nutzen. Ob Gefühle der inneren Befriedigung, des inneren Friedens, sogar des Glücks miteinhergehen, mag ein spürbarer Massstab für eine gelingende Ich-Entwicklung sein. Leicht ist dies kaum.

Sarah Kofman, zum Beispiel, hielt im letzten schmalen Werk vor ihrem Tod im Jahre 1994 eine vorsichtige, selbst im Nachlesen schmerzliche, fragmentierte Spurensicherung ihres eigenen Ich fest[27], über das Erzählen des Erinnerbaren aus der Kindheit und aus der Zeit des Heranwachsens, über das Benennen und Untersuchen der Leerstellen, der Brüche, der sprachlos gebliebenen Verluste, so der Deportation und der Tötung des Vaters in Auschwitz, auch über das Nachspüren der traumatisierenden Identifikationsdiffusion zwischen der inneren Beziehung zur Mutter und andererseits zur Hilfsmutter/Ersatzmutter/Wahlmutter. Es ist eine späte Spurensicherung mit Hilfe der Sprache (worauf wir schon am ersten Abend eingegangen sind), nachdem sie mit grosser Sorgfalt und vorbildlichem Respekt in ihrem ganzen Werk den Versuch der Rückgewinnung des Ich in den Erzählungen der Überlebenden aus den Lagern der Vernichtung des individuellen Ich und des Menschheits-Ich mit Hilfe der analytischen Arbeit zu verstehen versucht hatte. Das Schreiben, das Zuhören, das Verstehen und Sprechen werden bei Sarah Kofman zur Möglichkeit, die Bilder aus der Sprachlosigkeit zu befreien und das Unsägliche zu benennen, so dass das Ich seinen/ihren Platz und Namen in der eigenen Geschichte, in den Beziehungen der Welt, auch in Hinblick auf die nicht berechenbare Zukunft – den letztlich unabwendbaren Tod – wiedergewinnen kann.

Immer wieder stelle ich in meiner existenz- und gesellschaftsanalytischen Arbeit fest, dass das Gefühl für den Rhythmus der Zeit, häufig selbst das Gefühl für Recht und Unrecht verloren geht, wenn Ermattung überhand nimmt und die Kraft des Widerstands gegen bedrohliche Angst oder gegen fremde Machteinflüsse schwächer wird. Die Unterwerfungszugeständnisse, die in solchen Zeiten gemacht werden, demütigen die Menschen vor sich selber in einem Mass, dass sie sich klein und ohnmächtig fühlen. Ein Verlust der Lebensliebe ist beim Verlust jeglicher sicheren Liebe zu befürchten, wenn Gefühle der Entfremdung überhandnehmen. Doch immer besteht auch die Möglichkeit, dass diese Krisenerfahrungen zu einer Ich-Stärkung führen, zu einer zustimmenden Identitätsfindung sowohl im Zusammenhang der Geschichte (der weit zurückführenden Herkunftsgeschichte wie der eigenen, häufig schmerzlichen Entwicklungsgeschichte) wie des Entwurfs des noch offenen, wenn gleich begrenzten Lebens. Es geht um die von der Psyche aus beeinflussbare Sinnhaftigkeit der Zeit des Lebens selbst im Wissen um den Tod.

Neben den für mich so bedeutenden Überlegungen Sarah Kofmans gibt es eine Fülle von Texten, welche diese Überlegungen auf spezifische bestätigen. Nur auf sehr wenige ist es möglich, kurz hinzuweisen. Als Margarete Susman fast neunzig Jahre alt war (1963, drei Jahre vor ihrem Tod), vollendete die erblindete Philosophin und Dichterin ihren Lebensrückblick[28], den zu schreiben das Leo Baeck Institut in New York sie gebeten hatte. Persönlich zu schreiben war nicht mehr möglich, und so verschlang das ungewohnte Diktieren mehrere Jahre. Als sie das Buch abschloss, bezeichnete sie es als Fragment. „So ist die Zeit“, hält sie in der Einleitung fest. „Ein Tag nach dem anderen vergeht. Eben noch war es Abend, nun ist es wieder Morgen geworden, und ich muss ein Blatt von dem grossen Kalender auf meinem Schreibtisch abreissen, und in kaum mehr als einer Minute wird es wieder Abend sein. So geht es fort, und aus all diesen Minuten spinnt sich ein langes, unbegreifliches Menschenleben zusammen, ein Leben (…), in dem das Selbstverständliche unbegreiflich und das Unbegreifliche selbstverständlich geworden ist.“  Dies galt für sie auch beim angstfreien Wegrutschen aus der Zeit, beim spürbar angstlosen Hinübergleiten in den Tod, wie die Margarete Susman nahestehende Begleiterin Henriette Hardmeier mir vor Jahren erzählte. (In diesem Frühjahr ist auch sie gestorben).

Auf besondere Weise berührte mich auch die präzise, sorgfältige Selbstbetrachtung[29] des amerikanischen Schriftstellers Harold Brodkey, der, 1930 geboren, 1996 in N.Y. an den Folgen eines nicht heilbaren Aids-Infektes starb. Er schildert sich selber als „Hypochonder“ während seiner ganzen Lebenszeit, die für ihn erfahrungsreich und beziehungsreich war, auch immer geprägt durch „einen äusserst festen Sockel für meine Stimmungen und Geisteszustände, für meine mentale Landschaft”. Eines Tages aber musste er die Symptome einer völlig neuen Krankheit in sich entdecken. „Mein Leben hat sich irreversibel verändert, auf dieses Sterben hin“. Um verständlich zu machen, was die „irreversible Veränderung“ bedeutet, nimmt er die früheren Erlebnisse und Denkprozesse auf und geht zunehmend auf das sich leise öffnende „echte Staunen“ ein. „Man möchte das Wirkliche noch hie und da erspähen. Gott ist etwas Unermessliches, während diese Krankheit, dieser Tod, der in mir steckt, dieses kleine, banale Ereignis, lediglich real ist, restlos, ohne ein Wunder zu bergen – oder eine Lehre. Ich stehe auf einem frei dahintreibenden Floss, einem Kahn, der sich auf der biegsamen, fliessenden Oberfläche eines Stroms bewegt. Eine unsichere Situation. Ich weiss nicht, was ich da tue. Die Unwissenheit, die angespannte Balance, die abrupten Stösse und die Instabilität breiten sich in kleinen, immer weitere Kreise schlagenden Wellen über all meine Gedanken aus. Frieden? Den hat es auf der Welt nie gegeben. Doch auf dem geschmeidigen Wasser, unter dem Himmel, unverankert, reise ich nun dahin und höre mich lachen, zuerst vor Nervosität und dann vor echtem Staunen. Ich bin davon umgeben.“

III 2. Vom Wert der Aufmerksamkeit

Vor einigen Jahren bat mich B., eine seit sieben Jahren an Krebs leidende, knapp 50jährige Frau, die sich der Unheilbarkeit und der sich beschleunigenden Todesnähe bewusst war, dass wir gemeinsam auf all das gelebte Leben und die sich verengende Zukunft eingehen. Sie war weder Philosophin noch Literatin, sie stammte aus einfacher, ländlicher Schweizer Familie. Dank ihrem Schönheitsgefühl hatte sie einen erfolgreichen Kunsthandel aufgebaut. Die „Abschlussarbeit“, die sie, müde und erschöpft,  mit grosser Verdichtung zustandebrachte, entsprach einer ausklingenden Komposition. Was ich aus den Gesprächen während der letzten Lebenstage notierte, hielt ich als Text fest:

“In der Welt sein und Teil der Welt sein ist der einzige Zustand, den ich kenne – den  wir Menschen kennen. Es ist gleichbedeutend mit Lebendigsein, mit Leben. Er schliesst alles ein, was unsere Existenz ausmacht, was ich seit dem Anfang des erwachenden Bewusstseins in frühester Kindheit erfahren habe: erwachen, tätig sein, ruhen, durch Strassen und über Plätze eilen, Gewässern entlang oder durch Wiesen streifen, allein sein oder nicht allein sein, lernen und immer wieder lernen, planen, Pläne ausführen, eine Hand halten, lieben, geliebt werden, Verluste erleben, Trauer und Verzweiflung durchstehen, sich stark fühlen oder krank und verlassen, Hunger haben, sich gesättigt fühlen, einen Platz ausfüllen in einem Tätigkeitsbereich, in einer Familie, in einem Dorf oder in einem Freundes- und Freundinnenkreis, Entscheide fällen, Entscheiden ausweichen oder fremde Entscheide annehmen müssen, schuldig werden, Gutes tun, Verzeihung erfahren oder selbst verzeihen, nützlich sein, für politische Ideale wirken, leiden, Angst kennen und Ausweglosigkeit, die Nähe des Todes spüren, Distanz nehmen, loslassen und zugleich mich noch verwurzelt fühlen in dieser geschenkten, befristeten Zeit, die das Leben bedeutet.

Nur dies kenne ich, vielleicht kennen wir, sonst nichts, nur diese Welthaftigkeit. Über deren Grenzen und Bedingungen aber, über deren Ursprung und Ziel drängt es nachzudenken. Unsere menschliche und diesseitige Welthaftigkeit ist zugleich Geisthaftigkeit, Ahnung einer geheimnisvollen und verborgenen Zugehörigkeit zu einer zeitüberdauernden, bedingungsfreien, jenseitigen Welt, von der wir, die Lebenden, keine Kenntnis haben, die sich erst jenseits der Zeit und jenseits des Todes erschliesst. Sterben nennen wir die Passage von dieser Welt in die unbekannte.”

“Was weisst du vom Sterben”, hatte B. mich eine Woche vor dem Tod gefragt. Sie hatte mich gerufen, weil sie, wie sie sagte, dringend Hilfe brauchte, weil erstickende Angst sie tagsüber und nachts überfiel wie Hundegebell.

“Ich weiss nur wenig, nur was ich aus beobachtender Nähe erfahren konnte, mehr nicht”.

“Ist es schrecklich?”

“Ich denke nicht, da die Angst dann ein Ende hat”.

“Dann ist es etwas Friedvolles?”

“Ja”, sagte ich, “ich denke, dass es etwas Friedvolles ist.

Wie ich von ihr wegging, erinnerte ich mich einiger Zeilen von Karl Kraus, in denen Gott zum sterbenden Menschen spricht (so ist auch der Titel des Gedichts “Der sterbende Mensch”):

“Im Dunkel gehend, wusstest du ums Licht,

nun bist du da und siehst mir ins Gesicht.

Sahst hinter dich und suchtest meinen Garten.

Du bliebst am Ursprung. Ursprung ist das Ziel”.

Der Ursprung ist das Ziel? Wenn das Leben der Ursprung ist, so ist das Ziel wiederum das Leben? Ist deshalb Sterben etwas Friedvolles? Weil es eine Passage ist aus dem “Gehen im Dunkel” der unbeantwortbaren Fragen ins Licht? Aus der zerfliessenden, gehetzten Existenz unter dem Diktat des Chronometers, der erbarmungslos tickenden Zeit in die Stille des zeit- und bedingungslosen Lebens?

Der Ursprung ist das Ziel. Vielleicht findet sich in diesem knappen Satz die Antwort auf die Frage, was Existenz unter den Bedingungen der Zeit auferlegt ist. Was im Zwiespalt von Ausgesetztsein und Freiheit zu erfüllen ist. Die Antwort kann heissen, dass das Leben, wie es ohne Wahlmöglichkeit von Herkunft und Zeit als Welthaftigkeit erfahrenwird, wie es gleichzeitig dank der menschlichen Geisthaftigkeit, dank den Talenten und Befähigungen gestaltet und verwirklichet werden kann, ernst zu nehmen ist. Denn immer ist die Zeit nur als Gegenwart erlebbar, als Abfolge von nicht wiederholbaren, einmaligen Augenblicken, die in ihrer Einmaligkeit und Nichtwiederholbarkeit, in ihrer Unaustauschbarkeit jeden Atemzug, jeden Schritt, jede Begegnung und jede Berührung, auch jede Erkenntnis einmalig machen. Mir scheint, dass auch B. gegen Ende ihres Lebens darum wusste. Mehrmals sprach sie vom Glück, frühmorgens dem ersten Lied einer Amsel zu lauschen, oder sich im winterlichen Garten von der Nachmittagssonne wärmen zu lassen, oder einfach eine Hand zu halten.

Existenz nach den Bedingungen der Zeit ernst nehmen, heisst auch, den Aufgaben gerecht werden, die jede Einzelne und jeder Einzelne für sich selbst als verpflichtend erachtet, so verschieden diese Aufgaben und die Auffassungen davon sein mögen. Nochmals verweise ich auf B.: sie war in ihrer Pflichtauffassung unbeirrbar. Ordnung in den Dingen und Pünktlichkeit gehörten dazu, geregelte Formen, grösste Präzision in Abmachungen und in der Einhaltung von Abmachungen, und was sie von sich selbst forderte, erwartete sie mit fragloser Selbstverständlichkeit von ihren Mitarbeiterinnen und Geschäftspartnern, eigentlich von allen Menschen, die sie umgaben. Möglicherweise habe sie damit einigen Unrecht getan, überlegte sie sich in einem unserer letzten Gespräche.

Warum hatte B. diese Ordnungsliebe, lässt sich fragen. Sie entsprach einem Bedürfnis. Mag sein, dass Angst vor dem Unberechenbaren, Undurchschaubaren, auch vor dem Unverfügbaren dahinter stand. Mag sein, dass Ordnung ihrem aesthetischen Bedürfnis entsprach, dem Bedürfnis nach Regeln der Harmonie. Nur Deutung ist möglich.

Dass Harmonie selbst eine Übereinstimmung ist, die sich nicht durch Regeln erzwingen lässt, nicht durch Willensanstrengung und Durchsetzungskraft, dass sie als Geschenk widerfährt, wenn der Mensch bereit ist, loszulassen und vom eigenen Verfügen abzusehen, das hatte B. eigentlich nur durch die unerfüllte Sehnsucht nach Harmonie, nur durch den inneren Mangel erfahren. Diese Unerfülltheit mag der Kern ihres Leidens und ihrer Lebenstrauer gewesen sein. Gegen Schluss ihrer schweren Krankheit, die sie mit der gleichen Ordentlichkeit und mit dem gleichen Stil zu bestehen suchte wie jede andere anspruchsvolle Aufgabe, sagte sie, sie habe das alles nun verstanden, sie sei nun bereit abzuschliessen.

Die Kraft zur Synthese der Zeitverhältnisse ist, denke ich, die eigentliche kreative Vernunft. Sie befähigt nicht nur zur Sinngebung in Bezug auf das Vergangene und das Gegenwärtige der Zeiterfahrung, sondern auch zu jener Wachheit, zu jener freiheitlichen Bereitschaft, die Margarete Susman „Rechtzeitigkeit“ nennt. In ihrem Lebensrückblick bezeichnet sie die Rechtzeitigkeit als Gnade. „Ich möchte diese seltene Gnade als einen Augenblick bezeichnen“, hält sie fest, „in dem die Zeit sich aus unserem Leben zurückzieht und nur die reine Gegenwart übrig lässt, und je öfter dies geschieht (ich würde sagen, je intensiver) um so mehr ist ein Leben ein Leben gewesen.

 

[1] a.a.O. S. 172

[2] M. Merleau-Ponty. Das Sichtbare und das Unsichtbare. München 1986. S. 203

[3] – unter ihnen einzelne, auf die wir eingegangen sind, so z.B. Spinoza, Blaise Pascal, Montaigne und Etienne de la Boëtie u.a.m.

[4] Im deutschen Sprachgebiet erachte ich als von entscheidender Bedeutung- sei es im Vorfeld, sei es in der eigentlichen existenzphilosophischen Epoche – insbesondere J.W. Goethe, Hölderlin, Rahel Varnhagen, Heinrich Heine, Rainer M. Rilke, Franz Kafka, Joseph Roth, Alfred Döblin, Max Brod, Heimito von Doderer, Robert Walser und viele mehr, in der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit insbesondere grosse Dichterinnen und Dichter wie Nelly Sachs und Paul Celan, Else Lasker-Schüler, Rose Ausländer, Anna Achmatova und  Osip Mandelstam u.a.m.; in der französischen Sprache Romanciers und Dichter wie Honoré de Balzac, Emile Zola, Victor Hugo, Marcel Proust, Baudelaire, Mallarmé und viele weitere, von ebenso grosser Beachtung die spanischen und die portugiesischen Dichter wie Garcia Lorca, wie Fernando Pessoa, die bedeutenden russischen Schriftsteller – insbesondere Tolstoi, Dostojewski, Tschechov, wie diejenigen der polnischen, tschechischen, galizischen, ungarischen und weiteren ehemals österreichischen Literatur.

[5] Ferdinand Lion. Lebensquellen französischer Metaphysik. Europa Verlag, Zürich 1949, S. 96

[6] Simone Weil. Cahiers II. Edition Plon, Paris 1972. S. 291

[7] Simone Weil. Cahiers III. Edition Plon, Paris 1956/1974, S. 24

[8] ibid. 6, S. 17

[9] Sören Kierkegaard. Geheime Papiere. Eichborn Verlag, Frankfurt a.M. 2004, S. 140

[10] Sören Kierkegaard. a.a.O. S. 160

[11] Sören Kierkegaard. a.a.O. S.176

[12] Sören Kierkegaard. a.a.O. S. 141-142

[13] Sören Kierkegaard. a.a.O. S. 164

[14] Sören Kierkegaard. a.a.O. S. S. 192-193

[15] Sören Kierkegaard. a.a.O. 170

[16] deutlich ist der Einfluss Martin Heideggers auf Jean-Paul Sartre

[17] entsprechend der Bedeutung des griechischen Wortes “on”, Genitiv “ontos” – seiend, wirklich, wahrhaft, eigentlich – und “logos” – das Wort, die Lehre, die Kunde

[18] Sören Kierkegaard. Post-Scriptum, Gallimard S. 78, zitiert von Emmanuel  Mounier. Einführung in die Existenzphilosophien. Karl Rauch Verlag, Boppard a.Rh, 1949, S.17

[19] Martin Buber. Das dialogische Prinzip. Verlag Lambert Schneider, Heidelberg 1979

[20] Martin Buber. a.a.O. Ich und Du.  S. 79

[21] Maja Wicki-Vogt. Ethik der Kommunikation und des politischen Handelns. In: Annemarie Pieper (Hrsg.). Geschichte der neueren Ethik 2. Francke Verlag, Tübingen und Basel, 1992

[22] Aus dem Interview mit Adalbert Reif. In: Hannah Arendt. Macht und Gewalt. Verlag R. Piper & Co. München 1970

[23] Hannah Arendt. Vita activa. Verlag Piper & Co., München 1967 (1958 in Chicago unter dem Titel “The human condition”)

[24] Hannah Arendt. a.a.O.

[25] Maja Wicki-Vogt. Wie steht es mit dem Herzen der herzlosen Medea? – Über das Verhängnis von Rache und über die Möglichkeiten der Korrektur von Leiden. In: Ueli Mäder und Hans Saner (Hrsg.). Realismus der Utopie. Rotpunktverlag, Zürich 2004. – M. W.-V. “Ich wollte ja mal Vogelforscher werden”. Wer war Ulrike Maria Meinhof, die als “Terroristin” gilt? Olympe. Feministische Arbeitshefte zur Politik. Sommer 2004 . – M.w.-V. Irdischer Heimat verirrter Schein. Margarete Susman: Exil als Chance. In: D. Brodbeck,Y.Domhardt, J.Stofer (Hrsg.). Siehe, ich schaffe Neues. eFeF-Verlag, Bern 1998

[26] Henri Bergson. Zeit und Freiheit. Athenäum Verlag GmbH, Frankfurt a.M. 1989 (Originalausgabe: Sur les données immédiates de la conscience. Presses Universitaires de France, Paris. Erste Ausgabe 1888). –  Nobert Elias. Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie. Hrsg. Michael Schröter. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1984.

[27] Sarah Kofman. Rue Ordener – Rue Labat. – S.K.  Konversionen. Hrsg. Peter Engelmann. Edition passagen, Wien 1989

[28] Margarete Susman. Ich habe viele Leben gelebt. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart  1964

[29] Harold Brodkey. This wild darkness. Die Geschichte meines Todes. Übersetzerin: Angela Praesent. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1996

 

Was heisst Aufmerksamkeit ?

Über die gesellschaftliche und politische Grammatik
Bedürfnistheorien aus dem 18. und 19. Jahrhundert und deren Fortsetzung

5. Vorlesung

“Je weniger du bist …, um so mehr hast du, …um so mehr speicherst du auf von deinem entfremdeten Wesen” (Karl Marx, geb. 1818 in Trier, gest. 1883 in London)

Einleitung
Der Mensch in seiner Einzelheit und Besonderheit ist gleichzeitig Teil eines sozialen Geflechts und einer politischen Struktur – einer Familie, einer “Klasse”, einer Masse etc. -, von deren Geschichte und deren Bedingungen, Einflüssen und Entwicklungen er/sie auf vielfache Weise geprägt wird. Diese zu klären bedarf der gesellschaftspolitischen Aufmerksamkeit. Worauf richtet sich diese aus?
Als der 23jährige Karl Marx an der Universität von Jena seine Doktorarbeit einreichte, schrieb er über die “Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie im allgemeinen”. Er befasste sich noch nicht mit den Mangelfolgen des Fortschritts, auf welche er drei Jahre später im Exil in Paris seine Aufmerksamkeit ausrichtete. Das Studium der Antike bot ihm die breite Vorbereitung zum Studium des Menschen – der Natur des Menschen, wie er schrieb – und der Gesellschaft.
Wären die Zeitbedingungen damals freier und ruhiger gewesen, weniger von antidemokratischen Kräften und rassistischen Feindtheorien, von Industrialisierungstempo und kapitalistischem Machtanspruch beherrscht, so wäre die freiheitshungrige Jugend eventuell nicht durch polizeistaatliche Repression in Auflehnung und Aufruhr versetzt worden und Karl Marx’ Wunsch nach einer akademischen Karriere würde sich vielleicht erfüllt haben. Doch die Eventualität in der Vergangenheit ist Fiktion. Karl Marx wurde zum politischen Journalisten und zum Redakteur der “Rheinischen Zeitung” in Köln, schliesslich zum Emigranten, der ab 1843 in Paris begann, zusammen mit Arnold Ruge und weiteren nach Frankreich geflüchteten Deutschen die “Deutsch-Französischen Jahrbücher” herauszugeben und sich über die Fehlentwicklung der Gesellschaft den Kopf zu zerbrechen. So entstanden die – für die heutige Fragestellung überaus bedeutungsvollen – “Philosophisch-ökonomischen Manuskripte”.
Marx hatte trotz seiner breiten Kenntnisse der antiken Literatur übersehen, dass sich gerade in der griechischen Mythologie eine kleine Geschichte findet, welche die Brücke zwischen seinem eigenen wissenschaftlichen und seinem gesellschaftsverändernden Bedürfnis hätte schlagen können, und welche zugleich seiner Entfremdungstheorie als Theorie der Verletzung, ja der Negation der menschlichen Bedürftigkeit, resp. der wichtigsten Grundbedürfnisse wie als Theorie deren notwendigen Einforderung eine – buchstäblich klassische – Abstützung verleiht.

Wir richten unsere Aufmerksamkeit kurz auf diesen Mythos, der sich in Platons “Symposion” findet (was weniger “Gastmahl”, denn “Trinkgelage” bedeutet). Der Mythos handelt von Eros. Sokrates hat ihn, wie Platon festhält, den mit ihm um die Tafel versammelten jungen Männern erzählt, als Korrektur der irrigen Meinungen über die Natur des Eros. Dabei betonte Sokrates, er habe die Geschichte von Diotima vernommen, der “Seherin” resp. der Weisen aus Mantineia, die er als seine grosse Lehrerin verstand. Diotima zufolge war Eros keineswegs vornehmer Abstammung, wie ständig erzählt wurde, und weder war Zeus sein Vater noch Aphrodite seine Mutter. Es verhielt sich völlig anders. Als Aphrodite zur Welt kam, wurde zu ihrer Ehre ein grosses Fest gefeiert, zu welchem alle Götter und Göttinnen geladen wurden. Nur Penia, die Göttin der Bedürftigkeit, hatte keinen Zutritt zum Fest. Da bemerkte sie, die ausgeschlossen war, wie Poros, der göttliche Wegefinder, müde vom Essen und Bechern, sich im Schatten eines Baumes ausruhte. Sie legte sich neben ihn und empfing von ihm den Eros. Daher sei Eros, führt Sokrates aus, weder fein noch schön, sondern, seiner mütterlichen Herkunft entsprechend, immer der Dürftigkeit Genosse, er sei unbeschuht und rauh und schlafe vor den Türen im Freien. Zugleich aber gleiche er seinem Vater, er strebe nach Einsicht, nach dem Guten und nach dem Schönen, er sei einfallsreich und erfinderisch, doch was er sich schaffe, gehe ihm vorweg wieder verloren .
Hier hätte Marx aufmerken und einhaken können. Dass das Schöne und das Gute, wonach die Menschen mit aller Inständigkeit streben, vorweg verloren geht, dass alle Anstrengungen vergeblich sind, dass sie um das Resultat ihres Strebens, ihrer Arbeit betrogen und ständig in die Bedürftigkeit zurückgeworfen werden, ist das schwer tragbare Leiden, das Marx in den sog. “Pariser Manuskripten” von 1844 als “Entfremdung” bezeichnet.

I 1. Entfremdung vom Menschsein
Der Begriff “Entfremdung” stammte ursprünglich von Hegel, der in seinen “Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte” festhielt, dass die menschliche Geschichte zugleich die Geschichte der Entfremdung des Menschen sei. Der Mensch sei nie, was er sein sollte; er sollte sein, was er sein könnte. Eine knappe Formel, welche Hegels Kritik an der – dem Wesen des Seins nie gerecht werdenden – Existenz zusammenfasst. Etwa hundert Jahre später schrieb Walter Benjamin im Exil in Paris in seinem Essay über den “Begriff der Geschichte”, dass “niemals ein Dokument der Kultur sei, das nicht zugleich eines der Barbarei sei”. Und einige Zeilen weiter, dass “die Tradition der Unterdrückten uns darüber belehre, dass der ‘Ausnahmezustand’, in dem wir leben, die Regel sei”. Für den jungen Marx, wiederum hundert Jahre früher, ebenfalls als Emigrant in Paris, wurde der Entfremdungsbegriff zum Instrument seiner Gesellschaftskritik, der es ihm erlaubte, die Folgen einer durch ausschliessliches Profitstreben und zunehmende Arbeitsteilung geprägte Entwicklung herauszuarbeiten, resp. die Negativfolgen in der Dialektik des Fortschritts. Entfremdung bei Marx heisst Abkoppelung des Menschen vom Produkt seiner Arbeit, damit Entzweiung des Menschen mit sich selbst, Zerstörung seiner Individualität, Versklavung, ja Verdinglichung des Menschen. Marx zielte mit seiner Kritik nicht einfach auf höhere Löhne ab oder auf gleiche Einkommen für alle (das war eine Forderung von Pierre Joseph Proudhon, welche dieser im 1840 erschienen Werk “Qu’est-ce que la propiété?” erhoben hatte), wie er immer wieder falsch interpretiert wurde, er zielte schon gar nicht auf eine Aufhebung der Freiheit ab, wie dies der totalitäre Bolschewismus durchsetzte, im Gegenteil: Marx strebte in diesen frühen Werken nach einer Wiederherstellung sinnhafter Existenz, oder, wie Erich Fromm in einem Kommentar festhielt, nach “einer geistigen Emanzipation des Menschen, nach seiner Befreiung aus den Fesseln der wirtschaftlichen Bestimmtheit, um ihn zur befähigen, zur Einheit und Harmonie mit seinen Mitmenschen und der Natur zu finden” .
Indem Marx die Entfremdung der Menschen untersucht, richtet er seine Aufmerksamkeit auf die Frage der Grundbedürfnisse. Deren massive Nichterfüllung erzeugt jenes geistige, materielle und soziale Elend, insbesondere jene Phänomene der Verlassenheit und der Sinnlosigkeit, die Marx als Entfremdung diagnostiziert. Marx stellt fest, dass die Menschen einander gegenseitig ständig neue Bedürfnisse suggerieren, doch handle es sich dabei um unechte, um sekundäre oder tertiäre Bedürfnisse, zu deren Erfüllung in erster Linie Geld, viel Geld erfordert sei. Dahinter steht das manipulative, auf persönlichen Vorteil und auf Bereicherung ausgerichtete Bestreben, das durch die Erzeugung sekundärer Bedürfnisse immer weiter von der Erfüllung der Grundbedürfnisse wegführe. Im III. Manuskript von 1844 finden sich diese Einsichten klar formuliert: “Jeder Mensch spekuliert darauf, dem anderen ein neues Bedürfnis zu schaffen, um ihn zu einem neuen Opfer zu zwingen, um ihn in eine neue Abhängigkeit zu versetzen und ihn zu einer neuen Weise des Genusses und damit des ökonomischen Ruins zu verleiten. Jeder sucht eine fremde Wesenkraft über den anderen zu schaffen, um darin die Befriedigung seines eigenen eigennützigen Bedürfnisses zu finden. Mit der Masse der Gegenstände wächst daher das Reich der fremden Wesen, denen der Mensch unterjocht ist, und jedes neue Produkt ist eine neue Potenz des wechselseitigen Betrugs und der wechselseitigen Ausplünderung. Der Mensch wird umso ärmer als Mensch, er bedarf umso mehr des Geldes, um sich des feindlichen Wesens zu bemächtigen, und die Macht seines Geldes fällt gerade in umgekehrtem Verhältnis als die Masse der Produktion, das heisst seine Bedürftigkeit wächst, wie die Macht des Geldes zunimmt. Das Bedürfnis des Geldes ist daher das wahre, von der Nationalökonomie produzierte Bedürfnis und das einzige Bedürfnis, das sie produziert. Die Quantität des Geldes wird immer mehr seine einzige mächtige Eigenschaft; wie es alles Wesen auf seine Abstraktion reduziert, so reduziert es sich in seiner eigenen Bewegung als quantitatives Wesen. Die Masslosigkeit und Unmässigkeit wird sein wahres Mass.”
Marx’ Analyse erfasst alle Bereiche der in willkürlich geschürten Besitzanspruch oder in Ausbeutung pervertierten Bedürfnisse, der materiellen ebenso wie der psychischen und der gesellschaftspolitischen. Das Resultat der “Raffinierung” wie der “Verwilderung” und “Verrohung” ist Entfremdung. Entfremdung bedeutet den Verlust der Untrüglichkeit im Wissen um das, was wirklich Not tut. Der Text liest sich wie eine prophetische Klage: “Selbst das Bedürfnis nach freier Luft hört beim Arbeiter auf, ein Bedürfnis zu sein, (…) Licht, Luft etc., selbst die einfachste tierische Reinlichkeit hört auf, für den Menschen ein Bedürfnis zu sein”. Der Arbeiter lebe in miefigen Kellerwohnungen, in “Höhlenwohnungen”, die er sogar bezahle, aus Angst, aus diesen hinausgeworfen zu werden. “Die rohesten Weisen der menschlichen Arbeit kehren wieder, wie die Tretmühle der römischen Sklaven (….)”, und “die Vereinfachung der Maschine, der Arbeit wird dazu benutzt, um den erst werdenden Menschen, das Kind, zum Arbeiter zu machen, wie der Arbeiter ein verwahrlostes Kind geworden ist. Die Maschine bequemt sich der Schwäche des Menschen, um den schwachen Menschen zur Maschine zu machen.” Marx erkennt, dass die Sinnentleerung der menschlichen Arbeit die Sinnentleerung der menschlichen Existenz nach sich zieht. Immer wieder betont er, dass das dem Arbeiter zugestandene dürftige Überleben – die Arbeiterin vergisst er systematisch -, das keine Sinnlichkeit und nicht den geringsten Luxus zulasse, nicht genügen könne. “Je weniger du isst, trinkst, Bücher kaufst, ins Theater, auf den Ball, zum Wirtshaus gehst, denkst, liebst, theoretisierst, singst, malst, fichtst etc., um so mehr sparst du, um so grösser wird dein Schatz, den weder Motten noch Staub fressen, dein Kapital. Je weniger du bist, je weniger du dein Leben äusserst, um so mehr hast du, um so grösser ist dein entäussertes Leben, um so mehr speicherst du auf von deinem entfremdeten Wesen.”
Für Marx steht unmissverständlich die mit dem kapitalistischen Ziel der Profitsteigerung verbundene Überflussproduktion im Zentrum der Kritik. Sein quälendes Aufmerken gilt der Tatsache der Verführung des einen Teils der Menschen zur Anhäufung von Überflüssigem, andererseits der Tatsache der Instrumentalisierung des anderen Teils zum Zweck der Herstellung überflüssiger Produkte – ein sinnloser Abtausch von Lebensqualität gegen Quantität, sei es in der Akkumulation, sei es in der Fliessbandproduktion. Was das Ausmass an Entfremdung betrifft, sind für Marx “Verschwendung und Ersparung, Luxus und Entblössung, Reichtum und Armut gleich”. So oder so ist eine trostlose menschliche Verarmung der Fall, denn “nicht nur deine unmittelbaren Sinne wie Essen etc. musst du absparen, auch Teilnahme mit allgemeinen Interessen, Mitleiden, Vertrauen etc., das alles musst du dir ersparen, wenn du ökonomisch sein willst (resp. im kapitalistischen System leben willst, maw.), wenn du nicht an Illusionen zugrunde gehen willst.” Marx erkennt, dass das sinnentleerte Leben, das seinen eigenen Wert nur nach quantitativen Kriterien, resp. nur in Geldkategorien misst, auch ausschliesslich nach quantitativen Kriterien gemessen wird und dadurch wertlos, ja überflüssig wird. “Sogar das Dasein des Menschen ist ein purer Luxus, und, wenn der Arbeiter ‘moralisch’ ist (…), wird er ‘sparsam’ sein an Zeugung. Die Produktion der Menschen erscheint als öffentliches Elend.”
Marx spürt schon in der Anlage des Kapitalismus jene menschenverachtende totalitäre Tendenz heraus, die sich in der Kombination von Imperialismus, Industrialismus und Rassismus verdichten und im Faschismus, insbesondere im Nationalsozialismus aufs entsetzlichste zuspitzen wird, mit der Quälerei und der beispiellosen Erniedrigung, schliesslich der industriellen Tötung von Millionen von “unwerten” Leben, millionenfach ein Mensch und ein Mensch und ein Mensch, dessen/deren Menschsein geleugnet wurde und dessen/deren Tötungsaufschub höchstens vom eventuellen Profit, den er oder sie noch erbringen konnte, abhing. Hannah Arendt hat in ihrer 1955 erschienen Analyse des Zustandekommens des Nationalsozialismus (in: “Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft”) eben dies als entscheidend herausgearbeitet: dass ein totalitäres System sich dadurch kennzeichnet, dass es Menschen für überflüssig erklärt.
Dass mit der Kriegsbeendigung zwar Hitlers Herrschaft mit den Trümmerhaufen Europas und einige Jahre später auch Stalins Herrschaft zu Ende ging, ging einher mit der Fortsetzung von Menschenvernichtung und Weltherrschaft durch die USA.

I 2. Ist die Restitution der Menschenwürde zustande zu bringen?
Der durch den Kapitalismus, für den bei Marx zumeist die Chiffre “Privateigentum” steht, geschaffene Ungleichwert menschlichen Lebens – bis zu dessen Wertlosigkeit -, könnte nur über eine radikale Umkehr korrigiert werden. Was als “Abschaffung des Privateigentums” später in der programmatischen sowjetischen Realisierung zu verhängnisvoller Gewalt und zu einer ideologischen Aporie führte, entsprach ursprünglich – nicht in der Konsequenz – Marx’ Konzept der Gleichheit. Dieses Konzept lag seinem ursprünglichen, noch in keiner Weise parteimässig verfestigten Kommunismus zugrunde. Er bezweckte damit nichts anderes und nicht geringeres als die Aufhebung der Entfremdung, resp. die Restitution des gleichen Menschseins in jedem Menschen, dessen Wert (oder “Würde”, wie es in der Menschenrechtserklärung von 1948 heissen wird) keiner anderen Begründung als derjenigen des Menschseins selbst bedarf, oder, mit anderen Worten, die sich in der Reflexion des Bewusstsein, im Selbstbewusstsein, konstituiert. Ebenfalls im III. Manuskript von 1844 findet sich diese Absicht klar formuliert: “Die ‘Gleichheit’ ist nichts anderes als das deutsche Ich = Ich in französische, das heisst politische Form übersetzt. Die Gleichheit als Grund des Kommunismus ist seine politische Begründung und ist dasselbe, als wenn der Deutsche ihn sich dadurch begründet, dass er den Menschen als allgemeines Selbstbewusstsein fasst.”
Marx’ Reflexion gleitet ins Abstrakte ab. Trotzdem war er sich im Klaren, dass das wichtigste Grundbedürfnis des Menschen die Anerkennung und der Respekt seines Selbstwerts als Mensch ist resp. seiner menschlichen Würde, und dass alle übrigen Grundbedürfnisse, deren Mangel er im entfremdeten Leben als Leiden, als Verarmung und als Verelendung diagnostiziert – etwa das Bedürfnis nach Wissen, nach Bildung, nach Partizipation an den überindividuellen, den allgemeinen Interessen, nach Vertrauen, nach Musse, Erholung und nach Schönheit -, sich aus dem ersten und wichtigsten Grundbedürfnis ableiten. Er war ihm jedoch auch klar, dass mit der Erkenntnis dieser Tatsache für das tatsächliche Leben der Menschen noch nichts gewonnen war, resp. dass die Philosophie nicht genügt, um die Entfremdung aufzuheben. Er schreibt, in Fortsetzung der oben zitierten Erläuterung von “Gleichheit”: “Um den Gedanken des Privateigentums aufzuheben, dazu reicht der gedachte Kommunismus vollständig aus. Um das wirkliche Privateigentum aufzuheben, dazu gehört eine wirkliche kommunistische Aktion. Die Geschichte wird sie bringen und jene Bewegung, die wir in Gedanken schon als eine sich selbst aufhebende wissen, wird in der Wirklichkeit einen sehr rauhen und weitläufigen Prozess durchmachen. Als einen wirklichen Fortschritt müssen wir es aber betrachten, dass wir von vornherein sowohl von der Beschränktheit als dem Ziel der geschichtlichen Bewegung und ein sie überbietendes Bewusstsein erworben haben.”
Wenn wir das, was der damals sechsundzwanzigjährige Emigrant in Paris wie ein Visionär vorauszusehen glaubte – den “rauhen und weitläufigen Prozess”, aber auch die “Beschränktheit als das Ziel der geschichtlichen Bewegung” – mit dem Prozess vergleichen, der 1918 begann und 1989 zu Ende kam, so müssen wir feststellen, dass Marx’ Entwurf und die sowjetkommunistische Realität sehr verschiedene, sehr ungleiche Konzepte beinhalteten. Von Gleichschaltung, von Entmündigung und Unfreiheit, vom Terror der Gesinnungskontrolle findet sich nichts in den marxistischen Frühschriften, die, wie ich erst neulich erfuhr, innerhalb des sowjetrussischen Herrschaftsbereichs während langer Zeit gar nicht verfügbar waren resp. gar nicht gelesen wurden durften. Die Entfremdung der Menschen wurde auch im sowjetkommunistischen System vorweg generiert und petrifiziert. Nicht anders als im kapitalistischen System wurde der einzelne Mensch zu einem ihm selbst fremden Zweck instrumentalisiert, sei es zur Steigerung des – staatskapitalistischen – Mehrwerts, sei es zum ideologischen Zweck der Herrschaftssicherung. Weder wurde die extreme – zutiefst entfremdende – industrielle Arbeitsteiligkeit aufgehoben -, das eigentliche Instrument der kapitalistischen Mehrwertakkumulation, noch wurde die Abhängigkeit vom Geld zum Motor und Ziel einer eventuell sich dadurch tatsächlich verbessernden Existenz, noch wurden die anderen systembedingten Mängel behoben, die den Menschen in die Ungleichwertigkeit und in die Wertlosigkeit versetzen, im Gegenteil. Die Einsicht drängt sich auf, dass die realkommunistische “Abschaffung des Privateigentums” etwas ganz anderes war als das, was Marx als Aufhebung von Entfremdung – als “Negation der Negation” – entworfen hatte, ja dass das frühe marxistische Konzept überhaupt noch nie realisiert wurde.
Was sich allmählich zu realisieren beginnt, ist höchstens jene von Marx im I. Band des “Kapitals” als Bedingung für das “Reich der Freiheit” geforderte Reduktion der Arbeitszeit. Dies geschah jedoch nicht gemäss der ursprünglichen sozialistischen Zielsetzungen einer Befreiung aus dem “Reich der Notwendigkeit” mit seinen heteronom definierten Zwecken, zu deren Erfüllung die Menschen mit all ihren Energien und all ihrer Lebenszeit/Arbeitszeit instrumentalisiert werden. Sie erfolgte infolge der dem Kapitalismus eigenen Masslosigkeit, die sich die Fortschritte in der Technologie und die globale Flexibilisierung der Produktion zunutze macht, um Menschen zur Kurzarbeit zu verurteilen oder sie ganz aus dem Arbeits- und Erwerbsprozess auszuschalten. Damit geschieht die Verkürzung der Arbeitszeit auch wieder unter dem heteronomen Diktat jener weniger, welche für sich selbst auf Kosten der vielen eine Profitsteigerung anstreben – und kann daher in den wenigsten Fällen als Befreiung von der Arbeit und als Möglichkeit einer autonom gewählten Tätigkeit verstanden werden, wie Marx dies als wirklichen Fortschritt und letztlich als Erfüllung eines wichtigsten Grundbedürfnisses postuliert hat.
Exkurs I: Die Untersuchung und Kritik der “Negation der Negation” resp. der Affirmation des gesellschaftlichen Systems der Entfremdung, das, ob im Kapitalismus oder im kommunistischen Staatskapitalismus, den deklarierten, fortgesetzten Missbrauch der Menschen durch deren Instrumentalisierung zu Herrschaftszwecken, jedes totalitäre System begründet, kennzeichnet in der Zusammenfassung die gesellschaftsanalytische Arbeit der Frankfurter Schule.
Exkurs II: Der sich in Fortsetzung der Freudschen Psychoanalyse herausgebildete “linke” Zweig der Psychoanalyse verbindet die individualanalytische Arbeit, deren Zweck die durch den einzelnen Menschen selbst zu schaffende Korrektur der Leidensfolgen der Entfremdung ist, durch Einsicht in deren Zusammenhänge, mit den Ergebnissen der gesamtgesellschaftlichen Entfremdungsanalyse der Frankfurter Schule.

II 1. Entwertung auf Grund der gesellschaftlichen Struktur des Patriarchats
Doch zurück zum 19. Jahrhundert: Worauf Marx nicht die geringste Aufmerksamkeit richtete, vermutlich weil er sich selbst als Teil des patriarchalen Herrschaftssystems nicht zum Gegenstand der Selbstkritik machen wollte und daher auch das Patriarchat nicht als (Herrschafts)System der Entfremdung untersuchte, ist die Tatsache der zusätzlichen Entwertung und Wertlosigkeit der Frauen und der Kinder. Wenn tatsächlich die Arbeit (mithin der Arbeitslohn) das Konstituens des Kapitalismus ausmacht, wie Marx immer wieder festhält, so hätte der noch viel geringere Arbeitslohn der Frauen (und der wiederum geringere der Kinder) für die gleiche Arbeit ihn eigentlich zusätzlich beunruhigen müssen. Dem aber war nicht so. Er setzte sich zwar vehement, vor allem im I. Band des “Kapitals”, gegen die industrielle “Vermarktung” der Kinder und der jungen Frauen ein, doch er machte den zusätzlichen systemimmanenten Affront des Kapitalismus – jenen der geringeren Frauenlöhne und der noch viel geringeren Kinderlöhne – in diesem Sinn nicht zum Thema. Der geringere Arbeitslohn entsprach letztlich der generellen Minderwertigkeit der Frauen, die das patriarchale System propagierte resp. heute noch propagiert.
Marx’ Unterlassung erscheint umso signifikanter, als er, der damals in Paris lebte, direkt oder über Arnold Ruge die Aufrufe und Schriften der 1844 in Bordeaux verstorbenen Flora Tristan (geb.1803 in Paris – gest. 1848 in Bordeau) kennen musste, dieser unermüdlich kämpferischen, furchtlosen französisch-peruanischen Frühfeministin und Frühsozialistin, deren Leben ich eigentlich erzählen müsste, damit die Bedeutung ihrer theoretischen Arbeit und ihrer Versuche einer tatsächlichen Veränderung der Lebenszusammenhänge der Arbeiterinnen und Arbeiter klar würde.
Nur so viel: Flora Tristan verfügte über kein akademisches Studium wie Marx, ja sie hatte nicht einmal die öffentliche Grundschule besuchen können. Sie wurde von ihrer Mutter Anne-Pierre Laisnay unterrichtet, mit der zusammen sie in Paris in grosser Armut lebte. Weder war der früh verstorbene Vater, der spanisch-peruanische Oberst Don Mariano de Tristan y Moscoso als ihr legitimer Vater anerkannt noch konnten sie oder ihre Mutter etwas von dessen beträchtlichem Vermögen erben, da die in einem spanischen Kloster heimlich geschlossene Ehe ihrer Eltern durch den französischen Staat nicht anerkannt wurde. Flora Tristan kannte die unbeschreiblich elenden Lebens- und Wohnverhältnisse des französischen Industrieproletariats aus der Nähe, auch jene in London, wohin sie dreimal gereist war, und ebenso die Armutsverhältnisse in Peru, dem Herkunftsland ihres Vaters, das sie während zweieinhalb Jahren bereist hatte. Sie erkannte nicht nur die Gesetzmässigkeit der menschenverachtenden Ausbeutung durch den Kapitalismus, sondern ebenso deren Verdoppelung für Frauen durch die entwürdigende Geschlechterhierarchie, die sich auch im Proletariat ungeschmälert durchsetzte. “Jeder Proletarier hat noch eine Frau, die er unterdrücken kann”, schrieb sie in ihrem letzten, kurz vor dem Tod veröffentlichten Buch “Union ouvrière” , das von aufwühlender Dringlichkeit ist und damals in Frankreich grosse Beachtung fand.
Flora Tristan rief Arbeiterinnen und Arbeiter auf, nicht länger auf irgend ein “Eingreifen” zu warten. “Aus dem Labyrinth von Elend und Hunger, Schmerzen und Demütigungen müsst ihr selber entrinnen, wenn ihr den Kindern den Vorteil einer guten gewerblichen Ausbildung und euch selbst im Alter einen guten Ruhestand bescheren wollt. Ihr könnte es. Die euch gemässe Aktion ist nicht die Revolte mit der Waffe in der Hand, nicht der Aufruhr auf öffentlichem Platz, kein Brandschatzen noch Plündern. Nein, denn die Zerstörung kann euer Übel nicht heilen, sondern nur verschlimmern. Die Unruhen in Lyon und Paris haben dies neuerlich bewiesen. Es gibt nur eine euch gemässe legale, legitime und vor Gott und den Menschen gerechtfertigte Aktion: die universelle Vereinigung der Arbeiter und Arbeiterinnen. (…) die Einheit schafft Stärke. Auf eurer Seite steht die grosse Zahl. Und das ist viel. ” Sie entwarf das Projekt, mit dem Jahresbeitrag von 2 francs der in Frankreich lebenden 5 Millionen Arbeiter und 2 Millionen Arbeiterinnen liessen sich “Paläste” der Arbeiterunion aufrichten. “Dort sollen die Kinder beiderlei Geschlechts von sechs bis achtzehn Jahren erzogen und die kranken und invaliden Arbeiterinnen und Arbeiter, auch die Alten aufgenommen werden. Hört meine Berechnungen an, und ihr bekommt eine Idee, was man mit der Arbeiterunion machen könnte. (…) 2 francs im Jahr!” Sie ergänzte, dass für die “gewohnheitsmässigen Laster wie Tabak, Kaffee, Schnaps etc. zehn- oder zwanzigmal mehr ausgegeben werde. (…). Arbeiter und Arbeiterinnen, stellt also eure kleinen Streitereien zwischen den Berufszweigen beiseite …”. Sie versuchte zu vermitteln, dass der Entwurf nicht Utopie sein musste, sondern realisierbar war, wenn eine solidarische, gewaltfreie Verbindung zustande kam, bei welcher die einen für die anderen zusammenwirkten.
Für Flora Tristan stand auch fest, dass insbesondere Frauen einer guten Bildung bedurften, um ihre Lebensverhältnisse und ihre Rechtsverhältnisse zu verbessern. Denn Lernen und Wissen seien nicht geschlechtsspezifische Bedürfnisse, sondern Grundbedürfnisse aller Menschen . Dass allein durch deren Erfüllung die schreckliche Demoralisierung der Arbeiterschaft korrigiert werden könnte – das, was Marx als deren “Verrohung” bezeichnet -, vertrat sie nicht nur in diesem letzten Buch, sondern in all ihren Werken (“Pérégrinations d’une Paria” , “Promenades dans Londres”, “Nécessité de faire bon accueil aux femmes étrangères” etc). Sie nahm damit in feministischer Weise Ideen auf, die Robert Owen, den sie 1837 in Paris kennen gelernt hatte, in seiner Fabrikanlage im schottischen New-Lanark schon verwirklichte.
Robert Owen führte damals ein Erziehungs-, Arbeits- und Wohnkonzept für Arbeiterfamilien und Waisenkinder weiter, das sein Schwiegervater David Dale 1784 mit der Errichtung seiner “cotton-mills” begründet hatte. Robert Owen hatte deren Leitung im Jahre 1799 übernommen, nachdem er eine Tochter Owens geheiratet und die “cotton-mills” gekauft hatte. Er verbesserte das Werk seines Schwiegervaters und erbaute in deren Mitte jene “Neue Anstalt”, die er als Ort und Hort der Sozialisation für die kleinen Kinder im Vorschulalter wie als eine Art Gemeinschaftshaus für die grösseren Kinder und die Erwachsenen konzipierte und umsetzte, damit die Regeln des guten Zusammenlebens und eine nicht abbrechende Weiterbildung unter einem Dach geübt und praktiziert werden konnten. In seiner 1817 erstmals erschienenen Schrift “Eine neue Auffassung von der Gesellschaft” hielt Robert Owen fest, dass seine Aufmerksamkeit auf eine sorgfältige und ausreichende Erziehung auch der ärmsten Bevölkerung bestätigte, dass dadurch eine tatsächliche Verbesserung der Gesellschaft zu erreichen sei. “Den Knaben oder Mädchen soll in der Schule gelehrt werden, gut zu lesen und das Gelesene zu verstehen, eine gute leserliche Hand geläufig zu schreiben und die Grundregeln des Rechnens richtig zu lernen, so dass sie imstande sind, sie zu verstehen und leicht anzuwenden. Den Mädchen soll auch gelehrt werden zu nähen, zuzuschneiden und nützliche Kleidungsstücke für die Familie herzustellen, (…) auch sollen sie lernen, wie man auf sparsame Weise gesunde Nahrung zubereitet und ein Haus sauber und gut in Ordnung hält. (…) In vielen Schulen wird den Kindern der armen und arbeitenden Klassen niemals gelehrt, das Gelesene zu verstehen; die Zeit, welche mit diesem Scheinwerk von Unterricht verbracht wird, ist deshalb verloren. In anderen Schulen lernen die Kinder, infolge der Unwissenheit ihrer Lehrer, ohne Nachdenken zu glauben, und so lernen sie niemals, zu denken oder richtig zu schliessen. Diese jammervollen Methoden müssen unfehlbar den jugendlichen Geist für eine klare, einfache und vernünftige Unterweisung untüchtig machen.” Auf erstaunlich moderne Weise setzt Owen bei Erwachsenen und Kindern die gleiche Ernsthaftigkeit im Wissenshunger voraus. “Kann der Mensch im Besitz der Vollkraft seiner geistigen Fähigkeiten über irgend einen Gegenstand sich ein vernünftiges Urteil bilden, wenn er nicht vorher alle ihn betreffenden Tatsachen, soweit sie bekannt sind, gesammelt hat? (…) Nach denselben Grundsätzen sollten auch die Kinder unterrichtet werden.”
Den Postulaten von Flora Tristan wie jenen von Robert Owen stand somit einerseits das Prinzip der Gleichheit zugrunde – Gleichheit des gleichen Menschseins (das auch Karl Marx zur Begründung seines kommunistischen Konzepts anführte, dieses jedoch mit der Reduktion der Arbeitszeit sowie der Reduktion sinnloser Warenabhängigkeit in Verbindung brachte) -, andererseits das Prinzip der Freiheit resp. der Möglichkeit, das eigene Leben aus eigenem Impuls und aus eigener Verantwortung zu verändern, selber Optionen des Handelns zu formulieren, unabhängig von Geschlecht, Stand, Klasse und Herkunft. Was bei Robert Owen auffällt, ist sein moralisierendes, auch idealisierendes Konzept einer besseren Menschheit, während bei Flora Tristan dieser übertriebene Ton gänzlich wegfällt. Es mag die frauenspezifische Verbindung mit dem realen Leben sein, dass sie nie in jene paternalistisch-moralisierende Distanz zu den Fragen des Proletariats geriet, die sich bei vielen männlichen Theoretikern findet, dass sie auch nicht in abstrakter Sprache für die Aufhebung der Entfremdung kämpfte, sondern ganz konkret für gerechte Schulbildung und für gerechte Löhne, für anständige Wohnverhältnisse, für Sicherheit bei der Arbeit, für den Schutz der Kinder, und immer wieder für die Unverfügbarkeit und Eigendefinition der Frauen. Ihr Werk, das aus der Erfahrung der Entrechtung der Frauen, insbesondere der Frauen des Proletariats, sowie aus der Erfahrung skrupelloser männlicher Gewalt heraus entstanden war, liess den Rahmen der individuellen Erfahrung trotzdem weit zurück und machte die Lebens- und Arbeitbedingungen der Frauen überhaupt sowie deren Bedürfnis nach Änderung dieser Bedingungen zum Thema.

II 2. “Laut sagen, was ist ”
Flora Tristans Analyse der Gründe und Zusammenhänge der materiellen und moralischen Verelendung war gewiss nicht so weitreichend wie diejenige von Marx und Engels, doch verfiel sie auch nicht einer pauschalen Idealisierung der Arbeiterklasse. Sie war eine Wegbereiterin in der unerschrockenen frühfeministischen und frühsozialistischen Überzeugungsarbeit, die von anderen bedeutenden Frauen weitergeführt wurde, in Deutschland insbesondere von Rosa Luxemburg und von Clara Zetkin, in der Schweiz von Rosa Bloch und Rosa Grimm, von zahlreichen weiteren Frauen. Für sie alle galt, die Aufmerksamkeit auf die Worte – auf die Sprache – zu richten, nicht mehr zu schweigen, sondern “laut sagen, was ist” als ihr Recht umzusetzen. Die Stimmen der Frauen sollten gehört werden. Viele waren in diesem Sinn vorausgegangen: Mary Wollstonecraft und Olympe de Gouges waren hinsichtlich der Formulierung weiblicher Rechtsansprüche und damit wichtigster Bedürfnisse bedeutende Vorbilder.
Mary Wollstonecraft, 1759 an einem unbekannten Ort in England geboren, hatte ausser der Grundschule ebenfalls keine weitere Bildung genossen, sondern sich neben Lohnarbeit als Gesellschafterin und Erzieherin im Selbststudium mehrere Sprachen und grosses Wissen angeeignet. Als 1791 der französische Minister Talleyrand eine Schrift über öffentliche Erziehung publizierte, in welcher die Erziehung der Mädchen, die für ihn als nicht-bildungsfähige menschliche Geschöpfe galten, lediglich in ein paar knappen Paragraphen gestreift wurde, schrieb Mary Wollstonecraft innerhalb weniger Wochen eine Entgegnung, in welcher sie nicht nur Talleyrand, sondern auch Rousseau und dessen in “Emile” niedergelegte Erziehungstheorie angriff und widerlegte. Ihrer Aufmerksamkeit war nicht entgangen, dass Aufklärung und Revolution zwar rechtliche Fortschritte vorgaben, gleichzeitig aber nicht zuliessen. Sie hielt fest, dass Frauen und Männer einander ebenbürtig seien, dass diese Ebenbürtigkeit jedoch nicht länger durch Erziehung und Bildung zunichte gemacht werden dürfe. Theoretische und praktische Forschritte in der Gesellschaft seien wirkungslos, solange die Frauen in allen privaten und öffentlichen Bereichen unterdrückt würden. Der Begriff eines “Geschlechtscharakters” zerstöre die Moral. Auch könnten Kinder nur zu menschlichem Respekt erzogen werden, wenn schon ihre Mütter in diesem Geist aufgewachsen seien. Des weiteren gebe es keine Vernunftargumente dafür, dass die eine Hälfte der Menschheit die andere von jeglicher Regierungsverantwortung ausschliesse, auch keine Erklärung, dass es Vernunftargumente für die Rechte der Männer, aber keine für die Rechte der Frauen gebe.
Mary Wollstonecraft’s “Vindication of the Rights of Woman”, in der Präzision der patriarchalen Mängelanalyse heute noch lesenswert, wirkte zur Erscheinungszeit Ende des 18. Jahrhunderts wie ein Fanal. Die Autorin, die 1797, mit 38 Jahren, bei der Geburt der zweiten Tochter – der späteren Mary Shelley – starb, wurde zwar selbst von Frauen verhöhnt und verfemt, doch bei anderen wirkte ihr Werk als Ermutigung, so bei Flora Tristan, die es 1840 kennen lernte und darin die grundsätzliche Benennung der Phänomene entdeckte, die sie kritisierte.
Exkurs III: Mary Wollstonecraft’s Feststellung, dass “der Begriff eines Geschlechtscharakters die Moral zerstöre”, bietet sich zu Fragen an, die, scheint mir, noch nicht genügend aufgearbeitet wurden. Hätte alles Entsetzliche, was die Tötungsfabriken des II. Weltkriegs beinhaltet, verhindert werden können, wenn die Frauen und Männer gegen die Instrumentalisierung ihrer selbst zu Tötungszwecken aufgestanden wären, wenn die Männer sich zur Wehr gesetzt hätten gegen die Forderung, “hart” zu sein, wie es dem weiterhin tradierten “Geschlechtscharakter” entsprach, sich bedingungslos einer Autorität zu unterwerfen, mit gedankenloser Präzision Befehle auszuführen, eigene Stärke aus der Verachtung der Schwächeren zu schöpfen? – wenn die Frauen, statt “mild” zu schweigen, weil “Schweigen Gold” ist, wie sie gelehrt wurden – auch wiederum in Befolgung einer so deklarierten weiblichen Pflicht, wenn sie im Gegenteil laut gegen die Unerträglichkeit ihres Missbrauchs als Dienerinnen der Männer, als Verschönerinnen des Hauses, als ewig duldende und tröstende Mütter der harten Männer protestiert und die Verachtung ihrer selbst, die damit verbunden war, als unerträglich deklariert hätten, statt diese Verachtung zu internalisieren, zu somatisieren, an die Töchter weiterzugeben und die Söhne mit dem Frauenbild der Unterwerfung dem Vaterland zu überlassen, ist es nicht eine reale Vorstellung, dass Kriege nicht mehr umgesetzt werden könnten?
Viele dieser Fragen wurden als feministische Arbeit der Identitätsfindung geleistet, etwa bei Luce Irigaray, bei Judith Butler, bei vielen weiteren. Worauf gilt es zu achten? Die Schwierigkeiten gerade der weiblichen – aber nicht ausschliesslich der weiblichen – Identitätsfindung hängen, vermute ich, mit den fehlenden Müttern und Vätern als Identifikationsfiguren des sprachfähigen, selbstdefinitionsfähigen Widerstandes gegen deren eigene demütigende Instrumentalisierung zusammen, vor allem aber des fehlenden Widerstandes gegen eine vom entsetzlichsten Herrschaftsmissbrauch – Planung und Umsetzung der jüngsten Kriege – gezeichnete Welt, eine Welt der hypostasierten patriarchalen Verachtung aller Differenz, einer Verachtung, der gegenüber Väter und Mütter in die Sprachlosigkeit fielen oder gar in die Komplizenschaft. Die feministische Arbeit der jüngsten Jahre ist daher gekennzeichnet durch Trauer, sodann durch das Bemühen, über die Geschlechts- und Geschlechterdifferenz hinaus die Notwendigkeit der Anerkennung der unendlichen Pluralität von Differenz im Bild des Menschen nachzuweisen und diese Differenz anzunehmen, auch jene, die als Fremdheit und als immer wieder andere Fremdheit erschreckt.
Ganz besonders ist in diesem Zusammenhang die Arbeit Sarah Kofmans (geb. 1934 – gest. 1994) zu beachten. Sarah Kofman bestand auf der Pflicht aller, die das Grauen der Gewalt erkannt haben und sich ihm widersetzen, zu sprechen, auch wenn zu wenig oder zu viele Worte verfügbar seien, auch wenn die Worte durch den totalitären Verrat selber verletzt wurden. “Ich” war für Sarah Kofman so ein Wort. Im Herrschaftsbereich des Nationalsozialismus gab es nur die “Töter-Ichs”, während für die “Untermenschen” kein “Ich” mehr galt und kein Eigenname, kein Gesicht, kein Blick, keine Geschichte, keine Beziehung, kein Bedürfnis, keine Welthaftigkeit – bloss eine Nummer, die in die Körper eingebrannt wurde und die von bellenden Stimmen in die Baracken und über die Appellplätze gebellt wurde. Sarah Kofmans letztes schmales Werk vor ihrem Tod im Jahre 1994 war eine vorsichtige, selbst im Nachlesen schmerzliche, fragmentierte Spurensicherung ihres eigenen Ich über das Erzählen des Erinnerbaren aus der Kindheit und aus der Zeit des Heranwachsens, über das Benennen der Leerstellen, der Brüche, der sprachlos gebliebenen Verluste, der Deportation und der Tötung des Vaters in Auschwitz, über das Nachspüren der traumatisierenden Identifikationsdiffusion zwischen Mutter und Wahlmutter – eine Spurensicherung über die Sprache, nachdem sie mit grosser Aufmerksamkeit und vorbildlichem Respekt in ihrem ganzen Werk den Versuch der Rückgewinnung des Ich in den Erzählungen der Überlebenden aus den Lagern und den Stätten der Vernichtung, der Vernichtung des individuellen Ich und des Menschheits-Ich, zu analysieren und zu verstehen versucht hatte. Philosophie, Psychoanalyse und feministische Fragestellungen waren für Sarah Kofman komplementäre Möglichkeiten der Identitätsfindung, so wie “die hilfreiche Hand”, die im Lager genügte, um “das eigene ‘Ich’, das kein ‘Ich’ mehr sein konnte, zu ergänzen”, wie es im Band “Erstickte Worte” heisst. Das Schreiben, das Zuhören, das Verstehen und Sprechen werden bei Sarah Kofman zur Möglichkeit, die Bilder aus der Sprachlosigkeit zu befreien und das Unsägliche zu benennen, damit das Ich seinen/ihren Platz und Namen in der eigenen Geschichte und in den Beziehungen der Welt wiedergewinnen kann.
Doch gehen wir nochmals zurück zum 18. Jahrhundert. Die “Promenades dans Londres”, die “Union ouvrière” und die “Vindication of the Rights of Woman” als weibliche und damit als allgemein menschliche Bedürfnistheorie zu bezeichnen, ist, scheint mir daher ganz und gar zulässig, da Rechte ja nur eine Umsetzungsmöglichkeit haben, wenn die ihnen zugrunde liegenden Grundbedürfnisse anerkannt sind. Es geht im Grunde genommen immer um das Bedürfnis, selbst “Ich” zu sagen, ohne dass das Ich des anderen Menschen durch die einschränkende Konditionalität der patriarchalen Gesellschaft geleugnet wird.

II. 3. Soziale Grammatik: das eigene Ich und das Ich der anderen – ebenbürtiges Ich
Auf unmissverständliche Weise findet sich diese Bedürfniserklärung in der “Déclaration des droits de la femme et citoyenne”, die Olympe de Gouges als Antwort auf die “Männerrechtserklärung” von 1789 (“Déclaration des droits de l’homme”) veröffentlicht hatte und wofür sie 1793 mit dem Tod auf dem Schafott zahlen musste. Auch Olympe de Gouges, als Marie Gouze 1748 in Südfrankreich geboren, offiziell die Tochter eines Metzgers, inoffiziell diejenige eines Herzogs, mit sechzehn Jahren verheiratet und mit siebzehn Mutter eines Sohnes und Witwe, war kaum zur Schule gegangen, so dass sie, als sie furchtlos mit ihrem Kind nach Paris kam, kaum ihren Namen fehlerfrei schreiben konnte. Sie schlug alle weiteren Heiratsangebote aus, sie schärfte ihren Geist in einigen der fortschrittlichen Salons, vor allem aber auf der Strasse, wo die revolutionäre Unrast immer mehr um sich griff. Als sie 1780 zu publizieren begann, brannten ihr die Themen buchstäblich unter den Fingern: die Sklaverei, die Rechtlosigkeit der Frauen, die Schuldenhaft, die unbeschreiblichhen Zustände in den Armenspitälern, in den Gebäranstalten und Waisenhäusern, das Elend der übervölkerten Faubourgs – die ganze Palette sozialen und politischen Unrechts. Alles in allem veröffentlichte sie an die dreissig Theaterstücke und buchstäblich ungezählte Streitschriften, Manifeste, öffentliche Anklagen, Briefe und Plädoyers. Sie bezichtigte öffentlich die revolutionären Machthaber als eine blutrünstige Verbrecherbande, worauf diese Olympe zur Zielscheibe ihrer Angriffe machten. Doch Olympe lies sich nicht einschüchtern, auch nicht, als sie nach ihrer “Frauenrechtserklärung” und einem öffentlichen Plädoyer für die zum Tod verurteilte Königin selbst verhaftet, von Gefängnis zu Gefängnis transportiert und selbst zum Tod durch die Guillotine verurteilt wurde. Da ihr ein Anwalt versagt wurde, verteidigte sie sich selbst in einer stolzen Rede, die zugleich eine erneute Anklage Robespierre’s war.
Das Erstaunliche an Olympe de Gouges’ “Frauenrechtserklärung” ist, dass diese Frau des 18. Jahrhunderts nicht einfach die “Männerrechtserklärung” in die weibliche Form übersetzte, sondern dass sie begriff, dass politische Grundrechte nicht genügen, um ein Leben in Würde zu garantieren, dass es gleichzeitig der Garantie der wichtigsten Persönlichkeitsrechte bedurfte. Auch sie schrieb ja nicht aus einer Elfenbeinturmdistanz, sondern aus der Erfahrung der vielfachen alltäglichen Diskriminierung. So verlangte sie, zum Beispiel, dass der für Frauen nachteilige Ehevertrag abgeschafft und durch einen Vertrag ersetzt werde, der sowohl für den Fall der Ehe wie für den Fall des Konkubinats (das dadurch legalisiert wurde) die gleichen Bedingungen für Männer wie für Frauen enthalten würde. Sie verlangte Rechtsschutz für ledige Mütter bei der Vaterschaftsermittlung, verbunden mit der Anerkennung der gleichen Mutterschaftswürde wie bei verheirateten Frauen. Sie vertrat den Rechtsanspruch von Frauen und Kindern auf Zahlung von Alimenten im Fall einer Scheidung, sodann das Rechts auch unehelicher Kinder auf die väterliche Erbschaftsfolge. Die “Déclaration des droits de la femme et citoyenne” drückt in allen Artikeln das Grundbedürfnis nach Anerkennung der gleichen Würde aus, ganz konkret, in allen Bereichen, in denen der Alltag und die traditionelle Rechtspraxis diesem Bedürfnis Hohn sprachen.
Eben so wenig wie Mary Wollstonecraft erlebte Olympe de Gouges eine solidarische Haltung der Frauen. “Les femmes veulent être femmes et n’ont pas de plus grands ennemis qu’elles-mêmes”, stellte sie zutiefst enttäuscht fest. “Malheureusement le plus grand nombre se joint impitoyablement au part le plus fort.” Die stärkste Partei ist jedoch immer diejenige der Machthabenden. Selbst eine Frau wie Germaine de Staël, die Tochter des – noch vor-revolutionären Finanzministers Necker -, die über eine viel breitere intellektuelle und gesellschaftliche Abstützung verfügte als Olympe, zog es vor, die traditionelle männliche Position gutzuheissen, indem sie sich auf das – patriarchale – Konstrukt des Geschlechtscharakters berief: “On a raison d’exclure les femmes des affaires publiques et civiles”, schrieb diese, “rien n’est plus opposé à leur vocation naturelle”.
In welchem Mass noch ein gutes Jahrhundert später die Unerschrockenheit von Olympe de Gouges als Bedrohung empfunden wurde, beweist das Gutachten, das 1904 ein gewisser Dr. Guillois im Auftrag des französischen militärischen Gesundheitsdienstes über die “Frauen der Revolution” verfasste. Darin wird Olympe de Gouges als Geisteskranke qualifiziert, als Hysterikerin, die von einem krankhaften Narzissmus und von der “paranoia reformatoria” heimgesucht gewesen sei.

III. 1. Politische Grammatik: für den Frieden – gegen den Krieg
Ich möchte die Aufmerksamkeit noch auf eine Linie ausrichten, wo die erlebte Unrechtspraxis zu einer Formulierung wichtiger Grundbedürfnisse geführt hat. Ich meine die Friedensbewegung, die noch im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch die Initiative von Frauen zu mächtigen Manifestationen gegen Menschenverachtung und Gewalt wurde, damit zu Manifestationen für ein friedfertiges Zusammenleben. Dabei ging es, denke ich, im Grunde genommen um das Bedürfnis nach Differenz im gleichen Menschsein sowie um das Bedürfnis nach Respekt vor jeglicher Differenz, dessen Erfüllung unvereinbar ist mit menschenverachtender Gewalt. Die ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf die Verhinderung von Krieg. Schon Robert Owen hatte in seiner 1817 erschienenen, oben zitierten Schrift festgehalten, dass “die Kunst des Kriegs nutzlos gemacht würde, wären alle Menschen zu vernünftigen Wesen erzogen”.
In der Friedensbewegung gelang es den Frauen, sich weltweit zu solidarisieren, auch wenn es – leider – eine Solidarisierung der Ohnmacht war. Schon vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatten sich Frauen aus allen Ländern Europas zusammengeschlossen, unter Einschluss der Frauenbewegungen Englands und der USA, ja selbst Brasiliens, Australiens, Britisch-Indiens und Japans, um gegen die Aufrüstung und gegen die Kriegsvorbereitungen öffentlich Widerstand zu leisten. Am 15. Mai 1899 fand in Den Haag die erste Internationale Friedensdemonstration der Frauen statt. Am gleichen Tag veranstalteten überall in der Welt Frauenorganisationen Kundgebungen gegen den Krieg. Besonders stark war die feministische Friedensbewegung in Russland, obwohl nach Erlassen der zaristischen Polizei öffentliche politische Versammlungen nicht gestattet waren, schon gar nicht solche von Frauen. In Spanien und in Japan gingen die Frauen an diesem Tag überhaupt das erstemal organisiert mit einem politischen Anliegen auf die Strasse. In Amerika schlossen sich 1’250’000 Frauen den Kundgebungen an.
Der Bericht, den die deutsche Pazifistin Margarete Lenore Selenka für die Erste Internationale Friedenskonferenz in Den Haag verfasste, liest sich heute mit Staunen. Er ist ein Dokument für die Effizienz jener Kraft, die Frauen in allen Ländern bewog, sich zusammenzuschliessen, nicht nur, um gegen die Kolonialkriege – zum Beispiel die Burenkriege – und gegen das Wettrüsten in Europa aufzustehen, sondern um gegen jede Art der Verachtung und Minderachtung menschlichen Lebens Einspruch zu erheben – ihres eigenen Frauenlebens, für das sie die gleichen beruflichen und persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten und die gleichen politischen Rechte forderten wie die Männer sie selbstverständlich für sich beanspruchten, des Lebens von Kindern, für welche sie Gesetze gegen Ausbeutung und für das allgemeine Recht auf Schulung und Bildung durchsetzten, des Lebens von Arbeitern und Arbeiterinnen, für die sie gesetzlich geregelte Arbeitszeit, Schutzbestimmungen am Arbeitsplatz und Arbeitslosengelder verlangten. Sie protestierten, gingen auf die Strasse, organisierten Versammlungen, hielten Reden und schrieben Manifeste, Briefe und Bücher, sie kämpften gegen Gewalt und Prostitution, gegen Verwahrlosung, Alkoholismus und Tuberkulose, sie gründeten und leiteten Schulen, Waisenhäuser, Kinderbetreuungsheime, Frauenbildungsstätten, Parteihochschulen und vieles mehr. Sie kamen aus allen Schichten der Gesellschaft, waren religiös oder nicht religiös, katholisch, protestantisch oder jüdisch, waren Sozialistinnen, Kommunistinnen oder Parteilose, verheiratete Frauen oder unverheiratete. Feministinnen waren sie alle. Sie hiessen – um nur (in alphabetischer Reihenfolge) einige zusätzliche Namen jener Generation zu nennen, die ich noch nicht erwähnt habe, zum Teil berühmte, zum Teil vergessene Namen – Anita Augspurg, Josephine Butler, Verena Conzett-Knecht, Hedwig Dohm, Caroline Farner, Margarethe Faas-Hardegger, Emmy Freundlich, Marie Goegg-Pouchoulin, Claire Goll, Gertrude Guillaume-von Schack, Lida Gustava Heymann, Marie Humbert-Müller, Käthe Kollwitz, Alexandra Kollontai, Selma Lagerlöf, Berta Lask, Rosa Mayreder, Helene von Mülinen, Frida Perlen, Emma Pieczynska-Reichenbach, Adelheid Popp, Alice Rühle-Gerstel, Meta von Salis-Marschlins, Olive Emilie Albertina Schreiner, Toni Sender, Helen Stöcker, Bertha von Suttner, Gertrud Johanna Woker, Mathilde Wurm und weitere mehr.
Wir wissen es heute: Mit dem Krieg von 1914-1918 war der erste weltweite Beweis erbracht, dass mit gezielter nationalistischer Hetzpropaganda Millionen von Menschen zu gefügigen Werkzeugen gemacht werden konnten, dass Millionen von Menschen sich – entgegen aller anerzogenen religiösen Gebote und moralischen Normen – in den Dienst der Machtphantasien skrupelloser Staatschefs und Generäle sowie der nicht weniger skrupellosen Bereicherungsinteressen einzelner “Rüstungsbarone” einspannen liessen, dass sie sich zum erbärmlichen Töten und Getötetwerden buchstäblich berauschen liessen. “Zum systematischen Morden muss bei normal veranlagten Menschen erst der entsprechende Rausch erzeugt werden”, stellte Rosa Luxemburg fest. “Der Bestialität der Praxis muss die Bestialität der Gedanken und Gesinnung entsprechen, diese muss jene vorbereiten und begleiten.”
Nicht die Tatsache der Bereitschaft zur moralischen Verführung – der Verführung zum Hassen und Töten – und zur politischen Überlistung waren neu; nur weil dies immer schon so war, gelang überhaupt die “Gesinnungsvorbereitung”, von der Rosa Luxemburg spricht. Zur “Weltenwende” wurde der Erste Weltkrieg, weil er den Kodex der Angst zum weltweiten Instrument der Repression werden liess. Weil er die Grammatik der Entwertung des einzelnen Menschenlebens und, in der Konsequenz, die Entwertung millionenfachen Menschenlebens länderübergreifend, Kontinente übergreifend – sowohl durch die Mittel der elektronischen Propaganda wie jener mächtiger Waffensysteme – zum Zweck staatlicher Machtinteressen quasi programmatisch für die weitere Zukunft festlegte. Weil damit Sprachlosigkeit und Gewalt als – quasi legitime – ultima ratio sich durchsetzten, nicht einmal mit dem Vorwand der Regelung von Konflikten, sondern in der Durchsetzung von Interessen. (Die mit dem Kriegsende einsetzende Trauergeschichte des Völkerbundes erbringt dafür den Beweis). Der Erste Weltkrieg wurde zur “Weltenwende”, weil er die philosophische Errungenschaft der Aufklärung – den Anspruch des einzelnen Menschen auf Subjektwürde, auch dann, wenn er Objekt ist -, weil er diese Errungenschaft, welche die bürgerlichen Revolutionen in Amerika und in Frankreich, die auch den Kampf gegen das Sklaventum beflügelt hatte, definitiv zur Farce werden liess. Seither ist es schwer, gegen die millionenfach erwiesene Tatsache der Bereitschaft der einzelnen Menschen zur Entmündigung den Beweis für die unverzichtbare Würde selbstverantwortlichen Handelns anzutreten.
“Bleibt Hoffnung in dieser angsterfüllten Welt?” fragte Theodor W. Adorno Jahrzehnte später, nachdem der Zweite Weltkrieg alle Erfahrungen des Grauens und der Entmenschlichung des Ersten Weltkriegs in einem nicht mehr vorstellbaren, nicht mehr beschreibbaren Ausmass hinter sich gelassen hatte. Als selbst die Tatsache von Abermillionen von Ermordeten und von Abermillionen von gequälten Überlebenden, von elternlosen Kindern, von Verstümmelten und Vertriebenen die Frage der Verantwortung und damit der Sühne höchstens auf der Stufe der Helfershelfer, der instrumentalisierten Willfährigen, stellte, weil die verantwortlichen Machthabenden und deren Nachfolger sich entweder aus dem Staub gemacht oder in den alten Konfigurationen konstruierter Feindschemata schon wieder neue Kriege führten, weil auch diese geführt und nicht durch die Aufarbeitung früherer Kriege verhindert werden wollten, in Korea, in den meisten Ländern von Afrika, in Vietnam, in Iran und Irak – Hunderte von Kriegen seit dem Zweiten Weltkrieg, Kriege zwischen Nationen, zwischen Grossmächten und kleineren Staaten, im Innern von Nationen gegen Minderheiten – bis zum Krieg im ehemaligen Jugoslawien, zum Krieg Israels gegen die Palästinenser, zu den jüngsten amerikanischen Kriegen unter dem Namen “Kampf gegen das Böse”, von welchen wir mit Entsetzen und Ohmacht oder mit wachsender Indifferenz Zeugen und Zeuginnen sind.

III. 2. Praktische Grammatik der Reziprozität
Wo müssen aktuelle Bedürfnistheorien ansetzen? Worauf gilt es aufzumerken? Es gibt auch heute Ansätze echter Friedensarbeit, welche sich die schwierige Aufgabe zum Ziel setzen, aus den Aporien der Gewalt hinauszuführen, der Unterdrückung zentraler Grundbedürfnisse entgegenzuwirken, deren Erfüllung ein Zusammenleben der vielen verschiedenen Menschen ermöglichen würde, im Sinn der Realisierung sozialer Reziprozität.
Eine Beispiel unter vielen ist die arabisch-jüdische (und zugleich christlich-jüdisch-muslimische) Gemeinschaftssiedlung Neve Shalom oder Wahat al-Salam, die, in der Mitte zwischen Ramallah und Tel Aviv auf dem Westufer des Jordan gelegen, 1972 vom Dominikanermönch Bruno Hussar gegründet wurde, und wo seither gleich viele Kinder aus beiden Völkern und aus allen drei Religionen gemeinsam aufwachsen, von gleich vielen Lehrern und Lehrerinnen beider Kulturen vom Kindergarten an in beiden Sprachen unterrichtet werden und gemeinsam die Feste der drei Religionen feiern – dies seit mehr wie zwanzig Jahren. Dem Unterricht für die Kinder der Siedlung folgen auch Kinder aus den umliegenden arabischen Dörfern und jüdischen Siedlungen. Mit einem gemeinsamen Schulbus werden sie abgeholt und zurückgebracht. Und zugleich werden seit fünfzehn Jahren in Neve Shalom/Wahat al-Salam eine Art Seminare abgehalten, drei- bis fünf Tage lang, die “Friedensschule” heissen und die gleichviel Jugendlichen und Erwachsenen beider Völker offen stehen. Seit Bestehen dieser “Friedensschule” haben über zehntausend Jugendliche und mehrere tausend Erwachsene aus beiden Völkern die wechselseitigen Ängste, Vorstellungen und Ärgernisse hier zur Sprache gebracht und diskutiert, sie konnten Vorurteile abbauen und ein friedliches, aller Differenzen bewusstes Umgehen miteinander als die bessere Option kennen lernen und üben.
Müssten nicht an allen Schulen und höheren Bildungsstätten Angebote eingeführt werden, in denen eine wechselseitige Aufmerksamkeit geübt wird, wo das gewaltfreie Umgehen mit Konflikten, das Leben mit Differenzen und Konflikten gelernt und praktiziert werden könnte, im Sinn einer modellhaften und auf die politische, soziale und private Praxis übertragbaren Aktivierung der kreativen Vernunft? Denn allmählich müssten wir wissen, dass sich nur die wenigsten Konflikte lösen lassen, nur die geringsten, sowohl im politischen wie im privaten Zusammenleben. Vor allem müssen wir lernen, die Angst vor Konflikten zu durchschauen, auch die Vorstellung von ausschliesslichen Entweder-Oder-Lösungen zu durchbrechen. Wir müssen lernen, Konflikte und Differenzen als Anforderung an die kreative Vernunft in die Normalität des Zusammenlebens der vielen – auf welcher Ebene auch immer – einzubauen. Dies würde, scheint mir, nach und nach erlauben, Entfremdung abzubauen, statt immer wieder neue Entfremdung zu generieren, und den wichtigsten Grundbedürfnissen der Menschen in allen Bereichen – in jenen der materiellen Lebenssicherung, wie in jenen der psychischen, der sozialen und politischen Zusammenhänge – gerecht zu werden.

 

Was heisst Aufmerksamkeit? – Über menschliche  Bedürftigkeit, Reziprozität und den Wert der Freundschaft

6. Vorlesung

„Mischung dieser Mutter dieses Vaters

unterm geschlossenen

Augenlid  aus Stern”1

Wie finden wir uns zurecht  im dunkeln Erdteil, in welchem  die Hintergründe der Bedürfnisse hausen? Wo ist der Ort, nach dem die Sehnsucht-ins Unbekannte zurückgewandt – spürbar bleibt? War es ein Ort, in welchem  verlässliche Aufinerksamkeit auf uns gerichtet  war, bevor wir ihn verlassen mussten?  – ev.  verlassen wollten? War es der Ort,   in welchem verlässliche Reziprozität erfahren wurde?  Doch  war es nicht gleichzeitig der Ort der ersten Erfahrung des Verlassenwerdens und der Verlassenheit,  die auferlegt wurde?  – oder die gewagt  wurde  als erstes Erproben eigener Neugier  des Lebenswertes?

Einen weiten Weg müssen wir bereit sein zu gehen, tastend  zurück  in die Vorzeit der Sprache, in die Vorzeit  des Wissens, um das “Augenlid aus Stern”  auf das innere Ich  öffnen zu können.

Ich werde  versuchen,

(1)  den Ursachen des Bedürfuisses nach verlässlicher Aufinerksamkeit nachzugehen;

(2)  die heutige Zeit unter  den Aspekten der Beschleunigung zu  untersuchen, welche  den “weiten Weg”  der inneren Aufmerksamkeit als Gegenbewegung erschwert;

(3)  die Möglichkeit der Erfüllung  des Bedürfuisses nach verlässlicher Reziprozität von Aufinerksamkeit über das, was Freundschaft bedeutet, zu erörtern.

 

(1) Über Schmerz und Selbstwert, Wagnis und Abhängigkeit

Der erste Ort war der verschlossene Raum des Mutterbauchs, in deren Wärme, im Summen der warmen Blutkanäle, in deren pulsierendem Plätschern und Sausen, im Zeitrhythmus des pochenden Herzens der Mutter, pausenlos geschaukelt vom Atem der Mutter, genährt von der Wärme der Lebenskraft,  angeheizt manchmal schier bis zum Verbrennen am Rand der Wiege, in anderen Fächern, vielleicht bei Vaters Intrusion,  oder fast erstickend, fast verhungernd, wenn mit Unbeachten getragen,  oder von atemerstickender Angst eingeengt, von klemmender Not und Erschöpfung im Dunkel gefangen, trotzdem nicht sich selber überlassen noch verlassen,  so oder so im ständigen Wiegen der Mutter getragen, im stärkenden oder im beklemmenden Gespräch mit der Sprache ihrer Seele, erst als zu klein die Wiege wurde, freigelassen ins Verlassensein, losgestossen aus Atem- und Blutsymbiose ins vielfach hilfebedürftige, geheimnisvoll unbekannte, nicht wählbar gestaltete, unaustauschbar besondere, eigene Ichleben in der eigenen Haut, die nun verletzbarer Halt ist, dieses feine eigene Haus, aus der Genesis geschaffen (sowohl im Sinn von „gennan” / erzeugen, hervorbringen und „gignesthai” / entstehen, geboren werden), diese feine Umgrenzung des Ich nach Aussen, wie vor der Geburt im Innern der Wiege, unverwechselbar besonders, einzigartig, das feine Geflecht der sinnlichen Wahrnehmung über dem – nun – eigenen pulsierenden Herzen und dem Ateminstrument der Lungen, mit dem Zeichen des eigenen Geschlechts, das dem Ausstossen des Verdauten wie der sinnlichen Hungerstillung dient, mit den sich öffnenden Fenstern und Türen der Sinne-Augen, Nase, Mund und Ohren-, mit deren je eigenen, langsam erwachenden Fähigkeit der Vermittlung von Hunger, von Freude und von Angst,  dieser präzisen Übersetzung der Empfindungen der Seele und der cerebralen Funktionen in den dialogischen Kontakt über den Blick, die Bewegung der Hände und allmählich, zusätzlich zur spürbaren in die hörbare Sprache, mit dem besonderen Tonregister, das über Bronchie und Mund den Dialog mit der Mutter fortsetzt, nicht mehr in ihrem Inneren, sondern nun aus dem von ihr getrennten, aber noch tief verbundenen eigenen Haus, das bei beiden Körper heisst,  allmählich dann Austauschtmit anderen Menschen auf unterschiedliche Weise, mit dem Vater – eventuell -, mit weiteren Gesichtern und Gestalten, die allmählich nebeneinander oder gegen einander das Kind umringen – all dies auf unverwechselbare, eigene, persönliche Weise, die das Kind als Individuum kennzeichnen (,,individuum” / das Unteilbare, Ungeteilte, aus der Negativform von „dividere” / teilen), jedoch verwandt mit Völkern von Ahnen auf Mutter- und Vaterseite – vierhundertvierzigtausend – bis zurück zum Anfang des Menschseins zu Beginn der zählbaren Zeit.

So ist die erste, eigentliche Wiege – diese erste Erfahrung verlässlicher, wenngleich nicht schmerzfreier Geborgenheit – im nicht wählbaren, genetisch und anthropologisch erklärbaren, zugleich geheimnisvollen innersten Teil des In-der-Welt-Seins zu finden; sie ist die innere Entwicklungsgeschichte und die innere Zeit des Ich, dann die sich fortsetzende zweite Entwicklungsgeschichte, die beginnt, wenn die nach den äusseren Zeitmassstäben berechnete Zeit mit dem eigenen Atem eine Sekunde zählt, dann einen Tag, der einen Namen trägt- Geburtstag-, auf den die Kindheitsjahre folgen, Geburtstag Jahr für Jahr- die lange Geschichte der Geborgenheit oder der Verlassenheit und des Hungers im persönlichen Hauthaus,  die zur Lern- und Entdeckungsarbeit, zur Beziehungs- und Handlungsaufgabe wird, immer begleitet von der Sehnsucht nach dem verlässlichen Getragenwerden, das verlassen werden musste, immer Teil der – erst zählbaren und näher oder nah bekannten – anderen Menschen, dann der unzählbar vielen, die je eine eigene Geschichte haben, immer mit der Sehnsucht nach dem anderen Teil des Ich, der ergänzend wäre, eventuell ersetzend jenen, der verlassen werden musste, ähnlich oder anders.

Sokrates’ Bild der frühesten Menschheit entspricht dem der Kugel, in welcher weiblich und männlich – männlich und weiblich miteinander verbunden und sich ergänzend einander stützen, dann getrennt werden und ständig in der Sehnsucht nach der Verlässlichkeit des anderen Teil des Ich einander suchen.

„Einmal verschlossen / in der Geburtenbüchse der Verheissungen / seit Adam / die Frage schläft zugedeckt mit unserem Blut”2.

Dass jeder Mensch als Kind zur Welt kommt, das ins Alleinsein und Bedürftigsein hineingestellt wird, dass es – das Neutrum Kind und zugleich er/sie – weder seine innere genetische Besonderheit noch die äussere Besonderheit des Aussehens noch die Zeitzusammenhänge wählen kann, dass diese Besonderheit mit dem Verlust der verborgenen Geborgenheit verbunden ist, dem Verlust der symbiotischen Wärme, die ohne Bedingungen galt, dass fortan ein nie erfüllbarer Mangel den Menschen begleitet und aus dem Mangel das grosse Bedürfnis nach einem anderen Menschen, dem er/sie in der Verbindung so wichtig ist, so zuverlässig wichtig wie jene stärkende Geborgenheit, die verloren ging, dies alles geht der Sprache voraus und allen weiteren Etfahrungen des Lernens und Wachsens. Verknüpft damit ist die je persönliche Etfahrung der Besonderheit des eigenen Ich – eines geliebten und durch Zuwendung und Verstehen gestärkten, oder eines einsamen, verwundeten und ständig hungrigen Ich, dessen Besonderheit innerhalb der Familie und innerhalb der grösseren Kollektivität ein Aufsehen der Fremdheit, eventuell gar eine Ablehnung bewirkt.  Tatsache ist daher, dass jede persönliche Besonderheit in der kaum zählbaren Fülle des Menschsein gefährdet sein kann, auf vielfältige Weise, da er/sie in seiner/ihrer Besonderheit immer von der lebensstärkenden Akzeptanz und Achtung durch die Anderen abhängig ist.

,, … Auch wir hinterlassen / unser Einsamstes den Neugeburten / Einer dreht sich um / und sieht in die Wüste – die Halluzination öffnet / die Wand der Sonnenwildnis wo ein Ahnenpaar / die Sprache des enthüllten Staubes spricht muschelfem unterm Siegel – … 3″

Was ist das „muschelferne” Siegel, das Nelly Sachs meint? – Lässt sich in diesem „Siegel” die Erklärung für die Fortsetzung jenes Grundbedürfnisses finden, das die Sehnsucht nach untrügerischer Sicherheit menschlicher Beziehung bedeutet – die Sehnsucht nach Aufinerksamkeit? – nach Verlässlichkeit in der Reziprozität?

Ich will versuchen, nicht nur auf Sokrates,  sondern auf eine weitere mythologische Quelle einzugehen, die sich in einer Märchensammlung aus dem „Schwarzen Amerika” findet, aus welcher ich meinen Kindern vorlas, eine Erzählung der Schöpfungsgeschichte, welche zu erklären versucht, wie und warum die Menschen so unterschiedlich sind, so unterschiedlich verlässlich und unverlässlich, warum Aufinerksamkeit auch mit negativen Kräften, mit der Projektion von Eifersucht, von Neid und Hass einher gehen kann. Das Aussehen wird als Symbol für die nicht wählbare Besonderheit benutzt.

Es heisst dort, dass die ersten Menschen – Adam und Eva – Schwarze waren, untereinander gleich, und dass aus dieser Übereinstimmung die Kinder entstanden, darunter die Söhne Kain und Abel. Doch das ursprüngliche Gleichsein veränderte sich durch die Tatsache der Besonderheit jedes Kindes. Von Kain heisst es, er sei streitsüchtig und rücksichtslos, gewinnsüchtig und eifersüchtig gewesen. Warum er dies war, wird nicht geschildert. Dass er sich in seinem Bedürfnis, innerhalb der Familie geliebt und in seiner Bedürftigkeit gestärkt zu werden, hintangesetzt fühlte,  dass er in seinem verletzten Wertgefühl Zorn empfand, vielleicht auch Angst vor sich selber und seinem nicht kontrollierbaren Verhalten des Aufbegehrens, ja der Rache, ist eine mögliche Erklärung. Erzählt wird in der Geschichte, dass er eines Tages, bei einem Streit auf dem Acker um die beste Wassermelone,  seinen Bruder Abel getötet habe. Als daraufhin der Herr und Schöpfer von hinten auf Kain zugegangen sei und ihn gefragt  habe,  wo sein Bruder  sei, habe Kain grossspurig geantwortet,  dass er nicht seines Bruders Hüter  sei; er habe ihn nicht in die Tasche gesteckt. Der Bruder  habe ihn verlassen.  Als der Herr und Schöpfer nochmals fragte, wo der Bruder sei, habe Kain sich umgewandt und vor sich den Herrn gesehen.  (Eine andere Weise zu erzählen ist, dass Kain in sich schaute  und sein Gewissen ihm seine Unverlässlichkeit,  sein falsches Handeln  und seine Schuld deutlich machte). Da sei er vor Schreck erblasst,  sein Haar  sei glatt geworden und sein Gesicht, ja sein ganzer  Körper bleich und weiss.

So schildert das Märchen,  dass das „Siegel”, unter welchem  „die Sprache des enthüllten  Staubes” liegt, bei einem Teil der untereinander und miteinander  lebenden Menschen die Trauer  um den verlorenen,  ermordeten „Bruder”  – oder weitere nahestehende Menschen – bedeutet, um die nicht kontrollierbare Gewalt,  die aus der negativ gesteuerten Aufinerksamkeit, aus der Unverlässlichkeit von Empfinden und Handeln  geweckt und umgesetzt wird,  mit der Trauer Misstrauen und Schmerz im allem, was Zusammenleben bedeutet. Bei einem anderen Teil bedeutet das „Siegel”  die schwere Last des anklagenden Gewissens,  durch welche alle Wärme  wie erstarrt, bedeutet auch hemmende Scham wegen  des Versagens und Angst vor der Rache,  daher Kontroll-  und Beherrschungsbesetztheit jenen gegenüber,  die als die Anderen  – die Nicht-Gleichen – erscheinen. Dieses „Siegel” ist die einsamste genetische  Weitergabe weit zurückliegender,  eventuell  schwer belastender Geschichte an jedes neugeborene Kind, ein Siegel, das darauf harrt, durch das aufinerksame Erforschen geklärt und gelöst zu werden,  um ein neues Zusammenleben zu ermöglichen.

Olympe de Gouges,  diese mutige Kritikerin  der mangelnden Verlässlichkeit ihrer Zeit – der Zeit der französischen Revolution-, unter deren Folgen  auch sie, die als Korrektur der „Déclaration des droits de l’Homme” eine “Déclaration des droits de la Femme  et Citoyenne”  veröffentlichte und auf dem Schaffot das Leben verlor – sie hielt 1788 in einem Aufsatz klagend fest, was sie als weiterwachsenden Schuld durchschaute”: ,, …  dass das blut- und goldgierige  Europa die glückliche Welt gebrochen hat. Der Vater hat dem Kind die Anerkennung verweigert,  der Sohn hat den Vater der Opferung ausgesetzt, die Brüder  haben gegeneinander gekämpft  und die Besiegten wurden auf dem Markt  zum Kauf angeboten.  Was sage ich? – es wurde  zu einem Markt  in allen vier Teile der Welt,  ein Menschenhandel- grosser  Gott!  – und die Natur  erzittert nicht?5 Die „Natur  erzittert nicht”, d.h.  die Empfindung des Lebenswertes- des Wertes  menschlichen Aufinerkens – im vielfältigen Auf-einander-angewiesen-sein des Zusammenlebens tut nichts kund, weil sie vor Kälte erstarrt ist.  Aus der Urschuld  ging/geht  die Fortsetzung der Schuld und des Leidens  weiter, geht weiter, weil sie verdrängt wird.

All dies prägt den Blick der während  Generationen von einander betrogenen, missbrauchten, ausgenutzten und herabgesetzten Menschen auf einander,  da in jedem Zusammenleben die Unverlässlicheit der Nähe spürbar wird,  die darin besteht,  dass negative Aufinerksamkeit überhand nimmt und Macht missbraucht wird. Dies ist der Blick der Trauer, der Angst und der Rache, welche die über Herkunft und Zeitgeschichte geschaffene Sehnsucht nach Wärme und Respekt, nach Schutz und Sicherheit spüren lässt. Dass der Streit zwischen den ungleichen Brüdern  – auch jener zwischen Eltern und Kindern, zwischen den Schwestern und zwischen Brüdern und Schwestern – weitergeht, oft bis zur Tötung der einen durch den/die anderen, dass sowohl Neid und Schuld, Trauer und Angst sich fortsetzen und – je nachdem – in jedem Blick spürbar werden, ist die Tragik der die Generationen überdauernden Verweigerung zu lernen: zu lernen, das grundlegende Bedürfnis nach verlässlicher Aufinerksamkeit nicht nur in sich selber zu spüren, sondern auf gleiche oder vergleichbare Weise bei den Anderen, die nahe stehen. Zu lernen, gerade das Andersseins in der gleichen Menschheitsfamilie zu akzeptieren, da jedes Ich in seiner Besonderheit auf diese Akzeptanz angewiesen ist.  Gleichzeitig zu lernen, jede Art von Macht, die ausgeübt werden kann, so umzusetzen, dass sie ertragbar wäre, wenn man nicht Subjekt,  sondern Objekt des Handelns wäre    diese einfache Grammatik der Reziprozität.

Als unerträglich würde empfunden, in den Gefühlen der eigenen Würde ständig verletzt zu werden, selber durch einen Mangel an Verlässlichkeit oder durch negative Aufinerksamkeit anderer Menschen mangelnden Respekt und mangelnde Achtung erleben zu müssen.  Sich einzufühlen in die Folgen des eigenen Handelns, nicht als Subjekt, sondern als Objekt des Handelns, müsste als normativer Massstab menschlichen Zusammenlebens genügen. Es geht dabei um das Wissen der nicht auflösbaren Abhängigkeit jedes Menschen von anderen Menschen, in allem, was die Erfüllung der wichtigen menschlichen Grundbedürfnisse betriffi. Es geht um das Wissen des gleichzeitigen Subjektseins und Objektseins, resp. um die Reziprozität in allem, was menschliches Leben im Zusammenleben mit anderen Menschen bedeutet.

Die gegenseitige und wechselseitige Abhängigkeit der Menschen voneinander stützt sich auf die gleiche Sehnsucht nach Erfüllung der gleichen Grundbedürfnisse, d.h.  aller wichtigen körperlichen und seelischen Bedürfnisse, deren Erfüllung zum Wert des Lebens gehört. Das wichtigste ist der grosse Wunsch nach Respekt vor der nicht selber gewählten, über die Generationengeschichte geschaffenen Individualität, es ist der Wunsch nach dem Recht auf das eigene Ich- und Anderssein und auf den gleichen Wert jeder Besonderheit, unabhängig davon, ob er/sie gesund oder krank sei, wohlhabend und gebildet oder hilfebedürftig und behindert, mehr oder weniger dunkel oder hell, dieser oder jener Religion zugehörig, diese oder eine andere Sprache sprechend. Dieser Wunsch, der wie ein Hunger spürbar ist, beinhaltet, nicht als „gut” oder als „böse” vordefiniert zu sein, sondern so ernstgenommen und unterstützt zu werden, dass diejenigen – ich formuliere die wichtigste ethische Regel nochmals-, welche die Macht haben zu handeln, das, was sie tun, ertragen könnten, wenn sie nicht die Handelnden, sondern die Objekte des Handelns wären. Gemäss Simone Weil, die 1943  – mit 34 Jahren-in der Emigration in England vor Erschöpfung starb, besteht hierin die grundsätzliche „Verpflichtung” des Menschsein, die aufmerken lässt: ,,La notion d’obligation prime celle de droit qui lui est subordonnée et relative”6.

Gemäss Simone Weil findet sich im Erkennen der gegenseitigen und wechselseitigen Abhängigkeit der Menschen von einander in erster Linie die Verpflichtung derjenigen, die handeln können, denjenigen gegenüber, die weniger oder nicht handeln können. Nur aus der verlässlichen Erfüllung dieser Verpflichtung erwächst das Recht, entsprechend dem eigenen Bedürfnis ebenfalls Achtung und Respekt zu fordern – eine Verpflichtung, die von den Mächtigen zumeist überdeckt oder gar geleugnet wird. Die Anerkennung des Wertes und der Würde der persönlichen Besonderheit kann letztlich nur aus der hierarchisch definierten Ungleichheit gelöst werden, welche der mangelnden Gerechtigkeit zugrunde liegt, wenn nicht ausschliesslich gefordert wird, sondern wenn die ,,Verpflichtung” entsprechend den Handlungsmöglichkeiten ernstgenommen wird.

Das Rückbesinnen auf die frühesten Geschichten des von Ungleichsein und Trauer geprägten gleichen Menschseins sollte der wechselseitigen, reziproken Aufinerksamkeit und damit dem Erlernen eines besseren Zusammenlebens dienen:  dank der Verlässlichkeit, welche die gegenseitige Abhängigkeit von einander zu einer Erfahrung des stärkenden Wertes werden lässt, ein Erlernen des Wertes des Andersseins als Wert der individuellen Besonderheit, welcher der gleiche Wert des unersetzbaren menschlichen Lebens zugrunde liegt. Liesse sich so die Wiederholung von menschlichem Leiden verhindern, und liesse sich ein Zusammenleben  etfahren, das der Qualität nahe käme, welche der Freundschaft eigen ist?

„Du bist Rechtshänder und ich bin Linkshändin / wie selbstverständlich träumen wir vom Fliegen / du hast einen Flügel auf deiner linken Schulter / und ich natürlich einen auf meiner rechten / So beim gemeinsamen Schwingen wünschen wir / Schulter an Schulter verwachsen / Abzuheben / Auf festem Boden / Hier sind wir schon lange uns einig / Aber wehe in den Lüften dort könnten wir / Uns zerreissen / Also halten wir verlässlich die Hände / Meine linke in deiner rechten / Und kratzen uns allabendlich / Gegenseitig die juckenden Schulterblätter?”

(2) Unser Leben unter den Bedingungen  der digitalisierten Zeit

“Wir sind die erste Generation in der Geschichte, die neben der Eroberung des Weltraums( .. ) auch die Entdeckung einer letzten Energieform erlebt haben, der kinematischen Energie,  einer Energie in

‘Bildform’ oder, wenn man es vorzieht, in ‘Informationsform’, die somit noch zur potentiellen und kinetischen Energie hinzukommt”,  stellte Paul Virilio, der grosse Skeptiker der Digitalisierung, anlässlich eines Gesprächs fest, das ich mit ihm vor wenigen Jahren in Paris führte”, Die Rede vom „kinematischen”, vom „ digitalen” Zeitalter ist nicht mehr neu, aber seit Internet, Cyber Space und virtuelle Realität alltäglich anwendbare Technologien geworden sind, bekommt diese Rede etwas scheinbar Unabwendbares. Wir wollen darauf die Aufmerksamkeit vertiefen. Denn aufinerken lässt, dass zwischen verweigernder Skepsis und unskeptischer Begeisterung für das sorgfältige und kritische Befragen des Werts und der Tauglichkeit der Kommunikationstechnologien kaum mehr Berechtigung zu bestehen scheint. Es geht um eine neue Technologie, die zugleich erschreckt und mitreisst.  Es geht jedoch in erster Linie einfach um eine Technologie  – und nicht um eine kulturelle Umwälzung, analog jener der Erfindung des Alphabets, wie u. a. vertreten wird.

Bei jeder Technologie geht es um Kenntnis und Wissen der Nutzbarmachung natürlicher Kräfte, und es geht um den gekonnten Einsatz von Instrumenten zu einem definierten Zweck So lässt sich zuerst einmal ideologiefrei sagen, dass das Internet und alle anderen digitalen Angebote Datenübermittlung in noch nie erlebter zeitlicher Beschleunigung und räumlicher Entgrenztheit ermöglichen, dabei aber zugleich ein lustvolles Tummelfeld der virtuellen Spielmöglichkeiten erschliessen, das zunehmend zum Selbstzweck wird.

Diese Selbstzweck-Überhöhung oder gar-Verklärung, diese Hypostasierung mag vor allem damit zusammenhängen, dass die digitale Technologie zur fortschrittlichsten „Kommunikation”, ja überhaupt zur ,,Kommunikation” erklärt wird. Dies ist höchst missverständlich. Denn wer auf diesem Tummelfeld mitlaufen und mitspielen will, braucht in erster Linie ein spezifisches Fachwissen und ein spezifisches technologisches Training. Es geht dabei kaum um die – im herkömmlichen Sinn – verbindliche Zwischenmenschlichkeit des Gesprächs resp.  der Kommunikation, ist doch das Gespräch der differenzierte Ausdruck menschlicher Beziehungen,  die nur in beschränkter Anzahl tatsächlich gelebte Beziehungen sein können. Es geht bei dieser neuen ,,Kommunikation” auch nicht um die Diskursregeln des demokratischen Aushandelns im Sinn der Kommunikationstheorien der Sechzigerjahre. Zu untersuchen wäre, im Gegenteil, ob die Befürchtung Paul Virilios zutrifft,  dass Demokratie im digitalen Zeitalter zusätzlich gefährdet sein könnte. Das muss näher angeschaut werden.

Ich meine jedoch, dass die spezifischen Verfügungsmöglichkeiten über diese neue Technolgoie nicht mit Bildung verwechselt werden sollte. Es scheint mir unbestreitbar, dass, während die Technologie sich verfeinert und deren Kenntnisse sich verbreiten, Bildung zunehmend in die Krise gerät. Was Adorno Anfang der Sechzigerjahre – 1963  – warnend sagte, gilt heute nicht in schwächerem Mass, dass die Krise, von der ständig auf diffuse Weise die Rede sei, ,,mit jenem Komplex zusammenhängt, der als Divergenz von Bildung und fachlicher Schulung bekannt ist, der sich jedoch keineswegs damit deckt” 9,  sondern zusätzlich viele Verunsicherungen und Quasi- Sicherheiten einschliesst. Bildung sollte zum skeptischen Urteilen und aufinerksamen Handeln befähigen, indem sie das Individuum und seine Geschichte in die Geschichte des Denkens und Handelns einbindet und dadurch Vergleichsmöglichkeiten des irrtümlichen wie des treffiichen Urteilens zur Verfügung stellt.

Tatsache ist aber, dass, nicht zuletzt unter dem zunehmend diktatorischen Druck der Wirtschaft, die Spezialisierung und Technologisierung in den Wissenschaften in einem Mass zugenommen haben, dass die professionelle Kompetenz – zum Beispiel der Hochschulabgängerinnen und – abgänger- sich vor allem durch die „methodische Sauberkeit, allgemeine Kontrollierbarkeit, den

Consensus  der zuständigen Gelehrten  (resp. Fachleute),  die Belegbarkeit aller Behauptungen,  die logische Stringenz” beweist  – wie dies ebenfalls schon Adorno  auffiel.

Adorno  monierte,  dass durch die ausschliesslich  formalen Qualifikationsanforderungen das kritische, auch das selbstkritische Bewusstsein der jungen  Wissenschafterinnen und Wissenschafter, überhaupt der führenden  intellektuellen Fachkräfte, verloren gehe.,, Sie errichten in sich eine mehr oder minder freiwillige Selbstkontrolle. Diese veranlasst  sie zunächst  dazu, nichts zu sagen, was den etablierten Spielregeln ihrer Wissenschaft nicht gehorcht;  allmählich verlernen sie,  es auch nur wahrzunehmen.” Schliesslich steigert  er sich in die Feststellung:  ,,Nicht nur die Fachausbildung,  sondern  auch Bildung selber bildet nicht mehr.  Sie polarisiert  sich nach den Momenten des Methodischen und des Informatorischen.”

Es ist die Reduktion auf gesellschaftlich kontrolliertes und dadurch instrumentalisiertes Fachwissen,  auf Technologien,  und  deren  Verwechslung mit Bildung,  was  Adorno beklagte, eine Verwechslung, durch  welche die je persönliche,  ungeschützt auf sich selber  gestellte Urteils- und Handlungskompetenz von  hoch  ausgebildeten Frauen und Männern und  damit deren  Befähigung zur persönlichen Verantwortung  für die Umsetzung von Fachwissen in den Paradoxien der gesellschaftlichen Erfordernisse ungenügend oder  gar unentwickelt bleibt.  Die Gefahr besteht,  dass die – nicht mehr in persönliche  Überprüfbarkeit integrierbare – Menge von Informationen zu einer Beliebigkeit in deren  Auswahl führt.  David  Shenk,  der für „Wired”,  das Zentralorgan der Cyber-Community arbeitet,  hat in seinem vor kurzem erschienenen Buch

„Data  Smog”  warnend geschrieben,  nicht  Wissen  resultiere aus der Informationsflut,  sondern

Urteils-  und Handlungsparalyse,  schliesslich Ignoranz.

Neben der technologisch zugänglichen Informationsflut ist die Geschwindigkeit der

Datenübertragung ein weiteres  Phänomen der Fortschrittskrise,  so paradox  dies erscheint. Die

Frage stellt sich, worauf die Aufmerksamkeit sich tatsächlich  ausrichtet. Der Verfügungsmöglichkeit über Mittel zur Geschwindigkeitserzeugung entsprachen  seit ältester Zeit Reichtum und Macht. Dieses Verhältnis besteht  heute noch, mit dem Unterschied,  dass, wer nicht am Geschwindigkeitswettbewerb partizipieren kann, wer sich nicht ins Internet  einschalten kann, scheinbar aus dem globalen Netz  der technologisch vernetzten  Machtträger und Machtträgerinnen ausgeschaltet bleibt. Kann dies eventuell zu einem Demokratieproblem werden,  da ein Grossteil der Bevölkerung von den Mitsprachemöglichkeiten zunehmend  ausgegrenzt wird? Oder liegt hierin

eher die mögliche Ursache  eines Kulturproblems,  da diejenigen,  die über die technologischen und materiellen Voraussetzungen zur Mitsprache verfügen,  sich selbst zur Immobilität  vor dem Bildschirm, zur Abkoppelung von gelebtem Austausch  und Urbanität  verdammen? So oder so sind damit Verlusterfahrungen verbunden, da die Aufmerksamkeit sich vor allem auf Virtuelles bezieht.

Im 19. Jahrhundert hatte sich das Problem des Gegensatzes zwischen Landbevölkerung und

Städten, zwischen Agrarkultur und Industrialisierung entwickelt, im 20.  Jahrhundert jenes zwischen den Metropolen und den Peripherien, im 21. Jahrhundert wird es das Problem des Gegensatzes zwischen den neuen technologisch ausgerüsteten  “Sesshaften” und den benachteiligten, mittellosen und sprachlosen Migrierenden sein, zwischen den “virtuellen Städten”, wo sich die Vernetzungszentren  der Telekommunikation befinden, und den weiter wachsenden alten Metropolen,  die in ihrer Komplexität unregierbar werden.  Vielleicht ist dies ein vorübergehendes

Phänomen, das aufmerken lässt, vielleicht aber ist tatsächlich zu befürchten,  dass die Menschheit auf diesem Weg grossen Unfällen entgegengeht. Die entscheidenden Gründe hierfür könnten, denke ich, nicht zuletzt in einer anwachsenden Entfremdung auf der einen wie auf der anderen Seite liegen: Entfremdung der Menschen von sich selber, von ihren wirklichen Grundbedürfuissen, von sinnlich erfahrbarer, gegenseitig und wechselseitig erfüllter Welthaftigkeit – von der vielseitigen Reziprozität der Lebensbedingungen und des gelebten Lebens.

Die Maximierung des technologischen Fortschritts, wie er sich in den mit Lichtgeschwindigkeit übertragenen Informationen, in der vieldimensionalen Simulation von Realität sowie in der extremen Miniaturisierung  von Prothesen, von Kollektoren,   Sensoren und anderen hoch empfindlichen Geräten zeigt, bedeutet für viele Fortschritt. Doch was heisst Fortschritt? Wir haben in den vergangenen Stunden schon die Skepsis Kierkegaards und die Warnung des jungen Karl Marx wahrgenommen. Franz Kafirn schrieb in einem Brief an Milena Jesenska:  ,,Die Menschheit hat(. .. ), um möglichst das Gespenstische zwischen den Menschen auszuschalten und den natürlichen Verkehr,  den Frieden der Seelen zu erreichen, die Eisenbahn,  das Auto, den Aeroplan erfunden, aber es hilft nichts mehr,  es sind offenbar Erfindungen, die schon im Absturz gemacht werden, die Gegenseite ist viel ruhiger und stärker,  sie hat nach der Post den Telegraphen erfunden, das Telephon,  die Funkentelegraphie. Die Geister werden nicht verhungern, aber wir werden zugrundegehen” .

Was das „Gespentische” ist, was „die Geister” sind,  hat Kafirn nicht ausgedeutet, aber ich nehme an, dass er damit die Ängste,  die negative Aufmerksamkeit und die destruktiven Kräfte meinte,  welche die direkten und indirekten Beziehungen zwischen Menschen bedrohen. Was lässt sich Zusätzliches sagen?  – höchstens,  dass seither noch das Fernsehen und der Raum der virtuellen Realität erfunden wurde,  der uns Interaktionen auf jede Distanz erlaubt,  unabhängig davon, wie weit unser Nächster entfernt sei. Wer sind da noch die „Nächsten”? Soll es keine mehr geben? Ist die Angst vor Nähe zu gross?  Aufmerken  lässt  die  Tatsache,  dass  die  gesamte  Entwicklung  der  virtuellen Realität  im Zusammenhang  mit  militärischen Einsätzen  in  einem Krieg,  im  ersten  Golfkrieg zustande  kam. Zweck dieser Entwicklung  war,  die Macht des Angriffs  durch die Verfügungsgewalt über Waffen zu optimieren,  damit  sie mit grösstmöglicher  Schnelligkeit  und  Treffsicherheit  ihr  Ziel erreichen. Was als “Fortschritt” erklärt wurde, besteht in der masslosen Maximierung destruktiv umsetzbarer, negativer  Aufmerksamkeit  – jener  der Feinderklärung  -, die  sich innerhalb  einer Generation  zur globalen Herrschaft verdichtet hat.

Während Jahrhunderten  war es nötig, dass die Menschen  sich zueinander hinbewegen, um sich zu verständigen.  Dies ist überflüssig geworden. Die „Geister”,  die Kafirn in seiner Hellsichtigkeit als Bedrohung des Austauschs unter Menschen bezeichnet, haben mit dem Erreichen der Lichtgeschwindigkeit in der  Telekommunikation gesiegt.  Mit  den  Simulationstechniken kann die Realität, können Nähe, Begegnungen  und Widerstände durch virtuelle Realität abgelöst werden. Es braucht den Weg nicht mehr,  es braucht  die wirklichen Bahnhöfe,  das wirkliche  Ankommen und Sich-Begegnen nicht mehr. Aber verarmen mit der Einbusse der Sinnlichkeit des zurückzulegenden Wegs nicht auch die intellektuellen Fähigkeiten, da Erkennen und Denken immer mit der sinnlichen Erfahrung gekoppelt sind? Ist nicht zu befürchten, dass diese gewaltigste Steigerung der Geschwindigkeit sowie der Ersatz der Welthaftigkeit und der vielseitigen menschlichen Reziprozität durch Virtualität den Fortschritt in sein Paradox verkehrt:  dass die Menschen einander noch fremder werden   resp.   noch   “schwärzer”   oder   “weisser”?   – oder   dass   sie  füreinander  zunehmend austauschbar werden?

Die moderne  Technologie verändert das Zusammenleben der Menschen,  die zunehmend  hinter Bildschirmen festgenagelt sind, auf bedeutsame Weise.  “Erfindungen,  die im Absturz  gemacht werden”?  Trotzdem wird die Virtualität vermutlich  noch eine Weile das Tummelfeld der technologischen Weiterentwicklung sein.  Was allerdings nie virtuell werden  kann,  sind die wirklichen Bedürfnisse der Menschen,  sowie das Leiden  an deren Nichterfüllung.  Und ebenso real bleiben die Folgen  der Nichterfüllung:  die Gewalt.  Zu fragen ist, was wir tun müssen, damit nicht  mit Hilfe des so gepriesenen weltweiten Kommunikationsnetzes weltweit die Entfremdung und  Vereinsamung der Menschen anwächst,  bis ins Unerträgliche. Zu fragen ist vor allem, in welchen Bereichen  noch Fortschritt möglich ist.  Vielleicht tatsächlich  in der sorgfältigen Unterscheidung von Mitteln und Zwecken, im Bereich der sinnvollen Anwendung von Wissen zur Verbesserung des wirklichen Zusammenlebens, zur Verminderung von Entfremdung,  Angst und Gewalt, von Ersatzrealität und Virtualität    vielleicht tatsächlich im skeptischen Aufinerken und in der Qualität des mit anderen Menschen  geteilten, zusammen gelebten Lebens.

Ich denke, dass nicht die Kenntnis  der digitalen Technologie verhängnisvoll  ist, im Gegenteil.  Aber deren Hypostasierung. Daher  meine ich,  dass es einer spezifischen „grauen”  Ökologie bedarf, welche die durch die Teletechnologien geschaffenen Raumzeitschäden,  d. h.  die Schäden  im Bereich des Ungleichgewichts von Rhythmus  und Mass, von Realitätsetfahrung und Ersatzrealität, in allen Zusammenhängen der Entfremdung analysiert und korrigiert. Und ebenso bedatf es einer neuen Ethik des Konsums von Informationen,  d.h.  einer Sparsamkeit und Sorgfalt in deren zweckgerichteten,  sinnvollen und angemessenen Auswahl und Benützung:  es bedatf der aufinerksamen Beachtung reziproken Lebenswertes.

(3) Über Freundschaft als Erfahrung verlässlicher Aufmerksamkeit

Nachdem ich auf die Gründe  der Mangeletfahrung als  Subjekt und als Objekt menschlichen Handelns  sowie auf die Zusammenhänge der Zeitbeschleunigungen einging, welche heute Arbeit und Leben in digital gesteuerte Bedingungen versetzen, will ich versuchen,  die menschliche Sehnsucht  nach verlässlicher  Aufinerksamkeit  im Zusammenleben auf das hin zu befragen, was „Freundschaft” bedeutet.  Mir scheint,  dass es in jeder  menschlichen Lebensphase von grösster Bedeutung ist,  ob Freundschaft in diesem Sinn etfahren werden  kann.  Sie entgegnen mir vielleicht, ich sollte eher von der Liebe sprechen,  das sei für Sie bedeutungsvoller.  Ich meine aber,  dass Sie die Liebe,  den Glückstaumel und die Verzweiflung der Liebe,  die Sie eventuell kennen  oder zu kennen wünschen,  nicht mit dem Salz einer Beziehung verwechseln können,  die dauert  und sich entwickelt, und die den Veränderungen des Lebens in ständiger  Verlässlichkeit standhält:  mit dem, was Freundschaft ist.  Ich habe dies selbst erlebt und erlebe es noch immer, weiss auch aus Etfahrung vom Schmerz,  der quälend ist, wenn ein Freund  oder eine Freundin  durch den Tod entrissen wird oder wenn eine Freundschaft sich auflöst, wenn trotz  aller Hoffnung  Unverlässlichkeit – Verrat, zunehmende Abwendung oder Indifferenz – der Freundschaft ein Ende  setzt.  Da entsteht  aus dem Verlust ein schwer zu ertragendes Vakuum,  eine Traurigkeit,  die viele Jahre lang nachwirkt, die manchmal gar nicht mehr heilbar ist, da jede Freundschaft unersetzbar ist,  auch unvergleichbar, da jede sich nach dem Grad der Verlässlichkeit misst,  die ihr zugrunde liegt oder sich in ihr entwickelt.

Eine Bekannte, die an einer Hochschule in einer deutschen Grossstadt lehrt,  sagte neulich im wissenschaftlichen Austausch,  der Begriff ,,Freundschaft” sei nicht mehr in der ursprünglichen Bedeutung, die sich in zahlreichen Werken der Literatur seit der Antike festgehalten finde, geläufig. Ich antwortete ihr darauf, dass die eigentliche Bedeutung von ,,Freundschaft”, wie sie z.B. zwischen Orest und Pylades in der Antike,  oder zwischen Michel de Montaigne und Etienne de la Boetie im 16. Jahrhundert, oder zwischen Rahel Varnhagen und Pauline Wiesel, Brendel Mendelssohn alias Dorothea  Schlegel und Henriette Herz im 19. Jahrhundert in die Literatur eingegangen sei, nicht aufhebbar sei, auch wenn der Begriff heute für weitere Beziehungen verwendet werde,  da das Bedürfuis nach verlässlicher Aufinerksamkeit, d.h.  nach Erfüllung in der Freundschaft, nicht zeit- oder kulturabhängig ist. Das Bedürfnis ist so grundtiefund stark, wie in den Zeilen, die Nelly Sachs schrieb, zu lesen ist:

„Hinter der Tür / ziehst du an dem Sehnsuchtsseil / bis Tränen kommen. / In dieser Quelle spiegelst du dich”10

Freundschaft ist jene stärkende, ermutigende, immer wohlwollende und daher verlässliche Begleitung, bei der weder Begehren noch Berechnung mitspielen, sondern allein die gegenseitige und wechselseitige verlässliche Au:finerksamkeit. Wie untrennbar verknüpft Freundschaft und Verlässlichkeit sind, gibt Cicero wieder, in seinem vor rund 2000 Jahren, im Jahre 44 v. Chr., geschriebenen „Gespräch über die Freundschaft”, das häufig einfach als „Laelius” zitiert wird. Er schildert auf eindrückliche Weise, was Verlässlichkeit heisst, indem er den Philosophen, Heerführer und Politiker Laelius, der lange vor seiner Zeit, im Jahre 188 v.Chr. zur Welt gekommen war, den zwei Schwiegersöhnen über die Freundschaft zum jüngeren Scipio Africanus berichten lässt. Als ich den Text im Lauf der Vorbereitung auf den heutigen Abend wieder las, stellte ich fest, dass er in keiner Weise veraltet ist.

Ich will auf ein paar Stellen in dieser so unmodernen und zugleich nach wie vor aktuellen Schrift eingehen, um das Besondere und Unaustauschbare der Freundschaft – Freundschaft im Sinn verlässlicher Au:finerksamkeit – verständlich zu machen. ,,Freundschaft”, erklärt Laelius seinen zwei jungen Verwandten, ,,ist ein hohes Gut”. Ein anderes hohes Gut sei etwa die Weisheit, oder die Gerechtigkeit; auch Gesundheit und Reichtum seien erstrebenswerte Güter. Die Freundschaft aber zeichne sich als „hohes Gut” aus, da der Mensch es nicht in seiner Vereinzelung, nicht allein für sich, nicht allein für seine eigene Vervollkommnung anstrebe,  sondern, wie Cicero festhält, auf Grund seiner „Geselligkeit”, das heisst auf Grund der Tatsache, dass jeder Mensch mit anderen Menschen zusammenlebt und von ihnen abhängig ist. Daher – auf Grund der menschlichen Reziprozität – ist Freundschaft das höchste aller Güter und allen anderen vorzuziehen.  Cicero meint, dass die Freundschaft sogar der Verwandtschaft vorzuziehen sei, da diese durch die Natur geschaffen sei und sehr wohl auch ohne gegenseitiges Wohlwollen bestehe. Freundschaft jedoch werde gewählt, und ohne Wohlwollen löse sie sich auf  Sie bedeute Übereinstimmung in allen geistigen und menschlichen Belangen – bei Cicero heisst es „in allen göttlichen und menschlichen Dingen”-, und sie könne nicht anders denn mit Wohlwollen und liebevoller Achtung – d.h.  mit verlässlicher Achtsamkeit – verbunden sein, unabhängig von Lebenssituationen oder von guten und schlechten Tagen. ,,Dem Glück verleiht die Freundschaft grösseren Glanz; Widerwärtigkeiten erleichtert sie durch Mitgefühl und Teilnahme”.

Cicero, der in einer gefahrvollen Epoche lebte, wusste, wie gefährdet und prekär die einzelne menschliche Existenz ist, wie flüchtig die Erfahrung der Gegenwart und damit der Lebenszeit ist. Die Freundschaft vermag, dieser Flüchtigkeit und Verunsicherung Halt zu geben, sie macht die Mängel der persönlichen, zum grossen Teil nicht wählbaren, sondern gegebenen Voraussetzungen der Herkunftsbedingungen und der Zeit ertragbar,  sie weist in die Zukunft und erhält die Vergangenheit als erlebte Geschichte lebendig.  Sie steht der Zeit entgegen, als könnte sie sie aufheben, indem sie das so schwache individuelle Ich verstärkt, ja verdoppelt. ,,Abwesende sind anwesend, Dürftige reich,  Schwache stark und, was noch auffälliger wirkt, Tote lebendig”,  sagt Laelius. Daher ist die Freundschaft die einzige Kraft, welche die Welt in ihrer Vergänglichkeit und Brüchigkeit zusammenhält. ,,Nimmt man dieses Band des Wohlwollens aus der Welt heraus,  so

wird weder ein Haus noch eine Stadt bestehen können, nicht einmal der Ackerbau 11  wird fortdauern”.

Doch nicht nur verleiht die Freundschaft als verlässliche Kraft den Wert von Dauer und Beständigkeit all dem, was sich in der Flüchtigkeit der Zeit sonst auflöst,  sie widersteht auch der negativen Aufmerksamkeit resp.  den Zerstörungskräften von Zwistigkeiten, von menschlicher Gewalt und Hass. Denn Freundschaft gibt es nur zwischen Menschen, die ohne Arglist sind, die einander nichts vormachen und die einander nicht betrügen,  die mithin in der Beziehung zueinander wahrhaftig sein können resp. dürfen, auch wenn sie sonst fehlerhafte Menschen sind. Hierin zeigt sich der Wert der Verlässlichkeit, den Cicero mit dem kaum mehr geläufigen Begriff der „ Tugend” bezeichnet. Doch wir wissen, was er damit meint: Indem überall in der Welt einzelne wenige Menschen auf verlässliche, unverbrüchliche Weise für einander einstehen, indem sie einander weder. übervorteilen noch einander hintergehen noch einander in der Not im Stich lassen, wirken sie der – scheinbar viel stärkeren – Macht der negativen Aufmerksamekeit und des egozentrisch determinierten Handelns entgegen, das auf bedenkenlose Weise anderen Menschen gegenüber schädlich oder gar zerstörerisch ist. Freundschaft unter Menschen ist eine Gegenkraft zu Neid und hass, zu Verrat, Verderben und Tod.

Ciceros Vermutung, dass ohne das Band der verlässlichen Aufmerksamkeit – des „Wohlwollens”, wie er sagt -, welches durch die Freundschaft entsteht, die Welt keinen Bestand hätte, trifft ohne Zweifel zu, wenngleich mit einer bedeutungsvollen Ergänzung. Es gibt eine Geschichte aus der jüdischen Überlieferung, die, wie Gershom Schalem nachweist,  auch in der islamischen Mythologie vorkommt, laut derer das Schicksal der Welt auf 3 6 Gerechten ruht, die in jeder Zeit, in jeder Generation unauffällig und unerkannt leben und wirken, nicht als Helden oder als Heldinnen, sondern einfach als Menschen, die es vorziehen, statt Böses Gutes zu tun: mit verlässlicher Aufmerksamkeit als Mensch unter Menschen der wechselseitigen Reziprozität zu gedenken und so zu leben. Nach gewissen Legenden stirbt ein „gerechter Mensch”, wenn er als Gerechter erkannt wird.

Den Gerechten ist somit das eigen, was Cicero mit der Freundschaft verbindet:  die fraglose Selbstverständlichkeit in der Ablehnung negativer Aufmerksamkeit und daraus folgenden gemeinen Handelns, dessen Folgen selber nicht ertragen werden könnten. Was das „Ausmass”, gewissermassen die quantitative und sachliche Definition der Ablehnung schädigenden Handelns betrifft, zeigt sich ein bedeutungsvoller Unterschied: Während gemäss der jüdischen und islamischen Mythologie für „Gerechte” die Ablehnung des Tuns des Bösen allen Menschen gegenüber gilt, als ein nicht anzweifelbarer Massstab des Handelns (entsprechend dem Zweiten Gebot unter den Zehn Geboten, die auch im Christentum gelten), schränkt Cicero die Tatsache der Verlässlichkeit ein. Er macht sie zu einer Frage der Wahl, d.h. der persönlichen Verantwortung, die mit der geheimnisvollen geistigen Kraft, die Freiheit heisst, verbunden ist, die immer wieder erwacht und spürbar wird, und die voraussetzt, dass die Lebensbedingungen, wie sie gegeben sind, verändert werden können.

Die Wahl bedeutet, dass Menschen, die einem so wert und teuer sind wie das eigene Ich – am nächsten gilt dies für die eigenen Kinder, dann für diejenigen, mit denen Freundschaft die Beziehung prägt -, dass diese durch das eigene Handeln kein Leiden erfahren sollen und nicht zu Schaden kommen dürfen. Daher gilt auch die Erwartung, dass ein Freund – oder eine Freundin – einem selbst wie sich selbst gegenüber nichts Unrechtes tut, als Teil der Freundschaft. Das heisst, dass ungehörige Anmassung nicht befürchtet werden muss, dass sie ausgeschlossen  ist. Freundschaft könnte Unrecht, das in ihrem Namen getan würde, nicht standhalten; sie müsste zerbrechen.

Mir scheint, dass die Erfahrung verlässlicher Freundschaft die Menschen  in ihrem gesamten Verhalten anderen Menschen gegenüber verändern kann. Dass, wenn im Verhältnis des einen Menschen zu einem anderen so viel Aufinerksamkeit und Verlässlichkeit, so viel Lauterkeit und so viel Wohlwollen tatsächlich gelebt und erlebt wird, dieses Verhältnis zum Spiegel für einen selbst wird, zum Spiegel menschlichen Wertes überhaupt. Wird damit nicht immer unvereinbarer, andere Menschen, mit denen man in der Gleichzeitigkeit des Lebens zu tun hat, auf menschlich nicht verlässliche,  auf gleichgültige oder gar auf durchtriebene Weise zu übervorteilen, ihnen Leid anzutun oder sie mit Verachtung zu behandeln? Wird nicht der Sinn wechselseitiger Reziprozität überzeugend? Vielleicht sind breitere und nachhaltigere Folgewirkungen nicht selbstverständlich, sondern stellen sich nur durch eine lange „Einübung” und Erfahrung ein; die Empfindlichkeit für Übereinstimmung und Nichtübereinstimmung wird im aktiven wie im passiven Zusammenhang vertieft und verstärkt.

Auf jeden Fall scheint mir, dass Freundschaft, die, wie Cicero schreibt, ,,Kriecherei,  Schmeichelei und Liebedienerei” nicht zulässt und daher jeder Art der „Verstellung” entgegensteht, der Ort der Rückkehr in jenen Erdteil menschlichen Lebens ist, nach welchem ständige Sehnsucht spürbar ist, wo Menschen im Austausch einander stärker und reicher machen, wo sie einen Teil jener ersten, prägenden Erfahrung der Verlassenheit und der „Entfremdung” aufheben, die jedes menschliche Leben kennzeichnet. Interessanterweise findet sich eine Überlegung dazu auch bei Karl Marx in seinen Frühschriften, in den Fragment gebliebenen „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten” von 1844, wo er vom „lebenslangen Leiden” schreibt, das nicht nur aus der Abkoppelung vom Produkt der eigenen Arbeit und aus der Erfahrung ständiger Übervorteilung erwachse, sondern das zutiefst Entzweiung mit sich selbst bedeute,  Sinnverlust und Freudlosigkeit – was die französische Philosophin Simone Weil als „deracinement” – als “Entwurzelung”  – des Menschen bezeichnet. Bei Marx wie bei Simone Weil geht es aufje eigene Weise um die Erfahrung der Leere und des unbenennbaren, unstillbaren Hungers nach verlässlicher Aufinerksamkeit in einer Beziehung,  die das verlorene Ich stärkt und mit sich selber in Übereinstimmung bringt.

Wenn dies gelingt, wird der Mangel nicht durch kompensatorische Mittel zu füllen oder zu stillen gesucht, in einer von der Leere belastenden Art, in welche z.B. Workaholics und Süchtige jeder Art hinein geraten, ob es Drogen-, Alkohol-, Mager- oder Esssüchtige seien,  Sport-, Porno-, Vergnügungs-, Geschwindigkeits- oder Religionssüchtige u.  a. m.  sonder Zahl, in ihrer psychischen Bedürftigkeit leidende Menschen, deren Leiden durch die Unmässigkeit der kompensatorischen Abhängigkeit, durch welche sie den Mangel zu lindem suchen, nur grösser wird. Vermittelt aber Freundschaft die Erfahrung verlässlicher Aufinerksamkeit und persönlichen Wertes, so wirkt sie wie gute, kräftigende Nahrung.

Freundschaft als Erfahrung verlässlicher Aufinerksamkeit kann nicht alle Enttäuschungen und nicht alle Mangelerfahrungen des Lebens heilen, dessen Zeitzusammenhänge nicht wählbar sind, aber sie schaffi: in der existentiellen „Heimatlosigkeit” eine Heimat, einen Ort des Vertrauens, der Stärkung und der Geborgenheit. Während Liebe-je nach der Art der Liebe – in verschiedene Formen der Abhängigkeit führen kann, verstärkt Freundschaft den Wert enes Grundbedürfuisses, das Freiheit heisst.  Sie gewährt angstfreie Korrekturmöglichkeiten und menschliche Akzeptanz auch im Irren, verstärkt dadurch das Empfinden des persönlichen Wertes trotz aller menschlichen Begrenztheit.

Es ist die Erfahrung von Freundschaft, welche die unauslöschliche Wegspur durch alle existentiellen, auch altersbedingten Veränderungen und durch alle Verluste hindurch, die ertragen werden müssen, darstellt. Diese Wegspur wird durch den ungeschriebenen, unauflösbaren Vertrag geschaffen, welcher Verlässlichkeit heisst, mit dem wachen inneren Blick der Aufinerksamkeit auf einander, unabhängig von Nähe und Distanz und unabhängig von augenblicklicher Stärke oder Schwäche der oder des einzelnen, so dass, was auch geschehen mag, das Band nicht zerreisst in der Gegenseitigkeit und Verlässlichkeit der Reziprozität, auch nicht bei jahrelanger Trennung, nicht in Augenblicken der Krankheit oder der Schwäche.

Freundschaft als Erfahrung verlässlicher Aufinerksamkeit bedeutet Regenerationskraft in allen Teilen des Lebens, auch in Zeiten der Kälte, ja des Frosts oder der kaum aushaltbaren Dunkelheit. Freundschaft bedeutet letztlich Verlässlichkeit des Wertes zu leben.

„Wo der Abend unmerklich / In Nacht übergeht / Ist meine Zeit / Ist mein Ort. / Dort lebe ich einsam bei mir / Sage ich und du sagst: Ich bin auch noch da”12.

1    Nelly Sachs, a.a.O.  S. 32

2 cf.  (1)

3 Nelly Sachs, a.a.0.  S.  179

4 Olympe de Gouges. Oeuvres. Edition Mercure de France, Paris 1986, S. 83: Réflexions sur les Hommes Nègres (Fevrier  1788).

5  ,,Le père a méconnu son enfant, le fils a sacrifié son père, les frères se sont combattus et les vaincus ont été vendus comme des boeufs au marché. Que dis-je? – c’est devenu un Commerce dans les quatre parties du monde. Un commerce d’hommes … grand Dieu! Et la nature ne frémit pas” (Übersetzung durch maw).

6  Simone Weil. Enracinement. Herausgegeben 1949 von  Albert Camus bei Editions  Gallimard, Paris  1948

7  Gedicht von Zehra Cirak, geb.  1961 in Istanbul, kam 1963 mit ihren Eltern nach deutschland, lebt als Schriftstellerin in Berlin.

8 Publikationen von Paul Virilio: Im Merve  Verlag, Berlin: Fahren, fahren, fahren…  1978, Geschwindigkeit und Politik.  1980, Der reine Krieg.  1984, Aesthetik des Verschwindens 1986, Die Sehmaschine.  1989, “Das irreale Monument”: Der Einstein-Turm.  1992, Revolutionen der Geschwindigkeit.  1993

In Edition Akzente, Hanser Verlag, München: Rasender Stillstand.  1989, Der negative Horizont.  1989, Krieg und Fernsehen,  1993

Im Benteli  Verlag, Bern: Das öffentliche Bild.  1987

9 Theodor W. Adorno „Notiz über Geisteswissenschaft und Bildung”, in: Eingriffe. Frankfurt a. M.  1963, S. 54- 58. (Alle Adorno-Zitate sind aus diesem Essay).

10  Nelly Sachs.  Späte Gedichte, S.  154

11  d.h. die „cultura”: ,,culturare” heisst „pflanzen, bebauen und pflegen”, als Ergänzung von „natura”.

12  Gedicht von Stefen Jacobs, geb.  1968, lebt und arbeitet in Berlin.

Loader Wird geladen …
EAD-Logo Es dauert zu lange?

Neu laden Dokument neu laden
| Öffnen In neuem Tab öffnen

Download [162.00 B]

 

Loader Wird geladen …
EAD-Logo Es dauert zu lange?

Neu laden Dokument neu laden
| Öffnen In neuem Tab öffnen

Download [162.00 B]

Write a Reply or Comment