Mut – Entscheidungskraft fürs richtige Handeln, entgegen der Vernunft – Wie unterscheidet sich Mut von Tapferkeit?
Mut –
Entscheidungskraft fürs richtige Handeln, entgegen der Vernunft
Wie unterscheidet sich Mut von Tapferkeit?
„Die Uhr im Schulhof sah beschädigt aus durch meine Schuld. Sie stand auf ‚zu spät‘. Und auf den Flur drang aus den Klassentüren, die ich streifte, Murmeln von geheimer Beratung. (…) Oder alles schwieg still, als erwarte man einen. Unhörbar rührte ich die Klinke an…“[1]
Wie viel Mut brauchte das Kind, um die Klinke zu drücken, ins Klassenzimmer einzutreten und sich dem Unbekannten auszusetzen, dem Blick von Lehrer und Klasse? Oder war es eher Tapferkeit? Wären Rückzug und Flucht nicht vorzuziehen gewesen? Was sprach dagegen? Das Herz klopfte bis in die Schläfen, hörbar durch die graue Tür hindurch. Zu spät auch, um wieder kehrt zu machen. Der Entscheid einzutreten löste die Spannung auf. Gewandt fanden die Füsse die Schulbank. Was bevorstand waren Urteil und Strafe, doch diese waren zu erwarten und lediglich deren Ertragen hing vom eigenen Entscheid ab. Der Mangel an Rechtzeitigkeit war nicht mit einem Entscheid verknüpft gewesen, nicht mit bewusstem Widerstand, sondern hatte mit Trödeln und Träumen zu tun gehabt, mit der ungenügenden Anpassung an das Zeitdiktat der Erwachsenen. Das Nicht-Übereinstimmen zwischen „richtig“ nach dem eigenen Empfinden und „richtig“ nach den Erklärungen oder Forderungen der Erwachsenen verursachte ein Herzklopfen.
Hinter dem Zögern des Kindes, die Klinke niederzudrücken und ins Klassenzimmer einzutreten stand die Angst. Vielleicht waren ähnliche Erfahrungen des Ungenügens im Erfüllen von Pünktlichkeit, überhaupt von Gehorsam vorangegangen, auch Erfahrungen von Demütigungen und Strafe, vielleicht war es eher ein Bangen im Nichtwissen um die Folgen. So oder so, die Ungewissheit, ob es vernünftig sei, einzutreten und sich bloss zu stellen resp. blossgestellt zu werden, drängte sich eine Weile vor, doch der Entscheid, sich der Angst entgegenzustellen und den Schritt zu wagen, liess Erleichterung spüren. Wuchs daraus nicht eine Bestätigung der eigenen Stärke, damit des eigenen Wertes, die ermöglichte, sich der Macht des Schullehrers und der Klasse gewachsen zu fühlen? Anzunehmen ist, dass sich ab nun Angst und Hoffnung die Waage hielten.
Unbeantwortet bleibt aber die Frage, ob das Kind Mut oder Tapferkeit brauchte, um die Klinke niederzudrücken. Was unterscheidet die beiden Kräfte von einander?
Bevor wir auf eine Antwort eingehen, noch in anderes Beispiel. Es ist die Erinnerung an die Kindheit von Mihail Sebastian sein – Pseudonym von Josif Hechter -, einem jüdisch-rumänischen Schriftsteller, der sich entgegen der Verbote nicht abhalten liess zu schreiben und zu publizieren, der schwerste Verfolgung und Zwangsarbeit überlebt hat, dann 1945 von einem Lastwagen überfahren wurde und starb. Gleich am Anfang des grossen Romans, in welchem er seine eigene Geschichte aufarbeitete, hielt er fest, dass er sich vor Menschen und Dingen, so wie er glauben, nie gefürchtet habe, wohl aber vor Zeichen, vor Symbolen. „Meine Kindheit wurde von einer geheimnisvollen, schwarzen Pappel vergiftet, der dritten im Hof der Sankt-Peter-Kirche, deren Schatten in den Sommernächten auf mein Bett fiel und als schwarzer Streifen meine Bettdecke zerschnitt. Das macht mich erschauern, ich verstand es nicht und fragte nicht. – Aber ich lief mit blossem Kopf durch die verlassenen Strassen der von den Deutschen besetzten Stadt. (…) Ich betrachtete unbeirrt mit der kalten Neugier des Kindes, wie im Dezember ganze Wagen mit erfrorenen Türken vor das Tor zogen (…) Und ich habe die Donau und den Teich mit einem geborstenen Kahn bis hin zu den lipovenischen[2] Fischerdörfern überquert (…), und Gott weiss, wie schlecht ich schwimmen konnte. – Nein, ich glaube nicht, dass ich furchtsam war (…), doch ich weiss, was Angst ist, weiss es sehr gut. Ich wurde bis zur Erstarrung, bis zur Lähmung von kleinen Nichtigkeiten terrorisiert, an denen die übrige Welt empfindungslos vorüberging. Überdimensional sind sie, von Ahnungen begleitet, in mein Leben eingedrungen. Vergeblich näherte ich mich tags der Pappel auf de anderen Strassenseite, betastete die schwarze Rinde (…), vergeblich sagte ich mir: ‚Es ist nur eine Pappel!‘ und lehnte mich an sie, um sie zu fühlen, um nie zu vergessen, dass es nur eine Pappel ist. Wenn ich am Abend allein im Zimmer war und wie immer um zehn schlafen ging, vergass ich es dennoch. (…) So traf mich der Schatten der Pappel. Ich erstarrte, meine Fäuste verkrampften sich, die Augen waren gross aufgerissen, ich wollte schreien und wusste nicht nach wem.“[3]
Ohne Zweifel geht es bei der einen wie bei der andern um einen Antrieb, sich dem Gefühl eigener Machtlosigkeit entgegen zu stellen und die warnenden, hemmenden Kräfte der Angst oder der Furcht, d.h. des Widerstandes gegen das Bedrohliche des Unbekannten oder des Bekannten, gegen eventuell zu erleidende Gewalt, gegen Strafmassnahmen, Erniedrigung, Ausgrenzung oder andere Bedrohungen und Belastungen zu überwinden. Statt zu fliehen oder sich zu verstecken gelingt es dem Kind, den Schritt zu wagen. Sich diesen zuzumuten geschieht möglicherweise ohne grosse Überlegungen und Erwägungen, aus einem unbewussten Impuls, der lediglich durch ein „Gefühl“ der Dringlichkeit und Richtigkeit des Tuns gerechtfertigt wird: durch den Einklang mit dem „Gemüt“. Wenn es sich so verhält, handelt es sich um Mut. Wenn gegen die abwägenden, hindernden Kräfte jedoch die Kraft der Vernunft den entscheidenden Antrieb gibt, eventuell die mahnende innere Stimme, besser zu gehorchen oder sich zu unterwerfen, statt der Erfüllung einer Forderung oder einer Pflicht auszuweichen, ist nicht Mut, sondern Tapferkeit auschlaggebend. So oder so verbindet sich mit dem Entscheid ein Zweck: Mut braucht es im Bedürfnis nach Übereinstimmung mit dem eigenen „Herzen“, somit nach einem Wertgefühl, das nach eigenem Ermessen erfolgt, während Tapferkeit im Streben nach Übereinstimmung mit einer Leistung erfordert ist, deren Wert durch eine andere Instanz, meist durch übergeordnete Autorität bestimmt wird.
Ob ein Gelingen oder Scheitern des angestrebten Zwecks erfolgt, kann kaum voraus ermessen werden. Auf den – mutigen oder tapferen – Entscheid, so und nicht anders zu handeln, mag im ersten Fall ein Staunen und eine Genugtuung, möglicherweise aber auch ein Erschrecken und Bedauern oder ein Gefühl der Scham folgen, im zweiten Fall eine Zufriedenheit, möglicherweise ein Stolz ob der Anerkennung, die, wenn sie erfolgt, das eigene Wertgefühl stärkt, oder Enttäuschung und Wut ob der Reaktion der Mächtigen, die über Macht verfügen und diese nicht auf belohnende, sondern auf entwertende Weise spüren lassen, ob es einen selber betreffe, ob es andere Einzelne seien oder ein Kollektiv.
Zusammenfassend lässt sich, rein theoretisch, sagen, dass Mut die Entscheidungskraft fürs richtige Handeln ist, eine geheime Kraft, die sich dem Verstand und der nach gesellschaftlichen Kriterien gelenkten Vernunft entgegen stellt. Es ist eine Kraft des Widerstands, d.h. der Freiheit, nach meinem Ermessen von grosser Bedeutung. Mut entspricht der je individuellen persönlichen Vernunft: der kreativen Vernunft, die nicht auf Hierarchien, nicht auf Verbote und Gebote, sondern auf die Stimme des Gewissens achtet. Mut prägt das Leben jedes Kindes, jeder/jedes Jugendlichen und Erwachsenen, ist gleichzeitig eine individuelle Erfahrung von grosser Seltenheit und von besonderem Wert, die einen prägenden Einfluss auf die weitere Entwicklung eines Menschen hat. Das Thema mag für viele Frauen und Männer Erinnerungen, Sehnsüchte und unbeantwortete Fragen tangieren, vielleicht auch Gefühle des Staunens, der Anerkennung oder der Bewunderung für unerwartete, unübliche und unbequeme Entscheide des Verhaltens und Handelns.
In der Regel steht im Mittelpunkt der begrifflichen Untersuchung von „Mut“ kaum das alltägliche Erproben des Kindes gegenüber Unbekanntem oder Unerprobtem, obwohl dieses von grösster Bedeutung für die Entwicklung seiner Persönlichkeit ist. Veranlasst nicht Angst, die das Herz laut pochen und den Schritt anhalten lässt, beim Kind die erste Erfahrung von Mut und erweist sich dadurch in ihrer warnenden, schützenden, somit hilfreichen Bedeutung? Oder wirkt sich Angst als eine hindernde, hemmende, ja lähmende innere Kraft gegenüber dem Erkunden, Erproben und zunehmenden Kennen der Welt aus, in der das Kind heranwächst, indem sie den Mut nicht zulässt? Es sind unterschiedliche, frühe Erfahrungen, die die weitere Entwicklung massgeblich beeinflussen.
Wenn Neugier und Wissenshunger von den Erwachsenen ernst genommen werden, in deren Abhängigkeit das Kind lebt und durch deren Urteil es sich bewertet fühlt, wenn es stärkende Begleitung erlebt und immer wieder Anerkennung für den Mut, einen neuen Schritt zu wagen, so scheut es sich kaum, auf die Stimme seines Herzens zu hören und sein Empfinden als Massstab für den richtigen Entscheid zu achten. Wird das Kind in seinem Verhalten aber als lästig und ungebührlich bewertet, wird sein Erkunden- und Erfahrenwollen als Ungehorsam gedeutet und wird es deswegen auf erniedrigende Weise beurteilt oder bestraft, so drängt sich in der Regel mehr und mehr angstbesetzte Anpassung an die Forderungen und Wertkriterien der Mächtigen vor, wie und wer immer diese seien. Unterwerfung und Gefolgschaft übertönen zunehmend die ursprüngliche Stimme des Herzens, Angst wird zum hemmenden Entscheidungsfaktor des Verhaltens, den zu verändern oft erst nach längerem Leiden möglich wird. Es bedarf des Mut, trotz der Erfahrungen des Versagens ein allmähliches Vertrauen zum eigenen Abwägen und Entscheiden zu finden, immer wieder im Ertragen des Nichtwissens gegenüber dem Unbekannten, jedoch im Erahnen oder Spüren des richtigen Verhaltens oder Handelns.
Walter Benjamins kleine Schilderung mag vertraut erscheinen. War nicht jede Kindheit voll ähnlicher Mutproben? Es mögen Erinnerungen wach werden, die diese Überlegungen bestätigen, im Guten wie im Belastenden. Wir werden darauf eingehen und ebenso den Erfahrungen Beachtung geben, die sich in den Passagen des Werdens fortsetzen, im Austreten aus der Kindheit ins Erwachsenwerden, mit dem Sprung ins kalte Wasser, in die Leere und Tiefe, mit dem Sprung aus dem Familiensystem hinaus in die Fremde, vielleicht zu früh und zu wagemutig, ohne dass ein fester existentieller Boden Sicherheit bieten würde, oder ins Berufsleben und in neue, andere Beziehungen, mit den unabwendbaren Dringlichkeiten sowohl in der Jugend wie im Älter- und Altwerden, nicht zu verstummen und nicht sich widerwillig sozialen Bedingungen, familiären oder persönlichen Missständen, religiösen Zwängen oder politischen Trends anzupassen, sondern „courage“ – auch Zivilcourage – zu bekunden.
Bevor wir auf die Vielschichtigkeit von Mut eingehen, die sich der Angst entgegen stellt, drängt sich eine kurze sprachanalytische Klärung auf. Die etymologische Untersuchungen von „Mut“ verweisen auf die frühe Verwendung des Wortes, gewissermassen auf die sprachliche Kindheitsgeschichte. In der indogermanischen Sprachforschung wird angenommen, dass die Silbe „mu“ – „my“ die Bedeutung von „Ton, Laut“ resp. von „tönen, lauten“ hatte, dass damit etwas ausgesagt wurde, das viel älteren Ursprungs ist als über die menschliche Schriftsprache vermittelt werden konnte. So wurde im Altgriechischen unter „mousika“ der Gesang resp. die Tonkunst der Musen verstanden, oder das Adjektiv „mystikos“ bedeutete einfach „geheimnisvoll“ resp. „zu den Geheimlehren gehörend“. Es kann daher angenommen werden, dass das deutsche Wort „Mut“ (im 19. Jahrhundert noch „Muth“) der Sinndeutung des Herzklangs resp. des Herzklopfens, der inneren Stimme des „Gemüts“ gerecht wurde, die auch im Wort „Beherztheit“ Ausdruck findet, die im griechischen „korajo“ zum Ausdruck kommt, auch im französischen „courage“ (im italienischen „coraggio“ oder im portugiesischen „coragem“ u.a.m.). Deutlich wird diese Bedeutung im althochdeutschen „muod“, das für ein heftiges Gemütsempfinden gebraucht wurde, z. B. für „Erregung“ und „Zorn“, das auch einfach die Bedeutung von „Gemüt“ resp. von „Geist, Herz“, aber auch von „Eifer“ hatte, während „gimuoti“ ebenso „Freude“ aussagte, allmählich im Mittelhochdeutschen „Verlangen“ und generell „Stimmung“ bedeutete, damit dem englischen „mood“ nahe kommt, das in dieser Fassung bis heute die Bedeutung gewahrt hat.
Wie vielseitig die Variationen von „Stimmung“ sind, die sich als „Sprache des Herzens“ in Zusammenhang von „Mut“ kund tun, kann in der deutschen Sprache durch die komplexen Sinnänderungen deutlich werden, die mittels Vor-und Nachsilben in der substantivischen wie in der adjektivischen, verbalen und adverbalen Form deutlich werden, oft aufs widersprüchlichste. Ein Beispiel für die reiche, vielschichtige Bedeutungsdifferenz zeigt sich in „Anmut, anmutig“ auf der einen Linie, und in „Anmutung, anmuten resp. Zumutung, zumuten“ auf der anderen. Der Beispiele gibt es noch ungezählte, wie „Demut, Unmut, Großmut, Kleinmut, Hochmut, Sanftmut, Langmut, Leichtmut, Wagemut, Schwermut, Wankelmut, Übermut, Missmut“, oder „Vermutung, vermuten, mutmassen“ und andere mehr. Dass „Mutlosigkeit“ und „mutlos“ eher Erschöpfung und Kraftlosigkeit, jedoch nicht einfach das Gegenteil von „Mut“ bedeuten, dass dies ebenso wenig für „Unmut“ zutrifft, möglicherweise eher für „Demut“, oder dass das „Mütchen kühlen“ nicht gebraucht wird, um die Abschwächung oder Minderung von „Mut“, sondern einer schwer benennbaren, eher der Wut oder dem Zorn ähnlichen Erregung auszudrücken, all dies macht die grosse emotionale Vielfalt der Grundsilbe „mut“ in Verbindung mit „Gemüt“ deutlich.
In der Frühzeit der europäischen, insbesondere der griechischen und römischen Literatur standen sich die Quellen für „Mut“ und jene für „Tapferkeit“ nahe oder vermischten sich gar. „Mut“ im Sinn von „tharros“ wird für „Mannesmut“ resp. für Furchtlosigkeit im Kampf und im Krieg gebraucht und steht somit der Tapferkeit als männlicher Tugend – „andreia“, auch „jennaïtita“ – sehr nah (von den Römern übernommen unter „virtus“). Gleichzeitig findet sich, wie schon erwähnt, „Mut“ in „kurajo“ als Ansporn in schwierigen Situationen, im Sinn von „sich ein Herz fassen“, sich „nicht ducken unter den Sorgen“, somit „nicht mutlos“, sondern zuversichtlich, ja „keck sein“, im Sinn von Zuversicht als anspornender „seelischer Nahrung“, wie es auch im Lateinischen mit „animus“ oder „magnus animus“ zum Ausdruck kommt, im negativen Sinn mit „animo deficere“ oder „animo demittere“ – „den Mut verlieren resp. den Mut sinken lassen“.
Dass Mut eine widersprüchliche, komplexe seelische Kraft darstellt, während Tapferkeit der Erfüllung eines Gesetzes gerecht wird, wird bei Platon in den Nomoi deutlich. Gegen Abschluss des Ersten Buchs gibt er als „Athener“ im Gespräch mit dem Freund Megillos aus Sparta, dem Lakedaimonier[4], und mit Kleinias, dem Freund aus Kreta die Bedeutung zu verstehen: „Rufen wir uns ins Gedächtnis, dass wir nämlich behaupteten, doppelte Gefühle in unseren Seelen nähren zu müssen: das Gefühl des zuversichtlichsten Muts und andererseits das der grössten Besorgnis. (…) Da es aber gilt, bei Befürchtungen Tapferkeit und Furchtlosigkeit einzuüben, so steht zu erwägen, ob wohl nicht in entgegengesetzter Lage das entgegengesetzte Gefühl zu nähren sei. (…) Die Erlebnisse also, die unserer Natur nach geeignet sind, uns vorzüglich keck und zuversichtlich zu machen, bei diesen scheint es wohl unsere Pflicht, uns darauf einzuüben, dass wir möglichst wenig schamlos und von Keckheit erfüllt, sondern ängstlich besorgt seien, in jedem einzelnen Fall nie irgend etwas Schimpfliches zu sagen, zu dulden oder auch zu tun.“[5] Es ist ein klarer, erzieherischer Rat unter Männern einer sich ebenbürtigen politischen „Klasse“. In Hinblick auf das Gute halten sich Mut und Besorgnis resp. Sorgfalt im Entscheiden und Tun die Waage. Und obwohl Platon dabei nicht von „arete“– „Tugend“ spricht, vermittelt er die Dringlichkeit, dieses innere Gleichgewicht zu erarbeiten.
Schon vorher hatte er die Freunde gefragt, „als was sollen wir die Tapferkeit ansetzen? Etwa bloss ganz einfach, sie sei da Ankämpfen gegen Befürchtungen und Widerwärtigkeiten, oder auch gegen Wünsche, Gelüste und gegen manche schwer zu bekämpfende, uns kirrende Verlockungen, welche den Sieg auch von Männern, die sich gar würdig dünken, biegsam machen wie Wachs? (…) Erklären wir nun jetzt den für feig, der seine Schmerzgefühle, oder auch den, der seine Gelüste nicht zu beherrschen vermag?“[6] Die Antwort auf die Frage war, dass sowohl „die von Zeus geschaffenen Gesetze“ von Athen wie die vom delphischen Orakel resp. von Apollon, dem „pythischen Gesetzgeber geschaffenen“ Gesetze von Sparta keinerlei „hinkende Tapferkeit“ verordnen, „welche nur nach der linken Seite hin Widerstand zu leisten vermag, aber unvermögend ist, nach der rechten hin dem Gezierten und Anlockenden entgegenzutreten.“ Nein, echte Tapferkeit bedeute in der athenischen wie in der lakonischen und kretischen Gesetzgebung, dass sowohl Schmerzgefühle wie Gelüste besiegt werden müssen, um „weder den am nächsten stehenden noch den bedenklichsten Feinden zu unterliegen“. Da die Erziehung junger Männer unentwegt dem Erlangen der Tapferkeit gewidmet sein solle, gelte es, diese zu lehren, dass die Gesetze der drei Stadtstaaten so zu befolgen seien, dass sowohl Weisheit, das vernunftgesteuerte innere Gleichgewicht des Verstandes und der Affekte, wie auch Tapferkeit und Gerechtigkeit übereinstimmen, so dass dank dieser wichtigsten Tugenden die Eudaimonia, das „Glück“ nicht nur des Adels, sondern auch jenes der Bürger gewährleistet sei.
Was bewirkten diese – nach strikten Männlichkeitsbildern orientierten – moralischen Forderungen? Können sie unabhängig von Geschlecht, Herkunft und Standeszugehörigkeit von Bedeutung sein? Sind sie in unserer Zeit noch nachvollziehbar, im Rückblick eventuell mit Erschrecken?
Noch viel ausführlicher geht Aristoteles, Platons Schüler, in seiner Nikomachischen Ethik auf die Bedeutung der Tugenden ein, ohne sich auf seinen Lehrer zu beziehen. Auch bei ihm richten sich die Überlegungen ausschliesslich auf die Erziehung junger Männer aus, die zu regierungsfähigen und kriegstauglichen Bürgern heranwachsen sollen. Die Frage stellt sich zurecht, ob es Sinn macht, diesen Quellen Beachtung zu geben.
Meines Erachtens sind diese Quellen nicht zu übergehen. Die Einschränkungen sind als historisches Phänomen einzuordnen, ohne dass dieses die Erweiterung der Interpretation verhindern sollte. Die Denkangebote dürfen dem heutigen Diskurs dienen, bei welchem weder Herkunft noch Geschlechtlichkeit die Teilnahme bestimmen.
Das Erlangen jeder Tugend ist gemäss Aristoteles‘ Erachtens freiwillig, ein vernunftgesteuerter, bewusster Willensakt, der, falls er sich fortsetzt, zum gewohnten Verhalten wird. Dabei gilt es, durch kluges Ermessen die Mitte zwischen Zuwenig und Zuviel zu erkennen und diese Mitte umzusetzen. Wie soll dies geschehen, da es nicht selbstverständlich ist? Ab dem Neunten Kapitel der Nikomachischen Ethik geht Aristoteles ausführlich auf den Mut resp. die Tapferkeit – je nach deutscher Übersetzung – als erste der Tugenden ein. Er erachtet Mut als die Mitte zwischen den Affekten der Furcht (resp. der Angst) und der Zuversicht, die sich in Feigheit und Tollkühnheit steigern können. Doch schnell wird deutlich, dass die Unterscheidung zwischen den richtigen und den falschen Gefühlen nicht einfach ist, dass sich komplexe Widersprüche zeigen. „Was wir fürchten, ist natürlich das Furchterregende, und dieses ist, einfach gesagt, ein Übel. Darum erklärt man auch die Furcht als die Erwartung eines Übels. Wir fürchten nun zwar alle Übel – wie Schande, Armut, Krankheit, Freundelosigkeit, Tod. Doch der Mut scheint sich nicht auf alle zu beziehen. Bei einigen Übeln ist Furcht eine Pflicht und sittlich gut. Das Gegenteil ist sittlich schlecht, z. B. bei der Schande. Wer sie fürchtet, ist ein anständiger und feinfühlender Mensch, und wer sie nicht fürchtet, ist ein Mensch ohne Schamgefühl, der freilich von manchen im uneigentlichen Sinn ‚mutig‘ genannt wird, weil er mit dem Mutigen insofern eine Ähnlichkeit besitzt, als dieser auch in gewissem Sinn keine Furcht hat. Armut aber und Krankheit und überhaupt das, was nicht von Schlechtigkeit herrührt, darf man vielleicht nicht fürchten, doch ist auch der nicht mutig, der gegenüber diesen Dingen keine Furcht hat. Indessen nennen wir auch ihn so wegen einer gewissen Ähnlichkeit, da manche, die in Gefahren des Kriegs feige sind, freigebige Leute sind und sich aus Geldverlusten nichts machen. Auch ist der gewiss kein Feigling, der wegen Gewalttaten an Weib und Kindern oder wegen Neid oder sonst dergleichen in Furcht ist, noch ist der schon ein mutiger Mann, der gleichmütig bleibt, wenn er Schläge bekommen soll.“[7]
Die „Mitte finden“ schliesst für Aristoteles somit ein, die Furcht ertragen zu können. Zwischen Furcht und Angst findet sich in seinen Überlegungen keine Unterscheidung, ausser die eigene Lektüre ermöglicht zu unterscheiden zwischen Gefahren oder Bedrohungen, gegenüber denen der einzelne Mensch sich genügend gewachsen oder gewappnet – oder hilflos und verloren fühlt. Die eine Situation, die ein Gefühl innerer Sicherheit auf Grund durchgestandener Erfahrungen oder körperlicher Stärke voraussetzt, geht mit Furcht einher, die andere, die auf einem Mangel an Sicherheit und an Wertgefühl beruht, kurz, an „Zuversicht“, wie schon von Aristoteles angenommen wird, verursacht Angst. Er ist sich bewusst, dass es sich um unterschiedliche menschliche Reaktionen entsprechend unterschiedlicher Voraussetzungen handelt. „Was für Menschen Furcht oder Schrecken erregt, wie auch, was Zuversicht einflösst, ist je nach der Grösse und einem Mehr oder Minder verschieden.“[8]
Gilt dies auch gegenüber dem Tod, dieser letzten menschlichen Erfahrung, die sich kaum auf ein Erproben und Wissen abstützen kann, die „das Ende“ bedeutet, „da für den Toten es nichts Gutes oder Schlimmes mehr zu geben scheint“[9]? Gemäss Aristoteles geht es auch in dieser letzten Auseinandersetzung um unterschiedliche Massstäbe der Männlichkeit resp. der Tugend. Das allgemein menschliche Leiden, das aus innerem Schmerz, aus Beklemmung und aus dem Gefühl der Hilflosigkeit wächst und sich in Angst äussert, beachtet er nicht, es entzieht sich seinem Verstehen.
In zahlreichen antiken Epen und Tragödien äussert sich menschlicher Mut angesichts des Dilemmas, sich übergeordneter Macht oder Herrschaft zu beugen oder sich ihr entgegen zu stellen, ob es um die Willkür der Götter, der Natur oder menschlicher Tyrannen ging. Ich wähle als Beispiel Sophokles‘ Antigone[10], eine Tragödie, die um 442 vor unserer Zeit (auch vor Platons und lange vor Aristoteles‘ Lebenszeit) in Athen uraufgeführt wurde, d. h. vor über 2‘470 Jahren, und die noch immer mit aufwühlender Direktheit die Gefühle wie das politische Denken berührt und herausfordert. Beachtenswert ist, dass es sich in dieser Tragödie nicht um einen männlichen Helden handelt, sondern um eine junge Frau, jedoch um eine andere tragische Heldin als die von Euripides wenig später verewigten Frauen, anders wie Medea, die den Betrug ihres Mannes Jason nicht ertrug und sich durch Mord an ihm und an den gemeinsamen Kindern rächte (Erstaufführung 431 v.u.Z.), anders auch als Elektra, die ihren Bruder Oreste aufbot, die Mutter Klytemnestra und deren Liebhaber Aigisthos umzubringen, um die Ermordung des Vaters Agamemnon zu rächen (Erstaufführung 413 v.u.Z.). Antigone ging es nicht um Rache. Unerschrocken und furchtlos hörte sie auf ihre innere Stimme und stellte sich mit grossem Mut der Macht ihres Onkels Kreon, des über Leben und Tod bestimmenden Herrschers von Theben, entgegen. Sophokles selber, der mehrere politische Ämter inne gehabt hatte, soll mit diesem dritten Teil seiner Thebanischen Trilogie (die vorangegangene waren König Ödipus und Ödipus auf Kolonos) die Gemüter so sehr bewegt haben, dass er im Jahr 441 als hervorragendster Tragödiendichter erklärt wurde.
Antigone
„Im Unverstand zwar gehst du, aber doch
den Freunden freund auf rechte Art.“
Antigone war eines der vier Kinder von Ödipus und Iocaste, neben den Brüdern Eteokles und Polneikes sowie der Schwester Ismene, schuldlose Nachkommen schuldbeladener Eltern, deren Schuld, aus der Tragik des Unwissens gewachsen, sich in fortgesetzte Tragik steigerte. Die Nichtwählbarkeit der Herkunft erweist sich in Antigones Geschichte als unlösbares
Schicksal. Ihre Mutter Iocaste war in erster Ehe mit Laios, dem König von Theben, verheiratet gewesen, kinderlos, bis sie schwanger wurde und einen Sohn gebar, Oedipus. Das Orakel von Delphi aber hatte Laios gewarnt, dass er, falls ein Sohn zur Welt käme, von diesem ermordet würde. Laios hatte daher die Tötung des Kindes verlangt, doch Iocaste liess dies nicht zu, setzte das Kind aus und es wuchs als „Findling“ im Könighaus von Korinth heran, wurde zu einem jungen Mann und zog eines Tages aus. Als er im Parnass-Gebirge unterwegs war, begegnete ihm auf einem schmalen Weg ein von Pferden gezogener Wagen. Der Fahrer hiess ihn an, den Weg zu räumen, doch er widersetzte sich, tötete nicht nur den Fahrer, sondern auch die Pferde und den Insassen im Wagen. Dieser war, ohne dass er davon Kenntnis hatte, sein Vater Laios, der König von Theben, wohin er unterwegs war, um die Stadt von der Sphinx zu befreien, dem beflügelten, löwenähnlichen Ungeheuer mit dem Kopf und den Brüsten einer Frau, das die Reisenden anhielt, ein Rätsel stellte, das sie nicht lösen konnten und sie verschlang. Ödipus aber konnte das Rätsel lösen: Wer am Morgen auf vier Füssen geht, am Mittag auf zweien und am Abend auf dreien konnte nur der Mensch sein, krabbelnd in der Kindheit, gerade aufrecht in der Mitte des Lebens und an einem Stock im Alter. Die Sphinx stürzte sich darauf in den Abgrund und Ödipus konnte die Belohnung, die von Kreon, dem König von Theben, in Aussicht gestellt worden war, im Empfang nehmen: die Heirat mit dessen Schwester Iocaste. Als aus dieser Ehe schon vier Kinder herangewachsen waren und plötzlich das Verhängnis der inzestuösen Verbindung und der voran gegangenen Tötung des ersten Ehemannes und eigenen Vaters bekannt wurde, nahm sich Iocaste das Leben und Ödipus durchstach sich selber die Augen. Er floh aus Theben, ein Blinder, begleitet von seiner Tochter Antigone, bis er in Kolonos von Theseus aufgenommen wurde und sterben konnte.
Mit Ödipus‘ Tod aber war das Verhängnis noch nicht beendet. Die beiden Söhne Eteokles und Polyneikes stritten um die väterliche Erbschaft, die Herrschaft über Theben. Polyneikes wurde von Eteokles vertrieben, kehrte mit einem Heer aus Argos zurück, das vor den ersten sechs Toren der Stadt durch Eteokles besiegt wurde, bis vor dem siebten Tor die beiden Brüder im Zweikampf sich gegenseitig töteten[11]. Kreon liess Eteokles feierlich begraben, während er Polyneikes das Begräbnis versagte und unter Todesstrafe verbot, sich seinem Befehl zu widersetzen.
Die Entehrung des „armselig gestorbenen Leibs“ des Bruders konnte Antigone nicht ertragen. Auch die jüngere Schwester Ismene war darob entrüstet, doch sich „der Stadt zu widersetzen, da fehlte ihr die Kraft“. Antigone liess sich durch Ismenes Furcht vor den Folgen nicht entmutigen, auch nicht durch ihren Vorwurf, sie habe „ein heisses Herz in eisigen Dingen“. Sie wisse, antwortete sie der Schwester, „grad so gefall ich, wem ich am ehesten gefallen muss“. Diese Instanz war sowohl der tote Bruder wie ihr eigenes Gewissen. „Wenn du es könntest!“ zweifelte Ismene, „doch du willst Unmögliches.“ – „Nun, reicht die Kraft nicht, wird’s ein Ende haben“ und etwas später: „So lass denn mich und meinen Unverstand dies Schreckliche erleiden. Leid ich doch so Schlimmes niemals, dass ich nicht schon stürbe.“ Antigone wusste, dass sie die inneren Vorwürfe, aus Angst vor dem Machthaber den Leichnam des Bruders aufs elendeste verenden zu lassen, nicht ertragen würde, dass es leichter war, das Wagnis des Widerstands gegen das Verbot einzugehen. Erschüttert sagte ihr Ismene, als sie sich auf den Weg machte: „Nun, wenn dir’s so erscheint, so geh! Und wisse dies: Im Unverstand zwar gehst du, aber doch den Freunden freund auf rechte Art.“
Was „Mut“ bedeutet, findet sich in dieser Aussage der Schwester vielleicht am klarsten. Was heissen noch „Unverstand“ und „Unvernunft“, wenn es um einen wichtigen Gewissensentscheid geht, wenn die Stimme des Herzens wissen lässt, was „auf rechte Art“ getan wird? Polyneikes brauchte wie alle Toten eine Ruhestätte, damit sein Geist zum Hades finden konnte, das war nicht in Frage zu stellen. Für Antigone war unbestreitbar, dass es keiner menschlichen Macht, auch nicht jener des Herrschers, zusteht, das Recht der Toten zu missachten, dass ihr Aufbegehren gegen das Verbot somit berechtigt war. Diese innere Sicherheit wirkte ermutigend auf sie selber, wirkte auch ermutigend auf jene, die ihr nahe standen, zuerst auf ihren Verlobten Haimon, den jüngsten Sohn von Eurydike und Kreon, der die Härte und Eitelkeit seines Vaters nicht ertrug und sich gegen ihn auflehnte. Auch in Ismene hatte Antigones Beispiel einen Wandel bewirkt, sie wollte ihrer Schwester folgen, doch ihr Entscheid kam zu spät. Als Kreon, der alle mahnenden, bittenden und warnenden Vorbehalte seiner Nächsten hochmütig abgelehnt hatte, nach dem Gespräch mit dem blinden Seher Thereisias sich endlich des Unrechts bewusst wurde, das er in seinem eitlen Machthunger begangen hatte, wollte er die Grabkammer, in die er Antigone hatte einkerkern lassen, aufbrechen, doch Haimon kam ihm zuvor. Als er seine Braut tot vorfand, liess er den Vater seine Verachtung spüren und stiess sich selber das Schwert in die Brust. Haimons Mutter aber konnte das Ausmass an Unglück und Trauer nicht ertragen. Verzweifelt nahm auch sie sich das Leben. Kreon blieb mit der Last vielfacher Schuld zurück, die ihm, wie es in der letzten Zeile heisst, „unbewältigbar“ anhaftete.
Die Tragik, die die griechische Literatur prägt, stimmt sehr nachdenklich, insbesondere Antigone, wo der Mut einer jungen Frau im Mittelpunkt steht, deren Handeln viel näher und nachvollziehbarer wirkt als jenes in anderen Dramen wie Medea oder wie Elektra. Die Frage drängt sich auf, ob Mut sich ausschliesslich in Situationen grösster Gewissensnot und seelischer Bedrängnis äussert, wie in diesen Dramen, in denen die Folgen innerfamiliärer Kriege zum Ausdruck kommen. Ob es sich auch beim Entscheid zum Selbstmord von Haimon und seiner Mutter Eurydike um Mut handelte, bei diesen unmittelbar aus dem Augenblick der Verzweiflung getroffenen Entscheiden, denen keine Zeit der Überlegung und des Ermessens blieb. Ob es bei diesen Darstellungen von Mut generell um die Realisierung der Zielsetzung geht, die in Platons Nomoi und in Aristoteles Nikomachischer Ethik im Sinn staatsgerechten Verhaltens erläutert wird. Auch die Frage bleibt offen, ob Ismene Mut brauchte, um die überwältigende Trauer zu ertragen?[12]
Epikur[13], ungefähr hundertfünfzig Jahre nach Sophokles und rund vierzig Jahre nach Aristoteles geboren, bemühte sich um eine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben. Es ging ihm nicht mehr um Erziehungsentwürfe für eine tapfere, kampffähige Elite der „polis“, sondern um Massstäbe der Klugheit und Weisheit im Streben nach dem höchsten Gut: der Freude und Lust am Leben, der Liebe zu leben, unabhängig von den Voraussetzungen und Mitteln, die dem einzelnen Menschen zur Verfügung stehen, letztlich einer Gelassenheit und Angstfreiheit, die es auch gegenüber Sterben und Tod zu erreichen gilt und die seines Erachtens mit der Weisheit übereinstimmen.
Es war für Epikur keine vom alltäglichen Leben abgehobene „Idee“ im platonischen Sinn, die er zu vermitteln suchte, sondern das Ergebnis aus vielfacher selbstkritischer, denkerischer Arbeit, die für ihn, der in schwierigen Verhältnissen aufgewachsen war, eines besonderen Mutes bedurfte. Er hatte die Kindheit mit seinen von Athen nach Samos als „Kolonisten“ versetzten Eltern im Landbau und in der Elementarschule verbracht, in denen sein Vater als Lehrer wirkte, hatte 323 v.u.Z., mit neunzehn Jahren, als Alexander der Grosse starb, den Aufstand Athens gegen Makedonien, den Sieg Makedoniens und die Vertreibung seiner Eltern aus Samos erlebt, deren Flucht nach Kolophon in Kleinasien, einer damals bedeutenden Stadt zwischen Smyrna und Ephesos, wo sie als Flüchtlinge lebten und wohin auch er sich begab, dann vier Jahre später, nach de erneuten Machtübernahme Athens, die Rückkehr der Eltern nach Samos und eine kleine Entschädigung für die erlebten Verluste. Epikur konnte in Athen einen Garten – „kepos“ – kaufen, in welchem er zu unterrichten begann, ohne dass er für die Teilnahme Bedingungen stellte. Er hielt sich von den Mächtigen und Reichen fern, nahm Wissenshungrige jeden Standes und Geschlechts auf, auch Sklaven, Paare und Frauen. Er thematisierte die Fragen des Mutes und der Tapferkeit nicht – oder kaum – auf theoretische Weise, sondern lebte sie durch sein gesellschaftliches Aussenseitertum vor, auch durch den vorgelebten Wert der Freundschaft, den er als nicht antastbar erklärte, durch seine persönliche Bescheidenheit und durch die Geduld, mit welcher er seine körperlichen Leiden ertrug. Seine Überzeugung war, dass in jedem Menschen zusätzlich zur Krankheit auch gesunde, stärkende Teile vorhanden sind, die dem Leiden als Gegenkraft entgegen stehen und einen Ausgleich ermöglichen. Ob es um die körperlichen Kräfte oder um die existentiellen und materiellen Vorteile ging, stets galt für ihn: „Wem genug zu wenig ist, dem ist nichts genug“.[14]
Gleichzeitig hatte Epikur den Mut, den Gottesbegriff von der Allverantwortung zu lösen und die Eigenverantwortung des Menschen in den Mittelpunkt der Lebensgestaltung zu stellen. „Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht, oder er kann es und will es nicht, oder er kann es nicht und will es nicht, oder er kann es und will es. – Wenn er nun will und nicht kann, so ist er schwach, was auf Gott nicht zutrifft. – Wenn er kann und nicht will, dann ist er missgünstig, was ebenfalls auf Gott nicht zutrifft. – Wenn er nicht will und nicht kann, dann ist er sowohl missgünstig wie auch schwach und dann auch nicht Gott. – Wenn er aber will und kann, was allein sich für Gott ziemt, woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht weg?“[15] –
Die offen gebliebene Frage ist schon jenseits des Zweifels: nicht Gott ist verantwortlich für die Übel, sondern der Mensch selber. Es ist seines Erachtens allzu bequem, dem Schicksal zu überlassen, was als Unglück gilt. Selbst wenn zahlreiche Lebensumstände nicht dem eigenen Entscheiden überlassen wurden – Herkunft, Geschlecht, körperliche Stärke, Fähigkeiten der Sinneswahrnehmungen -, so ist es trotz allem dem Menschen überlassen, damit umzugehen. Braucht schon das Alltägliche Mut? Braucht es unter ungleichen Lebensbedingungen ungleichen Mut?
Für Epikur galt als zentrale Voraussetzung für ein „lustvolles“ Leben, wie er es verstand, die Tugend der Weisheit zu üben: innezuhalten und ungeschmälert die Auseinandersetzung mit der verwirrenden Macht der Begierden zu wagen, die zu Tollkühnheit und Verwegenheit anspornen oder gar aufpeitschen, ohne dass die unheilvollen Folgen des Tuns Beachtung fänden. „Denn die Begierden sind unersättlich und ruinieren nicht nur einzelne Menschen, sondern ganze Familien und zerstören oftmals den ganzen Staat. Aus den Begierden entstehen Hass, Streit, Zwietracht, Aufruhr und Krieg. Und sie bewegen sich nicht nur draussen und stürzen sich in blindem Ansturm auf andere, sondern auch eingeschlossen im Inneren der Seele sind sie untereinander in Streit und Zwietracht, woraus notwendig das jammervollste Leben entsteht, derart, dass erst der Weise, nachdem er alle Nichtigkeit und allen Irrtum weggeschnitten und gestutzt hat, zufrieden mit den Grenzen der Natur ohne Kummer und ohne Angst leben kann.“[16] Seines Erachtens lässt sich durch diese „naturphilosophische“ Sorgfalt viel Bedeutendes erreichen: es ist „die Tapferkeit (oder der Mut) gegenüber der Todesfurcht, die Festigkeit gegenüber den Ängsten des Aberglaubens, die Beruhigung des Geistes, nachdem einmal die Unwissenheit über alle verborgenen Dinge beseitigt ist, die Mässigkeit, wenn einmal die Natur und die Gattungen der Begierden erklärt sind, endlich die Unterscheidung von wahr und falsch vorzunehmen.“[17] Ohne Zweifel braucht es Mut, mitten im gefühlmässigen oder handelnden Getriebenwerden innezuhalten, vor allem, wenn dies von einer/einem einzelnen unter anderen oder unter vielen geschieht. Verhindert nicht oft die Angst, das Gesicht zu verlieren, die Möglichkeit, mit sich selber in Einklang zu sein und mit „Lust“ auf sich selber zu schauen?
„Lust“ in dieser Bedeutung ist für Epikur „naturgemässe Lust“. Er versteht sie als „beruhende Lust“. Sie „beruht“ auf der Erfahrung der eigenen „Natur“, sie wächst aus sich selbst, somit aus dem Mut, zu sich selber zu finden. Sie ist frei von theoretischem Besserwissen oder von Gehorsam im Vollzug von gesellschaftlich-hierarchisch als richtig erklärten Ideologien, sie ist frei von Betrug. Im menschlichen Zusammenleben bewährt sie sich als Freundschaft, als „eine Art von Vertrag unter den Weisen, dass sie die Freunde nicht weniger lieben als sich selber. Wir verstehen, dass solches geschehen kann, wir beobachten es auch oft, und es ist einleuchtend, dass es zum lustvollen Leben nichts Passenderes geben kann als eben eine solche Verbindung.“ Doch diese ist nicht selbstverständlich, sie bedarf „der Tapferkeit (oder des Mutes), in Mühen auszuharren, um grösseren Mühen zu entgehen“, mit anderen Worten, der Anstrengung im Ertragen der Mühsal, sich von Überflüssigem und von leeren Meinungen zu befreien, um „das Zuträgliche zu berechnen“ und so das richtige Mass im Streben nach dem Ungewöhnlichen zu finden. „Der Beginn des Heilens ist das Anerkennen des Fehlers“[18] hält Epikur gegen Ende seiner Aufzeichnungen fest, es ist die „Einsicht“, wie es an anderen Stellen heisst, die nicht abgewehrt, sondern als Ansporn ernst genommen und umgesetzt wird.
Möglicherweise finden sich in der Knappheit dieser Aussage die Erkenntnisse des lebenserfahrenen Denkers zusammengefasst, letztlich als grundsätzliche Zustimmung zum Mut in allen Passagen des Lebens, auch in den späten, so wie er sie noch angestrebt hat, als das körperliche Leiden zur zentralen Herausforderung wurde: die Möglichkeiten des Erkennens zu nutzen, um die gewohnten Pfade bequemer gesellschaftlicher Lebensformen zu verlassen und eine Änderung zu wagen, um mit sich selber Frieden zu finden. Der innere Friede ist die Übereinstimmung von Weisheit und Lust am Leben, selbst im Sterben. Geboren worden sein und sterben sind als Herausforderung ineinander verwoben. So zu leben, dass der innere Friede angestrebt und über schwierige Passagen nicht aufgegeben wird, braucht Mut. Mut ist vermutlich die verlässlichste Erfahrung von Selbstvertrauen, von Übereinstimmung mit sich selber, letztlich von Glück.
Es wurden vier unterschiedliche Beispiele von Mut angeführt. Das erste Beispiel betrifft einen Handlungsentscheid in einer Lebenssituation, in welcher autoritäre Bedingungen gestellt sind, die nicht erfüllt werden können. In einer solchen befindet sich das Kind, das infolge des noch „undressierten“ Zeitgefühls dem Gebot der Pünktlichkeit nicht genügen kann, zu spät vor der Tür des Klassenzimmers steht, sich der Angst vor Strafe bewusst wird und trotzdem wagt, die Klinke zu drücken. – Im zweiten Beispiel geht es um eine andere Angst, die sich aus der Vorstellungskraft des Kindes vor der Macht des nächtlichen Schattens im Unbewussten eingenistet hat. Das Kind bedarf des Mutes vor der nächsten und erneut vor der nächsten Nacht, da trotz der Tatsache der bei Tageslicht bestätigten Gewaltlosigkeit des Verursachers der Angst, eines Baumes, der in sich fest verwurzelt ist, dieser seine nächtliche Schattenwanderung übergross fortsetzen wird. – Im dritten Beispiel geht es um den Mut der jungen Frau vor der schwersten Androhung, jener des Todes und der damit verbundenen Angst, der sie die Stirn bietet, um sich nicht dem Verbot des Herrschers zu beugen, sondern der Stimme des Gewissen gerecht zu werden. – Das vierte Beispiel verweist auf den Mut, die gesamte Lebensweise nach Kriterien der Übereinstimmung mit dem eigenen Gewissen zu richten, somit die Konfrontation mit der Macht der Triebkräfte zu wagen, nicht als „Sonderleistung“, sondern durch stete Aufmerksamkeit gegenüber den je akuten, besonders schwierigen oder weniger schwierigen Herausforderungen des unbekannten eigenen Körpers.
Jedes Beispiel verweist auf die Möglichkeit und Fähigkeit, entgegen bequemer Anpassung oder Unterwerfung, stets entgegen der Angst zu entscheiden.
II) Mut im öffentlichen Raum und Mut im verborgenen Innenleben
In meiner inneren Bibliothek findet sich eine Fülle von Dokumenten mutiger Menschen. Ein Teil trat durch den persönlichen Mut in den Blick einer breiten Öffentlichkeit, meist tragische Entwicklungen wie bei Jeanne d’Arc, bei Spinoza, bei Olympe de Gouges, bei Flora Tristan, bei Rosa Luxemburg, bei Sophie und Hans Scholl, bei Dietrich Bonhoeffer, bei Witold Pilecki, bei Simone Weil und bei vielen mehr. Ein anderer Teil war mutig in aller Unauffälligkeit wie Etty Hillesum oder wie überlebende unter Bedingungen schwerster körperlicher oder seelischer Belastungen und engster Einschränkungen der Freiheit und Sicherheit.
Ich werde Beispiele von beiden Teilen in kurzen Portraits vorstellen. Im Gespräch werden sich zusätzliche Beispiele ergeben, Beispiele im Durchstehen schwieriger Lebensbedingungen, schwerer Krankheiten oder Verluste, auch Beispiele jener “Zivicourage”, die als Mut zum offen bekundeten “Ungehorsam”, als Mut zum offenen Wort, als Mut zur persönlichen Opposition immer wieder Bewunderung weckt.
Jeanne d’ Arc
“Hätte ich hundert Väter oder hundert Mütter gehabt, und wäre ich als Tochter eines Königs geboren, ich wäre fortgegangen, da Gott mich hiess.”19
Am 6. Januar 1412 kam in Domrémy, einem kleinen Dorf in Lothringen, in einer bescheidenen Bauernfamilie mit eigenem Haus und einigen Feldern ein Mädchen zur Welt, Johanne Darc20. Ihre Mutter war Isabelle Romée, ihr Vater Jacques Darc (oder Tarc). Sie hatte zwei Brüder, Jean und Pierre, die ihr später als Soldaten zur Seite standen. Vermutlich war sie ein versponnenes, überkluges Mädchen, das unter den Gleichaltrigen auffiel, das vermutlich Lesen und Schreiben lernte, das kaum im Haushalt Pflichten erfüllte, sondern eher jene der Knaben teilte, vielleicht sich draussen auf dem Feld um Schafe und Ziegen kümmerte.
Sie wuchs in einer Zeit auf, die seit 75 Jahren durch Krieg geprägt war, Krieg innerhalb von Frankreich sowie zwischen Frankreich (vertreten durch das Fürstenhaus der Armagnac Valois und jenes der Herzöge von Orleans) auf der einen Seite, England und Burgund auf der anderen Seite, eine Zeit der Entbehrungen und Verwüstungen, der Unruhen und der schlechten Ernten. Am 25. Oktober 1415, als Johanne drei Jahre zählte, hatte mit der Schlacht von Azincourt (im Departement PasdeCalais) der Sieg der englischen über die viel grössere französische Armee die katastrophale Lage Frankreichs verschärft, die 1420 durch den Vertrag von Troyes noch bestätigt wurde. Katharina von Valois, eine französische Königstocher, musste die Heirat mit dem englischen König Henri V akzeptieren, dessen Anspruch auf den französischen Thron dadurch gefestigt wurde.
Johanne soll schon mit 13 Jahren, als ganz Nordfrankreich bis zur Loire von der englischen und burgundischen Armee besetzt war, eine erste Vision gehabt haben, in welcher sie durch die Heilige Katharina, die Heilige Margareta und den Erzengel Michael aufgefordert wurde, sich gegen die englische Besatzung für Frankreich und für die Krönung des Dauphins einzusetzen. Vermutlich konnte sie ihrer Familie, ihrer Mutter und den Brüdern, davon erzählen, ohne dass sie als verrückt erklärt wurde. Die Visionen wiederholten sich, so dass sie als 16-jährige, am 25. Dezember 1428, die innere Stimme als göttlichen Auftrag ernst nahm und ihr Elternhaus verliess. Sie scheute sich nicht, alle Mühen und Schwierigkeiten zu wagen, um diesen umzusetzen. Zum grössten Wagnis gehörte, ihr langes Haar zu schneiden und Männerkleider zu tragen, trotzdem aber Johanne Darc, die Tochter ihrer Eltern aus Domrémy zu bleiben.
Johanne war somit noch nicht 17 Jahre alt, als sie am 1. Januar 1429 erreichen konnte, Robert de Baudricourt, den Festungskommandanten von Vaucouleurs, ihrer Bezirkshauptstadt, zu einem Gespräch zu treffen. Sie wurde von diesem auf Herz und Nieren geprüft, sowohl was ihre Loyalität zum Dauphin wie was ihren Glauben betraf. Die junge Frau muss in allen Fragen so überzeugend gewirkt haben, dass er sie mit einem Empfehlungsschreiben und mit zwei Begleitern, deren Namen bekannt sind Jean de Metz und Bertrand de Poulengey ans Königshaus in Chinon weitervermittelte. Man muss sich vorstellen, was diese Tatsache unter den damaligen gesellschaftlichen Bedingungen und Gewohnheiten bedeutete, zumal es keinen anderen Weg als durch feindlich besetztes Gebiet gab. Johanne traf tatsächlich am 5. März 1429 in Chinon ein und wurde vom Dauphin empfangen. Wie das erste Gespräch verlief, ist nicht dokumentiert. Doch ihre Ausstrahlungskraft muss so überzeugend gewirkt haben, dass er ihrem Plan nicht widerstehen wollte: Der Feind sollte vertrieben und er zum König gekrönt werden. Um zusätzliche Sicherheit zu gewinnen, liess er die junge Frau in Poitiers während Tagen von Theologen ins Kreuzfeuer nehmen und zusätzlich von Hofdamen auf ihre Jungfräulichkeit untersuchen. Da ihr nicht der kleinste Mangel vorgeworfen werden konnte, stimmte der Kronrat dem Dauphin zu, dass eine Rüstung für sie angefertigt werde und dass ihr ein Pferd sowie eine Truppe von Soldaten zur Verfügung gestellt werden sollte, die meisten von ihnen Räuber und Diebe, die ihr die Treue schworen und sich ihr ohne Widerstand fügten.
Mit dieser kleinen Armee, zu der sich auch ihre zwei Brüder Jean und Pierre gesellt hatten, und mit Lebensmitteln für die ausgehungerte Bevölkerung der Stadt Orleans an der Loire, die seit dem 7. Oktober 1428 besetzt war, traf Johanne am 29. April dort ein. Ihr ursprüngliches Bestreben war, die mit den Bourbonen verbündeten Engländer zu einem friedlichen Abzug zu bewegen, doch die Armee des Dauphin, die vorgelagert auf Unterstützung wartete, stimmte ihr nicht zu. Johanne wollte nicht davon absehen und schickte zwei Vertreter mit dem Angebot zu John of Lancaster, einem Bruder des englischen Königs Henri V, der die Einkesselung der Stadt und der Festungen in deren Umfeld leitete. Doch das Angebot wurde abgelehnt und die Herolde wurden, entgegen der geltenden Rechte, gefangen genommen. Johanne lies sich nicht abschrecken. Sie drang mit ihrer kleinen Truppe erst gegen die Aussenbezirke vor, am 4. Mai 1429 gegen die Festung von Saint-Loup, dann am 6. Mai gegen die Bastion Les Tourelles, die sich zur Wehr setzte, jedoch am 7. Mai ihre Niederlage eingestehen musste. Beim Gefecht wurde sie von einem Pfeil verletzt und fiel vom Pferd, gab jedoch nicht auf, sondern kämpfte weiter. Dass sie am 8. Mai den Sieg errang und den Auszug der englischen Armee aus Orleans zustande brachte, war der unerwartete, eigentliche Wendepunkt in diesem verheerenden Krieg. Am 17. Juli 1429 erlebte sie die Erfüllung ihrer Vorhersage, die Krönung des Dauphins als König Charles VII in der Kathedrale von Reims. Es muss überwältigend gewesen sein: die 17-jährige Johanne stand in ihrer Rüstung, mit einer Fahne in der Hand, neben dem Altar, ihre Soldaten waren unter dem Publikum, ihre Familie wurde vom König geehrt und in den steuerfreien Adelstand erhoben.
Wurde in diesem Gefühl des Triumphs ihr Mut grenzenlos? Orleans war befreit, aber Paris war noch von den Truppen der Burgunder und englischen Söldnern besetzt, deren Befehlshaber Jean de Luxembourg war. Sie wollte den König überzeugen, auch Paris zu befreien, doch Charles VII zögerte, er wünschte eher, Frieden zu schliessen und entliess einen Teil seiner Soldaten. Johanne liess aber nicht locker und erreichte gegen Ende September 1429 seine Zustimmung. langsam rückte sie in den Wintermonaten mit ihrer geschwächten Truppe vor. Im Frühjahr 1430 gelangte sie bis vor Compiegne. Die Stadt war von der burgundischen Armee unter Jean de Luxembourg besetzt. Im Kampf um diese Stadt gelang es am 23. Mai 1430 einem seiner Gefolgsmänner, Johanne gefangen zu nehmen, vermutlich infolge eines Verrats durch jemanden aus ihrer Truppe. Jean de Luxembourg soll dafür 6000 Francs bezahlt haben. Sie wurde in sein Schloss Beauvoir überführt, wo sie von seiner Frau Jeanne de Bethune und seiner Tante Jeanne de Luxembourg bewacht wurde. Diese war eine Patentante von König Charles VII und setzte sich gegen den Plan ihres Neffen, die Gefangene an die Engländer zu verkaufen, durch. Doch als diese Schutzperson ein paar Monate später, am 28. September 1430, starb, hatte Jean de Luxembourg freie Hand und lieferte Johanne gegen 101 000 Francs an John of Lancaster, den Herzog von Bedford aus. Das war verhängnisvoll, Fluchtversuche waren nicht möglich. Während mehr wie fünf Monaten wurde sie im Gefängnisturm von Bouvreuil festgehalten. Sie muss dort schwerste Misshandlungen erlebt haben. Lancaster wollte auf jeden Fall ihren Tod, hatte sie doch die Krönung des Dauphin erreicht und sich damit dem englischen Anspruch auf den französischen Thron entgegen gestellt. Schliesslich übergab er sie an das lnquisitionsgericht in Rouen, das in der Hand des Bischofs von Beauvais, Pierre Cauchon, war.
Der Prozess in Rouen dauerte ca. drei Monate. Vieles davon ist dokumentiert, da Pierre Cauchon täglich ein Protokoll verfasste. Johanne erklärte das Gericht als unzulässig und allein den Papst in Rom als akzeptierbaren Richter. Auch war sie ohne Verteidigung und nahm das raffinierte Kreuzverhör der sechzig katholischen Geistlichen allein auf sich. Obwohl sie vielfacher Übergriffe und Folter ausgesetzt war, wie sie einem Bettelmönch berichtete, der sie ab und zu besuchen durfte, muss sie aufs geschickteste den ihr gestellten Fangfragen gewachsen gewesen sein, ohne ihrer Überzeugung untreu zu werden, auf Grund eines göttlichen Auftrags gehandelt zu haben. Doch auch diese Aussage wurde als ketzerische „superbia” bewertet wie die Männerkleidung. Am 19. Mai 1431 wurde Johanne in 12 der 67 Anklagen für schuldig erklärt, unter anderem „wegen Feenzaubers, wegen des Gebrauchs der Alraunenwurzeln, wegen Häresie, wegen Dämonenanbetung und wegen Mordes” (als Kriegsteilnehmerin, ohne dass sie Soldat war) und wurde zum Tod verurteilt.
Als Johanne das Urteil und die Form der Urteilsvollstreckung eröffnet wurde, als ausgesprochen wurde, dass sie lebendig auf dem Scheiterhaufen verbrannt würde, da muss die Angst sie überwältigt haben. Sie verlangte nach der Möglichkeit, ihre Aussagen, insbesondere ihren „Irrglauben” zu widerrufen. Pierre Cauchon als oberster Richter nahm den Widerruf an und korrigierte das Urteil in lebenslange Kerkerhaft. Doch dagegen protestierte John of Lancaster, der vier Tage später einen neuen Prozess eröffnete und diesen innerhalb von zwei Tagen mit einem zweiten Todesurteil abschloss, mit der Begründung, sie habe weiter Männerkleider getragen, sie müsse als “renitente Ketzerin” verurteilt werden. Es gab keine Fluchtmöglichkeit und keinen Aufschub, keine Gnade. Einen Tag später, am 30. Mai 1431, wurde Johanne, neunzehn Jahre alt, lebendig auf dem Scheiterhaufen auf dem Marktplatz von Rouen verbrannt, in qualvollster Folter. Die Asche wurde in der Seine verstreut, um ihren Anhängern jeglichen Totenkult zu verhindern.
Der Krieg ging nach Johanne’s Tod wohl noch weiter, doch er veränderte sich. Zwar wurde noch im selben Jahr in Paris Henri V zum französischen König erklärt, doch die Wirkung war nicht vergleichbar mit jener der Krönung von Charles VII in Reims. Burgund zog sich 1435 aus dem Bündnis mit England zurück und ab dem darauf folgenden Jahr, ab 1436, ging die Rückeroberung der lledeFrance voran, die Johanne angestrebt hatte, anschliessend auch jene Südwestfrankreichs und der Normandie. 1444 wurde ein Waffenstillstand ausgehandelt, der aber noch nicht den Frieden bedeutete. Erst als 1453 auch Bordeaux erobert werden konnte, kam es zum Ende der englischen Besetzung in Frankreich (mit Ausnahme von Calais, das erst 1559 wieder französisch wurde) und damit zum Ende des Hundertjährigen Kriegs.
Johanne’s Mutter hatte sich bald nach ihrem Tod um einen Rehabilitationsprozess bemüht, doch es ging 24 Jahre, bis Charles VII diesen am 7. November 1455 in der Kathedrale Notre Dame in Paris eröffnete und am 7. Juli 1456 mit einer Erklärung der völligen Schuldfreiheit abschloss, wobei keiner der Richter und keiner der Folterer von 1430-31 im geringsten für die begangenen Verbrechen belangt wurde.
Der Mut von Jeanne d’ Are wurde zur Legende, sie wurde zur französischen Nationalheldin (mit einem Platz im Pantheon) und zur katholischen Heiligen (1920 durch Papst Benedikt XV). Ihre Gestalt wurde zu widersprüchlichsten politischen Zwecken benutzt, zum Beispiel während der deutschen Besatzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg durch die politische und militärische .Reslstance” als Vorbild des unbeugsamen Widerstandes, gleichzeitig von der Vichy-Regierung (wie auch in der jüngsten Zeit von Le Pen’s Rechtsaussen-Partei) für die Begründung nationalistischer, juden- und fremdenfeindlicher Zwecke. Doch nicht diese Tatsachen erscheinen mir von Bedeutung. Unabhängig davon war Johannes Mut zur Zeit, als sie lebte, eine Realität, die noch heute Staunen weckt. Sie hatte in jeder Hinsicht Ungewöhnliches gewagt, sie hatte Ängste überwunden und kaum vorstellbare Schwierigkeiten durchgestanden, schliesslich vielfache Folter und einen qualvollen Tod auf sich genommen, um gegen die übliche Vernunft zu handeln, entsprechend ihrer inneren Stimme, um zu Gunsten ihrer kriegserschöpften, unter der Besatzung leidenden Heimat eine politische Verbesserung zu erreichen.
Es werden noch weitere Beispiele von Frauen und von Männern aufgeführt werden, deren Mut verblüfft. Sie repräsentieren drei resp. vier oder fünf Jahrhunderte später auf ähnliche, gleichzeitig auf je persönliche, andere Weise die Unvernunft oder die andere Vernunft, die kreative Vernunft des denkenden Herzens, die sich mit dem Mut verbindet. Einige haben ebenfalls den Schritt in den öffentlichen Raum gewagt und nahmen ein Handeln vorweg, zu welchem uns heute die Rechte zustehen, die aber zu deren Zeit nicht bestanden.
Wie Jeanne d’ Are hatten sie Visionen, wenngleich vielleicht nicht göttliche, die über das eigene, erkennende Ich in seiner zeitlichen Begrenztheit und in der Suche nach Lebenssinn oder nach Glück hinausgehen und die sich auf die Korrektur des Unglücks ausrichten, das auf vielen gleichzeitig lebenden Menschen lastet. Sie beziehen sich auf die Dringlichkeit einer tatsächlichen, lebensnahen Umsetzung von Erkenntnis, durch welche den lähmenden Kräften der Angst, der Resignation und der Unterwerfung unter nicht erträgliche politische oder soziale Bedingungen Einhalt geboten wird. Auf je persönliche Weise ist es die Kraft und Klarheit des denkenden Herzens, resp. der kreativen Vernunft, dank welcher Mut der Angst entgegenwirkt und dem Denken den Raum der Freiheit öffnet.
Was sind “Visionen”? Es geht dabei um ein inneres Sehen und Betrachten, das zu einem Bild wird, auf individuelle, vielfältige Weise. “Vision”als Wort beruht wohl auf “videre sehen”, jedoch auf dem Partizip “visum”, das etwas Vergangenes beinhaltet oder eine passive Form ausdrückt was “gesehen wird/wurde”. Was “gesehen wurde” wird zum Sehen des inneren Auges, zur geistigen Vorstellung, die im Prozess der Verarbeitung von Erlebnissen und Empfindungen, im Erkunden emotionaler Reaktionen und im Erkennen von Zusammenhängen entsteht und die sich im Denken resp. im Entwerfen neuer Möglichkeiten zu einem Wunschbild oder zu einem Traumbild entwickelt, zu einer Ansicht von Zukunft, die einen leitenden, stärkenden Impuls bewirken kann. Das vom lateinischen “videre” abgeleitete gothische “witan” und das althochdeutsche “wizzan”, das die Bedeutung von “wissen” hat, macht dies deutlich. Ob eine Vision ein Trugbild sei oder einem überzeugenden Zukunftsbild eventuell einer prophetischen Vorausschau, einer Prävision – gleichkomme, hängt von vielem ab. Sicher ist, dass Vision immer der Bedeutung eines inneren, geistigen Bildes entspricht. So war es bei Jeanne d’ Are, als sie sich mit 16 Jahren auf den Weg machte, den geheimnisvollen Auftrag in ihr zu realisieren, so war es bei den nachfolgenden Beispielen, so ist es beim mutigen Handeln zahlreicher anderer Menschen.
Es lässt sich noch fragen, warum Visionen entstehen. Die Frage weckt Geschichten. Sie lässt sich wohl mit neurologischen Erklärungen beantworten, wie dies in jüngster Zeit zunehmend geschieht21, indem die Persönlichkeitsentwicklung durch den emotionalen Einfluss der Beziehungen, die ein Kind erlebt, ferner der Sinneswahrnehmungen der auditorischen, visuellen und weiteren Erfahrungen, die in den komplexen Hirnstrukturen gespeichert werden sowie der damit verbundenen intellektuellen Verarbeitungsprozesse belegt wird. Ebenso ermöglicht die sorgfältige Erforschung von Biographien eine genauere Kenntnis der Einflüsse, die sich auf die Entfaltung und Gestaltung eines Lebens auswirken, auch auf den gestalterischen, kreativen Denkprozess eines Menschen. Beide Forschungs und Wissensgebiete werden in die psychoanalytischen Untersuchungen einbezogen. Auf oft verblüffende Weise ermöglichen diese, die verborgene Geschichte von Visionen zu erklären.
Es ist heute unbestritten, dass alles, was in der frühen Kindheit erlebt wird noch vor der Geburt durch den symbiotischen Einbezug des Embryos in die Erfahrungen und Emotionen der Mutter, so wie nach der Geburt durch die Tatsache der völligen Abhängigkeit des Säuglings und des heranwachsenden, kleinen Menschen von Erwachsenen, die selber den Zeitgeschehnissen und den gesellschaftspolitischen Bedingungen sowie den damit verbundenen Emotionen ausgesetzt sind zum Beispiel Verfolgung und wirtschaftliche Notzustände, Elend und Krieg, oder Erfolg und Glanz, persönliche Enttäuschungen und Einsamkeit und anderes mehr, dass all dies nicht oder kaum durch bewusste Erinnerung verarbeitet werden kann, sondern den unbewussten Teil jeder Persönlichkeit prägt. Letztlich geht es um Nachwirkungen der genügenden oder der mangelhaften, eventuell fehlenden Erfüllung wichtiger Grundbedürfnisse.
Gemäss der neurologischen Untersuchungen steht fest, dass die kreative Intelligenz eines sechsjährigen Kindes mit jener des gleichen Menschen vierzig Jahre später ziemlich übereinstimmt22. Die Differenz besteht in der Art und Weise der sprachlich in der Wort oder Bildsprache und handlungsmässig mitteilbaren Denkprozesse, der damit einhergehenden Erkenntnismöglichkeiten von Ursachen und Zusammenhängen, der alters und situationsgeprägten Wünsche und Projektionen, ebenso der in mancher Hinsicht geringeren oder vielfach weiteren Kenntnis von Handlungs und Realisierungsmöglichkeiten sowie der Zeitempfindungen.
Hinsichtlich der Grundbedürfnisse, die darin auf Grund des Mangels zum Ausdruck kommen, findet sich eine zentrale Erklärung auf die Frage, warum und wie Visionen entstehen. Genau darum geht es. Was beim Kind infolge der kräfte und wissensmässigen, alters und abhängigkeitsbedingten Einschränkung der eigenen Handlungsmöglichkeiten eher ein Traum und Wunschbild ist, kann später zu einem Zukunftsentwurf werden, dessen Realisierbarkeit mit der gleichen Intensität entworfen und angestrebt wird wie die Hoffnung auf Erfüllung beim Kind. Der Unterschied zeigt sich insbesondere in der Art und Weise des Ausdrucks. Nicht mehr das vom Unbewussten gesteuerte Bedürfnis sucht nach Mitteilung durch das Bild oder durch verschiedene Formen von Trotz, sondern das Bewusstsein vermag, das gleiche Bedürfnis durch klare Entwürfe und Zielsetzungen zu vermitteln. Es sind Manifestation des denkenden Herzens, für deren Umsetzung Mut erfordert ist.
Olympe de Gouges
„Es ist eine Frau, die es wagt, sich so stark und mutig zu zeigen … Oh Königin, oh gerechter Monarch, möge die leidende Menschheit es zulassen, dass meine Schilderung Sie zu Gunsten der Unglücklichen berühre, deren beklagenswertes Schicksal ich aufzeichne. Das Brot ist unerschwinglich, Arbeiten gibt es keine mehr, die Unglücklichen entbehren alles.”23
Olympe kam 1748 im südfranzösischen Städtchen Montauban zur Welt. Der Geburtsschein lautete auf Marie Gouze, offiziell Tochter des Metzgers Pierre Gouze und dessen Ehefrau Anne-Olympe Mouisset. Tatsächlich war ihr Vater der Herzogs Le Franc de Pompignan. In einem autobiographischen Roman “Memoire de Mme de Valmont”24 schilderte Olympe de Gouges die materielle und geistige Armseligkeit ihrer Jugend, auch die Belastung der mit 16 Jahren geschlossenen Ehe, die allerdings von kurzer Dauer war. Der viel ältere Ehemann, Louis Yves Aubry, sei weder reich noch wohlgeboren gewesen noch habe sie ihn weder geliebt noch betrauert, als er noch vor der Geburt des gemeinsamen Sohnes gestorben sei.
Mit 17 Jahren war Olympe somit Witwe und Mutter eines Kindes. Obwohl sie mittellos war und obwohl ihre Schulbildung kaum genügte, um den eigenen Namen zu schreiben, schlug sie jeden weiteren Heiratsantrag aus. Was sie als Mangel in ihrer Kindheit und Jugend durchgestanden hatte und was sie weiter erlebte, betraf nicht sie allein. Armut und Rechtlosigkeit lasteten auf unzählig vielen Menschen, am stärksten auf Frauen und Kindern. Sie begann, die Ursachen der beklemmenden, erniedrigenden und krank machenden Lebensbedingungen zu hinterfragen. Was sie selber erlebte und was sie bei anderen wahrnahm, stachelte ihren Mut an, sich für eine Korrektur des vielfältigen Unrechts einzusetzen. Sie zog als unverheiratete Frau mit ihrem Sohn nach Paris, nahm deswegen vielfältige Verunglimpfungen in Kauf und liess sich dadurch nicht entmutigen. Sie verfasste öffentliche Entgegnungen, besuchte literarische Zirkel, schärfte ihren Geist und interessierte sich zunehmend für die revolutionären Ideen.
Olympe’s Radikalisierung bedurfte keiner Theorien. Sie ging einher mit der Empörung über die selbst erlebten Diskriminierungen und Demütigungen sowie über das vielfältige Unrecht, dessen sie gewahr wurde. Als sie 1780 zu publizieren begann, war sie 32 Jahre alt. Die Ungeduld, der Unmut und die Auflehnung brannten ihr unter den Fingern. Die Sklaverei, die Schuldenhaft, die unbeschreiblichen Zustände in den Armenspitälern, in den Gebär- und Waisenhäusern, das Elend in den übervölkerten Faubourgs, die Rechtlosigkeit der Frauen alle sozialen und politischen Missstände griff sie in rund dreissig Theaterstücken auf sowie in ungezählten Streitschriften, Manifesten, öffentlichen Briefen, Anklagen und Plädoyers. Die meisten dieser Texte diktierte sie, da sie nur unzureichend schreiben konnte. Als sie 1788 für die Schwarzen die gleiche Freiheit und die gleichen Rechte forderte wie für die weissen Sklavenhalter, setzte eine erbitterte Hetzjagd gegen das “schamlose Weib” ein. Unerträglich erschien ihr, dass Menschenhandel zugelassen wurde, ja dass die rechtliche Diskriminierung von ungezählten Menschen auf Grund von Hautfarbe und Herkunft zu Gunsten der Profitmaximierungsinteressen einiger weniger florieren durfte. “Menschenhandel! … grosser Gott! Und die Natur erschaudert nicht! Wenn dies Tiere sind, sind wir es nicht ebenso wie sie? Worin unterscheiden sich denn die Weissen von ihnen? In der Farbe … “25.
Sie liess sich durch niemanden einschüchtern, im Gegenteil. In ihr war eine Vision menschlicher Gleichberechtigung und gesellschaftlicher Gerechtigkeit erwacht, deren Realisierung sie als dringlich erachtete. Als 1789 in Paris die “Declaratlon des Droits de l’Homme” als das grosse revolutionäre Manifest verkündet wurde, war sie eine der wenigen, die erkannte, dass damit nicht Menschenrechte, sondern Männerrechte als Grundrechte deklariert wurden, dass es nicht um eine generelle Korrektur menschlicher Entrechtung ging, sondern lediglich um ein anderes Klassensystem. Das monarchische sollte durch das bürgerliche ersetzt werden, auf diktatorische Weise. Sie war entschlossen, für die Gleichstellung ihrer Geschlechtsgenossinnen bis zum äussersten zu kämpfen.
In den von Einschüchterung, Gewalt und Tod bestimmten Umständen jener Zeit brauchte es grossen Mut, um nicht mit dem Strom zu schwimmen. Mme de Stael etwa, die über eine viel breitere gesellschaftliche und intellektuelle Absicherung verfügte, vermochte es nicht. “Zu Recht werden die Frauen von öffentlichen und zivilen Angelegenheiten ausgeschaltet”, schrieb sie, denn “nichts entspricht ihrer natürlichen Berufung geringer”26. Wer öffentlich das Gegenteil vertrat, musste mit dem Tod rechnen. Der Enzyklopädist Jean-Marie Antoine de Condorcet, zum Beispiel, der 1790 ein Manifest “Sur l’admission des femmes au droit de la cité” veröffentlicht hatte, in welchem er die Unteilbarkeit des gleichen Rechtsanspruchs für alle und für jeden Menschen “wie immer Religion, Farbe oder Geschlecht seien” festhielt, zog unter den Androhungen, die auf die Publikation folgten, seine Forderungen wieder zurück, wurde aber trotzdem zum Tod auf dem Schafott verurteilt. Er entzog sich der Hinrichtung, indem er sich selbst das Leben nahm. Auch seine Frau, Sophie de Condorcet, unterstützte die Forderungen der Frauen nach gleichen Rechten. “In einem Land, in welchem ihnen der Kopf abgeschnitten wird, haben sie das Recht zu wissen weshalb”27 soll sie gesagt haben und unterstützte damit Olympe de Gouges, die für diejenigen, denen ein willkürliches Rechtssystem den Tod durch die Guillotine auferlegte, auch das Recht auf die Tribüne forderte.
Es war 1791, dass Olympe de Gouges ihre “Declaration des Droits de la Femme et de la Citoyenne”28 der Nationalversammlung vorlegte, damit diese öffentlich dekretiert würde. Sie stützte sich in den Formulierungen einerseit auf die “Declaration des Droits de l’Homme”, ging in der Konsequenz jedoch viel weiter. Olympe de Gouges begriff, dass politische Grundrechte nicht genügen, um ein Leben in Würde zu garantieren, sondern dass es gleichzeitig der Anerkennung der wichtigsten Persönlichkeitsrechte bedarf. Sie verlangte daher, dass der für Frauen nachteilige Ehevertrag abgeschafft und durch einen Vertrag ersetzt würde, der für Ehe und Konkubinat die gleichen Rechte und Pflichten für Frauen und Männer enthalten würde. Sie verlangte Rechtsschutz für ledige Mütter bei der Vaterschaftsermittlung, verbunden mit der Anerkennung der gleichen Mutterschaftswürde wie bei verheirateten Frauen. Ebenso vertrat sie den Rechtsanspruch von Frauen und Kindern auf Zahlung von Alimenten im Fall einer Scheidung, sodann das Recht auch der unehelichen Kinder auf die väterliche Erbschaftsfolge.
Für die Machthabenden mit Robespierre an der Spitze wurde Olympe de Gouges mit ihrem Mut und ihrer Unverfrorenheit zur Projektionsfigur politischen Widerstandes, damit zur Feindin erklärt, hatte sie doch gewagt, alle Verbrechen, die im Namen der Revolution begangen wurden, offen anzuprangern und die mächtigen Verbrecher beim Namen zu nennen. Dafür wurde sie in der offiziellen Presse und auf Plakaten verhöhnt, wurde immer wieder tätlich angegriffen, ihr Kopf wurde zur Versteigerung angeboten, schliesslich wurde sie verhaftet, von Gefängnis zu Gefängnis transportiert und vor ein Robespierre-höriges Gericht gestellt, ohne dass ihr ein Anwalt zugestanden worden wäre. Die Anklage lautete auf Verunglimpfung der Republik durch das Verfassen aufrührerischer Schriften. Sie verteidigte sich selbst mit einer stolzen Rede29, die zugleich eine erneute Anklage Robespierres darstellte. Am 3. November 1793 wurde sie auf dem Schafott enthauptet.
Als in der Schweiz 1971 das politische Wahl und Stimmrecht auch Frauen zugestanden wurde, und als ich das erste Mal abstimmen ging, da war ich schon über 30 Jahre alt. Seither erweist sich mir die Vision Olympe de Gouges wie ein Leitbild, dessen Erfüllung noch aussteht: dass allen Menschen der gleiche menschliche lebenswert und daher die gleichen Grundrechte zustehen, unabhängig von Herkunft, Hautfarbe und Geschlecht. Der von ihr angeprangerte Menschenhandel wie die rechtliche Diskriminierung von Menschen wegen Hautfarbe und Herkunft, auch wegen Geschlecht und sozialem Status setzt sich weiter fort. Selbst hier in der Schweiz leben Menschen über Jahre, oft sogar über Jahrzehnte unter Bedingungen grosser Rechtlosigkeit und Armut, erleben Diskriminierungen bezüglich Bildung, Wohn und Arbeitsmöglichkeit, die in keiner Weise den verfassungsmässig vorgegeben, menschenrechtlichen Verpflichtungen gerecht werden.
Mary Wollstonecraft
„Ich will vor allem nützen, und Aufrichtigkeit wird mich vor Ziererei bewahren. Ich will lieber durch die Kraft meiner Argumente überzeugen, als durch die Eleganz meiner Sprache blenden, durch Worte, die nicht von Herzen kommen und darum nicht zu Herzen gehen können. Ich werde Tatsachen bringen, nicht Worte”30
Olympe de Gouges’ Vision sozialer Gerechtigkeit und menschlicher Gleichberechtigung hat seine Ausstrahlung und Überzeugungskraft über mehr als zwei Jahrhunderte gewahrt. Analog verhält es sich mit den Visionen, die Mary Wollstonecraft31 in ihrem 1792 in London erschienen „A Vindication of the Rights of Woman” zum Ausdruck brachte, beinah gleichzeitig mit Olympe de Gouges’ ,,Erklärung der Frauen und Bürgerinnenrechte”.
Es ist das erste Werk, das die mangelhafte Bildung und Ausbildung der Frauen und, infolge dieses Mangels, deren materielle Abhängigkeit von den Männern als Hauptgrund ihrer Diskriminierung öffentlich zum Thema machte. Ein Jahr zuvor, 1791, hatte der mächtige Charles-Maurice Talleyrand32 eine Schrift über öffentliche Erziehung publiziert und darin die Erziehung der Mädchen nur in ein paar kurzen Paragraphen gestreift. Mädchen wurden durch Talleyrand als nicht bildungsfähige menschliche Geschöpfe dargestellt, überhaupt infolge ihrer Weiblichkeit als zweitrangige Wesen. Auf dieses Werk männlicher Anmassung schrieb Mary Wollstonecraft innerhalb weniger Wochen eine Entgegnung, in welcher sie sich auch kritisch gegenüber Rousseau und dessen Frauenbild in der Erziehung äusserte. Sie widmete ihre “Vindication” Talleyrand und veröffentlichte sie noch im selben Jahr. Noch im Frühjahr 1792 erschien Talleyrand in London. Da er im Königshof nicht empfangen worden sei, habe er Mary Wollstonecraft besucht, die sich schon ein Jahr zuvor mit ihrer ersten Schrift “The Vindication of the Rights of Man” als kritische und belesene, auch streitbare Frau in die öffentliche Diskussion um Edmund Burkes “Reflections on the Revolution in France” eingemischt hatte. Mary Wollstonecraft habe allerdings so bescheiden gelebt, dass Talleyrand den Wein, den sie ihm anbot, aus einer Teetasse habe trinken müssen, wie der mit ihr befreundete Zürcher Maler Johann Heinrich Füssli berichtete.
Mary Wollstonecraft war am 27. April 1759 in Spitalfield bei London zur Welt gekommen. Sie war die Älteste von sechs Kindern. Früh hatte sie für die jüngeren Geschwister zu sorgen. Ihr Vater soll ein “cholerischer Despot” und ihre Mutter die “untertänigste aller Untertanen”33 gewesen sein, von ihm geschlagen und schliesslich von ihm verlassen, ohne sich im geringsten wehren zu können. Während den drei Brüdern Schulbildung zugestanden wurde, hatten die Töchter sich um den Haushalt zu kümmern. Mary Wollstonecraft’s ganzes Wissen erarbeitete sie sich selber. Lange bevor sie erwachsen war, las sie in mehreren Sprachen und übersetzte aus dem Französischen, Italienischen und Deutschen, sie zeichnete sich durch Verstandesschärfe, durch ein klares Urteilsvermögen und durch einen unbeirrbaren Freiheitswillen aus. Um ihre Mutter und die Geschwister zu unterstützen, bestritt sie ihren Lebensunterhalt als Erzieherin und Gesellschafterin, als Übersetzerin, Journalistin und Schulleiterin. Ende 1792 reiste sie nach Paris, um über die Revolution zu berichten. Sie verliebte sich in den amerikanischen Schriftsteller Gilbert Imlay, auf leidenschaftliche und tragische Weise. Als er erfuhr, dass sie ein Kind von ihm erwartete, liess er sie im Stich. Die Tochter Fanny kam am 14. Mai 1794 in Le Havre zur Welt.
Dass Fanny 1818, mit 24 Jahren, durch Suizid starb, macht die Fortsetzung der Tragik deutlich, die auf ihrer Mutter lastete. Auch Mary Wollstonecraft hatte 1795 einen Suizidversuch gemacht, als sie auf Grund der immer krasseren Nichtübereinstimmung von Zielsetzungen und Idealen sowie der von den Lügen lmlay’s erschöpfenden Realität sich am Rand ihrer Kräfte spürte. Eine Veränderung in ihrem Leben bewirkte der Kontakt mit dem politischen Denker William Godwin, der sie verehrte. Auch von ihm erwartete sie ein Kind. Am 30. August 1798 gebar sie Mary. Es war eine qualvolle Geburt, an deren Folgen Mary zehn Tage später starb, am 10. September 1798, 38 Jahre alt.
Die Brisanz von Mary Wollstonecrafts “Vindication of the Rights of Women” betraf den durch eine Frau offen thematisierten Mangel, unter welchem Frauen litten. Dass sie zum grossen Teil heute noch modern sind, zeigt die Kraft der Vision, die damit verbunden war. So hielt sie etwa fest, dass, solange Frauen und Männer einander nicht durch Erziehung ebenbürtig seien, theoretische und praktische Fortschritte in der Gesellschaft wirkungslos bleiben. Dass Kinder nur zu menschlichem Respekt erzogen werden können, wenn schon ihre Mütter in diesem Geist aufgewachsen seien. Dass der Begriff eines “Geschlechtscharakters” die Moral zerstöre. Dass es keine Legitimation dafür gebe, dass die eine Hälfte der Menschheit durch die andere von jedem Anteil an der Regierungsverantwortung ausgeschlossen werde, dass es auch keine Erklärung dafür gebe, dass es für die Rechte der Männer lauter Vernunftargumente, für jene der Frauen aber keine gebe.
William Godwin hatte Mary Wollstonecraft’s Erkenntnisse und Forderungen unterstützt. Erschüttert von ihrem Tod schrieb und veröffentlichte er ihre Biographie und zahlreiche ihrer Briefe34. Ebenso kümmerte er sich persönlich um die zwei Töchter (auch Fanny hatte er adoptiert). Doch deren Leben wurde durch die erneute Heirat Godwins mit einer Witwe, die ebenfalls zwei Kinder mitbrachte, entzwei gerissen. Die innerfamiliären Spannungen zwischen liebevoller väterlicher Emanzipation und stiefmütterlich-traditioneller Härte auf Grund mangelnden Wertgefühls und Eifersucht ermöglichten Mary’s Töchtern keine Erziehung und Bildung gemäss der von ihr als dringlich erachteten Rechte. Die tiefen Beziehungszerwürfnisse müssen Mary Godwin bewogen haben, 1814 noch nicht 17 Jahre alt aus der Familie auszureissen, gemeinsam mit Jane/Claire Clairmont, einer der Stiefschwestern, und zur Geliebten und Frau des Dichters Percy Bysshe Shelley zu werden, der verheiratet war und der aus seiner Ehe ausbrechen wollte.
Für Mary Shelley begannen mit dieser Flucht in eine leidenschaftliche Romantik acht zermürbende Jahre mit Reisen durch ganz Europa und stetem Schreiben35, ein Leben ohne finanzielle Sicherheit, ohne Halt und sicheren Wohnort, mit vier Schwangerschaften und Geburten, mit dem Sterben und Tod von drei ihrer Kinder, mit tiefer Depressivität und zunehmender Entfremdung von Shelley, der nicht auf sie einging, sondern nach Kompensationen suchte bis er am 8. Juli 1822 in La Spezia im Meer ertrank. Sein plötzlicher Tod verursachte einen Aufruhr in Mary Shelley, der sie veranlasste, seine Biographie zu schreiben und seine Gedichte herauszugeben. Sie versetzte sich in eine nicht mehr reale, sondern nur noch durch romantische Sehnsüchte vergeistigte Beziehung mit ihrem verstorbenen Geliebten, die anhielt bis zu ihrem eigenen Tod am 1. Februar 1851.
Mary Wollstonecraft selber hatte von den Frauen ihrer Zeit kaum Unterstützung erfahren, nicht anders als Olympe de Gouges, auch nicht anders als viele Frauen in der Schweiz, die politischen Mut zeigen, zum Beispiel Iris von Roten. Als 1956 ihr Buch “Frauen im Laufgitter” erschien, stimmte der grosse Chor der Schweizerinnen in den erniedrigenden Chor der konservativen Presse mit ein. Ihr gesellschaftskritischer Mut kostete einen hohen Preis. Doch immer hatte es Ausnahmen gegeben. 1840 fiel “A Vindication of the Rights of Women” Flora Tristan in die Hände, und Flora Tristan wurde von der Vision mitgerissen. Es erschien ihr wichtig, öffentlich für Mary Wollstonecraft Partei zu ergreifen.
Flora Tristan
“Es gibt eine Stimme, die aus der Wahrheit, deren Gepräge Gott in unsere Seele gepflanzt hat, eine unaufhaltbare Kraft und eine hell leuchtende Energie schöpfte, eine Stimme, die sich nicht gescheut hat, alle Vorurteile der Reihe nach anzugreifen und ihre Verlogenheit und Ungerechtigkeit zu beweisen. [ … ] Gleich nach seinem Erscheinen wurde dieses Buch unterdrückt, was seiner Verfasserin nicht die Folterqual der Verleumdung ersparte. Nur der erste Band wurde veröffentlicht und er ist sehr selten geworden. [ … ] Der Ruf des Buches jagt einen solchen Schrecken ein, dass selbst wenn Sie mit sogenannten fortschrittlichen Frauen darüber sprechen, diese mit einer Anwandlung von Entsetzen reagieren: ,Oh, ein ganz schlimmes Buch !”136:
Die Solidarisierung mit Mary Wollstonecraft veröffentlichte Flora Tristan 1840 in einem eigenen Buch “Promenades dans Londres”37, in welchem sie die erschreckenden, aufwühlenden Armutsverhältnisse schilderte, in den die Arbeiterklasse lebte. Dabei wurde ihr bewusst, dass keine politischen, rechtlichen und existenfiellen Veränderungen erreicht werden konnten, solange allein von Oben oder von Aussen die Unzumutbarkeit der Arbeits- und Lebensbedingungen geschildert wurde und die mit der Kritik verbundenen Zielsetzungen nicht aus der Arbeiterschaft selber wuchsen, insbesondere solange die dafür erforderten Bemühungen nicht in deren Kreisen umgesetzt wurden. 110ft hat man von der Tribüne der Parlamente, den Kanzeln der christlichen Kirchen, auf den Versammlungen, den Theatern und vor allem in den Gerichten von den Arbeitern gesprochen, doch noch hat es niemand gewagt, zu den Arbeitern selber zu sprechen. ( … ) Daher eröffne ich voll Vertrauen diesen neuen Weg. Ja, ich werde sie in ihren Werkstätten, ihren Dachkammern, sogar in ihren Kneipen, wenn es sein muss, aufsuchen (…).”38
Für Flora Tristan war die Situation der Arbeiterschaft ein gesellschaftlich bedingtes Abbild der noch viel grösseren und umfassenderen Diskriminierung, die den Frauen generell und den Arbeiterinnen zusätzlich angetan wurde. ,,Bis jetzt hat die Frau in der menschlichen Gesellschaften nichts gegolten. Was waren die Ergebnisse? Priester, Gesetzgeber, Philosophen haben sie wie eine wirkliche Paria behandelt. Die Frauen die Hälfte der Menschheit wurde ausserhalb der Kirche, ausserhalb des Gesetzes, ausserhalb der Gesellschaft gestellt”39 Seit sechstausend Jahren werde die “weibliche Rasse” der männlichen unterstellt. Diese Anhäufung von Unrecht bewirke katastrophale Folgen. “Nichts verbittert den Charakter, verhärtet das Herz mehr, macht den Geist böser als fortgesetztes Leiden”, das in der frühen Kindheit als Wiederholung des Leidens beginnt, unter welchem schon Mütter und Grossmütter litten und gelitten haben. Dazu kommen zusätzliche Erfahrungen der Erniedrigung und Wertlosigkeit, die Mädchen und Frauen aus der Arbeiterklasse angetan werden. “Die Frau ist die Proletarierin ihres eigenen Proletarlats”41 stellte Flora Tristan fest. “Zwischen dem Herrn und dem Sklaven gibt es nur die Ermüdung unter dem Gewicht der Kette, die den einen an den anderen fesselt. Dort, wo das Fehlen der Freiheit sich bemerkbar macht, kann das Glück nicht existieren”42 .
In Flora Tristan’s Schriften findet sich eine der ersten gesellschaftsanalytisch begründeten Anklagen gegen die menschenverachtende Grundhaltung, die sich sowohl in der kapitalistischen Ausbeutung durch Fabrikarbeit wie in der Geschlechterhierarchie äussert. Sie war überzeugt, dass es einer Veränderung beider Systeme bedurfte. Ihr Einsatz und ihre Überzeugungskraft beruhten einerseits auf dem Austausch mit anderen sozialpolitischen Erkenntnissen der Zeit insbesondere mit jenen aus den religiössozialistischen Kreisen von Claude Henri de Rouvroy, Comte de Saint-Simon43 sowie aus den auf eine neue, genossenschaftliche Wirtschaftsverfassung des Staates hin ausgerichteten von Charles Fourier44 ebenso auf der beispielhaften Umsetzung menschenwürdiger Arbeitsbedingungen in Robert Owen’s45 Baumwollspinnerei im schottischen New Lanark. Andererseits stützte sich Flora Tristan auf ihre eigenen Erfahrungen ab. So wurde sie zu einer frühen Vertreterin des Sozialismus und des Feminismus zugleich, ohne dass sie sich selber so bezeichnet hätte. Was sie selber erlebt hatte, konnte für sie nur ertragbar werden durch ihren persönlichen Mut und durch eine kreative Verarbeitung der Ursachen zu Gunsten vieler anderer Frauen.
Flora Tristan kam 1803 zur Welt. Ihre Eltern der Vater ein begüterter peruanischer Offizier46 und die Mutter Französin hatten sich in einem nordspanischen Kloster heimlich trauen lassen. Da die Ehe weder durch den spanischen König noch durch das französische Konsulat in Bilbao anerkannt wurde, wuchs Flora Tristan nach dem vier Jahre später erfolgten Tod des Vaters als uneheliches Kind auf, in einem Status der Rechtlosigkeit und grösster Armut. Weder sie noch ihre Mutter wurden als rechtmässige Erbinnen anerkannt. Der französische Staat hatte das väterliche Gut in Vaugirard konfisziert. Flora Tristan konnte keine Schule besuchen, sondern wurde von ihrer Mutter unterrichtet. Noch bevor sie 16 Jahre alt war, wurde sie im Atelier von AndreFrancois Chazal in Paris als Kupferstecherin zur Ausbildung angestellt und ein knappes Jahr später, 1821, wurde sie mit Chazal verheiratet. Ein Jahr später gebar sie einen Sohn, ein Jahr darauf einen zweiten. Wenige Monate später verliess sie den gewalttätigen, unberechenbaren Ehemann, der sich auf ihren Namen und ihre Kosten auch laufend verschuldete. Er verfolgte sie durch ganz Frankreich.
1825 brachte Flora Tristan ein drittes Kind zur Welt, ihre Tochter Aline, der sie ihr Leben lang nah stehen wird. “Ich schwöre Dir, dass ich für Dich kämpfen werde, dass ich Dir eine bessere Welt schaffe. Du sollst weder Sklavin noch Paria sein. Und wie? Man sagte: ‘Versprechen von Betrunkenen, Versprechen von Verliebten’. Mag sein. Aber was man derjenigen gelobt, die man gerade zur Welt gebracht hat, die Teil von einem selbst ist das muss man halten”47. Chazal entführte die Tochter zweimal und versuchte, sie zu vergewaltigen, als sie 12 Jahre alt war. Flora Tristan klagte ihn deswegen an, und Chazal wurde verurteilt. Er entführte darauf den jüngeren Sohn, stellte seiner Frau nach und griff sie mehrmals auf offener Strasse an. Ihre erneute Anklage bewirkte das Gegenteil. Flora Tristan wurde verurteilt, den Ehemann verlassen zu haben. 1838 verwundete Chazal sie mit einem Pistolenschuss unter der linken Brust. Darauf wurde er zur Galeere verurteilt. Flora Tristan, die sich als Witwe ausgab und Arbeit als Hausangestellte angenommen hatte, trat in Kontakt mit den Saint-Simonisten in Paris um Prosper Enfantin48. Sie korrespondierte auch mit ihren Verwandten in Peru und beschloss, nach Arequipa zu reisen. Ihre drei Kinder vertraute sie einer Bekannten in Angoulerne an und bestieg in Bordeaux ein Segelschiff, als einzige Frau unter etwa zwei Dutzend Männern. Zwei volle Jahre bereiste sie Peru, verfolgte aus der Nähe die Revolution in Arequipa, wurde jedoch von schweren Depressionen gequält. Sie kehrte nach Paris zurück, trat in Verbindung mit den sozialistischen Idealisten um Carles Fourier und begann, ihre Erfahrungen und Erkenntnisse zu veröffentlichen. Schon 1835 hatte sie in der Streitschrift “De la necessite de faire un bon acceuil aux femmes étrangères” vom Staat verlangt, dass Frauenhäuser oder Frauenhotels für allein reisende Frauen eingerichtet und unterhalten werden. 1837/38 veröffentlichte sie einen ausführlichen Bericht über ihre Reise nach Peru in zwei Bänden “Pérégrinations d’une Paria”49, sie kämpfte für die Abschaffung der Todesstrafe, reiste, wie ich schon erwähnte, mehrmals nach England und dokumentierte in “Promenade dans Londres” das Elend der Arbeiterklasse. Sie lernte über Robert Owen die Möglichkeit einer nicht theoretischen, sondern tatsächlichen Verbesserung der Arbeits und Lebensbedingungen innerhalb der industriellen Entwicklung kennen und befasste sich zunehmend mit ihrem Hauptwerk, das sie “Union Ouvrière” nannte.
In Zusammenhang ihrer Anliegen war sie in pausenlosem Einsatz. Sie reiste durch die französischen Provinzen, um die Arbeiter und die Arbeiterinnen aufzurütteln und sie für eine gemeinsame Organisation zu gewinnen. Auch suchte sie Intellektuelle auf, schrieb Bettelbriefe und sammelte Subskriptionen, damit sie ihr Buch drucken lassen konnte. 1843 erschien es in 4’000 Exemlaren und war in kürzester Zeit ausverkauft. 1844 erschien schon die zweite Auflage mit 10’000 Exemplaren, im gleichen Jahr die dritte. Die Korrespondenz weitete sich aus. Auch bedeutende deutsche Sozialisten, etwa Moses Hess, oder Arnold Ruge, der mit Marx die “Deutsch-Französischen Jahrbücher” herausgab, gingen auf Flora Tristan’s Ideen ein. Sie selber reiste unermüdlich durch Frankreich, obwohl ihre Gesundheit infolge der Schussverletzung schwer angeschlagen war. Am 14. November 1844 brach sie in Bordeaux zusammen. Der Tod dieser mutigen Frau bewirkte eine Manifestation der Solidarität. Tausende von Frauen und Männern aus der ärmsten Arbeiterbevölkerung begleiteten den Trauerzug.
*
Flora Tristans „Union Ouvrière” war mehr als eine Vision. Das Buch wirkte wie ein Fanal. Arbeitervereinigungen waren im damaligen Frankreich strafrechtlich verboten, spezielle Ministerien und Sicherheitsorgane beschäftigten sich ausschliesslich mit der Überwachung der Arbeiterschaft. Trotz der Repression gingen die Arbeiter und Arbeiterinnen mit ihren Forderungen auf die Strasse. Anfang der dreissiger Jahre zählte man in Frankreich jährlich an die 130 Streiks und Arbeitsniederlegungen, die meisten davon in der Gegend von Lyon. Wegen der Massenarbeitslosigkeit konnten die Löhne beliebig gedrückt und die Arbeitstage beliebig verlängert werden. In der Textilindustrie machten die Kinder ein Drittel der Beschäftigten aus. Die Grundschulen, die 1833 in Frankreich eingerichtet worden waren, konnte die Mehrzahl der Kinder wegen der Armut der Eltern nicht besuchen. Ein Drittel der Menschen starb vor dem zwanzigsten Lebensjahr. Ebenso katastrophal wie die Arbeitsbedingungen waren die Lebens und Wohnverhältnisse für die arme Bevölkerung. Zwischen 1800 und 1855 verdoppelte sich die Einwohnerzahl in Frankreich, doch wurden gleichzeitig ganze Arbeiterwohnbezirke in den Städten niedergerissen, um Platz für die Prachtstrassen und für die grossen Plätze zu machen. Neugeborene Kinder wurden häufig einfach ausgesetzt. Mitte der.dreissiger Jahre zählte Paris bei einer Wohnbevölkerung von 889’000 Menschen 140’000 Findelkinder.
Es war dieses vielfach erlebte Elend, das Flora Tristan keine Ruhe gelassen hatte. Sie verlangte für die Frauen gleiche Ausbildungs und Einkommensmöglichkeiten, damit sie materiell unabhängig sein könnten, sie forderte freie Partnerwahl und das Recht auf Scheidung, für ledige Mütter Gleichheit vor dem Gesetz und für uneheliche Kinder das Recht auf einen Teil des väterlichen Erbes. Die Gründung der „Arbeiterunion” sollte den politischen Forderungen Rückhalt geben. Flora Tristan’s Ziel war, nicht allein auf nationaler Ebene, sondern international die Bedingungen der Arbeiterinnen und Arbeiter zu verbessern. Sie ging davon aus, dass dringliche soziale Verbesserungen durch Überzeugungsarbeit und Einsicht geschehen würden, ohne revolutionäres Blutvergiessen. Sie plante die Errichtung von Häusern sog. “Palästen der Arbeit” , die den Arbeiterinnen und Arbeitern gehören sollten, in denen sie geschult und weitergebildet würden, wo sie ihre politischen Aktionen vorbereiten sollten, wo die Kinder betreut und wo alte, arbeitsunfähige Menschen ihre Tage verbringen könnten. Gewissermassen nahm sie die Idee der Gewerkschafts und Volkshäuser voraus, die später in den meisten Ländern realisiert wurden.
Die Analyse der Gründe und zusammenhänge der materiellen und moralischen Verelendung war gewiss nicht so erschöpfend wie diejenige von Marx und Engels, doch verfiel Flora Tristan auch nicht einer pauschalen, irrealen Idealisierung der Arbeiterklasse wie andere Frühsozialisten. Mit ihrem Mut war sie eine bedeutende Wegbereiterin in der unerschrockenen frühfeministischen und sozialistischen Überzeugungsarbeit, die von anderen Frauen weitergeführt wurde, insbesondere von Rosa Luxemburg, auch von Clara Zetkin50 in Deutschland, von Rosa Bloch und Rosa Grimm in der Schweiz und von zahlreichen anderen Frauen.
Es liesse sich sagen, dass der Mut, Visionen zu vertreten, verlorene Energie sei. Es handle sich um utopische Zukunftsentwürfe, fern der tatsächlichen Realisierung, wie die Geschichte es beweise. Doch ich teile diese Meinung nicht. Der Mut stellt sich transgenerationeller Resignation entgegen, auf kreative und freie Weise, oft auf tragische, wie es auch für die letzte Wegstrecke Simone Weils zutrifftf, zu welcher zusätzliche Unterlagen zur Verfügung stehen und Beachtung verdienen.
SimoneWeil
“Der Mensch ist gewiss aus Verlangen gemacht. Wie das Verlangen eines Menschen auf dieser Welt war, so ist er im Augenblick, da er geht.”51
Simone Weil wehrte sich ihr Leben lang dagegen, dass die mütterlichen und väterlichen Erbschaften mit dem eigenen Verlangen, ,,anders” zu sein und zu sich selber zu finden, unvereinbar seien. Ihr Mut war oft provozierend gewesen. Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs und ihrer notwendigen Flucht wurde sie, trotz der vordergründig noch stärkeren Bindung an die Eltern, zusätzlich ermutigt, den eigenen Weg im Blick zu behalten. Durch die Nähe zum älteren Bruder hatte sie die Auseinandersetzung mit ihrer Weiblichkeit seit der Kindheit belastet, jene mit ihrer jüdischen Herkunft seit Beginn der Pubertät. Gleichzeitig hatte dieser doppelte Zwiespalt sie angespornt, Wagnisse zu erproben und durchzustehen und hatte so das Entfalten ihrer Identität nicht verhindert. Das Verlangen nach Freiheit, nach Klarheit und Wissen, zutiefst das Verlangen nach Furchtlosigkeit wirkte in jedem Entscheid, den sie traf, als massgebliche Kraft, die sich der traditionellen Kant’schen Vernunft entgegen stellte und als Unvernunft bewertet wurde.
Sie eckte mit all ihren Bestrebungen an, es fehlte ihr nie an Mut. Um ihre bürgerliche Herkunft hinter sich zu lassen, genügten marxistische Theorien nicht. Furchtlos nahm sie deshalb an den politischen Manifestationen der Arbeiterbewegung im Industriegebiet von Le Puy und St. Etienne teil, leistete selber schwerste Fabrikarbeit in Vororten von Paris und wagte gleichzeitig offen Kritik an den stalinistisch dominierten Theorien einer Umwälzung der kapitalistischen Herrschaft durch das Proletariat. Gemäss ihrer Erfahrungen bedurfte es in erster Linie eines Abbaus der unmenschlichen Leistungsanforderungen und verbesserter Bedingungen für die unter die maschinelle Produktion gezwungene Arbeiterschaft. Alle mutigen Schritte, die sie wagte, auch die Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg, beruhten nicht auf einer Unterwerfung unter ideologische Verpflichtungen oder Forderungen, sondern allein auf der Entscheidungskraft ihres “denkenden Herzens”, das ihre politischen Überzeugungen ebenso leitete wie ihren religiösen Erkenntnishunger.
In der Wahl ihrer Leidenschaften war Simone Weil eine Aussenseiterin, deren eigenwillige emotionale und denkerische Entwicklung auch später irritierte oder verblüffte, auf jeden Fall zur Stellungnahme herausforderte. Die letzten Jahre ihres kurzen Lebens von 1940 bis 1942 in der damals noch freien Zone in Südfrankreich, dann von 1942 bis 1943 in New York und in London waren vermutlich die glücklichsten und zugleich die erschöpfendsten für sie. Im politischen Widerstand wie in ihrer religiösen Suche konnten Freundschaften anwachsen, die sie vorher nicht gekannt hatte, bis sie angesichts der französischen Exilregierung rund um General de Gaulle, die ihre Entscheidungsfreiheit und ihren persönlichen Mut unterband, nicht mehr weiter wusste.
Da diese letzte Lebensphase Simone Weils von heroisierenden wie von verurteilenden Interpretationen besetzt ist, drängt sich eine neue Auseinandersetzung mit ihr auf. Die Intensität und die tragische NichtErfüllbarkeit ihres Verlangens nach einer praktischen Übereinstimmung der widersprüchlichen herkunftsbedingten und selber gewählten Erbschaften, lassen sich durch eine sorgfältige Entschlüsselung endlich besser verstehen. Das Verstehen ermöglicht eine Versöhnung.
Ab 1933 beherbergte die Wohnung von Bernhard und Selma Weil an der Rue Auguste Comte im sechsten Arrondissement von Paris Verfolgte aus Deutschland wie aus Russland, unter diesen auch Leo Trotzki (Leo Dawidowitsch Bronstein), und dies aufgrund dem Entscheid der damals 24jährigen Tochter Simone, für die es nicht in Frage kam, selber zu fliehen. Als nach dem Anschluss Österreichs ans Dritte Reich, nach der Besetzung der Tschechoslowakei und Polens der Krieg voll ausgebrochen war und der Vormarsch von Hitlers Armee Holland und wenige Tage später Belgien widerstandslos zusammenbrechen liess, als judenfeindliche Gesetze, Plagereien und Schikanen, Gefangennahmen und Abtransporte auch in Frankreich schon zur Tagesordnung gehörten, weigerte sich Simone Weil weiter, wehrlos zu fliehen. Doch am 13. Juni 1940 gab es keinen Aufschub mehr, Paris war zur 11offenen Stadt” erklärt worden. Weil ihr Vater Arzt war, fand sie mit ihren Eltern noch Platz in einem überfüllten Zug Richtung Süden. Am 14. Juni war Paris von der deutschen Wehrmacht besetzt.
Während knapp zwei Wochen verweilten Simone Weil und ihre Eltern unter Tausenden von Flüchtlingen in Nevers an der Loire. Sie traf Boris Souvarine (Boris Konstantinowitsch Lifschiz], der sie 1935 um die Beherbergung Trotzkis in Paris gebeten hatte, und andere Freunde aus ihrem politischen Kreis, die Fragen und Kenntnisse über fehlende Freunde austauschten, vor allem über die bedrohliche politische Lage. Die deutschen Panzerdivisionen drangen weiter vor. Zu Fuss erreichten die Weils Vichy, wo sie an der Rue du Bourbonnais bis zum 20. August ausharren mussten. Simone Weil schrieb und schlief in der Küche der kleinen Wohnung auf dem Boden. Zorn über den von ihr wie vom französischen Sozialistenführer Leon Blum und von zahlreichen linken Denkern lange vertretenen Pazifismus, Verzweiflung ob der Kapitulation und Kooperationsbereitschaft der französischen Regierung unter Petain und Laval, gleichzeitig eine eiternde Wunde am Bein, die sie sich 1936 als Mitglied der Internationalen Brigaden am Ufer des Ebro bei einer Verbrennung zugezogen hatte und die auf der Flucht wieder aufgebrochen war, zusammen mit Erinnerungen an die menschliche Verrohung und Brutalität, die sie mit Entsetzen in beiden Lagern beobachtet hatte all dies waren lähmende und gleichzeitig antreibende Faktoren. Simone Weils Ziel war damals, nach Algerien oder Marokko, schliesslich nach London zu gelangen, um einen Beitrag im Kampf gegen die nationalsozialistische Brutalität und Hitlers Vernichtungs und Herrschaftsanspruch zu leisten. Während der Wochen unterwegs stand sie mit ihrem Bruder André in ständigem Briefverkehr in verschlüsselter Sprache zum Teil in Griechisch, zum Teil in Sanskrit, dem seit der Kindheit nächsten Verbündeten, einem schon damals berühmten Mathematiker52, der selber in Lebensgefahr war. Seit der Adoleszenz hatte er Sanskrit studiert und Simone die Liebe zum unbeugsamen Lernen vermittelt. Bald nach Hitlers Einmarsch in Polen am 1. September 1939 war André Weil, der damals in Finnland weilte, unter dem Verdacht russischer Spionage gefangen genommen worden. Er entkam knapp der Hinrichtung und wurde an Frankreich ausgeliefert. Unter der Bedingung, Militärdienst zu leisten, wurde er aus der Haft entlassen. Er konnte untertauchen und Ende Januar 1941, nachdem er in Clérmont-Ferrand seine Frau und deren Sohn finden konnte, über Marseille in die USA fliehen, wo er sich um Visa für seine Eltern und seine Schwester bemühte.
Nicht nur mit ihrem Bruder stand Simone Weil in schriftlichem Austausch, sondern auch mit zahlreichen Studienkollegen und kolleginnen aus dem Lycée Henri IV, wo sie durch den Philosophen Emile Chartier Alain zutiefst geprägt worden war, sowie mit jenen, die ebenfalls an der ENS, der Ecole Normale Superieure, das Studium hatten fortsetzen können, das sie 1931 bei Leon Brunschvicg mit einer ungewöhnlichen Arbeit über Descartes als Mathematiker abgeschlossen hatte. Wie viele dieser Intellektuellen hatte sie in Verbindung zu marxistischen, anarchosyndikalistischen Gruppierungen gestanden, wobei sie sich früher als die meisten gegen jede ideologische Verblendung kritisch äusserte, gleichzeitig sich um Volkshochschulen und um gerechten Lohn für Fabrikarbeiter bemühte sowie furchtlos Demonstrationen von Arbeitslosen anführte. In Le Puy, wo sie ihren ersten Lehrvertrag in Philosophie hatte, wurde sie als “juive rouge” und als “vierge rouge” diffamiert, bis ihr die Anstellung aus politischen Gründen gekündigt wurde. Besorgt über die Entwicklung in Deutschland hatte sie sich im Herbst-Winter 1932 für mehrere Monate nach Berlin begeben und unverhohlen in der französischen Lehrergewerkschaftszeitung über die verhängnisvolle ideologische Verengung und Widerstandslosigkeit berichtet. Ohne von ihrer gesellschaftskritischen Haltung abzusehen, hatte sie anschliessend die Lehrtätigkeit noch in Auxerre und in Roanne fortgesetzt, bis sie sich entschloss, trotz konstanter Migräne als ungelernte Arbeiterin am Fliessband die menschliche Entrechtung im Fabriksystem kennen zu lernen. Im Fabriktagebuch von 1934-1935 wie in den Briefen und Aufsätzen aus jener Zeit dokumentierte sie aufwühlend die Herrschaftsverhältnisse in der Grossindustrie, insbesondere die menschliche Abstumpfung, die sich allen revolutionären Bestrebungen entgegenstellte.
Ende August/Anfang September 1940 gelangte Simone Weil mit ihren Eltern von Vichy nach Toulouse. Vergeblich bemühte sie sich um ein Durchreisevisum durch Portugal, um nach London gelangen zu können. Auch Suzanne Aron konnte sie nicht treffen, mit der sie studiert hatte und die in Toulouse eine Professur in Philosophie ausübte. Als Simone Weil und ihre Eltern Mitte September Marseille erreichten, diesen Versammlungsort von Flüchtlingen, unter denen sich sofort unterschiedlichste Gruppierungen bildeten, fanden sie zuerst Unterschlupf in einer Familienpension, nicht weit entfernt vom Lager von Mazargues, in welchem damals indonesische Arbeiter inhaftiert waren. Simone Weil setzte sich sofort für diese ein, stellte ihnen ihre Essensration zur Verfügung, hörte ihre Klagen an und schrieb zu ihren Gunsten Gesuche an die Vichy-Regierung, unentwegt, auch für Insassen anderer Lager. Die Erniedrigung und Entrechtung von „Ausländern” zu Parias hatte sie schon vor dem Krieg in ihren Untersuchungen der Arbeiterexistenz empört53, während sie ihre eigene Bedrohung als Jüdin kaum beachtete.
Ab Mitte Oktober konnten Weils eine Wohnung an der Rue des Catalans mieten, mit Blick aufs Meer. Da die Familie ohne das kleinste Gepäck Paris verlassen hatte, jedoch Hab und Gut durch die Haushälterin geschützt wusste, konnte das Wichtigste in Kisten verpackt nach Marseille nachgeschickt werden, für Simone mit Hilfe von Simone Petrernent, ihrer nächsten Freundin und späteren Biographin, auch ein Teil der ihr wichtigen Bücher in Griechisch und in Sanskrit sowie ein Grossteil ihrer noch unveröffentlichten Gedichte und philosophischen Manuskripte. Ihr Zimmer an der Rue des Catalans, wo sie auf dem Boden schlief, war übersät von Papieren und wurde zum Treffpunkt, zum Gesprächs und Arbeitsraum für viele.
Möglicherweise war die vornehme Wohnadresse ein Grund, weshalb die Weils am 3. und 4. Dezember 1940 anlässlich der Razzia gegen die jüdische Gemeinde und gegen auffällige Flüchtlinge anlässlich von Pétains Besuch in Marseille unbehelligt blieben. An die 20’000 Menschen wurden damals in Gefängnisse und auf vier Meerschiffe abgeschoben. Simone Weil hat sich in ihrer Widersprüchlichkeit, ,,dazu zu gehören und nicht dazu zu gehören”, eher schuldig statt erleichtert gefühlt, wie Laure Adler berichtet54. Bei einer späteren Hausdurchsuchung und mehrtägigen Befragungen durch die Polizei zeigte sie sich so angstfrei und souverän, dass sie nicht verhaftet und abtransportiert wurde, sondern ihre Tätigkeiten fortsetzen konnte. Sie war sich bewusst, wie begrenzt ihre Zeit war.
Drei Kreise waren seit Beginn des Aufenthalts in Südfrankreich für Simone Weil von entscheidender Bedeutung.
Der erste Kreis war jener der Cahiers du Sud, wo sie mit einer grossen Anzahl bedeutender Dichter und Denker einen Austausch fand u.a. mit Jean Ballard, dem Begründer der Cahiers du Sud, mit Gabrielle Neumann, die auch der verbotenen Edition du Sagittaire vorstand, Francine Bloch, einer Literaturkritikerin und Lektorin, Jean Tortel, einem Dichter und Essayisten, Jean Lambert, einem Literaturwissenschaftler und Dichter, Rene Daumal, Simone Weils Sanskritlehrer, der wegen der Lebensgefahr für seine Frau Vera Milanova aus Paris geflohen war, Decdat Rache, einem Rechtsgelehrten und Kulturhistoriker, Lanza del Vasto, einem Gandhi-Schüler und Friedensaktivisten, und vielen mehr, darunter Joe Bousquet55, der infolge einer schweren Verwundung als Soldat im Ersten Weltkrieg gelähmt war, jedoch als Schriftsteller und als Mitherausgeber der Cahiers du Sud eine wichtige Vermittlerrolle einnahm. Für Simone Weil wurde Bousquet zu einem echten Freund. Ein einziger Besuch bei ihm Anfang April 1942 und ein Gespräch, das die ganze Nacht dauerte, weckte in ihr das Gefühl, endlich ohne Einschränkungen und Vorbehalte verstanden zu werden. Ein Briefwechsel56, der im darauf folgenden Monat bis zu ihrer Ausreise aus Marseille einsetzte, ist voller Dankbarkeit. Sowohl in ihrer religiösen Suche fühlte sie sich unterstützt wie insbesondere in ihrem Plan, als Krankenschwester an der Kriegsfront für schwer Verwundete und Sterbende Dienst zu leisten, die sie ihm erläutert hatte. Bousquet hatte ihr darauf von einem ähnlichen Einsatz von Frauen während der schlimmsten Schlachten im Ersten Weltkrieg berichtet und so den tiefen menschlichen Wert dieser Nächstenliebe bestätigt. Es war die erste Anerkennung, die sie für ihren eigenwilligen Plan erhielt, der sonst unbeantwortet blieb oder als verrückt bezeichnet wurde. Aus der pazifistischen Grundhaltung, die sie über Jahre vertreten hatte, war eine aufwühlende aktive Anteilnahme an den verheerenden Leiden mitten im militärischen Einsatzgebiet gewachsen. “Zum Sterben entschlossen sein, die Leere annehmen, dasselbe; nur dies erlaubt, dass die Lüge in bestimmten Situationen nicht zu einer Lebensnotwendigkeit wird.”57
Ab Dezember 1940 publizierte Simone Weil in den Cahiers du Sud unter dem Anagramm Emile Novis mehrere bedeutende Arbeiten, zuerst L’lliade ou le Poème de la Force58, Das grosse Erbgut der griechischen Antike war für sie von zeitüberdauerndem Wert, um die zerstörerische Macht des Kriegs zu verdeutlichen. Ebenso galtAntigone für sie als Vorbild der Furchtlosigkeit und des Mutes. Die an der Kriegsfront sterbenden oder getöteten Soldaten erachtete sie als Brüder, die entgegen jeglicher Verbote der Fürsorge bedurften wie Antigones getötete Brüder. So wie sie von Homer und von Sophokles für den politischen Widerstand zehrte, fand sie in der platonischen Ideenlehre ein religiöses Angebot, mit welchem sie die Verbindung zwischen den Lehren Sokrates’ und Jesu’, der Bhagavat Gita und jener des Tao erklärte59. Die vielschichtige Gründlichkeit ihrer denkerischen Arbeit, zugleich die Bescheidenheit ihres Auftretens wie die plötzliche Heftigkeit ihres Eingreifens in die Diskussion verblüfften oder verwirrten die übrigen Widerständigen, die sich in den Cahiers du Sud zusammengefunden hatten. Jean Lambert hatte von ihr festgehalten, sie sei wie ein “verwundetes Vögelchen” in diesem Kreis erschienen, “in weiter, schwarzer Pelerine, die sie nie ablegte und die ihr um die Waden schlug; bewegungslos, stumm sass sie am äussersten Ende eines alten Sofas, allein. Liess uns sprechen … Eine Präsenz, sie war da. Ungewöhnlich, vielleicht unverständlich. Fremd unter uns, schaute mit einer Intensität und einem fordernden Wissenshunger, wie ich nie wieder erlebt habe.”60 Es gibt einige Fotos von ihr aus dieser Zeit, die Gilbert Kahn gemacht hat und die sie so wiedergeben.
In den zweiten Kreis wurde Simone Weil durch einen Studienkollegen ihres Bruders, den Mathematiker Pierre Honnorat, und dessen Schwester Hélène nicht nur eingeführt, sondern freundschaftlich begleitet. Auf der Spurensuche nach dem abwesenden Göttlichen, zugleich nach der grossen Ordnung der Kräfte befand sie sich seit Jahren, in Marseille wurde diese durch die bedrängende Verfolgung verdichtet. Im Vordergrund waren es physikalische Fragen, insbesondere das Studium von Max Plancks Quantentheorie, die sie unter philosophischen Aspekten auch für die Cahiers du Sud formulierte. Gleichzeitig wurde ihr mit Helene Honnorat, die gläubige Katholikin war, ein neuer Raum angeboten. Einerseits fand sie dank ihr Zugang zu Gaston Berger an der Universität von Aix, der als bedeutender Husserl-Kenner ihrem philosophischen Denken Ansporn gab, andererseits zu Père Joseph-Marie Perrin, einem erblindeten Dominikaner, mit welchem sie in langen Gesprächen um Klarheit des Widerspruchs zwischen ihrer nicht verneinbaren Zugehörigkeit zum jüdischen Volk und ihrer Ablehnung des Judentums als Religion, zwischen ihrer Nähe zu den Evangelien und der Ablehnung der katholischen Kirche rang. Die katholische Kirche schien ihr in Fortsetzung der römischen Herrschaft als System der Macht unannehmbar. Jede Lehre, die einen Alleinerklärungsanspruch und einen Ausschluss bei Nichtübereinstimmung vertrat, erachtete sie als totalitär. Sie war der Überzeugung, dass Religion und freies, kritisches Denken sich nicht ausschliessen dürfen. Die Taufe kam daher nicht Frage. Trotzdem sehnte sie sich nach dem Mysterium des Göttlichen.
Die religiöse Sehnsucht und die philosophische Suche nach Erkenntnis hatten in Simone Weil dieselbe Quelle. Sie stellte sich vor, durch Landarbeit grössere Klarheit zu erlangen, durch hartes, einfachstes Leben als „fille de ferme”, wie sie am 6. August 1941 Gilbert Kahn schrieb: “Noch bin ich in Marseille, werde aber morgen nach Saint-Marcel d’ Ardèche fahren.( … ) Ich werde mich freuen, Sie zu sehen, vorausgesetzt dass Sie nicht vergessen, dass ich fortan mehr oder weniger eine Magd sein werde ( … ), ab Oktober ganz und gar, dann in Maillane.”61 Sie schrieb ihm auch, dass sie erwarte, ihre Intelligenz werde durch die Müdigkeit betäubt, trotzdem betrachte sie die körperliche Arbeit wie eine Reinigung eine Reinigung durch Leiden und Erniedrigung. Als grösste Versuchung galt für sie die Trägheit, die Flucht vor dem wirklichen Leben, vor dessen Grenzerfahrungen, vor der wesentlichen Grenze: der Zeit. Analog zu ihrem Entscheid, sich als Fabrikarbeiterin dem herrschenden Leistungsdruck auszusetzen, wollte sie sich durch schwerste Landarbeit der Versuchung zur Trägheit entgegen stellen, mit äusserstem Willen.
Gastgeber waren in Saint-Marcel Gustave Thibon und dessen Frau, ein Weinbauer und Laientheologe, der ihr von Père Perrin empfohlen worden war und dem sie vor der Ausreise in die USA ihre Tagebücher anvertraute. Er hielt fest, sie habe bei der ersten Begegnung fremd auf ihn gewirkt, wie verwahrlost, gebeugt und älter, als sie wirklich war, jedoch mit wunderbaren Augen. In Kleidung und Gepäck habe sie sich mit königlicher Allüre über alles Übliche hinweggesetzt, das ermöglicht hätte, dass sie nicht aufgefallen wäre. Sie habe bedingungslosen Respekt geweckt. Simone Weil verweigerte jeglichen Komfort, war schliesslich mit einer Hütte in Nähe der Rhone einverstanden, wo sie auf der Erde schlief. Sie arbeitete mit eiserner Disziplin, ungeschickt und linkisch, ernährte sich aufs knappste, gab Thibon zusätzlich Griechischunterricht und erläuterte in langen Gesprächen mit monotoner, leiser Stimme erkenntnistheoretische Überlegungen. Ihren Eltern schrieb sie, sie erhole sich bestens in einer wunderschönen Landschaft. Schwere Arbeit werde sie ab Mitte September bei der Traubenernte leisten. Simone Petrernent, die sie vorher besuchte, fand bei ihr den ihr eigenen Humor wieder und die gewohnte Gründlichkeit im Durchdringen philosophischer und naturwissenschaftlicher Fragen, gleichzeitig eine neue Milde und Weichheit sowie grosse Müdigkeit und Besorgtheit. Sie habe im Gespräch ausführlich ihren Pessimismus bezüglich der Zivilisation erläutert, sei ebenso ausführlich auf die dringliche Umsetzung ihres Projekts eingegangen, Frauen im Krieg an vorderster Front als Krankenschwestern für Verwundete einzusetzen, zuerst sie selber. Irgendwann habe sie auch leichthin erwähnt, in Marseille von der Polizei abgeführt und ausgefragt worden zu sein.
Es ist anzunehmen, dass das Misstrauen der Vichy-Polizei gegenüber Simone Weil mit dem dritten Kreis zusammenhing, in welchem sie aktiv war und der so geheim war, dass davon weder ihre Eltern noch Simone Petrernent noch ihr Bruder wussten. Es gab lediglich zwei Personen, die von ihrer politischen Tätigkeit Kenntnis hatten und die ebenfalls unter strengster Schweigepflicht standen. Dies waren Père Perrin und Malou Blum-David, eine junge Historikerin, verheiratet mit Jean-Pierre Blum, Leon Blums Neffen, der selber hatte untertauchen müssen. Erst 1998 hat Malou Blum, damals 79 Jahre alt, mit ihrem Buch Le Choix de la Résistance62 die Hintergründe der klandestinen Bewegung aufgedeckt. Simone Weit die zehn Jahre älter war wie Malou Blum, kommt überall im Buch vor. Ein ausführliches Kapitel gilt ausschliesslich ihr, voller Verehrung für ihre politische Unerschrockenheit und ihre Herzenswärme.
Père Perrin und Malou Blum gehörten zu einer Widerstandgruppe, die Mitte 1941 in Marseille begann und sich in Lyon und Saint-Etienne, später auch in Paris mehrheitlich unter linkskatholischen Intellektuellen vernetzte, lange bevor die bewaffnete Resistance nach der totalen Unterwerfung Frankreichs durch die deutsche Armee 1943 im Maquis einsetzte. Malou Blum, damals 22 Jahre alt, war das organisatorische Zentrum. In ihrem Rückblick hielt sie fest, gegen die Vichy-Regierung Widerstand zu leisten habe sich für sie nach der Lektüre von Hitlers Mein Kampf aufgedrängt, auf Grund der absoluten Unvereinbarkeit zwischen der menschenverachtenden nationalsozialistischen Ideologie und der Lehre Jesu, wie sich diese in den Evangelien finde. Eine Ideologie, die zur gewalttätigen Diktatur werde, müsse umfassend bekämpft werden.
Ab November 1941 bis Juli 1944 erschienen unregelmässig in einer Auflage zwischen 5000 und 60’000 die Cahiers du Témoignage chretien, ein geheimes Informationsheft, das über die menschenrechtswidrigen Strukturen des Nationalsozialismus, über die Zusammenhänge und Auswirkungen des Antisemitismus, über Deportationen und Konzentrationslager, über die unvorstellbaren Quälereien und das systematische Töten, daher über die moralische Notwendigkeit des Widerstandes und dessen Legitimität aufklärte. Diese Notwendigkeit wurde von namhaften Denkern unterstützt, von Theologen wie Gaston Fessard, Pierre Chaillet und Henri de Lubac, von Journalisten wie Andre Mandouze, die im Untergrund lebten, oder von Schriftstellern wie Georges Bernanos, die Europa rechtzeitig verlassen hatten und aus dem Ausland mitarbeiteten. Die Erkenntnis wurde nicht nur thematisiert, sondern praktisch umgesetzt. Für jüdische Flüchtlinge, für Kinder und Erwachsene, für politisch Verfolgte wie für „normale” Franzosen, die sich gegen Zwangsarbeit in Deutschland wehrten, wurden ungezählte falsche Pässe und Schutzorte geschaffen, die ein überleben ermöglichten. Doch jede Art geheimer Tätigkeit war von grösstem Risiko, auch die Cahiers du Témoignage chretien zu drucken und zu verteilen, die Informationen zu verbreiten und zu einem breiteren Widerstand aufzurufen. Verhaftungen durch die VichyPolizei und Abtransporte durch die deutschen Besatzer gehörten zum Alltag. Simone Weil übernahm die Verteilung in nächtlicher Arbeit und mit grösster Verlässlichkeit von Dezember 1941 bis Mai 1942. Sie war für Malou Blum ein Vorbild an Mut und an Gelassenheit.
Diese dreifache menschliche, politische und geistige Vernetzung in Marseille machte für Simone Weil die Zustimmung zur Überschiffung in die USA so schwer. Ihre Eltern weigerten sich, ohne sie wegzufahren, es blieb für sie keine Wahl. Sie hatte Bücher und Manuskripte zu verteilen begonnen und am Schluss Hélène Honnorat, bei der sie die letzte Nacht verbrachte, damit beauftragt. Am 14. Mai fuhren die Weils auf der Maréchal Lyautey Richtung Casablanca ab. Bewegende Briefe der Freundschaft und der Trauer, des Durchhaltewillens, auch des Zorns und Grauens über die Entwicklung in Europa begleiteten die Reise, von Casablanca auf einem portugiesischen Dampfer über die BermudaInseln nach New York, wo sie und ihre Eltern am 6. Juli eintrafen. Von dort wollte sie so schnell wie möglich nach London gelangen, allen Schwierigkeiten zum Trotz, um ihren Plan eines Einsatzes als Krankenschwester an der Front realisieren zu können. Sie besuchte in Harlem einen Kurs für Erste Hilfe, nahm ungezählte Gesprächs und Briefkontakte auf, u.a. mit einem der nächsten Verbündeten von Charles de Gaulle, Maurice Schumann, der, zwei Jahre jünger wie sie, ebenfalls das Lvcee Henri IV in Philosophie bei Alain abgeschlossen hatte und der als „Stimme des Freien Frankreichs” über die BBC Frankreich täglich zum Widerstand aufrief. Sie schrieb ihm von der Flucht ihrer Eltern vor der antisemitischen Verfolgung, gleichzeitig vom quälenden Zwiespalt, den sie durch die Flucht erlebte, einer “Fahnenflucht”63 nach ihrem Empfinden, die sie moralisch nicht ertragen könne, habe sie doch in Frankreich aktiv an der Widerstandsarbeit der Cahiers du Temoignage chrétien teilgenommen. Sie fühle sich verpflichtet, wieder eine feste Aufgabe für den Widerstand zu übernehmen. Ausführlich schilderte sie ihm ihren Plan, Krankenschwestern für den Einsatz an der Kriegsfront auszubilden. In einem späteren Brief (ohne Datum)64 hielt sie die Verzweiflung fest, die das weltweite Unglück in ihr wecke und ihre Fähigkeiten ersticke. Sie könne diese nur zurückgewinnen, wenn sie sich selber der Gefährdung und dem Leiden aussetze.
Auf einem schwedischen Frachtboot traf Simone Weil am 25. November 1942 in Liverpool ein, wo sie erfuhr, dass seit dem 18. November Marseille von der Wehrmacht und vom berüchtigten Polizeibataillon 316 besetzt war.
Simone Weil lebte mit der gleichen Intensität noch neun Monate. Weder sie selber noch Maurice Schumann konnten bei Charles de Gaulle erreichen, dass ihr Projekt ernst genommen wurde. Er meinte, sie sehe zu jüdisch aus und sei zu linkisch, es sei ihr weder zumutbar, mit dem Fallschirm abzuspringen noch an der Front Verwundete und Sterbende zu pflegen, sie gehöre an den Schreibtisch. Sie solle als Philosophin ein Konzept für Frankreichs Wiederaufbau nach dem Krieg entwerfen.
“Die einzige Möglichkeit, sich das Leiden zu ersparen, ist, das Bewusstsein auszuschalten. Dieser Versuchung erliegen viele auf irgend eine Weise, auch mit mir selber geschah es häufig. Es ist möglich, die dem Menschen gemässe Klarsicht, Bewusstheit, Würde zu bewahren. Aber das heisst, sich dazu zu verurteilen, täglich die Verzweiflung überwinden zu müssen”65 Was Simone Weil aus der Erfahrung der Fabrikarbeit geschrieben hatte, drängte sich ihr auf andere Weise auf: Sie musste sich den Umständen beugen und gleichzeitig sich selber treu bleiben. Sie schrieb mit der Sorgfalt und Wucht ihres Denkens ihr letztes Werk gegen die menschliche Entwurzelung, L‘enracinement66, ihr grosses gesellschaftspolitisches Testament, später von Albert Camus veröffentlicht. Doch es genügte ihr nicht. Ihre Verzweiflung rührte daher, sich Eltern und Bruder gefügt und Frankreich verlassen zu haben, nicht untergetaucht zu sein, nicht aktiv gegen die Entrechtung und Entmenschlichung einen Beitrag an der Front leisten zu können. Den Hader mit diesem Entscheid verhehlte sie in ihren Briefen an die Familie nicht, wohl aber ihren körperlichen Zustand. Sie mochte nicht weiter leben, wurde zunehmend kraftloser, ernährte sich aufs spärlichste, eine Tuberkulose wurde diagnostiziert, beide Lungen waren betroffen. Vom MiddlesexHospital in London wurde sie ins Sanatorium von Ashford in Kent gebracht. Sie nahm die Sanskritversion der Gita mit sich, doch die Lebenskräfte wurden zunehmend schwächer.
Am 24. August 1943 starb Simone Weil, 34 Jahre alt, in diesem südostenglischen Städtchen, wo sie auch beigesetzt wurde. Weder ein Rabbiner noch ein Priester übernahm die Totenfeier. Es war Maurice Schumann, der an ihrem Grab ein Gebet sprach, von sieben oder acht weiteren Freunden und Freundinnen umringt, die erschüttert von ihr Abschied nahmen.
Eine andere Stimme mag jene der verstummten Simone Weil wiedergeben:
„Was tut ihr mir / die mit euch einen Augenwink da ist im Weltall / Zieht meine Zeit / aus der Lebenden Gesicht unterjochend die Nacht / und wie Eisen gebogen in flammendes Dasein
( … ) Aber es ist ja Tod für uns alle bestimmt / Wartet den Atemzug aus er singt auch für euch”67
Das Lied mag auch für Etty Hillesum gelten, die gleichzeitig wie Simone Weil, mit ähnlichem Hintergrund, aber unter anderen Bedingungen in ihrer letzten Lebensphase den Mut hatte, unter dem Druck kollektiver Resignation und Angst nicht klein beizugeben.
Etty Hillesum
,,Also dann los! Dies ist ein peinlicher und kaum zu überwindender Augenblick für mich: mein gehemmtes Inneres auf einem unschuldigen Blatt linierten Papiers preiszugeben. Die Gedanken sind manchmal so klar und hell in meinem Kopf und meine Gefühle so tief, aber sie aufzuschreiben will mir noch nicht gelingen. Hauptsächlich liegt es, glaube ich, am Schamgefühl. Grosse Hemmungen, getraue mich nicht, die Gedanken preiszugeben, frei aus mir herausströmen zu lassen, und doch muss es sein, wenn ich auf die Dauer das Leben rechtschaffen und befriedigend zu Ende bringen will.(Samstag, 9. März 1941) – Ich habe eigentlich keine Angst. Nicht weil ich besonders tapfer wäre, sondern in dem Gefühl, dass ich es immer mit Menschen zu tun habe und dass ich versuchen will, jede Äusserung zu verstehen, von wem sie auch sei, sofern mir das möglich ist. ( … } Das Leben wird sehr schwer werden. Wir werden getrennt werden, wir alle, die wir einander teuer sind. Ich glaube, dass die Zeit nicht mehr fern ist. Man sollte sich innerlich bereits darauf vorbereiten. (Freitagmargen, 27. Februar 1942 ( … ) Donnerstagabend, 12. März 1942) – Siehst du, ich leide immer noch an demselben Übel: ich kann mich nicht dazu entschliessen, mit dem Schreiben aufzuhören. Ich möchte noch im letzten Augenblick die einmalige erlösende Formel finden. Für alles, was in mir ist, für das übervolle und reiche Lebensgefühl ein einziges Wort finden, mit dem ich alles auszusagen vermag( … }, mein Gott, dass es gut und schön ist, in deiner Welt zu leben, trotz allem, was wir Menschen einander antun: Das denkende Herz der Baracke (Dienstagmittag, drei Uhr, 5. September 1942). – Ich bin sehr müde, schon seit einigen Tagen, aber auch das wird wieder vorbeigehen, alles verläuft nach einem eigenen, tieferen Rhythmus ( .. ). Auf diesen Rhythmus zu horchen ist das Wichtigste, was ein Mensch in diesem Leben zu lernen hat.” (Westerbork, 18. August 1943)68
Ein schmales Buch von 222 Seiten liegt vor, aus neun aneinandergereihten Heften, in denen Etty Hillesum während der letzten zweieinhalb Jahren ihres Lebens bevor sie von Amsterdam nach Westerbork kam und von Westerbork nach Auschwitz deportiert wurde in fast stenographischer Schrift unter spürbarer Dringlichkeit alles festhielt, was ihr wichtig erschien. Seite für Seite ist es ein Dialog der jungen Frau mit ihrem eigenen verborgenen Ich, dessen aufmerksamer, erkenntnishungriger Teil durch die körperlichen Impulse und Bedürfnisse ebenso verunsichert und aktiviert wurde wie durch die vielfachen unterschiedlichen Empfindungen, die einerseits durch das nicht wählbare Beziehungsgeflecht von Herkunft, Zugehörigkeit und Zeitgeschichte, andererseits durch das wählbare und gestaltbare von Freundschaft, Liebe und Glauben geweckt, geformt und ernährt wurden.
Die kritische Sorgfalt, die Intensität und Dichte der Selbstbefragung stiessen dabei immer wieder an Grenzen, die Etty selber wahrnahm und zu ergründen suchte. Einerseits erlebte sie das Ungenügen der Sprache. Sie ging auf die Auseinandersetzung mit dem Sagbaren und dem Unsagbaren ein sowie mit der symbolischen Kraft der Worte, die wie die symbolische Kraft von Sachen sich mit dem Ungenügen der sprachlichen Übersetzungsmöglichkeit aufwühlender Gefühle verbindet, insbesondere jener von lähmender Angst und von Sehnsucht nach Angstfreiheit, auch von Sehnsucht nach hassfreier, zeitunabhängiger Sinnhaftigkeit des vom Naziregime als unwert erklärten, mit Deportation und Tod bedrohten Lebens. Die Suche nach innerem Halt in einem transzendenten, nicht religions oder theoriedefinierten Gott war dabei von grosser Bedeutung. Andererseits war es unausweichlich, dass sie die zunehmende Erschöpfung und die durch mangelnde Bewegungsfreiheit, Ernährung und Krankheit bedingte Kraftlosigkeit, die das Schreiben behinderte, zu verarbeiten versuchte. Doch bis zu den letzten Zeilen, die in Briefen aus Westerbork an ihr nahestehende Menschen gelangten, ist der Lebensmut und die ungewöhnliche Kraft des Bewusstseins spürbar, die ihr in der Ausweglosigkeit, die sie mit unzähligen Menschen teilte, das hilflose Weggleiten in die destruktiven Kräfte des Unbewussten, in Verzweiflung oder Hass, wie ein persönlicher Schutzgeist ersparten.
Die Jahre von Etty Hillesum’s Kindheit und Jugend, von Studium und allmählichem Erwachsenwerden, die der Zeit des immer enger, kälter und dunkler werdenden Ghettolebens vorangingen, in welchem die Niederschriften erst begannen, sie werden ab und zu von ihr angehaucht, jedoch kaum in der ganzen, erlebten Entwicklung geschildert. Der Kenntnis, die J.G. Gaarlandt, der Herausgeber des Buches, davon hatte, ist zu verdanken, dass auch über diese Zeit eine knappe Darstellung möglich ist.
Esther Etty wie sie genannt wurde kam am 15. Januar 1914 im holländischen Middelburg zur Welt, später war das Elternhaus in Deventer an der Jissel. Ihre Mutter, Rebecca Bernstein, musste ihre in Russland lebenden Familienkreise infolge einer der zahlreichen Pogrome verlassen, gelangte auf der Flucht nach Holland und lernte dort Louis Hillesum kennen, einen Altphilologen, der ein Gymnasium leitete und der durch seine Gelehrtheit und innere Ruhe, doch auch durch seine Weltverlorenheit und seinen Humor verblüffte.
Die frühe Kindheit von Etty wie jene der zwei jüngeren Brüder Michael (Mischa) und Jaap war somit durch die Zeitgeschichte des Ersten Weltkrieg wie durch die weit sich von einander differenzierenden Herkunftsgeschichten und Anlagen ihrer Eltern geprägt, die zu häufigen familiären Turbulenzen führten. Religiöse Gebote und Verbote, Wochen oder Jahresrituale waren ohne Bedeutung. Vielfache, ungewöhnliche Begabungen kennzeichneten alle drei Geschwister. Jaap, der als unauffällig kluger, verlässlicher Mensch galt, wurde Arzt; von Mischa ist bekannt, dass er so unangepasst und eigenwillig war, dass er in der Pubertät für einige Zeit in eine psychiatrische Klinik versetzt wurde, dass jedoch seine Musikalität, insbesondere sein ausserordentliches Klavierspiel ihn in der damaligen Beurteilung zu einem der bedeutendsten Pianisten Europas prädestinierte.
Etty selber hatte nach dem Gymnasium zuerst in Amsterdam das Jura-Studium mit Auszeichnung abgeschlossen, gleichzeitig hatte sie begonnen, slawische Sprachen und Deutsch zu studieren und als Russisch-Übersetzerin und Lehrerin Geld zu verdienen. Das weitere Studium in Psychologie wurde durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, durch die deutsche Besetzung Hollands und die zunehmende Diskriminierung, Ghettoisierung, Aushungerung und schliesslich Deportation der jüdischen Bevölkerung verunmöglicht. Sie hatte ein Zimmer in der Gabriel Metus-Straat 6 in Amsterdam bewohnen können, gemeinsam mit vier anderen jungen Menschen. Der Besitzer, Han Wegerif, war während einiger Zeit sowohl ein Freund wie ein Geliebter von ihr. Am 15. Juli 1942 wurde ihr eine Stelle in der „Kulturellen Abteilung” des Jüdischen Rates in Amsterdam zugesprochen, um welche sie sich auf Anraten ihres Bruders Jaap beworben hatte, doch länger als zwei Wochen hielt sie diese Art Sonderstellung nicht aus, sie empfand sie als unerträglich. Anfang August 1942 wurde sie ins Ausschaffungslager von Westerbork überwiesen, ohne dass sie sich dagegen sträubte. Es ihr anfänglich noch ein Besuchsrecht in Amsterdam zugesprochen, so dass sie ab und zu einige Tage ausserhalb des Lagers verbrachte, oft krank oder in schwerem Erschöpfungszustand. Am 7. September 1943 wurde sie wie auch ihre Eltern und ihre zwei Brüder „auf Transport geschickt”. Mischa hätte als anerkannter „Kultur-Jude” sich davor retten können. Doch für ihn stand fest, dass er diese Möglichkeit nur nutzen würde, wenn gleichzeitig seinen Eltern und seinen Geschwistern die Deportation erspart bliebe. Dem Bericht eines Freundes und „ Waffenbruders”69 von Westerbork zufolge Jopie Vleeschouver erfolgte der „Abstransport” unerwartet plötzlich70, obwohl alle wussten, dass er bevorstand. Niemand von der Familie überlebte Auschwitz. Etty Hillesum wurde laut einem Bericht des Roten Kreuzes am 30. November 1943 umgebracht.
Was die junge Frau in den knapp zweieinhalb Jahren zwischen den ersten Eintragungen vom 9. März 1941 und den letzten vom 21. August 1943 dank ihrer Offenheit und ihrem Mut an Denkleistung und an Lebenssinn zustande brachte, das soll in den kommenden Abschnitten untersucht werden.
Die nichtwählbaren Gegebenheiten menschlichen Lebens die Herkunftsgeschichte, das Geschlecht, die gesellschaftlichen und politischen Zeitgeschehnisse und vieles mehr sind verbunden mit individuell wählbaren Möglichkeiten, damit umzugehen. Was wie eine banale Tatsache klingt, gehört zu den hoch komplexen Umsetzungsprozessen jenes Grundbedürfnisses, das innere Freiheit heisst.
Dieses Grundbedürfnis stösst an vielfache Hindernisse und Bedingungen, die mit der vollständigen existentiellen Abhängigkeit des kleinen Kindes von seinen Eltern sowie von anderen Erwachsenen, die eine hierarchische Position und Funktion innehaben, ihren Anfang nimmt. Die damit verbundene Erfahrung innerfamiliärer oder fremder Macht und eigener Ohnmacht kann von lang anhaltender Prägung sehr unterschiedlicher Art sein: von angstbesetzter Anpassung und Unterwerfung oder von kämpferischem Widerstand, von Selbstschutz durch Rückzug in eine innere, andere Realität, eventuell in eine Phantasiewelt, oder von Mut zum Ausbrechen aus dem engen Netz mit wacher Aufmerksamkeit, mit Erkundungs und Erkenntnishunger, mit kritischem lnfragestellen öffentlicher Werte und Machtkategorien, mit allmählichen Entdecken und Umsetzen eigener Macht im Empfinden und Denken, im Beurteilen und Tun, trotz der fortbestehenden, zeitbedingten Lebensbedingungen. Erstaunlich ist, dass dieser innere Prozess der Veränderung von angstbesetzter und schambesetzter Ohnmacht zum selbststärkenden und selbsttragenden Wissen der Eigenverantwortung nicht alters oder zeitgebunden ist, sondern dann einsetzt, wenn das Ich des Menschen sich dazu öffnet.
Etty war sich dieser Entscheidungsfähigkeit bewusst: “Zur Erniedrigung sind zwei Leute notwendig. Einer, der erniedrigt, und einer, den man erniedrigen will, oder vor allem, der sich erniedrigen lässt. Entfällt das letztere, ist also die passive Seite gegen jede Erniedrigung immun, dann verpuffen die Erniedrigungen in der Luft. Was übrig bleibt, sind nur lästige Verordnungen, die das tägliche Leben beeinflussen, aber keine Erniedrigung oder Unterdrückung darstellen, die die Seele bedrängen.” 71
Das Wagnis, sich aus engen, ängstigenden und erniedrigenden Umklammerungen zu befreien, geht einher mit dem Gewahrwerden und Umsetzen eigener Wahlmöglichkeiten, für das Leben einzustehen. Etty war sich der Gefahr bewusst, unter den Zeitbedingungen menschlicher Entwürdigung den eigenen IchWert als ungebührlich zu erachten und in den Sog kollektiver Wehrlosigkeit zu geraten, ob sich diese in Depressivität, in Aggressivität oder in kaltblütiger Berechnung eigener Vorteile und Aussonderungsmöglichkeiten äussere. “Das grosse Leid überall treibt einen dazu, sich zu schämen, dass man sich selbst mit all seinen Stimmungen so ernst nimmt. Aber man muss sich selbst weiterhin ernst nehmen, man muss selbst im Mittelpunkt bleiben und versuchen, mit allem, was in der Welt geschieht, fertig zu werden. Man darf die Augen vor nichts verschliessen, man muss sich mit dieser Zeit auseinandersetzen und versuchen, eine Antwort zu finden auf die vielen Fragen von Leben und Tod, die diese Zeit einem stellt. ( … ) Ich lebe nur einmal.”72
Sie spürte einen Zwiespalt in ihr als Intellektueller und als Frau, als freier Denkerin und als Gottsucherin, zugleich als Teil der zunehmend rechtlosen und als menschlicher Unwert erklärten jüdischen Bevölkerung. Es erschien ihr dringlich, ihr Verhältnis zu ihren Eltern zu klären, sowohl Mutter wie Vater wie auch die Besonderheit der Brüder besser zu verstehen und zu akzeptieren. Sie fühlte sich hin und hergerissen.
Einerseits bedeutete Deventer die Weite von Erde und Himmel, da “waren die Tage sonnige Ebenen, jeder Tag war ein grosses, ungebrochenes Ganzes, es bestand Kontakt zu Gott und zu allen Menschen, vermutlich weil ich kaum Menschen sah”73, andererseits war da “Im Haus das sonderbare Gemisch aus Barbarei und Hochkultur. Das geistige Kapital liegt zum Greifen nahe, aber es liegt ungenutzt und unbewacht da, unordentlich auf einen Haufen geworfen. Es ist deprimierend, tragig-komisch, weiss der Himmel, was für ein verrückter Haushalt das ist, hier kann ein Menschen nicht gedeihen”74, in diesem “Gemisch” gleichzeitig die Küche mit “der lieben Mamynka, die ihre ganze Liebe in Hühnerschenkel und hartgekochte Eier verwandelt”75.
Die Mischung von Mutterliebe und von “Opposition gegen die Mutter”, von Essen und Essproblemen beschäftigte Etty Hillesum zunehmend. “Mir wird plötzlich klar, dass dieses Essproblem aufschlussreich sein könnte. Es ist letzten Endes nur ein Symbol. Auch in meinem geistigen Leben gibt es vermutlich eine solche Gier. Ich will unmässig viel verschlingen, was dann hin und wieder zu schweren Verdauungsstörungen führt. Irgendwo muss ein Grund dafür vorhanden sein. ( … ) Mutter redet immer vom Essen, für sie gibt es nichts anderes.”76 Die Erinnerung an einen Anlass, bei welchem sie die Mutter beim Essen beobachtete, wie sie “mit Gier und Hingabe” ass, liess sie nicht mehr los, “als hätte sie Angst, im Leben zu kurz zu kommen. Es war etwas erschreckend Klägliches und Abstossendes an ihr. ( … ) Diese Angst, im Leben zu kurz zu kommen, und wegen dieser Angst kommt man dann erst recht überall zu kurz. Kommt man an das Wesentliche nicht heran.”77
Einerseits wurde es für Etty Hillesum dringllch, ihre Mutter sowie ihr Verhältnis zur Mutter besser zu verstehen, andererseits ihr eigenes Ich aus der Opposition gegen die Mutter zu lösen. .Jch habe meine Opposition gegen die Mutter noch immer nicht aufgegeben, und deshalb tue ich die Dinge, die ich an ihr verabscheue, in genau derselben Weise wie sie. ( … ) Dass ich mir mit Wissen und Willen, oder besser gesagt, gegen mein besseres Wissen immer wieder den Magen verderbe, dahinter steckt etwas. Damit zusammen hängt auch meine grosse Sehnsucht nach Askese ( … ): Man kann Lebenshunger haben. Aber mit Lebensgier verfehlt man das Ziel.”78 Etwas später hält sie fest: “Ich will nichts Besonderes sein, ich will nur versuchen, zu der zu werden, die in mir nach völliger Entfaltung sucht”79.
Die Widersprüchlichkeit der Eltern hatte sie auf widersprüchliche Weise geprägt, und so widersprüchlich empfand sie ihr eigenes Empfinden und Verhalten ihnen gegenüber. Als Mischa ihr den Besuch des Vaters ankündigte, untersuchte sie dieses mit ebenso viel Selbstkritik wie jenes der Mutter gegenüber, denn “es ist etwas sehr Prinzipielles und Wichtiges und Schwieriges, deine Eltern innerlich zu lieben. Das heisst, ihnen alle Schwierigkeiten zu verzeihen, die sie dir einzig und allein durch ihre Existenz bereitet haben: die Bindungen. die Abscheu, die Beschwernis, die sie durch ihr eigenes kompliziertes Leben deinem gleichfalls recht schwierigen Leben hinzugefügt haben”80. ( … ) “Schliesslich liebe ich ihn (d.h. den Vater} sehr, aber das ist oder besser war eine komplizierte Liebe: überspannt, krampfhaft und mit so viel Mitleid vermischt, dass mir das Herz brach. Aber ein Mitleid, das masochistische Züge hatte. ( … ) Dann wurde mir ein Zusammenhang klar. Mein Vater hat im vorgerückten Alter all seine Unsicherheiten, Zweifel, vermutlich auch einen gehörigen körperlichen Minderwertigkeitskomplex, Eheschwierlgkeiten, mit denen er nicht fertig wurde usw. mit seiner philosophischen Einstellung übertüncht, die völlig echt ist, liebenswert, humorvoll und sehr scharfsinnig, aber bei allem Scharfsinn doch sehr vage. ( … } Unter der Oberfläche der resignierten Lebensphilosophie gähnt das Chaos. Und es ist dasselbe Chaos, das mich bedroht, aus dem ich heraus muss, dem zu entkommen ich als meine Lebensaufgabe betrachte und in das ich jedes Mal wieder zurückfalle. Und auch die kleinsten Äusserungen meines Vaters, Äusserungen des Verzichtes, des Humors und Zweifels appellieren an etwas in mir, das ich mit ihm gemein habe, aber aus dem ich mich weiter entwickeln muss.”81
Auf den „unnachahmlichen Humor” ihres Vaters ging Etty öfters ein, zum Beispiel als sie zitierte, wie er ihr schrieb, nun habe 11das fahrradlose Zeitalter” begonnen, er habe Mischas Rad persönlich abgeliefert. “Was für ein Vorrecht! Wir brauchen jetzt keine Angst mehr zu haben, dass unsere Fahrräder gestohlen werden. Seinerzeit in der Wüste haben wir vierzig Jahre lang auch ohne Fahrräder auskommen können.” 82
Es ging Etty um viel mehr als um das Aufzeigen und Dulden von Differenzen zwischen Vater und Mutter. Schon im Dezember 1941, als sie bei den Eltern zu Besuch weilte, begann sie, Entfernung und Unbehagen zu hinterfragen. “Viele Menschen sind in ihren Vorstellungen zu stark festgelegt, zu fixiert, und legen dadurch bei der Erziehung ihrer Kinder diese auch wieder fest. Deshalb zu wenig Bewegungsfreiheit. Bei uns war es gerade umgekehrt. Anscheinend wurden meine Eltern von der unendlichen Kompliziertheit des Lebens so sehr überwältigt, und zwar in zunehmendem Masse, dass sie nie eine Entscheidung treffen konnten. Ihren Kindern liessen sie grosse Bewegungsfreiheit; sie konnten ihnen aber auch keinen Halt geben, weil sie selber nie einen Halt gefunden hatten; sie konnten nichts zu unserer Formung beitragen, weil sie selbst nie eine Form finden konnten. Und immer wieder und stets deutlicher erkenne ich unsere Aufgabe: ihren armen, herumirrenden, nie zu Form und Ruhe gelangenden Talenten eine Gelegenheit zu bieten, in uns heranzuwachsen, zu reifen und ihre Form zu finden.”83
Für die junge Frau bedeutete das allmähliche Erkennen der „Ungeformtheit” ihrer Eltern ein anderes Verhältnis zu ihnen: Abwehr war nicht mehr nötig, geht doch das Verstehen einher mit einer wachsenden Akzeptanz all dessen, was an Mangel erlebt wurde und was zugleich eine Freiheit der persönlichen Lebensgestaltung zuliess. Diese zu realisieren, hiess für sie “Form finden”. Sie verstand darunter eine Art dialektischen Prozesses, bei welchem aus dem leidvollen Erleben und dem schwierigen Klären das heisst aus zwei belastenden resp. negativen Erfahrungen etwas Umfassendes und Einheitliches resultiert, das positiv ist. Ich nehme an, dass es dabei um jene sich ergänzende und nicht hemmende Übereinstimmung von Empfinden und Denken geht, durch welche Verhaltens und Handlungsentscheide angstfrei werden. ,,Die Einheit ist nur gut, wenn sie alle Gegensätze und irrationalen Momente in sich einschliesst; sonst wird daraus nur eine Verkrampfung und Fixierung, die dem Leben Gewalt antut.”84
Als Einschränkungen und Verbote sich in Holland fast täglich vermehrten ab Anfang Juni 1942 durften Juden die Gemüseläden nicht mehr betreten, mussten die Fahrräder abliefern, durften die Strassenbahn nicht mehr benutzen, durften auf keine öffentlich Bank sich setzen, durften durch keine Pärke, Gärten oder Wälder mehr spazieren, bald nur noch in wenigen Strassen sich bewegen, mussten abends nach acht Uhr zu Hause sein und vieles mehr, da wuchs in Etty Hillesum eine noch grössere Achtsamkeit auf Werte, die nicht von Aussen gemindert werden konnten. Die Beziehung zu ihrem eigenen Ich gehörte dazu. “Während ich ging, hatte ich plötzlich das Gefühl, als sei ich nicht allein, sondern ‘zu zweit’. Ich war allein, und doch war mir, als bestünde ich aus zwei Personen, die sich innig aneinander schmiegten und sich wohltuend wärmten. Sehr enger Kontakt mit mir selbst und dadurch grosse Wärme in mir. Und völliges Selbstgenügen. Dabei unterhielt ich mich angeregt mit mir selbst und spazierte vergnügt die Amstelallee entlang, ganz in mich versunken. Und mit einer gewissen Genugtuung stellte ich fest, dass ich allein mit mir selbst in guter Gesellschaft bin und gut mit mir auskomme. Auch am nächsten Tag blieb das Gefühl bestehen.”85
Zu den Werten, die nicht durch Gesetze oder fremde Machtwillkür bestimmt werden können, gehörte auch die Beziehung zu nahe stehenden Menschen. Am 27. Juni 1942, als Etty ihren Bruder Mischa nach seinem Klavierspiel in Amsterdam noch ein wenig begleitete, da sei sie vom Gefühl eines rasch nahenden Abschieds übermannt worden. „Vielleicht haben wir überhaupt keine Zukunft mehr”, habe sie zu ihm gesagt. Er habe geantwortet, dass dies zutreffe, ,,wenn man den Begriff Zukunft im materialistischen Sinn auffasse, Ja dann ….”86
Es war nicht mehr nur eine Ahnung, sondern ein Wissen, dass, wie Etty drei Tage später festhielt, “alle Juden aus Holland deportiert werden sollen, über Drenthe nach Polen. Der englische Sender berichtete, dass seit dem vergangenen Jahr 700’000 in Deutschland und in den besetzten Gebieten umgekommen sind.”87
Aus dem Heideland von Drenthe, aus Westerbork, gelangte am 10. Juli 1943 ein Brief von Etty an Maria, eine Freundin und Mitbewohnerin des schmalen Wohnhauses in Amsterdam: “Zehntausende sind von diesem Ort fortgegangen, bekleidet und unbekleidet, Alte und Junge, Kranke und Gesunde ( … ). Mutter und Mischa wollen noch etwas tun, sie wollen die ganze Welt auf den Kopf stellen, und ich bin vollkommen machtlos dagegen. ( … ) Barneveld ist für Vater und Mutter abgelehnt worden, gestern haben wir es erfahren. Und es wurde hinzugefügt, dass sie sich für den Transport am Dienstag bereit halten sollen. ( … ) Vater gibt sich nach aussen sehr gelassen. Aber hier in der grossen Baracke wäre er schon nach wenigen Tagen draufgegangen, wenn es mir nicht gelungen wäre, ihn ins Krankenhaus zu stecken, wo das Leben auch zunehmend unerträglicher für ihn wurde. ( … ) Als ich zu ihm kam, stand er kerzengerade, mit ruhigem Gesicht vor mir, der Rucksack stand gepackt neben seinem Bett, über die Abreise wurde nicht weiter gesprochen, er las mir verschiedene Texte vor, die er geschrieben hatte, wir philosophierten noch ein wenig.( … ) Gegen mein Schicksal fühle ich mich gewachsen, gegen das meiner Eltern nicht. Das ist der letzte Brief, den ich vorläufig schreiben darf. “88
Zukunft .Jm materialistischen Sinn”, die gemäss Mischa ihm und seiner Schwester und vielen weiteren Menschen nicht mehr zustehen sollte, schliesst den Körper ein, diese tragende und pulsierende .Jvlaterie” des Lebens, das geheimnisvolle Hauthaus, in welchem die geistige Kraft die Seele ihren Platz hat. Sollte Etty’s jungem Körper, dessen Bedürfnisse ungestüm nach Erfüllung drängten, die Zukunft nicht zustehen? Wie ging sie mit dieser doppelten Realität und deren auseinanderklaffenden Nichtübereinstimmung um?
Einen Monat, bevor Etty Hillesum mit ihren Aufzeichnungen begann, war sie Julius Spier89 begegnet, einem jüdischen Flüchtling aus Berlin, der doppelt so alt wie sie war und den sie zuerst als übergriffig und übermächtig empfand, der sie aber mit fast magischer Kraft anzog, den sie zunehmend verehrte und während einiger Zeit auch selber begehrte. “S” oder “Jul” wie sie ihn nannte, war zuerst Bankdirektor gewesen, entdeckte dann seine Fähigkeit, aus der Hand der Menschen deren Leben und Lebensprobleme zu entschlüsseln und begann, Gesangunterricht zu nehmen, bei C.G. Jung in Zürich eine Lehranalyse zu machen und als “Psychochirologe”90 zu wirken. Von seiner nichtjüdischen Frau liess er sich 1935 scheiden, und seine zwei Kinder Ruth und Wolfgang blieben bei ihr zurück, als er 1939 nach Amsterdam emigrierte.
Wo Julius Spier auftrat, bildete sich eine Anhängerschaft um ihn, insbesondere von Frauen. Etty wird ein wenig spöttisch und zugleich gelassen von seinem “Haarem” sprechen. Sie erachtete ihn als ihren “Lehrmeister”, bezeichnete sich selber als seine “russische Sekretärin”. Was sie für ihn empfand, war jene innere Kraft und Bindung/Verbindung mit dem Namen “Liebe” die sie als widersprüchlich empfand, als belastend, aufwühlend und sie beherrschend, wogegen sie sich immer wieder wehrte, doch auch als beflügelnd und tragend, als wahr letztlich als grossen Widerspruch in ihr, den sie zu verstehen und zu lösen versuchte wie jenen der Elternliebe, gerade weil es ein ganz anderer Widerspruch war. Er betraf ihren weiblichen Körper, die drängende Unruhe des körperlichen Begehrens, die sie spürte, und gleichzeitig den Widerstand gegen den viel älteren Mann, der das Begehren weckte und dessen Nähe bis zum Verschmelzen sie eigentlich nur im Geistigen, ja im Transzendenten wünschte. Es war dieser Teil der Bindung, der nach kurzer Zeit der tragende wurde.
Ein Empfinden der Gottnähe wuchs in ihr an, der gemeinsamen wie der persönlichen, das ausserhalb jüdischer oder christlicher Religionsbedingungen allein den Namen “Gott” trug und für sie zur tragenden Kraft wurde, auch über den Tod von Julius Spier hinaus, der – “nur noch ein kindischer, ausgezehrter Greis”91 – am 15. September 1942 in Amsterdam, in seinem eigenen Bett “ein natürliches Ende” finden durfte. Eine kleine Auswahl aus den Eintragungen macht deutlich, was für Etty diese letzte Erfahrung zuerst heftiger und aufwühlender, dann sich vertiefender, menschlicher und geistiger Liebe bedeutete. “Ich habe manchmal ein Gefühl, als sässe ich in einem höllischen Fegefeuer und würde zu etwas geschmiedet. Zu was? Das ist wiederum etwas Passives, ich muss es mit mir geschehen lassen. Aber dann auch immer wieder das Gefühl, als müssten alle Probleme dieser Zeit im Besonderen und der Menschheit im Allgemeinen ausgerechnet in meinem kleinen Kopf ausgetragen werden. Das ist etwas Aktives. ( … ) Es ist möglich, dass ich mich zu ‘wichtig nehme’, aber ich möchte auch, dass andere mich ‘wichtig nehmen’. S. zum Beispiel. Ich möchte dass er weiss, wie sehr ich leide, aber gleichzeitig verheimliche ich es vor ihm. Sollte das etwas mit der Opposition zu tun haben, die ich so gegen ihn verspüre?”92 – “Ich bin noch nie einem Menschen begegnet, der über so viel Liebe, Kraft und unerschüttertes Selbstvertrauen verfügte wie S. An jenem gewissen Freitagabend sagte er ungefähr: ‘Wenn ich meine ganze Liebe und Kraft auf einen Menschen losliesse, würde ich ihn zugrunde richten.’ Und manchmal habe ich das Gefühl, dass ich unter ihm verschüttet werde. Ich weiss nicht. Manchmal meine ich, ich müsste bis ans andere Ende der Welt laufen, um ihn loszuwerden, und weiss doch gleichzeitig, dass ich hier an diesem Ort bei ihm und mit ihm klarkommen muss.”93 ,,Ja, wir Frauen, wir törichten, idiotischen, unlogischen Frauen, wir suchen das Paradies und das Absolute. Und doch weiss mein Verstand, mein vortrefflich funktionierender Verstand, dass es nichts Absolutes gibt( … ) Wir Frauen wollen uns im Mann verewigen. Das heisst, ich will, dass er mir sagt: Liebste, du bist die Einzige und ich werde dich ewig lieben. Das ist eine Fiktion. Aber solange er es nicht sagt, hat alles andere keinen Sinn ( … ). Und das ist das Verrückte: ich will ihn ja gar nicht, ich will ihn keineswegs als den Einzigen für immer und ewig, fordere es aber von ihm. ( … ) Ich würde mir ja keinen Rat wissen, wenn jemand ständig Feuer und Flamme für mich wäre. Es würde mich belasten und langweilen und mir das Gefühl der Unfreiheit geben. 0 Etty, Etty.”94 Einige Tage später: ,,Ich bin kein Weibchentier mehr, und das gibt mir manchmal ein Gefühl der Minderwertigkeit. Das Urkörperliche wird bei mir auf vielfache Weise durch einen Vergeistigungsprozess durchbrochen und abgeschwächt. Und manchmal scheint mir, als würde ich mich gerade dieser Vergeistigung wegen schämen”95.
Es wurde Ende Juli 1942, als Etty schrieb: ,,Der Ring unseres Verhältnisses hat sich geschlossen, ganz einfach und selbstverständlich. Als hätte mich nachts nie etwas anderes zugedeckt als diese geblümte Decke”96. Nähe, Eigenleben und Trennung widersprachen sich nicht mehr. “Wir haben genügend Zeit gehabt, um uns auf die katastrophalen Ereignisse dieser Tage vorzubereiten, volle zwei Jahre. Und gerade dieses letzte Jahr ist das entscheidende, das schönste Jahr meines Lebens geworden. Ich weiss mit Sicherheit, dass es eine Kontinuität geben wird zwischen diesem Leben und dem Leben, das nun kommen wird. Denn dieses Leben spielt sich in den inneren Bereichen ab, das äussere Dekor wird immer belangloser.”97 – “Man sitzt am Boden in einer Zimmerecke bei dem geliebten Mann und stopft Strümpfe, und zugleich sitzt man am Ufer eines gewaltigen, grossen Gewässers, das so kristallklar und durchsichtig ist, dass man bis auf den Grund schauen kann. So etwa ist das Lebensgefühl in einem bestimmten Augenblick, der unvergesslich ist.”98
Mit dieser Aufzeichnung vom 29. Juli 1942 ging Etty Hillesums Zeit in Amsterdam dem Ende zu. Sie bekam den “weissen Aufruf”, sich in Westerbork melden zu müssen. Körperlich sehr geschwächt, mit Fieber und dem Gefühl, krank zu sein, bekam sie Anfang September die Erlaubnis, nochmals für kurze Zeit nach Amsterdam zurückzukehren. Ein letztes Mal suchte sie die zwei kleinen Zimmer an der Courbet-Straat 27 auf, wo sie die erste Begegnung mit S. und die weitere Entwicklung der Beziehung erlebt hatte. Nun erlebte sie dessen Sterben und Tod, gelassen und zugleich ergriffen, gemeinsam mit Tide (Henny Tidemann), einer ihr nahestehenden Freundin, die ebenfalls im Bann von Julius Spier gestanden hatte und an wen sie fast ein Jahr später, am 18. August 1943 einen ihrer letzten Brief aus Westerbork schrieb: “Tideke, ( … ) ich bin sehr müde, schon seit einigen Tagen, aber auch das wird wieder vorübergehen, alles verläuft nach einem eigenen, tieferen Rhythmus( … ), auf diesen Rhythmus zu horchen, ist das Wichtigste, was ein Mensch in diesem Leben zu lernen hat. ( … ) Der Wellenschlag meines Herzens ist hier breiter und zugleich bewegter und ruhiger geworden, und mir ist, als würde mein innerer Reichtum noch grösser. Auf unerklärliche Weise schwebt Jul in letzter Zeit über der Heide, er führt mich weiter von Tag zu Tag. Es gibt doch Wunder in einem Menschenleben, mein Leben ist eine Verkettung innerer Wunder, gut, das wieder einmal jemandem sagen zu können.”99
Die stärksten Bemühungen Etty richteten sich ab nun darauf aus, keiner Umklammerung anheim zu fallen, durch welche ihre innere Freiheit das denkende Herz beeinträchtigt würde. Dazu gehörten Todesangst, Rachegfühle und Hass, die sie als Folge unverarbeiteter Erfahrungen bei zahllosen Menschen als deren das Denken erstickende, innere Gewalt erkannte.
“Was ist das im Menschen, das die anderen vernichten will?” hatte Jan Bool, ein Studienfreund, sie am 19. Februar 1942 gefragt, als bekannt wurde, dass ein Freund von ihen zu Tode gefoltert worden war und dass eine grosse Anzahl der alten Professoren von Amsterdam als Gefangene in einer zugigen Baracke auf erbärmliche Weise eingekerkert waren. .Jch sehe keine andere Lösung, ich sehe wirklich keine andere Lösung, als sich dem eigenen Innern zuzuwenden und dort all das Schlechte auszurotten. Ich glaube nicht mehr daran, dass wir an der äusseren Welt etwas verbessern können, solange wir uns nicht selbst im Inneren gebessert haben. Das scheint mir die einzige Lehre dieses Krieges zu sein. Dass wir gelernt haben, das Übel nur in uns selbst zu suchen und nirgendwo anders.” Jan Bool, selber krank vor Kälte und mangelnder Ernährung, habe ihr zugestimmt. ,,Es ist so schäbig, sich seinen Rachegefühlen zu überlassen. Sein Leben nur auf den einen Augenblick der Rache auszurichten. Das nützt uns doch gar nichts.“100
Als Etty am 27. Februar 1943, d.h. Ende des gleichen Monats, am frühen Morgen in einer grosse Gruppe Menschen im Lokal der Gestapo stehen und warten musste, wurde ihr mit grosser Klarheit bewusst, dass es an ihr lag, ob sie Angst hatte und Angst spüren liess oder nicht. 11Wir waren alle im selben Raum, die Männer hinter dem Pult ebenso wie die Befragten. Aber das Leben eines jeden war durch die Art bestimmt, wie er sich innerlich dazu stellte. Am meisten fiel ein hin und herlaufender junger Mann mit unzufriedenem Gesicht auf, er verbarg seine Unzufriedenheit keineswegs und wirkte aufgeregt und gequält. Er suchte nach Vorwänden, um die unglücklichen Juden anzuschreien. ( … ) Ich fand ihn bedauernswerter als die Angeschrienen, und diese nur insofern bedauernswert, als sie Angst hatten.”101 Sie spürte in sich keine Notwendigkeit, Angst zu haben. “Nicht weil ich besonders tapfer wäre, sondern in dem Gefühl, dass ich es immer mit Menschen zu tun habe und dass ich versuchen will, jede Äusserung zu verstehen, von wem sie auch sei, sofern mir das möglich ist.”102 Ihr wurde mit zunehmender Klarheit bewusst, dass Angst den Menschen zum Objekt anderer Menschen werden lässt, die dessen Angst benutzen, um sich selber mächtiger zu fühlen und so ihre eigenen Ängste zu unterdrücken. Der junge Uniformierte im Büro der Gestapo in Amsterdam wurde für sie zum Beispiel für viele, die auf Grund eigener Mängel, eigener Ängste und Hassgefühle zustimmen, Teil eines menschenverachtenden und menschenvernichtenden Systems zu werden. 11Beängstigend ist ( … ), dass die Systeme über die Menschen hinauswachsen und sie in ihren satanischen Griff bekommen, und zwar die Erfinder und die Opfer der Systeme gleichermassen, wie grosse Gebäude und Türme, von Menschenhand gebaut, uns überragen und beherrschen, aber auch über uns zusammenstürzen und uns begraben können.”103
Es war für Etty eine stete, schwierige Aufgabe, mit sich selber in Übereinstimmung zu sein. Sie gab sich aufs sorgfältigste Rechenschaft. Einerseits war am Morgen bei der Gestapo „die überaus starke Empfindung, dass ich trotz allen Leides und Unrechts, das überall geschieht, die Menschen nicht hassen kann, und dass all das entsetzliche und grauenvolle Geschehen nicht etwas geheimnisvoll Fernes und Drohendes von aussen ist, sondern uns sehr nahe steht und aus den Menschen hervorgeht.”104 Doch ebenso spürte sie rings um sich „diese Todesangst auf den Gesichtern. Alle diese Gesichter, mein Gott, diese Gesichter”105
Es kam vor, dass sie selber der Verzweiflung nicht zu entkommen vermochte, dass sie dies auch festhielt und dabei eine Art selbsterzieherischer Kontrolle ausübte. ,,Heute Mittag ( … ) da war alles in mir wie ausgelöscht vor Verzweiflung; ich erkannte die Zusammenhänge nicht mehr, und dazu der überwältignde l<ummer. Und danach wieder tausend kleine Sorgen, Fussschmerzen nach einem halbstündigen Gang und so starke Kopfschmerzen, dass sie mir den Schädel fast zersprengten und so weiter. Nun ist wieder alles vorbei. Ich weiss, dass ich noch oft kaputt und zerschlagen auf Gottes Erde liegen werde. Aber ich glaube, dass ich sehr zäh bin und immer wieder aufstehen werde. Obwohl sich heute Mittag ein Prozess der Abhärtung und Abstumpfung in mir abspielte, der mich ahnen liess, was extreme Umstände über Jahre hinweg aus einem machen können. ( … ) Doch ich gehe einen Weg, auf den ich geführt werde. Immer wieder gelange ich zu dieser Erkenntnis, und dann weiss ich besser denn je, was ich tun soll. Nicht, wie ich handeln soll, sondern dass ich es bei der jeweiligen Gelegenheit wissen werde. “106.
Etwa drei Monate später, am 27. Juli 1942, erschien ihr wichtig, sich dieser inneren Gewissheit noch stärker bewusst zu werden. .Jch glaube, dass irgendwo eine Art Regulator in mir vorhanden ist. Ich werde jedes Mal gewarnt, wenn ich durch eine Verstimmung auf einen falschen Weg geraten bin. Und wenn ich ehrlich und offen bleibe und den guten Willen nicht aufgebe, wirklich diejenige zu werden, die ich sein sollte, und das zu tun, was mir mein Gewissen in dieser Zeit vorschreibt, dann kommt alles wieder in Ordnung. Ich glaube, dass das Leben sehr grosse Anforderungen an mich stellt und viele Pläne mit mir vorhat, aber ich muss auf die innere Stimme horchen und ihr Folge leisten, ich muss offen und ehrlich bleiben, und darf auch meine Gefühle nicht versiegen lassen.”107
Etty’s Aufzeichnungen sind für sie selber oft wie ein moralisches Geländer, mit welchem sie sich einen Halt gibt. Sie ist sich jedoch bewusst, wie widerspenstig, wie verbraucht oder wie trügerisch die Sprache sein kann. In ihrem Bestreben, ,,offen und ehrlich” zu sein, befasst sie sich immer wieder damit. ,,Ich schreibe jetzt nicht gern, es ist als verblassten und alterten die Wörter augenblicklich unter meinen Händen und verlangten nach neuen Wörtern, die noch längst nicht geboren sind.”108 Sprache und Angst unterstanden für sie einer Art vergleichendem Massstab. ,,Ich will nur Wörter schreiben, die sich organisch in ein grosses Schweigen fügen, und nicht Wörter, die nur dazu bestimmt sind, das Schweigen zu übertönen und zu zerstören”109 hielt sie Ende Mai 1942 fest, doch was sie als ihren Willen empfand, war nicht dasselbe wie das, was sie vom Unbewussten her spürte. Es war „die Angst, die Unsicherheit, die Prüfung nicht zu bestehen.”110
Sie wusste, dass das Unbewusste, das sich in der Angst äussert, nur gebändigt werden kann, wenn es in seinen Ursachen durchschaubar wird. So war ihr zumute, als sie nach dem Tod von S., bevor sie wieder nach Westerbork zurückkehren musste, nochmals an ihrem Schreibtisch sass und ihren Lebensprozess zu verstehen versuchte. ,,Man muss mit sich selbst leben, als lebte man mit einem ganzen Volk von Menschen. Und an sich selbst lernt man dann alle guten und bösen Eigenschaften der Menschen kennen. Man muss zuerst sich selbst die eigenen schlechten Eigenschaften vergeben, wenn man den anderen vergeben will. Das ist wohl das Schwierigste, was ein Mensch lernen muss( … ): sich selbst seine Fehler und Irrtümer zu verzeihen.”111
Was Etty als Aufgabe sich selbst gegenüber festhielt, ermöglichte ihr zunehmend, auch das Unaussprechbare anderer Menschen zu verstehen. ,,Ich habe früher einmal in eines meiner Tagebücher geschrieben: Ich möchte mit meinen Fingerspitzen die Konturen dieser Zeit abtasten. Ich sass damals an meinem Schreibtisch und wusste nicht so recht, wie ich an das Leben herankommen könnte. Der Grund dafür war, dass ich noch nicht zum Leben in mir selbst gekommen war. Zum Leben in mir bin ich gelangt, noch während ich an diesem Schreibtisch sass. Und dann wurde ich plötzlich in einen Brennpunkt menschlichen Lebens geschleudert, an eine der vielen kleinen Fronten, die es überall in Europa gibt. Und dort erlebte ich plötzlich dies: Aus den Gesichtern der Menschen, aus Tausenden Gesten, kleinen Äusserungen und Lebensgschichten begann ich diese Zeit und noch viel mehr als diese Zeit herauszulesen. Weil ich in mir selbst lesen gelernt hatte, bemerkte ich, dass ich auch in den anderen lesen konnte. ( … ) Dort, in den Baracken voll aufgeregter und verfolgter Menschen habe ich die Bestätigung für meine Liebe zum Leben gefunden. Das Leben in jenen zugigen Baracken stand keineswegs im Gegensatz zum Leben in diesem geschützten, ruhigen Zimmer. Ich war keinen Augenblick lang vom Leben abgeschnitten, das angeblich vorbei ist, es bestand eine grosse, sinnvolle Kontinuität. Wie soll ich das alles irgendwann beschreiben?( … ) Eines weiss nun schon bestimmt: ich werde es nie so niederschreiben können, wie es das Leben selbst mit lebendigen Lettern vor mir hingeschrieben hat. Ich habe alles mit meinen eigenen Augen gelesen und mit meinen Sinnesorganen wahrgerslnmen. Ich werde es nie so niederschreiben können. Das könnte mich zur Verzweiflung bringen, wenn ich nicht gelernt hätte, dass man auch mit den unzulänglichen Kräften, die man besitzt, ans Werk gehen und mit ihnen arbeiten muss.”112
Es ging ein knappes Jahr vorüber, in welchem Etty das Leben noch zugestanden blieb, dann nicht länger. ,,Nachdem die Leitung des Jüdischen Rates erklärt hatte, nichts für sie tun zu können, wurde als letzte Chance ein Brief an den 1. Dienstleiter geschrieben mit dem Ersuchen, in ihrem Fall zu intervenieren”113 jedoch vergebens. ,,Ich sehe Mutter und Vater H. und Mischa in den Waggon Nr. 1 einsteigen. Etty kommt in den Waggon Nr. 12, nachdem sie eine gute Bekannte in Waggon Nr. 14 besucht hatte, die zuletzt noch herausgeholt wurde. Da fährt der Zug an, ein schriller Pfiff und die 1000 ‘Transportfähigen’ setzen sich in Bewegung. Noch ein Blick auf Mischa, der aus einem Spalt des Güterwaggons Nr. 1 winkt und dann bei Nr. 12 ein fröhliches ‘Taaag’ von Etty, und fort sind sie. Fort ist sie. Da stehen wir, beraubt, aber nicht mit leeren Händen. Wir werden einander bald wiederfinden ( … ) Denn eine Freundschaft wie die ihre kann nicht verloren gehen, sie ist und bleibt bestehen.”114
Tatsächlich bleibt die Kraft des denkenden Herzens, die den Tod überdauert und den überlebenden wie den Nachkommenden den Wert weitergibt, gerade in schwierigsten Situationen mutig zu sein.
Die Frage stellt sich, wie sich unter den heutigen, zunehmend globalisierten, marktdiktatorischen Lebensbedingungen der mit keinem materiellen oder wissenschaftlichen Gewinn vergleichbare Lebenswert jedes Menschen erhalten und entfalten lässt. Wie sich die in Aggressivität und Depressivität, in Misstrauen und Abschottung ausufernden Ängste der heutigen Zeit lösen lassen, ohne dass Ideologien wieder zu gewaltbesetzten Leitplanken der Anpassung, der Unterwerfung und des Missbrauchs benutzt werden.
Wir können die Geschichte nicht rückgängig machen. Trotzdem haben wir Einfluss auf die Korrektur aktueller Entwicklung, die morgen Geschichte sein wird. Wir können uns der kreativen Kraft zeitüberdauernder Visionen menschlicher Gleichberechtigung und menschlichen Friedens erinnern und diese neu entfalten. In der vielseitigen Reziprozität von Menschsein gibt es klare und umsetzbare Entwürfe der je persönlichen wie der zwischenmenschlichen Anerkennung und Entfaltung jener Grundbedürfnisse und Grundrechte, die ein Zusammenleben ohne Machtmissbrauch und ohne Entrechtung, ohne Einschüchterung und ohne Krieg ermöglichen. Sie ist dringlich, der Mut drängt sich beinah auf. Die kreative Vernunft entspricht jenem menschlichen Grundbedürfnis, das in der Suche nach Glück nicht der Fortsetzung von Täuschung durch Ersatz von Glück ausgesetzt sein darf. Wir können mit unserem Wissen und unsern Wahlmöglichkeiten deren tatsächliche Realisierung anstreben und umsetzen.
Es braucht den Mut zum Innehalten. Der Blick geht nochmals einige Jahrhunderte zurück.
Baruch de Spinoza
“Sollte das höchste Glück vielleicht in Ehre und Reichtümern gelegen sein, so sah ich deutlich, dass ich seiner entbehren müsste. Sollte es aber in ihnen nicht gelegen sein, dann entbehrte ich, wenn ich mich ausschliesslich um diese Dinge bemühte, gleichfalls des höchsten Glücks.”115
Ein eindrückliches Beispiel hierfür ist Baruch (Bento Espinosa resp. Benedictus) de Spinoza’s Werk und Leben. Er war portugiesisch-sephardischer Herkunft. Seine Eltern waren nach den Niederlanden geflohen waren, um dem Zwang zur Taufe zu entkommen. Die Mutter starb an “Schwindsucht” resp. an Tuberkulose, als er sechs Jahre alt war. Auch Spinoza wird an Tuberkulose sterben, die bei ihm schon im frühen Erwachsenenalter austrat. Sein Vater, der nochmals geheiratet hatte, starb, als er 17 Jahre alt. Damals musste Spinoza mit seinem Bruder Gabriel das Handelsgeschäft des Vaters übernehmen, aus dem er jedoch so bald wie möglich wieder ausstieg, sich den Lebensunterhalt durch Linsenschleifen ermöglichte und seine Energie auf die philosophische Arbeit konzentrierte.
Von den Voraussetzungen her waren somit weder Reichtum noch Beziehungen zu Fürstenhäusern oder Kirchen gegeben. Aussenseitertum und Eigenverantwortung waren untereinander verknüpft, für beides brauchte es Mut. Gleichzeitig oder gerade deshalb war die Bedeutung verlässlicher Freundschaft unumstritten. Die gesellschaftlichen Verhältnisse waren von religiösen Machtkämpfen beherrscht, von Misstrauen und inquisitorischen Androhungen, die das kritische Denken zum Wagnis machten. Das einzige unter seinem Namen veröffentlichte Buch war eine Auseinandersetzung mit der cartesianischen Erkenntnislehre im Zwiespalt zwischen Naturwissenschaften und Metaphysik .Descartes’ Prinzipien der Philosophie auf geometrische Weise begründet mit dem Anhang, enthaltend metaphysische Gedanken”116 -. Es erschien 1663 dank der Unterstützung durch einen kleinen Kreis von Freunden den „Kollegianten” in Amsterdam, wo Spinoza 1660 durch das Betreiben der Rabbiner, die ihn infolge seines kritischen Verhaltens aus der sephardischen Gemeinde ausgeschlossen hatten, auch sein Wohnrecht verlor.
Für eine Weile setzte Spinoza in Rijnsburg bei Leyden sowohl seine Erwerbstätigkeit als Linsenschleifer fort wie den philosophischen Zirkel um Fragen der Erkenntnis und Ethik, der sich in Amsterdam gebildet hatte und in deren Rahmen Spinoza in Rijnsburg, sodann für einige Jahre in Voorburg, nahe bei Den Haag, und ab 1670 in Den Haag selber sowohl den “Theologisch-politischen Traktat”117 verfasste, der in jenem Jahr anonym veröffentlicht und vier Jahre später, nach der Ermordung des liberalen Regenten de Witt und der Machtübernahme durch die Oranier, als religionsschädlich erklärt und verboten wurde. In jener Zeit entstand auch „Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt”118, die Spinoza mit Unterstützung durch seine Freunde zu veröffentlichen wünschte, seine Bemühungen jedoch wegen der laufenden Verfehmungen einstellen musste, so dass dieses bedeutende Werk erst in seinem Todesjahr 1677 gedruckt wurde, ohne Angabe des Autors.
Freies Denken Selberdenken und eigenständiges Ermessen des Handelns waren erneut ein Wagnis, wie am Beispiel der “Ethik” deutlich wird. An Heinrich Oldenburg119, der nicht zum nahen Freundeskreis des philosophischen Austauschs gehörte, sondern der aus theologischem Interesse mit Spinoza Kontakt aufgenommen hatte, schrieb er im Sommer 1675: “Gerade zu der Zeit, als ich Ihren Brief vom 22. Juli erhielt, bin ich nach Amsterdam gereist in der Absicht, das Buch, von dem ich Ihnen geschrieben habe, dem Druck zu übergeben. Während ich damit beschäftigt war, wurde überall das Gerücht ausgesprengt, es sei ein Buch von mir über Gott unter der Presse, in dem ich zu beweisen suche, dass es keinen Gott gebe, ein Gerücht, das bei vielen Leuten Eingang fand. Daraus nahmen einige Theologen (vielleicht die Urheber des Gerüchts) Gelegenheit, mich beim Prinzen und bei den Behörden zu verklagen; ausserdem hörten dumme Cartesianer, die in dem Verdacht standen, mir günstig gesinnt zu sein, um diesen Verdacht von sich abzuwenden nicht auf, meine Meinungen und Schriften überall zu beschimpfen, und noch jetzt hören sie damit nicht auf. Als ich das von einigen glaubwürdigen Leuten erfahren hatte, die mir zugleich versicherten, dass die Theologen mir überall nachstellten, da entschloss ich mich, die vorbereitete Ausgabe einstweilen zu verschieben, bis ich sehen würde, wie die Sache ausginge, und nahm mir vor, Ihnen alsdann meinen Entschluss mitzuteilen. Die Sache scheint aber von Tag zu Tag eine schlimmere Wendung zu nehmen, und ich bin im Ungewissen, was ich dabei tun soll.” 120
Mehrere weitere Werke Spinozas blieben unter den Bedingungen der persönlichen Gefährdung unvollendet, wurden jedoch später publiziert121, auch eine grosse Anzahl von Briefen, unter denen jener an Heinrich Oldenburg deutlich werden lässt, wie Spinoza die belastenden Lebensbedingungen thematisierte, während er mit anderen Briefpartnern seine philosophische Arbeit vertiefte oder fortsetzte.
Das heftige Interesse, das Spinozas denkerischer Mut weckte, war letztlich nur von Seiten des kleinen Kreises wohlwollend, der sich aus den ursprünglichen sechs Amsterdamer Freunden zusammensetzte und kaum erweitert wurde. Unter den vielen, die sich zusätzlich aufdrängten, um auf Grund von Gerüchten oder infolge teilweiser Lektüre von Textkopien einen Zugang zu Spinoza selber, zu seinem Denken und zu dessen unveröffentlichten Schriften zu finden, war das Hauptmotiv eine negative, oft feindselige Neugierde.
Dies trifft unter vielen anderen auch auf Gottfried Wilhelm Leibniz122 zu, der als Lutheraner mit einem grossen Bildungspaket in Theologie, Philosophie, Natur und Rechtswissenschaft zum katholischen Milieu des Kurfürsten von Mainz Zugang gefunden hatte und als Rat an dessen Revisionsgericht tätig war. Irgendwie hatte er Einblick in den anonym erschienenen und wenig später verbotenen “Theologisch-politischen Traktat” finden können und sprach darüber als über “eine bis zur Unerträglichkeit freche Schrift”, ja “ein entsetzliches Buch”. Über die Autorschaft hatte ihn der Rhetoriker Johan Georg Graevius aufgeklärt, der sich bei Spinoza wie ein philosophisch Interessierter eingenistet hatte und gleichzeitig einer seiner heimtückischsten Gegner war, ein Freund des calvinistischen Theologen Christoph Wittich, der Descartes’ Philosophie mit der Theologie zu verknüpfen suchte und gleichzeitig eine Abhandlung mit dem Titel “Anti Spinoza” schrieb, die 1690 durch seinen Bruder veröffentlicht wurde.
Leibniz, der sich immer wieder in Paris aufhielt das erste Mal 1671 mit dem Auftrag, König Louis XIV von dessen innereuropäischen Kriegsplänen abzulenken und ihn zu einem Feldzug gegen Ägypten zu überreden und dort 1675 zufällig einen der Freunde Spinozas traf, mit dem das Gespräch auf die „Ethik” kam. Auf die an Spinoza gerichtete Anfrage, dem „deutschen Ratsherrn” eine Abschrift auszuhändigen, wollte er nicht eingehen, worauf Leibnizens Neugier noch mehr geweckt wurde. Auf der Rückreise von Paris nach Deutschland machte er Halt in Den Haag und liess ich bei Spinoza vorstellen. Dieser war schon sehr geschwächt- vier Monate später starb er, doch trotz des schlechten Gesundheitszustandes gewährte er Leibniz mehrere Gespräche. Dieser muss vom ungewöhnlichen Denker sehr beeindruckt gewesen sein, doch „nach dessen Tod war er einer der ersten, die jeden ernsthaften Kontakt mit dem Ruchlosen leugnete; nur einmal wollte er ihn im Haus eines Haager Regenten bei Tisch getroffen haben, ( … ) und je mehr Jahre seit den Gesprächen vergingen, desto gehässiger wurde sein Urteil über den abtrünnigen Juden aus Holland.”123
Als 1710 mit Leibnizens „Traité de Theodicée”124 eine zugleich lutheranisch deterministische und aufklärerisch freiheitliche Deklaration der „besten aller Welten” erschien, die als Schöpfungsresultat der Vollkommenheit Gottes jedoch nicht vollkommen, sondern nur unvollkommen sein kann, d.h. von dreifachem Übel gekennzeichnet ist vom „malum metaphysicum” der durch die Schöpfung erfolgten Trennung von Gott, das mit dem „malum physicum” der menschlichen Körperlichkeit und Zeitlichkeit einhergeht, mit dem vielfältigen Leiden, das für Leibniz notwendig ist, um die Menschen zum Streben nach dem Guten zu drängen, und gleichzeitig mit dem „malum rnorale”, das sich der Mensch selber schafft, indem er das Streben nach dem Guten ablehnt und sündigt, da muss Spinozas „Ethik” als Alternative sehr präsent gewesen sein, vielleicht weil dieses Werk seit Jahrzenten als verbotene Ressource in der Auseinandersetzung mit dem Zwiespalt zwischen Freiheit und “menschlicher Knechtschaft”125, wie Spinoza “die Kräfte der Affekte” nannte, provozierte und gleichzeitig stärkend zur Verfügung stand.
Die Frage stellt sich, wie sich das breite Interesse und die enorme Feindseligkeit erklärt, der Spinoza in seiner Zurückgezogenheit und Bescheidenheit ausgesetzt war. Zum Teil hat vermutlich eine antijüdische Grundhaltung mitgewirkt, doch ebenso mag der Mut zur Offenheit seines Gottesbildes Ursache gewesen sein, eines von der Starrheit der Religionen befreites, pantheistisches Gottesbild, das sich allein auf die Vollkommenheit und Zeitlosigkeit der Naturgesetze im unablässigen Werden und Sein ,,natura naturans” und „natura naturata” und nicht auf die Bibel mit den menschlich geschaffenen Gottbildern bezog, durch welche die jüdische wie die christlichen Religionen geprägt wurden. Zusätzlich mag die im „Theologischpolitischen Traktat”, in der „Ethik” wie in der „Abhandlung vom Staat” entwickelte Lehre von der Natur des Menschen, von der Willensfreiheit und von der urteilsfreien Auseinandersetzung mit den Affekten, ferner von den Formen der staatlichen Rechtsgemeinschaft so ungewöhnlich gewesen sein, dass sie grosse Unruhe bewirkte. Spinozas Denken ging um viele Jahrzehnte dem voraus, was in der Zeit selber als ,,Aufklärung” bezeichnet wurde.
Gerade was das Staatswesen betrifft, formulierte Spinoza schon im „Tractatus” ethische Grundsätze demokratischer Rechtsordnung und Gerechtigkeit, die damals einer Sehnsucht entsprachen, aber nirgendwo der Realität, und die heute noch von zentraler Bedeutung sind. Allerdings sprach sich Spinoza klar gegen jede Art von Utopie aus. Was er an ethischen Kriterien festhielt, sollte sich nicht im „Nirgendwo” (,,utopos ohne Ort”) angesiedelt finden wie in Thomas Morus „Utopia”126„ sondern sollte ein realisierbarer Entwurf demokratisch geregelten menschlichen Zusammenlebens sein. ,,Der letzte Zweck des Staates ist nicht zu herrschen noch die Menschen in Furcht zu halten oder sie fremder Gewalt zu unterwerfen, sondern vielmehr den einzelnen von der Furcht zu befreien, damit er so sicher wie möglich leben und sein natürliches Recht zu sein und zu wirken ohne Schaden für sich und andere vollkommen behaupten kann. Es ist nicht der Zweck des Staates, die Menschen aus vernünftigen Wesen zu Tieren oder zu Automaten zu machen, sondern vielmehr zu bewirken, dass ihr Geist und ihr Körper ungefährdet seine Kräfte entfalten kann, dass sie selbst frei ihre Vernunft gebrauchen und dass sie nicht mit Zorn, Hass und Hinterlist sich bekämpfen noch feindselig gegeneinander gesinnt sind. Der Zweck des Staates ist in Wahrheit die Freiheit.”127
Unbestrittenermassen bedurfte, gemäss Spinoza, das Zusammenleben der Menschen der staatlichen Gesetze, die die Handlungsmöglichkeiten zu Gunsten der Gesamtheit nach Kriterien der Gerechtigkeit einschränkten und die von jedem Einzelnen gleichermassen zu beachten waren, da allen auch die gleichen Rechte zustanden und jede Ausnahme die Möglichkeit eines Schadens nach sich zog. ,,Denn die Menschen werden nicht als Staatsbürger geboren, sie werden erst dazu gemacht. Die natürlichen Affekte der Menschen sind zudem überall dieselben. Wenn daher in einem Staat die Schlechtigkeit mehr herrscht und mehr Verbrechen begangen werden als in einem anderen, so kommt das sicher daher, dass dieser Staat nicht genügend für die Eintracht gesorgt hat, dass er seine Rechte nicht weise genug angeordnet hat, dass er folglich kein vollkommenes Staatsrecht erhalten hat. Denn ein Staatsleben, aus dem die Ursachen von Empörungen nicht verbannt sind, in dem beständig Krieg zu befürchten ist und in dem endlich die Gesetze oft verletzt werden, ist nicht viel vom eigentlichen Naturzustande verschieden, wo jeder Einzelne nach seinem Sinne lebt und unter grosser Gefahr für sein Leben. “128
Von entscheidender Bedeutung war für Spinoza, dass kein Gesetz das Denken einschränken durfte; die Gedankenfreiheit war nach seinem Ermessen von höchstem Wert. ,,Darum wird diejenige Regierung die gewalttätigste sein, unter der einem jeden die Freiheit zu sagen und zu lehren, was er denkt, verweigert wird, und diejenige dagegen gemässigt, die diese Freiheit jedem zugesteht.”129 Die Gedankenfreiheit schloss für Spinoza selbst ein kritisches Verhältnis zu Gesetzen ein. Falls „jemand nachweist, dass ein Gesetz der gesunden Vernunft widerstreitet und deshalb für seine Abschaffung eintritt, so erwirbt er sich ganz gewiss ein Verdienst um den Staat als einer seiner besten Bürger”130. Es wäre kein grösseres Unglück für einen Staat denkbar als das Gegenteil, das heisst, wenn Menschen, bloss weil sie eine andere Meinung haben und nicht zu heucheln verstehen, wie Verbrecher des Landes verwiesen oder eingekerkert und gar zum Tod verurteilt würden.
Für Spinoza ermöglichte die 11gesunde Vernunft” wohl Kriterien für Recht und Unrecht, doch gleichzeitig war er sich der Macht der menschlichen Affekte bewusst, die im Widerspruch zur Vernunft sein können. ,,Die Affekte, mit denen wir zu kämpfen haben, werden von den Philosophen als Fehler angesehen, in welche die Menschen durch eigene Schuld verfallen. Daher pflegen sie sie zu belachen, zu beweinen, zu tadeln oder, mit noch grösserer Scheinheiligkeit, zu verabscheuen. Damit glauben sie nämlich etwas Erhabenes getan und den Gipfel der Weisheit erreicht zu haben, wenn sie die menschliche Natur, wie sie nirgends existiert, auf alle Weise loben, dagegen wie sie wirklich ist, herunter zu reden verstehen. Sie nehmen ja die Menschen nicht, wie sie sind, sondern wie sie sie haben möchten, und so ist es gekommen, dass sie meistens statt einer Ethik eine Satire geschrieben und niemals eine brauchbare Staatslehre entworfen haben, immer nur eine, die als Chimäre gelten muss oder die man nur in Utopien oder im goldenen Zeitalter der Dichter, wo sie am wenigsten nötig wäre, in die Wirklichkeit hätte umsetzen können.”131
Seines Erachtens ist es dringlich, die Affekte ernst zu nehmen, sie zu erfassen und zu verstehen, sie zu akzeptieren oder sie so zu beeinflussen, dass sie nicht zum Schaden gereichen, unabhängig von der Rangordnung der Affekte, als deren mächtigsten er die Begierde erachtet, ,,die Begierde” als 11des Menschen Wesenheit selbst ( … ). Hier verstehe ich unter dem Wort Begierde jedes Streben, jeden Drang, jeden Trieb, jede Wellung, die je nach dem Zustand des selben Menschen verschieden und nicht selten einander dergestalt entgegengesetzt sind, dass der Mensch nach verschiedenen Richtungen hingezogen wird und nicht weiss, wohin er sich wenden soll.”132
Es bedarf gemäss Spinoza nicht der Verurteilung der Affekte, sondern der Einsicht in die richtige Lenkung. Wer klein beigibt, entmündigt sich selber. “Die menschliche Ohnmacht, die Affekte zu meistern und zu hemmen, nenne ich Knechtschaft”133 Diese Form der „menschlichen Knechtschaft”, die von Einzelnen und von Vielen infolge von Kleinmut selber geschaffen werde, könne nur durch Einsicht sowie durch Übung und Mühe gelöst werden, durch fortgesetzte Stärkung im Umsetzen der Vernunft, letztlich in Hinblick auf ein „glückseliges Leben”, in welchem die dem Menschen zustehende Freiheit gelebt werden kann.
Dabei ging Spinoza offen eine kritische Auseinandersetzung mit Descartes’ ,,Leidenschaften der Seele” ein, insbesondere mit Descartes’ Annahme, dass dank der in der Mitte des Gehirns angelegten Zirbeldrüse der Kampf der Seele gegen die von körperlichen Kräften verursachten Affekte gelinge. Spinoza erachtete diese Erklärung als ziemlich leichtfertiges Konstrukt, das sich weder beweisen lasse noch viel Sinn mache.
Ob Spinoza auch Kenntnis hatte von Etienne de la Boëtie’s „Discours de la servitude volontaire”134, der nach dessen Tod 1563 von Michel de Montaigne aufbewahrt wurde und sich in mehreren privaten Abschriften verbreitete, bis 1574 erstmals ein Teil davon gedruckt werden konnte, lässt sich nicht belegen. Etienne de la Boëtie hatte 1559 als Student der Rechte an der Universität Orleans erlebt, wie sein Lehrer Anne de Bourg, der zugleich Parlamentsrat war, wegen der Kritik an der Verfolgung und öffentlichen Verbrennung von Hugenotten selber gefangen genommen und hingerichtet wurde. Das muss ihn zu seiner kritischen Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft der Menschen veranlasst haben, die mit dem Mangel an Mut und Widerstand gegen jegliche Macht und Herrschaft einhergeht, eine Knechtschaft, die nicht dem menschlichen Wohlbefinden, sondern der Willkür der Herrscher dient. Michel de Montaigne hatte die Veröffentlichung angestrebt, doch wegen der wachsenden innerfranzösischen Gewaltzustände war während längerer Zeit ein Aufschub erfordert gewesen.
Es waren unterschiedliche Erfahrungen und Zielsetzungen, die bei Etienne de la Boëtie und bei Spinoza Anlass gaben, den Ursachen der menschlichen Unfreiheit nachzugehen, doch es findet sich eine gedankliche Verwandtschaft, die verblüfft. Auch Etienne de la Boëtie hielt fest, er glaube nicht fehlzugehen mit der Behauptung, ,,dass in unsrer Seele ein natürlicher Keim der Vernunft liegt, der durch guten Rat und Umgang gehegt wird, so dass er zu voller Kraft erblüht, und der umgekehrt, wenn er sich gegen die wuchernden Laster nicht halten kann, erstickt oder abstirbt. ( … ) So besteht kein Zweifel, dass wir von Natur aus alle frei sind, ( … ) und keinem kann es in den Sinn kommen, dass die Natur auch nur einen in die Knechtschaft versetzt hätte, da sie uns doch alle in Gesellschaft brachte. Aber in Wahrheit ist es ganz nichtig zu erörtern, ob die Natur natürlich sei, da man ja niemanden in Knechtschaft halten kann, ohne ihm Unrecht zu tun, und da nichts auf der Welt so gegen die von Grund aus vernünftige Natur ist wie das Unrecht.”135 Das Verhängnis sei, dass, wer nur Unrecht gekannt habe, ja wer von der Erziehung her sich daran gewöhnt habe, sich kaum darüber beklagen noch sich dagegen zur Wehr setzen könne. ,,Immer wenn ich diese Kerle sehe, die den Tyrannen anhimmeln, um aus seinem Unrecht und aus der Unterdrückung des Volkes Gewinn zu ziehen, muss ich staunen über ihre Schlechtigkeit, und manchmal bekomme ich auch Mitleid mit ihrer Dummheit. ( … ) Sie müssen nicht nur tun, was er sagt, sondern denken, was er will und oft noch seinen Gedanken zuvorkommen, um ihn zu befriedigen, ( … ) sein Vergnügen für das ihre halten, den eigenen Geschmack um seinetwillen aufgeben, ihren Charakter verändern und ihre Natur verleugnen. Heisst das wohl glücklich leben? Heisst das leben?136
Für Etienne de la Boetle war klar, dass „wer philosophiert, mit seiner Zeit nicht einig sein kann”137, d.h. wer die Zeitgeschehnisse kritisch betrachtet, jede Art von Machtmissbrauch erkennt, hinterfragt und zu korrigieren trachtet. Menschliche Erniedrigung und Entwürdigung können nie gerechtfertigt werden; kein Unrecht lässt sich mildern, ob die politischen Umstände, unter denen es geschieht, auf Grund eines „durch Usurpation oder Erbfolge oder gar durch die Wahl des Volkes zur Macht gelangten Tyrannen” geschiehtr”. Für Etienne de la Boetie stand fest, dass Unrecht sich nie legitimieren lässt, gleichzeitig, dass, wenn kein Aufbegehren dagegen geschieht, das Urteilsvermögen der Menschen in einem Volk “durch Gewohnheit verkümmert ist. ( … ) Wer die Gewalt duldet, ohne ihr zu widerstehen, ist krank. Wer diese Gewalt billigt oder an ihr teilhat, ist rettungslos krank.”139
Es war unbestreitbar für diesen jungen Denker, dass sich aus der Ansammlung von Menschen, die sich „der Grausamkeit, der Treulosigkeit und der Ungerechtigkeit” unterwerfen, dass sich daraus „nicht eine Gemeinschaft bilden kann, sondern eine Rotte; statt Liebe verbindet sie die Furcht vor einander und sie werden nicht Freunde, sondern Spiessgesellen. ( … ) Freundschaft dagegen klingt nicht nur heilig, sie ist es auch; sie entsteht nur zwischen guten Menschen und gründet sich auf gegenseitige Achtung. Man erhält sie weniger durch Wohltaten als durch ein rechtschaffenes Leben. Ein Freund ist des anderen gewiss, weil er seine Redlichkeit kennt: deren Bürgen sind sein guter Charakter, seine Treue und seine Zuverlässigkeit. “140
Was Etienne de la Boetie selber als höchsten Wert erachtete, wollte er weiter vermitteln. Lernen wir doch einmal, lernen wir recht zu handeln !”141 rief er auf. Gibt es Entscheidenderes als zu lernen, Widerstand gegen jeglichen Missbrauch von Macht zu wagen und Vertrauen in das eigene Gewissen, somit in das eigene Handeln zu gewinnen, letztlich frei zu werden von Knechtschaft?
Der Aufruf mag bis in die heutige Zeit gelten, in welcher Unruhe, Zeitnot und Hilflosigkeit gegenüber einer überfülle von Angeboten zu einer Mutlosigkeit im Entscheiden führt oder die Angst davor verstärkt. Braucht es besonderen Mut, um aus dem Sog auszusteigen und Grundwerte umzusetzen, die sich als tragend für einen selber und zugleich für andere erweisen? Es mag lohnend sein, sich abschliessend damit zu befassen.
,,Woher ich komme, wohin ich gehe, darauf kommt’s an … “
„ Woher ich komme, wohin ich gehe, darauf kommt’s an. Ich verzähle mich nicht selten in der Eile, wenn ich zähle 1, 2, 3, bis 99. Ich verzähle mich nie, wenn ich rechne, hundert abwärts. Ich tauche mein Ziel ist Tiefe. Tiefer und tiefer ich falle. Den dunkelsten Punkt in Weite erreicht, erkenn’ ich Licht des anderen Endes. Die Ausgangstür schliesst. Sogleich steh’ ich auf der Schwelle einer Eingangstür wieder. Die Welt! Sie blendet mich! ( … ) Wie kann ich ahnen wollen, wenn Ende Anfang gleich und Alles Nichts bedeutet.”142
Die Zeilen hat eine junge Frau geschrieben, Joanna Lisiak. Sie war zehn Jahre alt war, als sie mit ihren Eltern von Polen ausreiste und in die Schweiz kam. Die Gedichte und Texte, die sie früh zu veröffentlichen begann, machen deutlich, wie komplex die Frage nach den Werten der Jugend ist, die Halt und Orientierungshilfe bieten könnten. Die Herkunft „woher ich komme”, kann nicht gewählt werden, die Familien und die Zeitgeschichte, die massgeblich Lebensweise und Wertgefühle der Kindheit prägen, sind weder durchschaubar noch beeinflussbar. Das Zurückzählen in der Generationengeschichte mit allem Bekannten und Unbekannten auf der Mutter und auf der Vaterlinie, mit Notzuständen und mit Traumgeschichten, sind voller Fragezeichen oder wecken ein Staunen ,,hundert abwärts”. All dies führt in abgründige, dunkle Tiefe. Die in der Pubertät erwachende Sehnsucht drängt, die „Ausgangstür zu schliessen” und nicht weiter in die durch Eltern, Grosseltern und durch andere Erwachsene geprägte Geschichte hineingezogen zu werden, einen eigenen Weg zu finden und zu bestimmen. Sie drängt und pocht auf einen Punkt hin, der Abschied oder Abkehr bedeutet, der Angst auslöst wie Hammerschläge. Wie entscheiden?
Es braucht Mut. Selbstbestimmung und Neuorientierung locken „Ausgangstür” und „Eingangstür” lösen sich ab. Gewiss, ,,wohin ich gehe, darauf kommt’s an”. Doch wie wissen, wohin? ,,Die Welt! Sie blendet mich”, gesteht Joanna Lisiak. Wo zu viel Angebote sind, die blenden, gibt es keinen klaren Blick. Die Angebote sind ebenso verschlüsselt wie jene der abgeschlossenen Kindheit. Wie lässt sich „ahnen’\ was ihr Wert ist? Wie lässt sich eine reale Bedeutung des Wertes finden, wenn „alles” was sich als „ Welt“ öffnet, in einem virtuellen Raum oder auf einer abstrakten Ebene erscheint und daher „Nichts bedeutet”?
Die Zeilen von Joanna Lisiak widerspiegeln die grosse Ratlosigkeit, die bei den jungen Menschen spürbar ist wie zugleich unter den Erwachsenen. Welche Werte gelten noch und wofür? Was bedeutet überhaupt Wert? Seit einiger Zeit findet in allen Schichten der Bevölkerung, in allen Institutionen und Gremien der Gesellschaft eine Werte und Ethikdiskussion statt, die nicht nur auf eine schweizerische Krise hinweist, sondern auf eine Krise in der westlichen Kultur überhaupt. Die herkömmlichen Werte dieser Kultur werden zur Frage, da sie mit den Werten, die unter den aktuellen Zeitbedingungen als „Fortschritt” gelten, kaum übereinstimmen. Oder eventuell doch? Verunsicherung und Orientierungsbedürfnis werden durch die Flüchtigkeit und Diversität von Werten geschürt, die durch Medien und Markt in einem vielfachen Propagandapuzzle angepriesen werden und wieder verschwinden. ,,Die Welt! Sie blendet” …
Junge Menschen brauchen in der Zwischenphase zwischen Kindheit und Erwachsenenleben des lnnehaltens, des Halts im zugleich sicheren und freien Erprobenkönnens ihrer Wahlmöglichkeiten, ihrer Wünsche und Fähigkeiten, doch diesen Halt vermissen die meisten. Sie werden geprägt durch Wertunsicherheit in Familien und Schulverhältnissen, durch Zeitdruck und durch stete Leistungsforderungen. Es ist ein Umkreis lauten Lärms, verursacht durch unablässig laufende Motoren, die sie in Vibrationen versetzen, in Unruhe und Müdigkeit. Die Gesellschaft lastet auf ihnen wie eine Klammer, von welcher sie sich zu befreien wünschen. Sie suchen nach Entlastung und greifen nach Angeboten, die betörend vorgeben, dem „Fortschritt” und der „Freiheit” zu entsprechen, ihre Bedürfnisse zu stillen und „Glück” zu ermöglichen, die aber gleichzeitig ihre Wahlmöglichkeiten schwächen, ihr Wertempfinden überdecken und zu einem Hungergefühl werden lassen. Wirklich nährende und stärkende, haltgebende Unterstützung zu finden ist schwierig. ,,Halt für die Haltlosen! Boden für die Bodenlosen! Herzen für die Herzlosen! Scham für die Schamlosen! Schutz für die Schutzlosen! Mittel für die Mittellosen! Sinn für die Sinnlosen! Nutzen für die Nutzlosen! Auswege für die Ausweglosen! Brot für die Brotlosen!”143
Es ist ein klarer Ruf mit lauter Ausrufezeichen, mit dem Joanna Lisiak die Korrektur von vielfachem Mangel fordert. Doch, waren Aufbegehren und Unsicherheit der Jugend anders vor Jahrzehnten? Was hat sich geändert, was hat sich verschärft oder verstärkt? Als Meret Oppenheim 1933 vom schönen und sicheren, schweizerischprotestantischdeutsch jüdischen Familien und Internatsleben nach Paris in die offene Welt künstlerischer Freiheit ausgezogen war, schrieb sie ähnliche Zeilen. 11Wohin führt der Wagen?” fragte sie. ,,Der Wagen führt in den Wald. Der Wald gehört dem Winterkoller. Wie erfährt man seine Adresse? Man dreht die Tür um. Man liest die Lobhymnen der Zugvögel, der Wasserfische, der verdammten und verfluchten Pustakäfer.” Die Realität hinter der “umgedrehten Tür” wird anders sein, doch ist sie heller, ist sie nicht auch Täuschung? ,,Hier herrscht kein Kastengeist. Hier darf sich jeder ungehindert äussern. Wer Heu im Arm hat, darf es verspeisen. Lebend oder tot macht man seine Reverenz. langsam naht das Alter. Aber es kann dich nicht unterscheiden. Du verbirgst dich hinter einem Nachtschmetterling, der sein schönstes Mimikri macht und dir seinen Schlaf opfert. “144 Meret Oppenheim verwarf fürs erste die Rückseite der Tür, fand jedoch im neuen Raum der „Nachtschmetterlinge” trotz „des Heus im Arm” keine Gewähr, fürs Älterwerden einen Boden von Halt und eigenem Wert zu finden.
Hat sich in der Unsicherheit junger Menschen somit nichts geändert? lohnt es sich, die Wertfrage nochmals zu prüfen, wenn für sie heute in allem Überfluss ein so bedrohliches Defizit an Halt deutlich wird, dass die ganze Glaubwürdigkeit der gesellschaftlichen Werte hinterfragt werden muss? War das grosse Lernen, das nach dem Zweiten Weltkrieg von drängender Dringlichkeit war, auch blosse „Mimikri”? Eine Fortsetzung von Machtspielen mit kalkulierten Übertuschungen, Fehlentwicklungen, Verweigerungen, Zynismen und neuen Leidensgeschichten? Ist das individuelle Flucht und Abwehrverhalten der machtlosen jungen Menschen von heute, das sich häufig in leidvollen Süchten oder in Unterwerfung unter verhängnisvolle Ideologien äussert, eine Folge aus jener „Mimikri”? Doch braucht es deswegen Resignation? Bietet nicht jede Krise, somit auch diese Krise, Chancen des Einsehens anderer Wahlmöglichkeiten, des persönlichen Beitrags zu einer nicht destruktiven, sondern kreativen Veränderung des eigenen Lebens und des Zusammenlebens mit anderen Menschen? ,,Par la souffrance a la connaissance”, war das Mantra Simone Weils auf dem schwierigen Weg ihrer Entwicklung. Erschien dieser Meret Oppenheim leichter mit ihrem „Endlich ! Die Freiheit! Die Harpunen fliegen”145? Die Sehnsucht nach klarer Zielsetzung und gleichzeitig der Widerstand gegen die alte, bewährte, die sie ausdrücken konnte, wiederholen sich. ,,Ich spüre, wie sich mein Auge den Wäldern und dem Mond zuwendet. Ich fühle meinen Kompass sich gegen diese nahrhaften Sprichwörter richten. Aber mein schönstes Krokodil, mein Krokodil aus Herz wohin geht dein Stolz?”146 Wie nah ist ihre Frage jener Joanna Lisiaks. ,,Viel aber doch nicht leicht!? Schwer ist mein Leben, weil ich nicht weiss. ( … ) Vielleicht so? Oder so vielleicht?”147 Es zeigen sich Wiederholungen, doch gleichzeitig Verschlimmerung, seit das Jetzt und das Nochnicht der Virtualität ausgesetzt sind, seit die Kommunikation gemäss einer Grammatik der Lichtgeschwindigkeit geschieht. Die Erfahrungsmöglichkeiten des Vorwärts und Zurückschreitens, die bei allem Nichtwissen, Zaudern und leidvollem Fehlentscheiden immer wieder ein Innehalten und eine neue Orientierung ermöglichten, werden in der praktischen Umsetzung vielfach erschwert oder durch die digitalisierte Version gar aufgelöst.
Die Entwicklung des Wertebegriffs wurde im Rahmen meiner Vorlesungen und unserer Gespräche schon mehrmals untersucht, von den Ursprüngen der menschlichen Kultur über die vielschichtigen Veränderungen bis in die Gegenwart, von den ersten Formen der Arbeitsteiligkeit und des Tauschhandels, mit dem Austausch oder der Abtretung von Produkten, Gegenständen oder Leistungen, über welche die einen Menschen verfügten, ohne deren zu bedürfen, gegen andere, die als gleichwertig empfunden wurden oder galten, bis Waren oder Leistungen im Tauschhandel durch die symbolische Gleichwertigkeit von Münzen, respektive von Geld abgelöst wurden, bis das Geld, der Geldbesitz und die Anhäufung von Geld mit der Entwicklung des Kapitalismus zum Wert an sich wurde. Obwohl der ursprüngliche Gütertausch per definitionem an materielle Güter gebunden war, schloss er immer schon etwas Immaterielles mit ein: ein Abwägen und Erwägen, eine Vorstellung von Wert, die an Begriffe wie Nützlichkeit, Dringlichkeit, Unverzichtbarkeit gebunden war und für welche ohne Zweifel schon sehr früh eine Prioritätenordnung und damit die Erfordernis eines Entscheides galt, der einerseits Gewinn, andererseits Verzicht bedeutete. Der Entscheid für das eine Gut schloss häufig ein anderes aus. Und so muss der Wertbegriff sich auch für immaterielle Güter, für Werte der persönlichen Lebensführung, des Verhaltens und der Organisation des Zusammenlebens durchgesetzt haben. Zum Beispiel bedeutete der Entscheid, einen Feind zu schonen, statt ihn zu töten, als Abtausch die Gewähr, selber geschont und nicht getötet zu werden. Oder der Entscheid, zu verzeihen statt Rache zu üben, zog und zieht weiter als Gegenwert die Aussicht nach sich, dass auch eigene Fehler verziehen und nicht mit Strafe geahndet werden. Oder der Entscheid, ein gegebenes Versprechen zu halten, ermöglichte und ermöglicht ebenfalls die Erwartung von Gegenseitigkeit. So entwickelten sich aus dem Abwägen von Werten und aus dem Entscheid für einen bestimmten Wert in einer Rangordnung von Werten bestimmte Regeln des Verhaltens, welche durch das wiederholte Einhalten internalisiert wurden und zu einem Wert und Regelbewusstsein führten, das sich wiederum im persönlichen Gewissen ausdrückt: dem guten Gewissen beim Beachten der eingeprägten Wertkategorien und Regeln, dem schlechten Gewissen bei deren Nichtbeachten und Übertreten. Die Entwicklung des Urteilsvermögens und der menschlichen Verantwortung im Entscheiden und Handeln führte und führt noch immer zu einer Veränderung der sozialisierten und internalisierten Wertvorstellungen und Wertcodices.
Mag eine knappe Zusammenfassung nützlich sein? Das übernommene oder persönlich entwickelte Werte und Regelbewusstsein entspricht der persönlichen Moral eines Menschen, während unter Ethik die Auseinandersetzung um die obersten Grundsätze verschiedener moralischer Werte verstanden wird, die nicht nur für einen Menschen, sondern für viele gelten. Es lässt sich sagen, dass das Ziel jeder Ethik eigentlich das gute Leben ist„ wobei bezüglich des guten Lebens Verschiedenes und Ungleiches gemeint ist. In der Antike, so bei Aristoteles, wurde Ethik als Sittenlehre oder als Tugend/ehre verstanden, resp. als Lehre von der Glückseligkeit oder eben vom guten Leben. Gemäss dem hierarchischen Menschenbild der Antike stand allerdings Glückseligkeit- eudaimonia – zum vornherein nur den freien, besitzenden Männern zu. Frauen und Sklaven waren davon ausgeschlossen. Was für Kinder und Jugendliche galt, entsprach den Geschlechter und Gesellschaftskategorien, zu welchen sie gehörten. Erschreckend mutet an, dass trotz zweieinhalbtausend Jahre Geschichte, trotz Revolutionen und Emanzipationsbewegungen, trotz grosser philosophischer Werke die Wertefragen betreffend Geschlechter, Erwachsene und Kinder, Mächtige, Machtlose und Rechtlose sich noch immer nach ungleichen Kriterien stellen, obwohl die Ungleichheit mit der Erklärung der Menschenrechte von 1948 theoretisch aufgehoben wurde. Theorie und Praxis stimmen nicht überein, so wie sie auch in früheren Zeiten nicht übereinstimmten.
Es ist eine Tatsache, dass sowohl die Prioritätenordnung der Werte wie die daraus abgeleiteten Regeln auf unterschiedliche Weise autoritär bestimmt wurden, häufig nicht im Sinn einer möglichst breiten Konsensfindung, nicht in Hinblick auf das grösstmögliche .blen commun“, wie es von Jean Jacques Rousseau formuliert wurde, sondern in Hinblick auf partikuläre Vorteile derjenigen, die sich die Definitionsmacht für die Rangordnung der Werte und Regeln zubilligten. Ziel und Zweck gingen einher mit der Kontrolle über menschliches Verhalten und Handeln, ob von Fürsten oder von militärischen Potentaten ausgeübt, von religiösen Autoritäten, Arbeitgebern, politischen Führern, Familienoberhäuptern, Pear oder Clanchefs, früher wie heute. Doch war ausschliesslich Gehorsam gefordert? Im Lauf einer komplexer werdenden Welt entwickelte sich gleichzeitig eine Vielzahl von Wertordnungen, die untereinander rivalisierten. Daraus entstanden jene Orientierungskonfusionen, jene Paradoxien, auf die schon Aristoteles in seiner 11Nikomachischen Ethik” hinwies, und jene Gewissenskonflikte, die wir zum Teil auch heute kennen. Deren Ursprung liegt in der Nichtübereinstimmung eventuell gleichrangiger Werte oder Handlungsregeln, die aber verschiedenen Ordnungen entstammen, so dass das eine oder das andere, das man tun oder unterlassen sollte, sich widerspricht. Die Art und Weise, in der Menschen sich bei verschiedenen, eventuell gar widersprüchlichen, richtungweisenden Ethiken entscheiden, fällt wiederum in den Bereich der Moral.
Trotz aller Mängel der Aristotelischen Ethik lässt sich hierin ein erster Schritt in die Moderne erblicken, indem die von Platon vertretene Lehre vom Guten, die dieser als akademische, sehr idealistische, quasi abstrakte Reflexion ausformulierte, durch den Rekurs auf die Praxis korrigiert wurde. In der Tat ging es Aristoteles um eine Theorie des gelingenden und guten Lebens unter den Bedingungen einer Legitimitätskrise von Sitte und Herkunft, die sich im Auftreten von Paradoxien, von widersprüchlichen Entscheidungs und Handlungssituationen, zeigte. Er verstand darunter drei Gruppen oder Bereiche von Entscheidungskonflikten, von denen jede Gruppe wiederum eine Menge von widersprüchlichen Situationen beinhaltet. Ich will die drei Bereiche kurz erwähnen, da diese selbst heute noch von Belang sind, gerade im Zusammenhang der Lebens und Zukunftsentscheide der Jugend.
Der erste Bereich betrifft die Paradoxien, die sich durch das Aufeinanderprallen von Urteilen, Meinungen und Lehren von “Weisen” (von Eltern oder Grosseltern, von Intellektuellen, Philosophen oder Philosophinnen, von religiöser Autoritäten, von Lehrern oder Lehrerinnen, Arbeitgebern und anderen mehr) und von Menschen einer bestimmten, herkunftsbedingten Alltagsorientierung ergeben. Aristoteles erklärt, dass diese Paradoxa unausweichlich seien, und dass es keine Position gäbe, welche die Wahrheit für sich beanspruchen könne, ja dass häufig keine der antithetischen Positionen zustimmungswürdig sei, etwa bei den Fragen “Muss man seinem Vater oder dem Weisen gehorchen?”, oder “Muss man tun, was gerecht oder was nützlich ist?” oder auch “Muss man eher Unrecht leiden als Unrecht tun?”
Der zweite Bereich bezeichnet nicht-übereinstimmungsfähige Positionen, die durch die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen philosophischen Schulen entstehen (dazu gehören auch Wirtschafts und Wissenschaftstheorien mit Richtigkeitserklärungen oder Religionen und politische Ideologien) und mit denen die Bevölkerung konfrontiert wird. Es mag heute noch um die Differenz zwischen religiösen Geboten und beruflichen oder politischen Pflichten gehen, z.B. in der Frage des Militärdienstes, bei medizinischen Entscheiden, bei zivilrechtlichen, asylrechtlichen oder strafrechtlichen Entscheiden und anderen mehr.
Mit dem dritten Bereich thematisiert Aristoteles Widersprüche im einzelnen Menschen selbst, wobei er die Widersprüche zwischen den geheimen Wünschen und den ausgesprochenen Grundsätzen meint. ,,Die Wünsche stimmen ja oft nicht zu den Worten”, sagt er deutlich, ,,sondern man hält die schönsten Reden und will doch nur, was vorteilhaft erscheint”. Es ist die Nichtübereinstimmung von Gesagtem und Gemeintem, von Gesagtem und von dahinter stehenden Absichten, eventuell von Unbewusstem und Bewusstem. Es ist die Unklarheit bezüglich dessen, was tatsächlich gilt.
Ein wichtiges Element in dieser Theorie vom guten Handeln ist Aristoteles’ mehrmals wiederholtes Insistieren auf der Nutzlosigkeit aller Theorie und allen Lehrens von Regeln, wenn nicht das gelebte, vorgelebte Vorbild der lehrenden der „ Weisen” damit einhergeht, ob dies die Väter und Mütter seien oder andere Personen, denen eine vergleichbare Funktion zukommt.
Auf die Frage, was Werte bedeuten, finden sich zahlreiche weitere, auch heute noch massgebliche Grundlagen in der Philosophiegeschichte, durch welche die westliche Ethik geprägt wurde, zusätzlich zum religiösen Rekurs auf die Vorschriften des Dekalogs. Nochmals auf Immanuel Kants148 Überlegungen und Grundsätze einzugehen, erübrigt sich, da seine kritische Philosophie als Absage an die herkömmlichen metaphysischen Tugendlehren mit dem Rekurs sowohl auf die Vernunft auf die Freiheit, auf das Se/herdenken und auf die Selbstverantwortung–, wie auf die von Erfahrung und von Gefühlen gelenkte Praxis als Instrument von Handlungsentscheiden ausführlich erklärt wurde. Interessant mag höchstens sein, nochmals zu erwähnen, dass im Gegensatz zur Rechtslehre, die sich gemäss Kant „äussere Gesetze gibt”, deren Befolgung er als notwendig als „Zwang” erachtet, ,,die Tugendlehre deren nicht fähig” ist. Bei der Tugendlehre (worunter er die Moralphilosophie im engen Sinn meint) zieht er in Betracht, dass es einerseits allgemeine Maximen, das heisst grundsätzliche Massstäbe oder Richtlinien braucht, andererseits den Willen zur Überwindung der inneren Widerstände, insbesondere der Trägheit, damit Menschen diesen Maximen entsprechend handeln. Die Urteilskraft erachtet er als die Fähigkeit, ein partikuläres Problem oder einen partikulären Handlungsentscheid einer übergeordneten Maxime unterzuordnen, dabei den Zweck der „eigenen Vollkommenheit”, die angestrebt werden soll, zugleich als Pflicht hinsichtlich „fremder Glückseligkeit” zu beachten. Kant hat damit einen egoistischen und einen altruistischen Ansatz vorgeschlagen, der, so abstrakt und theoretisch er erscheinen mag, im praktischen Leben tatsächlich eine Richtlinie bedeuten konnte. Zur Befolgung legte er als weitere, wichtige Maximen den kategorischen und den praktischen Imperativ nahe, gewissermassen als Angebot innerer Sicherheit in den Wahlmöglichkeiten der Handlungsentscheide. Wir kennen dessen Bedeutung. Der kategorische Imperativ besagt, dass die eigenen Handlungsentscheide so zu treffen seien, dass sie zum allgemeinen Gesetz erklärt werden könnten, während der praktische Imperativ festhält, dass zur Erreichung eines bestimmten Zweckes nie ein Mensch zum Mittel gemacht werden darf, nicht benutzt oder gar missbraucht werden darf, dass nie ein Mensch wie eine Sache, wie ein Ding eingesetzt werden darf, dass der Mensch immer selber Zweck sein soll.
Wir wissen auch, dass Kants Ethik das Menschenbild der Aufklärung zugrunde liegt, das von Schiller und von Schlick weiter entwickelt wurde, eine so erstmals säkular definierte Gleichheit der Menschen auf Grund des gleichen Menschseins der gleichen “Menschheit“ in jedem Menschen, mit der Einschränkung allerdings, dass Ende des 18. Jahrhunderts weder die Sklaverei abgeschafft war noch die Emanzipation im Sinn der rechtlichen Gleichstellung weder der Juden und schon gar nicht der Frauen oder gar der Kinder erreicht war. Zudem setzte sich damals mit dem Anwachsen der Industrialisierung die systematische Ausbeutung einer faktisch rechtlosen, ganz und gar vom Arbeitgeber abhängigen Arbeiterschaft durch, die zunehmend durch die Fliessbandarbeit anonymisiert, des Produkts entfremdet und ausschliesslich zur Mehrwertsteigerung des Kapitals missbraucht und instrumentalisiert wurde, trotz Kants praktischem Imperativ. Und trotz der von ihm vertretenen Maximen setzte sich machtvoll das System des Kolonialismus fort, das sich im Lauf des 19. Jahrhunderts zu einem globalisierten Herrschaftssystem ausweitete und festigte, mit Kriegen und bürokratisierten administrativen, militärischen und wirtschaftlichen Unterwerfungsformen, bei denen der Herrschaftsanspruch der sogenannten Mutterländer durch die, wie es hiess, Unentwickeltheit und Minderwertigkeit der Völker in Afrika, Südamerika, Asien etc. legitimiert wurde. Damit wuchs weltweit der systematische Rassismus sogenannter Herrenvölker und Herrenrassen an, der in die verhängnisvolle Geschichte des eben vergangenen wie des aktuellen Jahrhunderts hineinführte und der die jüngste Zeit mit den menschenverachtenden Ideologien und Herrschaftssystemen sowie den durch technischen und industriellen Fortschritt entwickelten Tötungs und Zerstörungsmitteln zur blutigsten und schuldbeladensten aller Zeiten werden liess.
Mit der Modeme begann somit einerseits die bislang verallgemeinerungsfähigste Ethik des gleichen Respekts vor dem gleichen Menschsein in jedem Menschen, und zugleich die systematische und zunehmend gesteigerte Instrumentalisierung, Entfremdung und Entwertung der Menschen durch andere Menschen eine Entwicklung, die spürbar als Hemmschuh auch auf die heutige Jugend weiterwirkt.
,,Die Zeit ist aus den Fugen, Schmach und Gram, dass ich zur Welt sie einzurichten kam” … Tatsächlich gilt Shakespeares Klage149, die Hannah Arendt oft zitierte, auch heute. Die Zeit, der Rahmen des eigenen, persönlichen Lebens wie des Zusammenlebens der jungen Menschen mit Menschen aller Generationen und deren Herkunftsgeschichten, ist tatsächlich „aus den Fugen”. Die Frage, wie sich die Zeitbedingungen auf die Paradoxien der Werte und damit des richtigen Entscheidens und Handelns der Jugend auswirken, ist umso komplexer, weil eine systematische Masslosigkeit jegliches Menschenmass überschritten hat. Raum und Zeitmass bestehen nicht mehr. Da ist der Bereich der materiellen Machbarkeit, deren Grenzen schon vor über fünfzig Jahren gesprengt wurden, während des Zweiten Weltkriegs, als die Kernspaltung realisiert wurde und mit ihr die Schaffung der Atombombe, die mit bürokratischer Berechnung von Vernichtungskapazität auch eingesetzt wurde. Als gleichzeitig die ebenfalls bürokratisch geplante und systematisch durchgeführte, industrielle Vernichtung von Millionen von Menschen aus ganz Europa während Jahren realisiert wurde, deren Leben den Stempel Unwert erhielt. Es ist eine Erfahrung, die als Erbschaft der Scham und Schuld, des Misstrauens und der Angst nicht gelöscht werden kann, da sie sich durch den Einsatz von neuen Waffen, von Drohnen, Phosphorbomben und weiteren chemischen Tötungsmitteln fortsetzt. Die Erfahrung tangiert auch den Bereich der Sprache, damit den Bereich der Kommunikation und der modernen Kommunikationstechnologie, die jungen Menschen am nächsten steht und in welcher eine Beschleunigung und eine „Entwirklichung”, zugleich eine technische Perfektion in der Umsetzung erreicht wurde, deren zusätzliche Steigerung kaum mehr vorstellbar ist, die aber trotzdem angestrebt wird.
Auf den Bereich der Kommunikation noch ein wenig näher einzugehen, mag sich lohnen. Schon 1988 hatte Paul Virilio150 bei einem Gespräch in Paris gesagt, wir seien die erste Generation in der Geschichte, die neben der Eroberung des Weltraums auch die Entdeckung einer letzten Energieform erlebt habe, der kinematischen Enerqie, einer Energie in “Bildform” oder, wenn man es vorziehe, in .Jnforrnationsform”, die zur potentiellen und kinetischen Energie noch hinzukomme.
Als wir uns im Arbeitsraum der Ecole speciale d’ Architecture am Boulevard du Montparnasse trafen, war eben Virilios jüngstes Buch La machine de vision erschienen, das ein Jahr später in deutscher Übersetzung Die Sehmaschine – durch den Merve Verlag verlegt wurde, diesem kleinen Verlag in Berlin, der in Zusammenhang der neuen Technologien damals die aufregendsten Bücher aus der Verbindung von Geistes und Naturwissenschaften, von Philosophie, Physik und Soziologie veröffentlichte. Virilio erinnerte an die Fernsehsendung über das Mondlandemanöver von Apollo XI von 1969, damals vor rund zwanzig Jahren, als erstmals gleichzeitig mit dem Blick aus dem Fenster der kleine Mond in 300 000 Kilometern Entfernung und auf dem Bildschirm erdenähnliche Nahaufnahmen vom Mond selber zu sehen waren. Die RaumZeiterfahrungen hatten sich entgrenzt und zugleich minimisiert. In einem Aufsatz von 1991, der im Buch Revolutionen der Geschwindigkeit erschien, hielt er zum gleichen Ereignis fest, der verflüchtigte Himmel, die Landung des Menschen auf einem anderen Planeten, habe uns auf den Balkon über der Leere gestellt, die äusserste Grenze sei plötzlich ein siderischer Küstenstrich geworden. “Wirkliches” und “Bildhaftes” seien visuell vertauschbar geworden, so dass wir auf uns als Betrachter als das physisch einzige Beständige in dieser lllusionswelt zurückverwiesen würden. Der Körper werde zum Zeugen, zum Stabilitätsmoment inmitten einer virtuellen Umgebung( … }, einer grossen optischelektronischen Täuschung, die die Wirklichkeit der ganzen Welt in unsichtbaren Wellen auflöse. Beim Fernsehzuschauer münde die Trägheit des Auges, indem die Retina das Nachbild festhalte, schliesslich in die Trägheit des ganzen Körpers. Jeder wisse es: Geschwindigkeit erscheine nicht ohne Horizont, ohne Terminal. Sollte somit der Rahmen des Fernsehbildschirms wirklich zum Horizont geworden sein, zum Horizont im Quadrat? Zu diesem Quadrat, das nichts anderes als ein .Kubus’ ist und sich im verkleinerten und fragmentierten Bild der Fernsehsequenz verbirgt?
Der Blick des klein gewachsenen, bäuerlich wirkenden Architekten und “Dromologen”, wie er sich seit dem 1977 veröffentlichten Buch zu Vitesse et politique bezeichnete, war offen und warm, die Stimme voller Besorgtheit. Einen Teil seiner früheren Werke kannte ich, wie die 1984 erschienene Untersuchung zu Guerre et Cinema mit der darin enthaltenen Logistique de la perception. Von Werk zu Werk war Virilio fächerartig den unterschiedlichen, ineinander vernetzten und auseinander drängenden Bedingungen und Auswirkungen des “dromos” nachgegangen, der “Rennbahn” des menschlichen Wettlaufs um Geschwindigkeit im Erobern und Besitzen von Boden und Raum, der “Fortschritt” heisst und über dessen Zahlenspiel das Zeichen der Unendlichkeit steht. Aus dem sich zunehmend vom Boden enthobenen Antrieb der Beschleunigung und dem sich blähenden Sog der Masslosigkeit kann es gemäss Virilios Untersuchungen keinen anderen Ausweg geben als jenen, der zum “rasenden Stillstand” führt, wie er 1990 in L ‘inertie polaire festhielt.
Paul Virilio war einer der fortschrittskritischen und forschungsfreudigen Denker und Denkerinnen, die wie Vilém Flusser, Friedrich Kittler, Jean Baudrillard, Peter Weibel und andere mehr151 den wechselseitigen Austausch suchten. Die individuelle Erkenntnis in Zusammenhang der technischen Entwicklung, die schon damals in allen Machtbereichen zauberlehrlingsmässig in mikro- und makrophysikalische Megalomanie angewachsen war und weiter anwuchs, schien Vorstellungskraft und Denken anzuspornen. Der weder utopische noch illusorische Wissensaustausch, der zum Beispiel 1988 in Linz in einem Symposium zur Philosophien der neuen Technologie umgesetzt wurde, gehörte im Umfeld der damals brodelnden Veränderungen im politischen Bereich zu einem breiten Bedürfnis, wenngleich sich in einzelnen Aussagen unverhüllte prophetische Eitelkeit widerspiegelte, alles in allem aber ein Wissen des Nichtwissens voller Subtilität in der unterschiedlichen und sich ergänzenden Deutung weltweiter Ängste und Hoffnungen. Ein Jahr später begann mit dem Fall der Berliner Mauer die Grenze zwischen West und Osteuropa sich zu öffnen. Während kurzer Zeit erfüllte eine Euphorie der Bewegungsfreiheit und Kommunikationsfreude Massen von Menschen, während kurzer Zeit eine Zukunftshoffnung, bis neue Feindbilder und Spannungen, Blockaden und Kriege wieder neue Ängste schufen.
Die Rede vom “kinematischen” oder vom “digitalen” Zeitalter war Ende der Achtzigerjahre voller Zwiespältigkeit. Seit Internet, Cyber Space und virtuelle Realität alltäglich anwendbare Technologien geworden waren, bekam diese Erweiterung der Information und des Informationsaustausches für viele ältere Menschen etwas Bedrohliches, für jüngere aber weltweit etwas brennend Erstrebenswertes, sowohl was den Besitz der Instrumente wie was deren technische Kenntnis und Nutzung betrat nach meiner Wahrnehmung vor allem im Bereich der Wissenschaften, doch vermutlich viel weiter in jeder Form von Kommunikation. Zwischen verweigernder Skepsis und beinah fanatisch oder ideologisch anmutender, oft naiver Begeisterung schien kaum Berechtigung für das sorgfältige und kritische Befragen der Funktionszusammenhänge, der Tauglichkeit und des Zwecks der neuen Kommunikationstechnologien zu bestehen. Über Lektüre und Gespräche versuchte ich vorzutasten.
Es gab das von Karl Bühler Moritz Schlicks Kollegen an der Universität Wien schon 1934 veröffentlichte Werk zur Sprachtheorie, respektive zu den Darstellungsfunktionen der Sprache, das zwar vergriffen, aber noch vorhanden war, in welchem mit grosser Klarheit die Sprache als “0rganon”, als “geformtes Werkzeug” in den Funktionen des Sendens und Empfangens sowie im wechselseitigen Zeichenbezug von Ausdruck, Appell und Darstellung erklärt wird, mit unterschiedlichen formalen Umsetzungen, je nachdem, ob es sich um aktives Sprechen, um das klangliche Vermitteln von Lauten, respektive von Worten handelt oder um eine in Texten oder Bildern, in einem Werk festgehaltene Mitteilung. Die Ergänzung physikalischer Erkenntnisse betreffend Ursache und Wirkungen von Schallphänomenen durch psychologische Erkenntnisse betreffend Variationen individueller Wahrnehmung unter dem unbewussten Mitwirken emotionaler Kräfte war so einleuchtend wie die im gleichen Zeitrahmen von Schlick veröffentlichten Fragen zur Ethik, bei denen analoge Prozesse unter Aspekten der körperlichen und psychischen, rationalen und emotionalen, bewussten und unbewussten Kräfte im Entscheiden und Handeln untersucht wurden und im sorgfältigen Erarbeiten der komplexen Voraussetzungen des Verstehens zum Entwurf einer Ethik der Güte führten.
Die Schwierigkeiten des sprachlichen Austauschs, die Einheiten und Mühsale des Erlernens, die Fragilität des Gebrauchs der Sprache wie der bewusste Fehlgebrauch oder Missbrauch der Sprache waren aus den mir vertrauten sprachanalytischpsychologischen Untersuchungen von Jean Piaget oder den begriffs und erkenntnisanalytischen Wittgensteins über die physikalischphilosophischpsychologischen Schlicks in die funktions- und darstellungsanalytischen Bühlers hineingewachsen, für welche Husserls Phänomenologie eine begriffliche Voraussetzung war, die vielfach verwendet und genutzt wurde. Vergleichendes Lesen und schrittweise Übersetzungsversuche im Argumentieren dienten auch in diesem Zusammenhang der Information und Kommunikation durch den Gebrauch und den Austausch von Büchern, handschriftlichen Notizen und längeren Texten, die aber noch immer mit der Hermes Media geschrieben wurden.
Als 1996 Vilém Flussers152 Kommunikologie in der Erstausgabe, wenig später in einer Zweitausgabe und in zahlreichen Übersetzungen erschien, verfügte ich schon seit einiger Zeit über einen Computer, wobei ich beim Einrichten des Instruments wie beim Erlernen des Gebrauchs mich durch junge Fachkundige leiten lassen musste, jedoch zunehmend meinen Briefaustausch oder wissenschaftliche Notizen und Vortragstexte dem geheimnisvollen, digital erreichbaren Lichtstrom anvertrauen konnte und in meinem technischen Unwissen über das Gelingen staunte. Vilern Flussers Erklärung, “ein Phänomen der Freiheit” darin zu sehen, dass ‘Codes’ auf der Entscheidung beruhen, die menschliche Kommunikation von allen anderen Kommunikationen zu unterscheiden”, verlangte zusätzlich zur theoretischen Auseinandersetzung einen praktischen Entscheid. Bei “Kommunikatlon” stand begrifflich für Flusser nicht mehr „communis” in der Bedeutung des “Gemeinsamen” im Mittelpunkt, auf welchen sich ursprünglich jede Art von sprachlichem Austausch abgestützt hatte, ob auf persönlicher oder auf beruflicher Ebene, ob im privaten oder im öffentlichen Raum. Für Flusser galt die Erkenntnis, dass “die menschliche Kommunikation ein künstlicher Vorgang ist”, dass sie “auf Kunstgriffen, auf Erfindungen, Werkzeugen und Instrumenten, auf zu Codes geordneten Symbolen beruht”. Die Frage stellte sich, in welchem Mass das künstlich oder kunstvoll Angelernte der Sprache unter den neuen Bedingungen und Methoden der Kommunikation noch den geheimen, gefühls- und erkenntnismässig vorstrukturierten Klangvibrationen oder Farbspektren des Ungesagten entsprechen konnte, das der Mitteilung an andere Menschen bedurfte und weiter bedarf? Die Frage liess sich und lässt sich nicht theoretisch, sondern nur durch Erfahrung beantworten.
Bei der gemäss Virilio “Letzten Energieform”, über die wir für die Kommunikation verfügen, geht es um eine kulturelle Umwälzung, die noch nicht abgeschlossen ist und deren Gebrauch uns weiter vor Fragen der Anwendung wie der Folgen der Anwendung, mithin des Zwecks versetzt. Pierre Levy’s153 Vergleich der digitalen Technologie mit der Erfindung des Alphabets macht das Ausmass der Veränderung zwischen dem denkerischen und technischen Entwurf in der Zwischenkriegszeit und der Tatsache der aktuellen virtuellen Umsetzungspotenzen deutlich, und die Warnung von Pater Glotz154 vor der Verfänglichkeit angsteinflössender oder blendender Zukunftsperspektiven, die er als andere Form der Korruption von untereinander konkurrierenden akademischen Futurologen bezeichnet, bestätigt die Vermutung, dass ein Teil der Fluchtbedürfnisse und der Verlorenheit der heutigen Jugend angesichts der Zukunft mit dem ins Masslose angewachsene Zuwenig und Zuviel verknüpft ist.
Was feststeht, ist, dass, wer auf diesem Tummelfeld mitlaufen und mitspielen will, in erster Linie ein spezifisches Fachwissen und ein spezifisches technisches Instrument braucht. Materielle Voraussetzungen sind ohne Zweifel erfordert. Geht es somit noch um Kommunikation im herkömmlichen, privaten Sinn, wie sie in Form des schriftlichen oder mündlichen Gesprächs verstanden wurde, um die angestrebte Sorgfalt in Wortwahl und Grammatik als differenziertem Ausdruck vielschichtiger Aspekte menschlicher Beziehungen, die nur in beschränkter Anzahl auch tatsächlich gelebte Beziehungen sein konnten respektive sein können? Kann es in politischer Hinsicht angesichts der sich ständig erweiternden virtuellen Möglichkeiten von Einflussnahme und Kontrolle, von Täuschungsmöglichkeiten und Schamlosigkeit noch um die Diskursregeln des demokratischen Aushandelns im Sinn der Kommunikationstheorien der Sechzigerjahre gehen? Und in wissenschaftlicher Hinsicht, wie steht es da? Wird dem einzelnen Menschen durch die fortschreitende Hermetisierung der Codes und die fortschreitende Spezialisierung ihrer Zweige nicht zunehmend die eigenständige denkerische Teilnahme am Diskurs entzogen, wie Vilém Flusser 1996 festhielt: Dass kein menschliches Gehirn die Information speichern könne, welche durch diesen Diskurs verteilt werde, denn kein menschliches Gedächtnis könne für die Unzahl wissenschaftlicher Codes programmiert sein, geschweige denn die beinah zahllosen Informationsbrocken synthetisieren. Es gebe zwar kybernetische Maschinen, die theoretisch über Gedächtnisse verfügen, welche in Zukunft alle wissenschaftlichen Informationen synthetisieren und auf diese Weise menschliche Philosophen ersetzen könnten, aber es bleibe fraglich, ob solche Gedächtnisse je eine Systemanalyse durch Menschen zulassen werden. Wenn aber der menschliche Diskurs ohne Maschine keinen menschlichen Empfänger mehr habe, werde er in der umfassenden technologischen Abhängigkeit letztlich unmenschlich und grundsätzlich sinnlos. Er könne die Intention aller menschlichen Kommunikation, nämlich Information von Mensch zu Mensch aufrecht zu halten, um dem Leben eine Bedeutung zu geben, nicht mehr erfüllen.
So stellt sich die Frage, ob sich die Befürchtung Paul Virilios bestätigt, dass im digitalen Zeitalter der Virtualität das menschliche Zusammenleben im Bereich des Privaten und Öffentlichen echt gefährdet ist? Dass sich das Bedürfnis nach wechselseitig sinnesmässigem, körperlich und seelisch erlebbarem Berühren und Berührtwerden auf Phantasien und auf den technologisch umgesetzten visuellen Ersatz einschränkt auf ,,ersatz” in der Bedeutung des französischen Wortgebrauchs während der Kriegszeit, somit auf virtuell ungehindert konstruierbare, löschbare oder austauschbare Beziehungen? Dass Demokratie sich vom wirklichen Aushandeln und Umsetzen politischer und sozialer Verantwortung weit entfernt und im virtuellen Strom überbordender Informationen und ängstigender Zukunftsprognosen zu einem marktähnlichen Wettkampf um grösstmöglichen Gewinn zerfällt? Dass Wissenschaft in der erforderten Sorgfalt kritischen empirischen Forschens aufgelöst und durch digitalisierte Steuerungsmethoden der menschlichen Denkprozesse und ergebnisse abgelöst wird?
Wird tatsächlich das ganze Kulturgut von Bildung als Voraussetzung gesellschaftlicher Mitverantwortung durch diesen kommunikationstechnologischen Sog in Frage gestellt, wie Theodor W. Adorno155 schon 1963 warnend formuliert hat? Dass die Krise, von der ständig auf diffuse Weise die Rede sei, mit jenem Komplex zusammenhänge, der als Divergenz von Bildung und fachlicher Schulung bekannt sei, der sich jedoch keineswegs damit decke, sondern zusätzlich viele Verunsicherungen und QuasiSicherheiten einschliesse. Bildung, die zum Urteilen und Handeln heranbilden und befähigen sollte, indem sie das Individuum und seine Geschichte in die Geschichte des Denkens und Handelns einbinden und dadurch Vergleichsmöglichkeiten des irrtümlichen wie des trefflichen Urteilens zur Verfügung stellen würde, könne diesem Auftrag nicht mehr gerecht werden. Tatsache sei, dass nicht zuletzt unter dem Druck der Wirtschaft die Spezialisierung und Technologisierung in den Wissenschaften in einem Mass zugenommen haben, dass sich die professionelle Kompetenz in erster Linie durch die methodische Sauberkeit, allgemeine Kontrollierbarkeit, den Consensus der zuständigen Fachleute, die Belegbarkeit aller Behauptungen und die logische Stringenz beweisen müsse, nicht mehr durch eigenständiges Erkunden und erprobendes Erarbeiten von Wissen, nicht mehr durch echte Begegnung und tatsächlichen Austausch, nicht mehr durch moralische Auseinandersetzung mit dem Zweck und der Sinnhaftigkeit des Einsatzes von Denkenergie und Lebenszeit.
Adorno monierte damals, dass durch die ausschliesslich formalen Qualifikationsanforderungen das kritische, auch das selbstkritische Bewusstsein der jungen Naturwissenschafterlnnen und Denkerinnen, überhaupt der intellektuellen Fachleute als Führungskräfte verlorengehe. Um nicht etwas zu sagen, was den etablierten Spielregeln ihrer Wissenschaft und den herrschenden Bedingungen des Marktes nicht gehorche, würden sie in sich eine mehr oder minder freiwillige Selbstkontrolle hinsichtlich der erreichten oder noch zu steigernden Anpassung an den generellen Trend errichten. Dies veranlasse sie zunächst dazu, den Kriterien der Selbstkontrolle zu entsprechen, doch allmählich würden sie es verlernen, diese auch nur wahrzunehmen. Adorno steigerte sich in die Klage, dass Bildung nicht mehr bilde, sondern sich nach Momenten des formal Methodischen und des kommunikationstechnisch Informatorischen polarisiere und sich von der praktischen Verantwortung zwischenmenschlicher Umsetzung entferne. Ist das BolognaSystem, das in der Aktualität europaweit die fachliche Ausbildung bestimmt, die Erfüllung von Adornos Warnung?
Es ist tatsächlich schwierig, zwischen der sinnvollen Benutzung einer breiten Erweiterung der Kommunikationsmöglichkeiten und der Klage über die sich ins Unermessliche steigernden Folgen der Digitalisierung und Virtualisierung die Waage zu halten.
Die Maximierung der technologischen Entwicklung, wie sie sich in den mit Lichtgeschwindigkeit übertragenen Informationen, in der vieldimensionalen Simulation von Realität sowie in der extremen Miniaturisierung von Prothesen, von Kollektoren, Sensoren und anderen hoch empfindlichen Geräten zeigt, bedeutet auf dem Weltmarkt einen unbestrittenen Gewinn. Doch was bewirkt dieser Gewinn? Nimmt die Warnung vor den Folgen nicht ab, weil die ins Masslose angewachsene Betörungskraft der Macht durchschaut wird, weil diese, selbst wenn sie möglichweise virtuell ist, gleichzeitig mit der ebenfalls ins Masslose anwachsenden Arbeitslosigkeit und Unterernährung von Millionen von Menschen einher geht, mit dem nicht virtuellen, sondern realen Hunger und Notzustand, der zu grossen Migrationen und Revolutionen, zu vielfachem Leiden und Sterben führt. Fortschrittshoffnungen können sich als Phantasmagorie erweisen, wie Franz Kafka in einem Brief an Milena Jesenska geschrieben hatte: ,,Die Menschheit hat ( … ), um möglichst das Gespenstische zwischen den Menschen auszuschalten und den natürlichen Verkehr, den Frieden der Seelen zu erreichen, die Eisenbahn, das Auto, den Aeroplan erfunden, aber es hilft nichts mehr, es sind offenbar Erfindungen, die schon im Absturz gemacht werden, die Gegenseite ist viel ruhiger und stärker, sie hat nach der Post den Telegraphen erfunden, das Telephon, die Funkentelegraphie. Die Geister werden nicht verhungern, aber wir werden zugrundegehen”.
Was das “Gespentische” ist, was “die Geister” sind, hat Kafka nicht ausgesprochen. Sind es die Erbschaften des Fortschritts, welche die direkten und indirekten Beziehungen zwischen Menschen bedrohen, hemmen oder zum Zerbrechen bringen? Sind es die Ängste, die aus einer Kumulation von Abhängigkeiten in der Benutzung wachsen, oder aus Belastungen und Albträumen, die im Glauben an die Zukunft verdrängt wurden und sich der Erinnerung aufdrängen? Was lässt sich Zusätzliches sagen? Höchstens, dass seit Kafkas Auflistung noch das Fernsehen und der grenzenlose Raum der virtuellen Realität erfunden wurden, der Interaktionen auf jede Distanz erlaubt, unabhängig davon, wie weit der oder die Nächste entfernt sei. Wer sind da noch die wirklichen 11Nächsten”? Soll es keine mehr geben? Ist die Angst vor Nähe zu gross? Es sollte nicht vergessen gehen, dass die gesamte Entwicklung der virtuellen Technologie in Zusammenhang mit ökonomisch nützlichen Feindbildkonstrukten, mit Terrorbedrohungen und militärischen Einsätzen zustande kam, dass der Zweck dieser Entwicklung war, die Macht von Überwachung und Angriff durch die Verfügungsgewalt über ferngeleitete Waffen zu optimieren, damit sie mit grösstmöglicher Schnelligkeit und Treffsicherheit ihr Ziel erreichen und der Inszenierung einer notwendigen “Versicherheitlichung” der Gesellschaft entsprechen.
Wieder drängt sich Paul Klees Angelus Novus auf, gleichzeitig Walter Benjamins Überlegungen zum kleinen Bild, das er 1928 erworben hatte und das ihm 1941 vor der Flucht über die Pyrenäen Anstoss zu seinen Notizen Über den Begriff der Geschichte gab. Benjamin schilderte den Engel wie einen nächsten Vertrauten. Vielleicht lässt sich ergänzen, dass der Sturm des Fortschritts, der ihn seiner Ansicht unaufhaltsam in die Zukunft treibt, ohne dass er den Blick darauf richten kann, seither zum Orkan angewachsen ist. Während Jahrhunderten war es nötig gewesen, dass die Menschen sich zueinander hinbewegen, um sich zu verständigen. Dies ist überflüssig geworden. Die „Geister”, die Kafka in seiner Hellsichtigkeit als Bedrohung des Austauschs unter Menschen bezeichnet, haben mit dem Erreichen der Lichtgeschwindigkeit in der Telekommunikation gesiegt. Mit den Simulationstechniken kann die Realität, können Nähe, Begegnungen und Widerstände durch virtuelle Realität abgelöst werden. Es braucht den Weg nicht mehr, es braucht die wirklichen Bahnhöfe, das wirkliche Ankommen und SichBegegnen nicht mehr.
Doch was bedeuten diese sinnlichen Einbussen an Wegstrecken und Erwartung? Verarmen mit den emotionalen Verlusten nicht auch intellektuelle Fähigkeiten, da Erkennen und Denken immer mit der sinnlichen Erfahrung und mit Gefühlen gekoppelt sind? Ist nicht zu befürchten, dass diese gewaltigste Steigerung der Geschwindigkeit sowie der Ersatz der echten Begegnung durch Virtualität den Fortschritt in sein Paradox verkehrt: dass die Menschen trotz unablässiger Kommunikation einander noch fremder werden?
Die Virtualität wird vermutlich noch eine Weile das Tummelfeld der technologischen Weiterentwicklung sein. Was allerdings nie virtuell werden kann, sind die wirklichen Bedürfnisse der Menschen sowie das körperliche und seelische Leiden an deren Nichterfüllung. Und ebenso real bleibt die Gewalt, selbst wenn sie in digitalisierter Version zur alltäglichen Kommunikation gehört. Die Umsetzung der Gewalt geschieht durch Menschen gegenüber Menschen, auch wenn die einen die anderen nicht kennen. Was durch die Virtualität die Fantasien schürt, indem die Menschen hinter Bildschirmen festgenagelt sind, treibt die reale Triebhaftigkeit zur Umsetzung an, ob im privaten oder im öffentlichen Raum. Die moderne Kommunikation verändert das menschliche Zusammenleben auf bedeutsame Weise.
Zu fragen ist, was wir tun können, damit nicht „Erfindungen, die im Absturz gemacht werden”, zur unbremsbaren Herrschaft werden, damit nicht mittels des weltweiten digitalen Kommunikationsnetzes weltweit die Entfremdung und Vereinsamung der Menschen bis ins Unerträgliche anwächst. Bedarf es eines Umdenkens? Ist es die Entschleunigung, das Zurückfinden zur erlebbaren Distanz in Raum und Zeit, zum je persönlichen Erkunden und Erfahren von Begegnungen und Beziehungen, letztlich zur „Einwurzelung” im Sinn von Simone Weils letztem Werk von 1943? Erinnern wir uns, dass Albert Camus es 1949 mit der Erklärung veröffentlicht hat, dass die Zukunft Europas nicht denkbar seie ohne die Berücksichtigung von Simone Weils Erkenntnis. Das Wichtigste sei die Erfüllung der menschlichen Grundbedürfnisse als Voraussetzung für den Anspruch auf Erfüllung von Rechten. Für die Erfüllung der Grundbedürfnisse gibt es keinen virtuellen Ersatz. In der sorgfältigen Unterscheidung von Mitteln und Zweck, im Bereich der sinnvollen Anwendung von Wissen zur Verbesserung des Zusammenlebens, zur Verminderung von Mangel an Halt, von Entfremdung und Leiden, von Angst und Gewalt, von Ersatzrealität und Virtualität, in der Qualität des wirklich gelebten Zusammenlebens kann die Rückkehr zum wirklichen Erkunden und Lernen gelingen.
Was mag zusammenfassend auch für die Jugend genügen? Nicht die Tatsache der digitalen Kommunikation ist verhängnisvoll, nicht die Kenntnis deren Benutzung und Umsetzung, im Gegenteil. Deren Hypostasierung, vor allem die Hybris der Gleichsetzung und Austauschbarkeit von Virtualität und Realität ist verhängnisvoll. Es bedarf eines Bewusstwerdens und dessen Umsetzung, welche die durch die Teletechnologien geschaffenen Raumzeitschäden, das heisst die Schäden im Bereich des Ungleichgewichts von Rhythmus und Mass, von Realitätserfahrung und Ersatzrealität in allen Zusammenhängen der Entfremdung analysiert und korrigiert. Und ebenso bedarf es einer neuen Sorgfalt und einer bewussten, kritischen Wahlmöglichkeit im Konsum von Informationen, das heisst es braucht Aufmerksamkeit, gewissermassen Sparsamkeit bezüglich der Quantität und eine Feinheit, gleichzeitig eine Offenheit im Hinterfragen von deren Zweck, letztlich eine sinnvolle und angemessene Auswahl und Benutzung.
Damit komme ich wirklich zum Abschluss: In der praktischen Philosophie gibt es eine Grundregel, die hier Anwendung finden kann. Es geht um die Aufmerksamkeit beim Sehen und Hören, das heisst beim Wahrnehmen von Realität, beim Verstehen und Urteilen, damit beim Denken, Entscheiden und Handeln. Mit anderen Worten: Gut zuhören und sorgfältig schauen heisst Angst abbauen, heisst im ursprünglichen Sinn von „sympathein mit leiden” Vertrauen entstehen lassen. Vertrauen ist ein dialogischer Prozess, der sich im gleichen Mass verstärkt, in welchem er Missbrauch ausschliesst. Zeit haben für diesen Prozess der Vertrauensbildung, der Herstellung und Festigung von Respekt bewirkt eine spürbare Verlangsamung im Rhythmus der Abläufe von Verpflichtungen, im Erfüllen von Aufgaben. Im dialogischen Verhältnis, das so entsteht, wird das gegenseitige und wechselseitige gleiche Grundbedürfnis von jungen und älteren Menschen nach persönlichem Respekt, nach Freiheit und nach Verlässlichkeit der Beziehung, nach gleicher Achtung vor der Besonderheit erfüllt, manchmal nicht sofort, manchmal erst nach Überwindung und Heilung eines seit langem bestehenden Misstrauens, ja eines Widerstands gegen mögliche Veränderung der eingegerbten Erfahrungen.
Dieser Widerstand darf nicht entmutigen. Ihn zu verstehen und auszuhalten lässt eine tragfähige Voraussetzung entstehen, um gegen die Masslosigkeit und Virtualität, welche die heutige Zeit bestimmt, eine andere Lebenspraxis nach anderen Wertmassstäben umzusetzen, um zu ermöglichen, selber zu bauen, was voran trägt. ,,Such den Zug, such! Verpass ihn nicht! Da ist noch ein Anschluss! Steig auf, steig auf! Der Zug fährt gleich ab. Aber ich baue mir doch meinen eigenen Zug.”156
Joanna Lisiak drückt auf ihre Weise aus, um was es geht. Es geht um Werte, die dem Gestaltungsbedürfnis, dem Sinn und Zukunftsbedürfnis junger Menschen gerecht werden und die nicht eine Täuschung sind. Es geht um die Möglichkeit, eigene Wege zu öffnen und eigene Fähigkeiten umzusetzen, um nicht unter dem Druck zu sein, auf den falschen Zug aufzuspringen. Es geht um die Möglichkeit, innezuhalten und um den Mut, warten zu können, sowie um Werte, die den wichtigsten Grundbedürfnissen gerecht werden: um ein Leben in tragfähigen Beziehungen und um eine existentielle Entfaltung, für welche Herkunftsgeschichte und Zeitgeschichte nicht mehr Stolpersteine sind. Es braucht hierfür immer die Pflege des echten Gesprächs und die Rücksicht auf das, was für einen selber wie für den Nächsten tragbar und stärkend ist, entsprechend einem kleinen Gebet Hilde Domins, das sich zwischen anderen Zeilen findet „damit es anders anfängt zwischen uns allen”.
[1] Walter Benjamin (15.07.1892 – 26.09.1940). Zu spät gekommen. Berliner Kindheit um Neunzehnhundert. Gesammelte Schriften Bd. IV-1, S.247,. 1972, Frankfurt a, M., Suhrkamp Verlag
[2] Russische religiöse Sekte, die insbesondere in der Dobrudscha, zwischen dem Unterlauf der Donau und dem Schwarzen Meer. Die Landschaft bildet das Grenzgebiet zwischen Südostrumänien und Nordostbulgarien. Die größten Städte sind Constanta und Tulcea (in Rumänien) und Dobritsch und Silistra (in Bulgarien).
[3] Mihail Sebastian (18.10.1907 – 29.05.1945). Seit zweitausend Jahren. Roman. Übersetzt und mit einem Nachwort und einer Dokumentation herausgegeben von Daniel Rhein. (Ersterscheinung 1934). 1997, Paderborn, Igel Verlag. S. 9-10
[4] Lakedaimon, der Sohn von Zeus und der Bergnymphe Taygete, der später Sparte heiratete, mit ihr zwei Kinder hatte, Amyklas und Eurydike (die Grossmutter des Perseus). Die Stadt, die er gründete, nannte er aus Liebe zu seiner Frau Sparta.
[5] Platon (428/27 – 348/47 v.u.Z). Nomoi. Nach der Übersetzung von Hieronymus Müller mit der Stephanus-Numerierung. 1959/1964 Reinbek b. Hamburg, Rowohlt Taschenbuch Verlag. 649 c-d.
[6] Platon. Nomoi. 633d-e
[7] Aristoteles (384-322 v.u.Z.). Nikomachische Ethik. Hrsg. von Günther Bien, auf der Grundlage der Übersetzung von Eugen Rolfes. 1972, Hamburg, Felix Meiner Verlag. 9. Kap., S. 59
[8] Aristoteles. Nikomachische Ethik. 10. Kap., S. 60
[9] Aristoteles. Nikomachische Ethik. 9. Kap., S. 59
[10] Sophokles. Antigone. In der Übertragung von Wolfgang Schadewaldt. 1982, Insel-Verlag, Frankfurt a. M. / Insel-Taschenbuch Nr. 70. (Die Übertragung durch Friedrich Hölderlin , Trauerspiele des Sophokles von 1804 liegen mir vor, eignen sich jedoch in der aktuellen Arbeit weniger.)
[11] von Aischylos in Sieben gegen Theben behandelt.
[12] Mit Ismene befasste sich Sophokles nicht weiter, wohl aber Aischylos. Sie überlebte nicht lange. Ihr persönliches Verhängnis war, dass sie sich in einen der Helden aus Eteokles‘ Armee im Kampf gegen Polyneikes und dessen Armee aus Argos verliebt hatte, in Periklymenos, einen der Söhne von Poseidon. Ihn traf sie eines Abends, ohne zu ahnen, dass h einer der grausamsten Gegenkämpfer, Tydeus, dem Paar auflauerte, um sich an Periklymenos zu rächen. Diesem gelang es zu fliehen, doch Ismene wurde getötet. Die Sage berichtet, dass dort, wo Ismene starb, eine Quelle der Erde entsprang, um ihrer stets zu gedenken.
[13] Epikur (342 – 271 v.u.Z.)
[14] Epikur. Von der Überwindung der Furcht. Katechismus. Lehrbriefe. Spruchsammlung. Fragmente. Eingeleitet und übertragen von Olof Gigon. 1949 / 1968 Zürich, Artemis Verlag.S. 112
[15] Epikur. Zitiert bei Hermann Häring. Das Problem des Bösen in der Theologie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1985. S. 131
[16] Epikur. 1968 Zürich. S. 146
[17] Epikur. 1968 Zürich. S. 155
[18] Epikur. 1968 Zürich. S. 165
19 Jeanne d’Arc. Aus dem Prozessprotokoll des Bischofs von Beauvais, Rauen 1431 (gemäss Anna Seghers).
20 Die Schreibweise Jeanne 11d‘ Are” begann sich erst nach ihrem Tod durchzusetzen. Literatur, über die ich verfügte: Georges et Andree Duby. Die Prozesse der Jeanne d’Arc / Les proces de Jeanne d’Arc. – übersetzt ins Deutsche durch Eva Moldenberg. 1999 Berlin, Verlag Wagenbach. Taschenbücher Nr. 350. Colette Beaune. Jeanne d’Arc. verités et legendes. 2008 Paris, Edition Perrin. Reegine Pernoud / MarleVeronique Clin. Jeanne d’ Arc. Der Mensch und die Legende. 1994 BergischGladbach, Lübbe Verlag. Neben den biografischen und historischen Untersuchungen gibt es zahlreiche belletristische Literatur, die sich auf Mut und Tragik ihres Lebens beziehen, z.B. Dramen wie: William Shakespeare. Henri VI, oder Friedrich Schiller. Die Jungfrau von Orleans, ferner Bertolt Brecht. Die heilige Johanna der Schlachthöfe, oder das Hörspiel von Anna Seghers. Die Prozesse von Jeanne d’Arc, das während des Exils in Paris zwischen 1933 und 1936 entstand, gestützt auf die lateinischen Prozessakte des Bischofs von Beauvais, und das 1937 im Amsterdam vom Flämischen Radio erstmals gesendet wurde.
21 Sehr empfehlenswert ist Alexander R. Lurija. Das Gehirn in Aktion. Einführung in die Neuropsychologie. Aus dem Russischen übersetzt von Alexandre Metraux und Peter Schwab. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1992; lesenswert auch die jüngste Publikation von Gerhard Roth. Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2001
22 Gerhard Roth, 2001, a.a.O. S. 346
23 Olympe de Gouges. Par la Citoyenne. Auteur de la lettre au peuple, 1788. In: CEuvres. 1986 Paris, Mercure de France. S. 7374: “C’est une femme qui ose se mantrer si forte et si courageuse … Ô Reine, ô juste Monarque, veuille l’humanite souffrante que mon récit vous touche en faveur des infortunés dont je vais vous tracer le déplorable sort. Le pain est cher, les travaux ne vont plus, et les malheureux manquent de tout.” (Übersetzung maw)
24 Olympe. 1986 Paris. S. 215 ff
25 Olympe. 1986 Paris. s. 84: «Un commerce d’hommes!. .. grand Dieu! Et la nature ne frémit pas! S’ils sont des animaux, ne le sommes nous pas comme eux? Et en quoi les blancs different-ils de cette espèce? C’est dans la couleur … ” (Übersetzung maw)
26 «On a raison d’exclure les femmes des affaires publiques et civiles, rien n’est plus opposé a leur vocation naturelle” (übersetzt von maw), in: Benoite Grault. lntroduction . Olympe. 1986 Paris. S. 3738
27 « Dans un pays où on leur coupe la tête, il est naturel qu’elles veuillent savoir pourquoi» in: Olympe. 1986 Paris, S. 39
28 Olympe. 1986 Paris. S. 101
29 Olympe. 1986 Paris. S. 123
30 Mary Wollstonecraft. Verteidigung der Rechte der Frauen. Neuauflage der Übersetzung ins Deutsche von Bertha Pappenheim (unter dem Pseudonym Paul Berthold). 1899 Dresden/Leipzig, E. Piersons Verlag S. 24. (Die Neuauflage erschien durch Berta Rahm. 1978 Zürich, alaVerlag)
31 Mary Wollstonecraft (1759 -1797). A Vindication of the Rights of Woman. 1792 London. (Erstmals ins Deutsche übersetzt schon 1793 von Christian Gotthilf Salzmann).
32 Charles-Maurice Talleyrand-Périgord (1754-1838) habe selber eine Kindheit voller Vernachlässigung erlebt. Seine Eltern hätten es vorgezogen, sich am Königshof zu amüsieren, statt sich um den Sohn, dessen Fussverletzungen und dessen Bedürfnisse zu kümmern. Früh sei er in ein Priesterseminar gesteckt worden, bis er schliesslich Bischof von Autun wurde. Die Macht, die er sich selber erwarb, sei eine leidvolle Kompensation der erlittenen Mängel gewesen. (cf. Doris Langley Moore. Ada, Countess of Lovelace, Bryon’s legitimate daughter. 1977 London. S. 40)
33 Wollstonecraft. 1978 Zürich (mit der von Bertha Rahm verfassten Chronologie in Bd. 1). S. 97
34 William Godwin. Memoirs of the Author of ‘A Vindication of the Rights of Wo man’. Published by Johnson, 1798 London/ 1802 Paris
35 Mounseer Nongtonpaw or The Discoveries of John Bull in a Trip to Paris. 1808 London. Printed for the Juvenile Library. History of a Six Weeks’ Tour through a part of France, Switzerland, Germany an Holland, with letters descriptive of a Sail round the Lake of Geneva and of the Glaciers of Chamouni. 1817 London, Published by T. Hookham jun. And C. & J. Ollier. Frankenstein or the Modern Prometheus. 3 Volumes. 1818 London. Published by Lackington, Hugehs, harding, mavor & Jone.
36 Flora Tristan: Im Dickicht von London oder Die Aristokratie und die Proletarier Englands. Aus dem Französischen übertragen und herausgegeben von Paul B. Kleiser und Michael Pösl.1993 Köln. Neuer isp Verlag. S. 183.
37 Die Erstauflage war innert weniger Wochen vergriffen, worauf eine zweite Auflage erschien, 1842 eine billigere, neu überarbeitete Volksausgabe. Heute zugänglich: Flora Tristan. Promenades dans Londres, ou: L’aristocratie et les prolétaires anglais. Hrsg. Francois Bedaria. 1978 Paris (sowie die deutsche Übertragung von 1993)
38 Flora Tristan. Arbeiterunion. Aus dem Französischen übersetzt von Paul B. Kleiser. 1988 Frankfurt am Main, ispVerlag GmbH. S. 88. (Die 1. Originalauflage von ‘ Union ouvrière’ erfolgte durch Flora Tristan selber 1843 Paris ‘chez tous les libralres”: die 2. und 3. Auflage 1844)
39 Tristan. 1988 Frankfurt am Main. S. 113-114
40 Tristan. 1988 Frankfurt am Main. S. 119
41 Yolanda Marco. Einführung zu Flora Tristan. Arbeiterunion. 1988 Frankfurt am Main. S. 33
42 Tristan. 1988 Frankfurt am Main. S. 126
43 (1760-1825) cf. Catechlsmes des industriels {1823) sowie Nouveau Christianisme {1825)
44 (1772-1835) cf. Theorie des quatre mouvements et des destinees generales {1808}, ferner Le nouveau monde industriel {1829}
45 (1771-1858} cf. The new view of society and other writings. Owen reduzierte die Arbeitszeit von 13-14 Stunden auf 10,5 Stunde, führte Kranken und Altersrentenversicherungen ein, errichtete erträgliche und preisgünstige Arbeiterwohnungen, verbot Kinderarbeit unter 10 Jahren, richtete Krippen und Schulen für Kinder von Arbeiterinnen ab 2 Jahren ein, untersagte jeden Alkoholhandel auf dem Fabrikgelände, führte neue Produktionstechniken ein, die geringere gesundheitliche Belastungen bewirkten und er erreichte grosse Erfolge sowohl in der Produktivität wie im menschlichen Befinden und Verhalten der Arbeiterschaft.
46 Entsprechend der väterlichen Herkunft hiess sie Flore Celestine Therese Henriette de Tristan y Moscozo
47 Aline wird die Mutter des Malers Paul Gauguin sein.
48 (1796-1864)
49 In deutscher Übersetzung in 3 Bänden: Flora Tristan. Fahrten einer Paria I.III. Aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt von Bertha Rahm und Elisabeth Schrafl-König. 1983 Zürich. Ala Verlag
50 Clara Zetkin ging auf die Bedeutung Flora Tristan’s ein. In: Zur Geschichte der proletarischen Frauenbewegung. 1979 Frankfurt am Main/ New York 1979. S. 161-187
51 Simone Weil (19091943). Übersetzungen ins Französische aus dem Sanskrit. Chândogya-Upanishaden, III, 14, 1; 34. In: Cahiers. Aufzeichnungen. Hrsg. und übersetzt ins Deutsche von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. Ohne Datum, MünchenWien. Carl Hanser Verlag. S. 376
52 Andre Weil. Lehr– und Wanderjahre eines Mathematikers. 1993, Basel-Boston-Berlin, Birkhäuser Verlag
53 Simone Weil. Arbeiterexistenz (30. September 1937). In: Fabriktagebuch und andere Schriften.
54 Laure Adler. L‘insoumise. Simone Weil. Reclt. 2008, Arles-Paris, Edition Actes Sud.
55 Joe Bousquet. Le mal d’enfance. 1939 Paris, Les Editions Dencel.
56 Simone Weil. Joä Busquet. Correspondance. 1982, Lausanne, Editions d’ Age d’homme.
57 Simone Weil. Cahiers. Aufzeichnungen. Bd. 1, Heft 4 (SeptemberOktober 1941). Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. MünchenWien, Carl Hanser Verlag. S. 354 (Erstausgabe: Cahiers. 1970, Paris. Editions Plon)
58 Simone Weil. L‘lliade ou Je Poeme de Ja Force. In: La source grecque. 1953, Paris, Editions Gallimard, S. 11-46. Ersterscheinung unter dem Namen Emile Navis in: Les Cahiers du Sud. De décembre 1940 a janvier 1941, Marseille. Zugänglich unter: Edition du groupe “Ebooks libres et gratuits”
59 Simone Weil. Dieu dans Platon. In: La source grecque. 1953, Paris. S. 75136
60 Laure Adler. L‘insoumise. Simone Weil. 2008, Arles, Edition Actes Sud. S. 91 ff (übersetzt von maw)
61 Adler. 2008, Arles-Paris. S. 114
62 Malou Blum. Le Choix de la Résistance. 1998, Paris, Les Editions du Cerf
63 “un acte de desertion”, aus: Simone Weil. Lettres à Maurice Schumann, New York 30. Juli 1942. In: Ecrits de Londres et dernières lettres. 1957, Paris, Edition Gallimard. S. 186
64 Simone Weil. 1957, Paris. S. 199
65 Simone Weil (19091943). Briefe an August Detoeuf (1936-1937). In: Fabriktagebuch und andere Schriften zum Industriesystem. Übersetzung aus dem Französischen und Einleitung von Heinz Abosch. 1978, Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag. s. 199 (Erstausgabe: La condition ouvriere. 1951, Paris, Editions Galllimard)
66 Simone Weil. l’enracinement. 1949, Paris, Edition Gallimard
67 Nelly Sachs. Fahrt ins Staublose. 1988, Frankfurt am Main. S.379
68 Etty Hillesum. Das denkende Herz. Tagebücher 1941-1943. Rowohlt Taschenbuch, Reinbek b. Hamburg 1995. (Erste Herausgabe in Deutsch 1983 Freiburg i. Br./Heidelberg. Verlag H. Kerle, 1983. Übersetzung aus dem Niederländischen von Maria Csollany. Originaltitel: Het verstoorde Leven. Dagboeck van Etty Hillesum 1941-1943. Verlag De Haan, Haarlem 1981). – Etty Hillesum hatte 1943, vermutlich kurz vor dem Abtransport nach Auschwitz, der mit ihr nah befreundeten Maria Tuinzing die Tagebücher übergeben mit der Bitte, sie aufzubewahren und später dem Schriftsteller Klaas Smelik und dessen Tochter Johanna (Jopie) Smelik zu übergeben. Nach dem Krieg versuchten diese vergeblich, einen Verleger zu finden. Erst 1980, d.h. vierzig Jahre später, als Klaas Smelik die Hefte J.G. Gaarlandt übergab, konnten diese entziffert und veröffentlicht werden.
69 Hillesum. 1985 Reinbek b. Harnbug. S. 175
70 Hillesum. Reinbek b. Hamburg. S. 219 ff
71 Hillesum. S. 114 (vermutlich 21. Juni 1942)
72 Hillesum. S. 4849
73 Hillesum. S. 40
74 Hillesum. S. 48
75 Hillesum. S. 85
76 Hillesum. S. 66
77 Hillesum. S. 67
78 Hillesum. S. 67
79 Hillesum. S. 71
80 Hillesum. S. 75
81 Hillesum. S. 7677
82 Hillesum. S. 119
83 Hillesum. S. 85
84 Hillesum. S. 85
85 zu Fuss den langen Weg von der Amstelstation zu ihrem Zimmer am 23. August 1941
86 Hillesum. S. 119
87 Hillesum. S. 120
88 Hillesum. S. 211212. Der Abstransport von Mischa und von den Eltern nach Auschwitz wurde auf den 7. September 1943 verschoben. Es war gleichzeitig der Abtransport von Etty selber.
89 geb. 25. April 1887
90 gr. “chelros” Hand
91 a.a.O. von S. 169 bis S. 175
92 a.a.O. S. 5354 (4. September 1941)
93 Hillesum. S. 55-56
94 Hillesum. S. 57
95 Hillesum. S. 60
96 Hillesum. S. 167
97 Hillesum. S. 168
98 Hillesum. S. 168
99 Hillesum. S. 216-217
100 Hillesum. S. 91-92
101 Hillesum. S. 93-94
102 Hillesum. S. 94
103 Hillesum. S. 94
104 Hillesum. S. 94
105 Hillesum. S.156
106 Hillesum. S. 154
107 Hillesum. S. 166
108 Hillesum. S. 152 (am 14. Juli 1942)
109 Hillesum. S. 106
110 Hillesum. S. 107-108
111 Hillesum. S. 181
112 Hillesum. S. 181-182 (am 22. September 1942)
113 Hillesum. S. 220 (aus dem Brief von Joopie Vleeschouver)
114 Hillesum. S. 221
115 Baruch de Spinoza. Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes. Lateinisch-deutsch. 1993 Hamburg, Felix Meiner Verlag. S.7.
116 Baruch de Spinoza. Descartes’ Prinzipien der Philosophie auf geometrische Weise begründet mit dem Anhang, enthaltend metaphysische Gedanken. Übersetzung von Arthur Buchenau. Einleitung und Anmerkungen von Wolfgang Bartuschat. 1978 Hamburg, Felix Meiner Verlag
117 Baruch de Spinoza. Theologisch-Politischer Traktat. Auf der Grundlage der Übersetzung von Carl Gebhardt neu bearbeitet, eingeleitet und herausgegeben von Günther Gawlick. 1976 Hamburg, Felix Meiner Verlag
118 Baruch de Spinoza. Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt. Übersetzung, Anmerkungen und Register von Otto Baensch. Einleitung von Rudolf Schottländer. Felix Meiner Verlag, Hamburg
119 Heinrich Oldenburg (geb. ca. 1615 -gest. 1677), ein Bremer Theologe, der 1661 den in Leyden lebenden eigenwilligen Kollegen Johann Koch besuchte (Coccejus, dessen Schüler Burman für Descartes von Bedeutung war), dabei von Spinoza erfuhr und mit ihm Kontakt aufnahm, später u.a. in Zusammenhang des Kriegs zwischen England und Holland als Vermittler eingesetzt wurde und den Briefaustausch zwischen Spinoza und Robert Boyle vermittelte, diesem von Francis Bacon beeinflussten Naturwissenschaftler, der zum Begründer der Royal Society wurde.
120 Baruch de Spinoza. Briefwechsel. Übersetzung und Anmerkungen von Carl Gebhardt. Zweite, durch weitere Briefe ergänzte Auflage mit Einleitung und Bibliographie von Manfred Walther. 1977 Hamburg, Felix Meiner-Verlag. 68. Brief an Heinrich Oldenburg. S. 267
121 u.a. Baruch de Spinoza. Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes. – Tractatus de intellectus emendatione. Neu übersetzt, herausgegeben, mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Wolfgang Bartuschat. Lateinisch-deutsch. Felix Meiner-Verlag, Hamburg 1993. (Eine Erstausgabe erfolgte 1871).- Eine Herausgabe der gleichen Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes enthält gleichzeitig die Abhandlung vom Staate. Übersetzung, Anmerkungen und Register von Carl Gebhardt. Einleitung von Klaus Harnmacher. 1977 Hamburg, Felix Meiner Verlag
122 Gottfried Wilhelm Leibniz (geb. 1646 gest. 1716)
123 Manfred Walther. Einleitung zu Baruch de Spinoza. Briefwechsel. 1977 Hamburg. S. XXXIXXL
124 c.f. eingehende Erläuterungen: HansGerd Janssen. Gott-Freiheit-Leid. Das Theodizee–Problem in der Philosophie der Neuzeit. 1989 Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft
125 Baruch de Spinoza. Die Ethik. 1976 Hamburg. V. Teil. S. 262 ff.
126 Thomas Morus. Utopia, 1516 von seinem Freund Erasmus von Rotterdam im niederländischen (heute belgischen) Leuven publiziert, 1518 in Basel, ein Dialog über eine fern jeder anderen Zivilisation befindliche Insel, auf der ideale Menschen ohne Privatbesitz und ohne Konflikt ein ideales Leben leben. Für Thomas Morus wiederum hatte Erasmus von Rotterdam 1509 „Das Lob der Torheit” verfasst, keine Utopie, sondern eine Satire über die Macht der Dummheit stultitia , die gemeinsam mit ihren Töchtern vanitas, luxuria, acedia und weiteren sowohl die Könige und Fürsten, die Theologen und Mönche wie die Philosophen an ihrem Gängelband führt.
127 Baruch de Spinoza. Theologisch-politischer Traktat. 1976 Hamburg. S. 301
128 Baruch de Spinoza. Abhandlung vom Staat. In: Abhandlung von der Verbesserung des Verstandes. 1977 Hamburg. S.88
129 Baruch de Spinoza. Theologisch-politischer Traktat. 1976 Hamburg. S. 301
130 Baruch de Spinoza. Theologisch–politischer Traktat. 1976 Hamburg. S. 302
131 Baruch de Spinoza. ,,Abhandlung vom Staate”. Erstes Kapitel, §1. In: ,,Abhandlung von der Verbesserung des Verstandes”. 1977 Hamburg. S. 55
132 Baruch de Spinoza. “Die Ethik”. 1976 Hamburg. S. 167-168
133 Baruch de Spinoza. ,,Die Ethik”. 1976 Hamburg. S. 186
134 Etienne de la Boëtie (geb. 1530 gest. 1563). ,,Von der freiwilligen Knechtschaft”. Unter Mitwirkung von Neithard Bulst, übersetzt und herausgegeben von Horst Günther. 1980 Frankfurt am Main. Europäische Verlagsanstalt. Der erste Teildruck erschien in Paris 1574; die erste deutsche Übersetzung 1593. Heute: „Discours de la servitude volontaire”. 1997 Paris, Edition Mille et une nuits
135 Etienne de la Boëtie. Von der freiwilligen Knechtschaft. Frankfurt am Main 1980. S. 49
136 Etienne de la Boëtie. 1980 Frankfurt am Main. S. 85
137 Etienne de la Boëtie 1980 Frankfurt am Main. S. 17
138 Etienne de la Boëtie 1980 Frankfurt am Main. S. 19
139 Etienne de la Boëtie 1980 Frankfurt am Main. S. 1819
140 Etienne de la Boëtie. 1980 Frankfurt am Main. S. 91
141 Etienne de la Boëtie. 1980 Frankfurt am Main. S. 95
142 Joanna Lisiak (geb. 1971). Cocktails zum Lesen. 2000 Zürich, Verlag Nimrod/ WerkstattReihe. S. 18-19
143 Lisiak. 2000 Zürich. S. 174
144 Meret Oppenheim /19131985). Husch, husch, der schönste VoKal entleert sich. Gedichte, Zeichnungen. 1984 Frankfurt am Main, Verlag Suhrkamp. S. 17
145 Oppenheim. 1984 Frankfurt am Main. S. 15
146 Oppenheim. 1984 Frankfurt am Main. S. 44
147 Lisiak. 2000 Zürich. S. 149
148 Grundlegung der Metaphysik der Sitten von 1785, Kritik der praktischen Vernunft von 1788 und schliesslich Metaphysik der Sitten von 1797, die in die Rechtslehre und in die Tugendlehre aufgeteilt wird.
149 Hamlet 1,5: “The time is out of joint, the cursed, spite that I was born to set it right”
150 Paul Virilio (geb. 1932). Die Sehmaschine. 1989 Berlin, Merve Verlag. Revolutionen der Geschwindigkeit. 1993 Berlin. Merve Verlag. Fluchtgeschwindigkeit. 1996 München Wien, Hanser Verlag. Rasender Stillstand. 1992 München Wien, Hanser Verlag/ 1997 Frankfurt am Main, Fischer Verlag.
151 Jean Baudrillard, Hannes Böhringer, Vilern Flusser, Heinz von Foerster, Friedrich Kittler, Peter Weibel. Philosophien der neuen Technologie. 1989 Berlin, Merve Verlg.
152 Vilém Flusser (19201991). Medienkultur. 1997 Frankfurt am Main, Fischer Verlag. Kommunikologie. 1998 Frankfurt am Main, Fischer Verlag.
153 Pierre Lévy (geb. 1956). 1990 Les technologie de l’intel/igence. 1990 Paris, Edition La Découverte. Cyberculture. 1997 Paris, Librairie Jacob. Qu‘est–ce que le virtuel? 1998 Paris, Edition La Découverte.
154 Pater Glotz (1939-2005). Die beschleunigte Gesellschaft. 1999 München, Verlag Kindler.
155 Theodor W. Adorno (1903-1969). Notiz über Geisteswissenschaft und Bildung. In: Eingriffe. 1963 Frankfurt am Main, Verlag Suhrkamp.
156 Lisiak. Zürich 2000. S. 63