Vom Wahrnehmen zum Zweifeln zum Erkennen . Von René Descartes zu Baruch de Spinoza
Vom Wahrnehmen zum Zweifeln zum Erkennen
Von René Descartes zu Baruch de Spinoza
„…Da wir als Kinder auf die Welt kommen und über sinnliche Gegenstände urteilen, bevor wir den vollen Gebrauch unserer Vernunft erlangt haben, so werden wir durch viele Vorurteile an der Erkenntnis der Wahrheit gehindert, und es scheint kein anderes Mittel zu geben, als einmal im Leben sich zu entschliessen, an allem zu zweifeln, woran man auch nur den geringsten Verdacht einer Ungewissheit antrifft.“[1]
René Descartes‘ Entscheid, „an allem zu zweifeln, woran man auch nur den geringsten Verdacht einer Ungewissheit antrifft“, hat mich in meiner Jugend, als ich erstmals die Prinzipien der Philosophie las, an einer empfindlichen Stelle geritzt, dann zunehmend beflügelt. Galt auch für mich die Verpflichtung, die Descartes sich gestellt hatte, frei über „sinnliche Gegenstände“ zu urteilen, an überlieferte Vorurteile zu zweifeln, diese zu klären oder abzulehnen? Da ging es um viel mehr. Was bedeutete die eigene „Vernunft“ als Rückhalt? Wie konnte ich diese erlangen? War ich in meiner Unkenntnis berechtigt, die kritisch-denkerische „Erbschaft“ zu nutzen, die Descartes mir anbot, und die glaubensmässige der religiösen Wahrheitserklärungen in Frage zu stellen?
Es war ein denkerisches Neuland, das ich erst im Geheimen übte und mit dem Philosophiestudium gewissermassen legitimierte, das später zu heftigen Auseinandersetzungen mit dem eigenen Vater führte, vor allem, als ich begann, öffentlich im philosophischen und politischen Diskurs dafür einzustehen, dabei vielfach aneckte, aber nicht auf lebensgefährdende Weise, wie es dreihundert Jahre früher für Descartes‘ Zeitgenossen und für ihn selber der Fall war. Dessen Zurückhaltung zu publizieren, was er mit dem Bekenntnis zum eigenen Denken – „cogito“ – als Bestätigung seines Seins – „ergo sum“ – in Bewegung setzte, wurde mir erst verständlich, als seine Lebensbedingungen wie jene anderer Denker und Denkerinnen im Geflecht von Reformation und Gegenreformation, von kirchlichem und fürstlichem Machtkalkül und Gewalt, von Verfolgung, Folter und Scheiterhaufen gesehen werden konnten. Wahrheitskritisches, persönliches Denken wurde von der Inquisition nicht nur als Rebellion, sondern als Gotteslästerung und als Volksgefährdung gewertet. Es brauchte ein starkes Selbstbewusstsein, um sich dazu zu bekennen[2]. Für Descartes wie für den weiteren Kreis der damaligen Wissenschaftler war die Tragik von Giordano Bruno’s Mut, Leiden und qualvollem Tod[3] präsent, auch die Schwierigkeiten, denen Galileo Galilei[4] und zahlreiche andere kritische Denker ausgesetzt waren.
Die Erkenntnisse, die Descartes als die Prinzipien der Philosophie bezeichnete und die in einer lateinischen wie in einer französischen Fassung 1644 resp. 1647 in Amsterdam erschienen, gehören zu seinem Spätwerk, so merkwürdig dies erscheinen mag. Er war damals achtundvierzig Jahre alt, ein vielseitig anerkannter und zugleich angefeindeter Denker, der sich entschloss, seine Denkergebnisse der öffentlichen Bewertung auszusetzen. Eine junge Frau spornte ihn dazu an, seine ungewöhnliche, achtundzwanzigjährige Schülerin und Korrespondentin, Prinzessin Elisabeth von der Pfalz[5], der er das Werk widmete – „A la Sérénissime princesse Elizabeth, première fille du Roy de Bohème, Comte palatin et Prince électeur de l’Empire“. Deren königliche Abstammung gewährte ihm ohne Zweifel einen höheren gesellschaftlichen Rang und damit eine gewisse Unantastbarkeit, während er ihr mit seiner Widmung und dem beigefügten Brief öffentlich eine Anerkennung der hohen Qualität ihres Denkens zubilligte, „(…) weil ich nämlich niemals jemanden angetroffen habe, der alles, was in meinen bisher veröffentlichten Schriften enthalten ist, so vollkommen verstanden hat“[6]. Sie war eine Enkelin von Mary Stuart, der Königin von Schottland, eine Tochter von Elisabeth Stuart und von Friedrich V, dem Kurfürsten von der Pfalz, und war von ihrer väterlichen Grossmutter Luise Juliana von Oranien-Nassau erzogen worden, einer einflussreichen Vertreterin des calvinistischen Protestantismus.
Zur Zeit des 30jährigen Kriegs war die Familie nach Holland geflohen, und Descartes, der in Leyden lebte, wurde zum Unterricht der hoch begabten Prinzessin beigezogen. Diese vertiefte sich in das Studium der Naturwissenschaften und der Philosophie sowie in die Fragen der Religion, im steten Austausch mit ihrer Freundin Anna Maria van Schurman[7], die in neun Sprachen las und schrieb und die in der Suche nach der wahren Religion sich von der pietistischen Überzeugung Jean de Labadie‘s[8] überzeugen liess. Dessen holländische Gemeinde wurde zunehmend von ihr geleitet. Das Bedürfnis, den religiösen Glauben nach persönlichen Kriterien zu wählen, führte zur zentralen Auseinandersetzung mit dem Begriff der Freiheit, mit dem Selberdenken und Selberentscheiden. Damit hing auch zusammen, dass Elisabeth von der Pfalz unverheiratet blieb. Eine Ehe mit dem polnischen König Wladislaw IV lehnte sie ab, da sie sich weigerte, zum Katholizismus überzutreten. Sie lebte bei einer ihrer Cousinen oder bei ihrem Bruder Karl Ludwig in Heidelberg, wurde mit 43 Jahren als mitverantwortliche Verwalterin und sechs Jahre später als Fürstäbtissin der alten Reichsabtei Herford eingesetzt, einem Frauenstift, in welchem sie ihr Studium vertiefen konnte und wo sie auch verfolgte Quäker sowie die von Anna Maria van Schurmann angeführten Labadisten aufnahm. Dabei kam sie selber in Bedrängnis vor der lutheranischen Glaubenskommission und musste die Verfolgten an andere Schutzorte verweisen. In Herford gründete sie einen eigentlichen Studienort für Descartes‘ Schriften.
Die Unerschrockenheit der jungen Fürstin wirkte stärkend auf Descartes. In den Prinzipien der Philosophie fasste er Erkenntnisse zusammen, die er vorher nicht zu publizieren gewagt hatte, die er zu diesem späteren Zeitpunkt aber als unaufschiebbar erachtete. Doch der Mut, den er auch in Holland für die Veröffentlichung brauchte, machte ihm schwer zu schaffen, wurde er doch hier von den protestantischen Theologen ebenso massiv angegriffen wie in Frankreich von den katholischen, vor denen er geflohen war. Er erwog, nach England auszuweichen, doch er liess die Möglichkeit wieder fallen. Die Erkenntnis- und Denkarbeit erschien ihm weder aufschiebbar noch abhängig von anderen Instanzen als von sich selbst. „Unter Denken verstehe ich alles, was derart in uns geschieht, dass wir uns seiner unmittelbar aus uns selbst bewusst sind“, hielt er fest. „Deshalb gehört nicht bloss das Einsehen, Wollen, Einbilden, sondern auch das Wahrnehmen hier zum Denken. Denn wenn ich sage: ‚Ich sehe‘, oder: ‚Ich gehe, also bin ich‘, und ich dies von dem Sehen oder Gehen, das vermittels des Körpers erfolgt, verstehe, so ist der Schluss nicht durchaus sicher. Denn ich kann glauben, ich sähe oder ginge, obgleich ich die Augen nicht öffne und mich nicht von der Stelle bewege, wie dies in den Träumen oft vorkommt. Ja, dies könnte geschehen, ohne dass ich überhaupt einen Körper hätte. Verstehe ich es aber von der Wahrnehmung selbst oder von dem Bewusstsein (conscientia) meines Sehens oder Gehens, so ist die Folgerung ganz sicher, weil es dann auf den Geist bezogen wird, der allein wahrnimmt oder denkt, er sähe oder ginge. (…) Wenn ich deshalb hier gesagt habe, der Satz: ‚Ich denke, also bin ich‘ sei von allen der erste und gewisseste, der sich dem ordnungsgemäss Philosophierenden darbietet, so habe ich damit nicht bestreiten wollen, dass man vorher wissen müsse, was ‚Denken‘, was ‚Dasein‘, was ‚Gewissheit‘ sei.“[9]
Auch in den Prinzipien der Philosophie gab Descartes zu verstehen, dass die Bedeutung jedes Begriffs – zum Beispiel „Denken“, „Dasein“, „Gewissheit“ – nicht selbstverständlich ist, sondern stets erneut der Klärung bedarf. Für ihn stand lediglich fest, dass es immer das Ich ist, das dazu aufgerufen wird. Ob und wie das Ich sowohl mit dem Geist, „der allein wahrnimmt und denkt“ (res cogitans) wie mit dem Körper verbunden ist, der „sieht“ und „geht“ und den er wie einen Automaten betrachtete (res extensa), war noch unklar, auch wenn er auf Grund der Glaubensgebote betonte, es sei Gott, der die Verbindung für das Ich bewirke. Doch dass die während Jahren vertretene Trennung von Körper und Geist, die seinen Ruf als Philosophen prägte und die ihm wissenschaftlich begründet erschien, weil er sie in religiöser Hinsicht nicht in Frage stellen durfte, dass sie in der letzten Phase seines Lebens stärker hinterfragt werden konnte, geschah ohne Zweifel in Verbindung mit dem nicht nachlassenden Forschungshunger und Mut von Prinzessin Elisabeth. Descartes konzentrierte seine volle Aufmerksamkeit auf Les passions de l’âme[10] – die Leidenschaften der Seele – und erkannte, dass die Gefühle als Kraft der Seele – „appetitus animae“ – , die seiner Meinung nach „in einer kleinen Eichel in der Gehirnsubstanz“[11] zentriert ist, die Verbindung zwischen Geist und Körper bewirken.
Als mächtigsten Affekt der „passions“ galt für Descartes die Liebe. Die Liebe wirkt in seinem Verständnis allerdings nicht ohne Gegenkraft, analog zu den anderen begehrenden und aufbegehrenden Affekten, die er zu den wichtigsten Leidenschaften zählte und deren Ursachen sowie deren Auswirkungen er eingehend erläuterte: zuerst Verwunderung (admiration), die er als uninteressiertes Verhalten gegenüber den aufwühlenden emotionalen Kräften verstand, Liebe und Hass (amour et haine), Wunsch oder Begierde und Abscheu (désir et aversion), Freude und Traurigkeit (joie et tristesse), ebenso Hoffnung und Verzweiflung (espoir et désespsoir), Wagemut oder Kühnheit und Furcht (audace et crainte) sowie Zorn (colère), dieser letzte Affekt ohne Gegenkraft. Im dritten Teil des Buches ging er zusätzlich auf die vielen weiteren Empfindungen ein, die sich von den Grundimpulsen ableiten. Die Traurigkeit ob dem Tod seiner fünfjährigen Tochter Francine, deren Mutter seine Haushälterin war, erlebte Descartes als die aufwühlendste und leidvollste Erfahrung all seiner „Leiden“, die er als „Leidenschaften“ verstand.
Der für Descartes wagemutige Schritt seiner Erkenntnis wurde in der Zeit- und Nachgeschichte nur teilweise erkannt. Die fortgesetzte Annahme einer Trennung von Leib und Seele, die zum Beispiel Blaise Pascal in der Auseinandersetzung mit Descartes zum Zerreissen aufwühlte und die er durch die Erkenntnis jener dritten Kraft – „le coeur qui pense“ zu lösen versuchte, hätte durch eine andere Beachtung dieses letzten Werks gemindert werden können. Die Folgen wirkten sich auf verhängnisvolle Weise bis ins vergangene Jahrhundert aus, wie die vom Cartesianismus geprägte denkerische Schulung Simone Weil‘s mit der Verachtung gegenüber ihrem Körper deutlich werden lässt.
Der Entwicklung von René Descartes selber zum eigenständigen Denker, wie sie in seinem Werk erscheint, wurde ein wenig vorgegriffen. Eigentlich stellt sich die Frage an den Anfang, was ihn zu seinen Erkenntnissen bewogen hatte, die er seit dem erstmals 1637 in Leyden anonym veröffentlichten Discours de la Méthode. Pour bien conduire sa raison et chercher la vérité dans les sciences[12] und der 1644 in Amsterdam erschienenen Übersetzung ins Lateinische in zahlreichen weiteren Abhandlungen wiederholte, vertiefte und verstärkte. Es lässt sich nicht sagen, es sei dabei um die Entdeckung des Denkens generell gegangen. Zu Descartes‘ Zeit bestand eine kaum mehr überschaubare Erbschaft an philosophischen Werken, die seit Jahrhunderten angewachsen war, und zugleich ein reger Austausch unter hervorragenden Denkern, deren Erkenntnisse häufig als Anstoss gegen alte Wahrheitserklärungen galten und lebensbedrohlich sein konnten. Die Antwort ist, dass Descartes bestrebt war, tatsächlich die Erkenntniskraft des Zweifels, des zweifelnden Ich zu vertreten. „Ich hatte immer grosses Verlangen, Wahres vom Falschen unterscheiden zu lernen, um in meinen Handlungen klar zu sehen und in diesem Leben sicher zu gehen. Freilich, solange ich nur die Lebensweise anderer Menschen betrachtete, fand ich kaum etwas, das mir Sicherheit geben konnte, und ich bemerkte hier fast ebenso grosse Unterschiede wie vorher unter den Lehren der Philosophen. So bestand der grösste Nutzen, (…) dass ich daraus lernte, nichts allzu fest zu glauben, wovon man mich nur durch Beispiel und Herkommen überzeugt hatte. Und so befreite ich mich nach und nach von vielen Irrtümern, die das natürliche Licht unseres Verstandes verdunkeln und uns unfähiger machen, Vernunft anzunehmen.“[13]
Descartes hielt fest, er habe einige Jahre darauf verwendet, „im Buch der Welt zu studieren“ und sich um neue Erfahrungen zu bemühen, bis er sich eines Tages entschlossen habe, sich selber zum Gegenstand des Studiums zu machen. „In sich selbst zu studieren“ habe bedeutet, alle Überzeugungen, die er aufgenommen hatte, abzulegen, sie zu überprüfen, durch andere zu ersetzen oder sie, „an der Vernunft gemessen“, zu erneuern. Das sei allerdings kein Beispiel, das er anderen vorhalten wolle. „Niemals ging meine Absicht weiter als auf den Versuch, meine eigenen Gedanken zu reformieren und auf einem Boden zu bauen, der ganz mir gehört. (…) Ich entschloss mich aber, wie ein Mensch, der sich allein und in der Dunkelheit bewegt, so langsam zu gehen, und in allem so umsichtig zu sein, dass ich, sollte ich auch nicht weit kommen, mich doch wenigstens davor hüte zu fallen.“[14]
Er war vermutlich eher ängstlich als mutig, gewiss nicht draufgängerisch. In der frühen Kindheit hatte er die Mutter durch die Geburt seines Bruders verloren[15], war somit ohne Mutter aufgewachsen, von Grossmutter und Amme betreut, wurde jedoch ab dem achten Lebensjahr ohne deren schützende Nähe im Jesuiteninternat nach strengen Massstäben gedrillt und erzogen. Das forderte Tapferkeit und einen strebsamen Willen, die Regeln zu kennen, sie anzuwenden und sich Anerkennung zu schaffen. Sehnsüchte und Leidenschaften mussten unterdrückt werden. So entschied er sich für Jurisprudenz als Studium, das er als Zwanzigjähriger abschloss, dann für Militärdienst beim holländischen Fürsten von Nassau. Es war ein Glück, dass er in dessen Umfeld Isaac Beeckman kennen lernte, einen kaum acht Jahre älteren Denker, der ihm die Kräfteverhältnisse und Gesetze der Physik verständlich machte. Voller Dankbarkeit widmete ihm Descartes seine erste Publikation, das Musicae compendium[16], in welchem er die Übereinstimmungen von Mathematik und Tonkunst belegte. Das Wissen nahm er mit in den nächsten Militärdienst, den er bei Maximilian I von Bayern leistete. Es ging um die Rückeroberung Prags durch die Katholiken, nachdem die protestantischen Adligen diese vertrieben hatten. Der 1555 in Augsburg geschlossene Friedensvertrag der Konfessionen, der den Kampf der Königshäuser um die Macht über Europa hätte bändigen sollen, wurde dadurch aufgelöst. Der Dreissigjährige Krieg nahm seinen Anfang. Descartes benutzte die Gelegenheit, in Prag die Werkstätten und Studienräume von Tycho de Brahe[17] und in Regenburg jene von Johannes Kepler[18] aufzusuchen, der aus der Erbschaft von Tycho de Brahe’s Beobachtungen unter anderem das Gesetz der elliptischen Bewegung der Planeten um die Sonne abgeleitet hatte und der Descartes in seinem naturwissenschaftlichen Erkenntnishunger stärkte. Ihm wurde klar, dass er aus den „Schlachtfeldern“ der Herrscher aussteigen wollte, dass er seine eigenen Wege der Erkenntnis brauchte.
Mit „langsam gehen“ und „umsichtig sein“, um sein Ich vor dem „Fallen“ zu schützen, verwies er auf seine Methode des Erkennens. Im Gegensatz zum grossen Regelkatalog der Logik und der Arithmetik wollte er sich auf vier Vorschriften beschränken: „Die erste besagt, niemals eine Sache als wahr anzuerkennen, von der ich nicht evidentermassen erkenne, dass sie wahr ist: das heisst Übereilung und Vorurteile sorgfältig zu vermeiden und über nichts zu urteilen, was sich meinem Denken nicht so klar und deutlich darstellte, dass ich keinen Anlass hätte, daran zu zweifeln. – Die zweite, jedes Problem, das ich untersuchen würde, in so viele Teile zu teilen, wie es angeht und wie es nötig ist, um es leichter zu lösen. – Die dritte, in der gehörigen Ordnung zu denken, das heisst mit den einfachsten und am leichtesten zu durchschauenden Dingen zu beginnen, um nach und nach, gleichsam über Stufen, bis zur Erkenntnis der zusammengesetzten aufzusteigen, ja selbst in Dinge Ordnung zu bringen, die natürlicherweise nicht aufeinander folgen. – Die vierte und letzte, überall so vollständige Aufzählungen und so allgemeine Übersichten aufzustellen, dass ich versichert wäre, nichts zu vergessen.“[19] Bevor Descartes auf den Inhalt seiner Methode des Denkens des Erkennens und Urteilens einging, beteuerte er noch die Grundsätze seiner Moral. Diese konnte nicht etwas Endgültiges sein, sondern beruhte auf dem „vorläufigen“ Wissen, war somit „eine Moral auf Zeit – ‚une morale par provision‘ -, um so glücklich wie möglich weiterleben zu können“[20].
Angesichts von Descartes‘ Angst, religiösen und fürstlichen Gehorsamsforderungen nicht zu genügen, erstaunt es nicht, dass er als wichtigsten Grundsatz seiner „Moral auf Zeit“ beteuerte, den Gesetzen und Sitten seines Vaterlandes zu gehorchen, an der Religion beharrlich festzuhalten, in der er durch Gottes Gnade seit seiner Kindheit unterrichtet worden sei, und sich in allem anderen nach den massvollsten, jeder Übertreibung fernsten Überzeugungen zu richten, die von den Besonnensten unter denen, mit denen er leben würde, gemeinhin in die Tat umgesetzt würden. Bei allem Beharren auf dem Eigenwert seines denkenden Ich unterzog sich Descartes der Vorherrschaft von Staat und Religion, somit der Macht des Könighauses und des Papstes, und er setzte diese Haltung letztlich bis zum Ende seines Lebens fort.
Mit dieser eindeutig beteuerten moralischen Absicherung konnte er den Rekurs auf sein denkendes Ich wagen. Wenn ihn eine Vorstellung beschäftige, unabhängig davon, ob diese wahr oder falsch sei, stehe bei aller Unsicherheit fest, dass es sein Ich sei, das denke. „Indem ich erkannte, dass diese Wahrheit ‚ich denke, also bin ich‘ so fest und sicher ist, dass die ausgefallendsten Unterstellungen der Skeptiker sie nicht zu erschüttern vermöchten, so entschied ich, dass ich sie ohne Bedenken als ersten Grundsatz der Philosophie, die ich suchte, ansetzen könne.“[21] Die Unterordnung des „ersten Grundsatzes“ der Philosophie als Erkenntnislehre unter den „ersten Grundsatz“ der Moral erachtete Descartes vermutlich als dringlich, um sein eigenes Ich zu schützen. Verglich er sich möglicherweise mit Augustinus und dessen Werk De civitate Dei – Über den Gottesstaat? Zu seiner Zeit war dieses Werk noch immer – oder infolge Luthers Prädestinationslehre erneut – von fast unumstösslicher Bedeutung. War für Descartes die darin bekundete Sicherheit des Ich selbst in der Täuschung – „fallor“, ein erkenntnismässiges „Fallen“ – eine mögliche Garantie vor Reaktionen der kirchlichen Macht? „Doch ohne das Gaukelspiel von Phantasien und Einbildungen fürchten zu müssen, bin ich dessen ganz gewiss, dass ich bin, weiss und liebe. Bei diesen Wahrheiten machen mir die Argumente der Akademiker keinerlei Sorge. Mögen sie sagen: Wie, wenn du dich täuschst? Wenn ich mich täusche, bin ich ja. Denn wer nicht ist, kann sich auch nicht täuschen. Also bin ich, wenn ich mich täusche. (Si enim fallor, sum.).“[22] Die Verwandtschaft über mehr als ein Jahrtausend hinweg im Formulieren des Ichwertes im Erkennen, selbst im Fehlerkennen, verblüfft.
Durch die Macht der kirchlichen Zensur sollte im 16. und 17. Jahrhundert der Wissenshunger erstickt werden, doch er wurde eher gesteigert. Descartes‘ Discours war ein anderes Werk voraus gegangen. Schon 1928 hatte er eine Abhandlung Regulae ad directionem ingenii[23] – Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft geschrieben, die aber zu seinen Lebzeiten nie erschien, sondern erst 1701 in Amsterdam, nach einer handschriftlichen Kopie, die im Nachlass von Leibniz in Hannover gefunden worden war. Nach den Regulae hatte Descartes sich in eine umfassende Abhandlung über den Menschen vertieft – Traité de l’homme -, die er aber erneut aus Angst vor der Inquisition geheim hielt und die ebenfalls erst nach seinem Tod, 1662, in lateinischer Übersetzung in Amsterdam herausgegeben wurde. Erst die der Prinzessin Elisabeth gewidmeten Principia philosophiae wagte Descartes selber in lateinischer Sprache 1644 in Amsterdam zu veröffentlichen, 1647 auch in französischer Sprache in Paris, ebenso wenige Jahre vorher – 1641 und 1642 – die Meditationes metaphysicae[24], doch die übrigen Werke, die von ihm vorliegen, gelangten erst nach seinem Tod an die Öffentlichkeit.
Als Beispiel unter anderen mag das Gespräch mit Burman[25] gelten, das auf Descartes‘ Aufzeichnungen einer Auseinandersetzung mit dem damals erst zwanzigjährigen Theologiestudenten Franz Burman beruht. Gerade diese Gesprächsnotizen machen deutlich, wie sehr jede philosophische Stellungnahme in die Kontroversen zwischen den Religionen, zwischen Katholizismus und calvinistischem, lutheranischem und niederländischem Protestantismus einbezogen war, wobei gerade letzterer, der von Burman und dem ihm nahestehenden Kreis vertreten wurde, sich Descartes‘ kritischem Denken mit der „föderaltheologischen“ Interpretation der biblischen Schriften[26] zu nähern versuchte. Die Tatsache, dass Descartes achtzehn Jahre lang in den Niederlanden lebte, bestätigt, dass die dortigen politischen, insbesondere religionspolitischen Verhältnisse ihm vertrauenswürdiger erschienen als er sie in Frankreich oder anderswo einschätzte.
Es war über den Briefaustausch mit Marin Mersenne[27], der wie Descartes das Jesuitenkollegium von La Flèche besucht hatte und der nach dem Studienabschluss in Theologie und Philosophie dem Orden der Paulaner beigetreten war, einem bedeutenden Mathematiker und Physiker[28], gleichzeitig einem Vermittler wissenschaftlicher Erkenntnisse nicht nur mit Descartes, sondern ebenso mit Galileo Galilei, mit Blaise Pascal, mit Pierre Gassendi und mit vielen weiteren mehr, dass 1632 Informationen über das Verfahren der Inquisition gegen Galilei nach Leyden gelangten. So wurde bekannt, dass Galilei gezwungen worden war, die Forschungsergebnisse über die Bewegung der Erde zu leugnen, um eine glimpfliche Verurteilung zu erlangen und nicht qualvoll hingerichtet zu werden wie Giordano Bruno. Bei Descartes ging es damals um eine erste Fassung der Prinzipien der Philosophie, in welcher er die Bewegung der Erde um die Sonne ebenfalls thematisierte und die er sofort weder abzuschliessen noch zu veröffentlichen beschloss. Im Brief an Mersenne hielt er fest, dass, wenn die Bewegung der Erde falsch sei, alle Grundlagen seiner Philosophie ebenfalls falsch seien, denn sie würden daraus aufs klarste folgen und seien derart mit allen Teilen seiner Abhandlung verknüpft, dass er sie davon nicht lösen könne, ohne das übrige völlig zu verunstalten. Da er aber für nichts in der Welt möchte, dass eine Schrift von ihm erschiene, worin sich das geringste Wort befände, das von der Kirche missbilligt würde, so wolle er sie lieber unterdrücken, als sie in verstümmelter Form veröffentlichen. Er habe auch niemals beabsichtigt, Bücher zu schreiben, und wenn er sich nicht ihm und den Freunden gegenüber durch sein Versprechen gebunden gefühlt hätte, so wäre er damit niemals zu einem Ergebnis gekommen.
War Descartes deswegen als feige zu beurteilen? Wohl kaum, er war vorsichtig im Publizieren, doch unter Freunden scheute er keine Diskussion. 1637 wagte er es, seinen Discours de la Méthode zu veröffentlichen, unter Beifügung der drei naturwissenschaftlichen Essays über die Dioptrik respektive die Brechung des Lichts, über die Meteore und über die Geometrie, die viel Kritik und Angriffe weckten. Vorsicht und wachsender Mut zeigten sich im Austausch mit Pierre Gassendi[29], in welchem es nicht um die Fragen der Optik oder der Astronomie ging, sondern um diejenigen der menschlichen Existenz im Verhältnis von Geist und Materie sowie im Verhältnis zu Gott, ferner um Fragen der Logik bezüglich der Ableitung der Begriffe, somit um zentrale Fragen der Prinzipien der Philosophie, die auch wieder im Gespräch mit Burman thematisiert wurden und die in einem Brief an den Übersetzer der Prinzipien der Philosophie aus dem Lateinischen ins Französische ausführlich erläutert und gerechtfertigt wurden. Um diesen zu schützen, wurde in der französischen Publikation von 1647 kein Name genannt, sondern lediglich erwähnt, dass „ein Freund“ die Übersetzung vorgenommen habe. Tatsächlich war es Claude Picot[30] gewesen, der Prior einer kleinen Abtei, der als Lebemann galt und der Descartes auch in Geldfragen beriet.
Im Brief an Picot findet sich eine der klarsten Zusammenfassungen von Descartes‘ Überzeugung und Zielsetzung, die interessanterweise mit jenen von Augustinus vielfach übereinstimmen: „Indem ich erwog, dass derjenige, der sich bemüht, an allem zu zweifeln, trotzdem nicht daran zweifeln kann, dass er selbst existiert, solange er zweifelt, und dass dasjenige, was so denkt (…) nicht dasjenige sein kann, was wir als unsern Körper bezeichnen, sondern was wir unsere Seele oder unser denkendes Bewusstsein nennen, so habe ich die Existenz dieses denkenden Bewusstseins als erstes Prinzip angenommen, aus welchem ich alles Folgende in der evidentesten Weise abgeleitet habe, nämlich dass es einen Gott gibt, der der Urheber von all dem ist, was sich in der Welt vorfindet, und der als Urquell aller Wahrheit unsern Verstand nicht derart geschaffen hat, dass er sich in den Urteilen täuschen kann, die er über die Dinge fällt, die er in höchst klarer und distinkter Weise erfasst. Das sind alle meine Prinzipien, deren ich mich in den immateriellen oder metaphysischen Dingen bediene, und aus ihnen leite ich in der klarsten Weise die körperlichen oder physischen Dinge ab (…)“.[31] Descartes äusserte hier auch den Wunsch, dass sein Buch erst wie ein Roman zu lesen sei, ohne dass die Lesenden sich bei Schwierigkeiten aufhalten sollten, dass erst in einer zweiten oder in einer dritten Lektüre die Verkettung seiner Erläuterungen und Begründungen verständlich würde. Gegen Schluss hielt er fest, es sei ihm klar, dass mehrere Jahrhunderte verfliessen müssten, bevor aus diesen Prinzipien alle Wahrheiten so abgeleitet würden, wie sie abgeleitet werden können.
Descartes gab in diesem Brief deutlich zu verstehen, in welchem Mass er von der Bedeutung seiner selbst und seines Werks überzeugt war. Sein Rückzug, wie er ihn gegenüber Mersenne erläutert hatte, entsprach dem Wunsch, ungeschmälert seine Denk- und Erkenntnisarbeit fortsetzen zu können. Er wurde damit dem seines Erachtens berechtigten Schutzbedürfnis vor der unberechenbaren Willkür und Gewalt gerecht, die sich mit Anfeindungen zwischen katholischen und reformierten Kontroll- und Machtansprüchen zeigten, so wie er sie schon als junger Mensch auf seinen Reisen quer durch Europa und später bei Beginn und in der Fortsetzung des Dreissigjährigen Kriegs miterlebt hatte.
Das Verhängnis des hassgeschürten Machtkampfs zwischen den europäischen Fürsten, von denen die einen die Reformation und die anderen die Gegenreformation vertraten, wirkte sich auch in den Niederlanden vielfach aus, selbst noch 1648, als der Westfälische Friedensvertrag erarbeitet werden konnte und es endlich zum Ende des Dreissigjährigen Kriegs kam[32]. Descartes entschloss sich damals, im Oktober 1649, die Einladung der dreiundzwanzig jährigen, eigenwilligen Königin Kristina von Schweden[33] zu akzeptieren, die seit fünf Jahren ihr Amt ausübte. Ein zweites Mal war es eine junge Fürstin, die ihn zu einem längst erwünschten Schritt ermutigte. Er stand mit ihr seit 1645 in einem Briefaustausch. Als Gepäck nahm er beim Umzug nach Stockholm vor allem naturwissenschaftliches Material und seine Untersuchungen über Les Passions de l’Ame mit. Er wohnte nicht am Hof, sondern beim französischen Botschafter Chanut, der sein Werk zum Teil kannte. Unklar ist, ob er Descartes wohlgesinnt war oder nicht. Die Gespräche mit der jungen Königin wurden über Wochen verzögert oder eher verhindert. Erst im Januar 1650 wurden sie in den frühen Morgenstunden wie geheime Treffen ermöglicht. Anfang Februar erkrankte Descartes plötzlich, aus unerklärbaren Gründen. Unter qualvollen, sich täglich verschlimmernden Schmerzen, die vom Hofarzt genau notiert wurden, starb er innerhalb von zehn Tagen, am 11. Februar 1650.
Es muss vermutet werden, dass Descartes‘ Tod kaum die Folge einer Lungenentzündung war, wie lange erklärt wurde, sondern eher einer Vergiftung durch Arsen, wie jüngst vorgenommene Untersuchungen nahelegen[34]. Die Verdacht drängt sich auf, dass ein Augustinermönch, François Viogué, der im Dienst der Botschaft Frankreichs stand, einen schlechten Einfluss Descartes‘ auf die beabsichtigte Konversion der jungen Königin zum Katholizismus befürchtete und zur Verhinderung dieses Einflusses vor keiner Bösartigkeit zurückschreckte. Dass Descartes auf heimtückische Weise ermordet wurde, entspricht einer grossen Wahrscheinlichkeit, zumal die ärztlichen Aufzeichnungen festhalten, wie Viogué sich triumphierend vor dem Sterbenden eingefunden habe und ihm das Ritual zur Sündenabsolution verwehrt habe.
Vier Jahr nach Descartes‘ Tod, am 14. Juni 1654, erklärte sich Kristina von Schweden zum Thronverzicht bereit. Sie übergab die Krone ihrem aus der Kinderzeit vertrauten Cousin Karl Gustav, der König Karl X. Gustav wurde, und trat zum Katholizismus über, noch im selben Jahr in Bruxelles und 1655 in der Innsbrucker Hofkirche. Sie nannte sich fortan Maria Alexandra, signierte mit Christina Alexandra und lebte bis zu ihrem Lebensende in Rom, unverheiratet und in keiner Weise strenggläubig, sondern sehr unabhängig, stets ihres persönlichen Wertes und – im Sinne Descartes‘ – der eigenen Denkkraft sicher. So setzte sie sich für die gleichen Rechte aller Religionen ein, nahm die 1686 in Rom verfolgten Juden in ihrem Haus auf oder äusserte sich offen gegen Ludwig XIV, als dieser das Edikt von Nantes aufhob und erneut die Hugenotten in Frankreich verfolgte. Den Konflikt, der für sie daraus wuchs, scheute sie nicht.
Mehr wie ein Jahrzehnt vorher, 1663, wurden vom Vatikan alle Schriften Descartes‘ auf den Index versetzt, das heisst, deren Publikation und deren Lektüre wurden als glaubenswidrig erklärt und die Missachtung der päpstlichen Verurteilung mit der Exkommunikation bedroht.
Die grosse, widersprüchliche Bedeutung, die schon zu Descartes‘ Lebenszeit seinen Erkenntnissen zugemessen wurde, wie unter anderem die Briefe von Claude Picot[35] belegen, die in Zusammenhang der Passions de l’âme entstanden und die das Misstrauen oder eher die aufdringliche Neugier auf einen eventuellen Mangel in der cartesianischen Vernunfttheorie unverhohlen deutlich machen, dies wurde nach seinem Tod und dreizehn Jahre später mit der Verurteilung durch Rom noch vielfach verstärkt. Fortan gab es keine philosophische Theorie mehr, die sich nicht mit dem cartesianischen Begriff und dem Inhalt der Vernunft auseinandersetzte, letztlich mit der Kraft des Denkens, insbesondere des kritischen Denkens als Kraft des Erkennens, einerseits im Verhältnis zum Glauben an die Unumstösslichkeit der Wahrheitserklärungen der Religionen, andererseits in Hinblick auf die Unumstösslichkeit der Macht- und Herrschaftsansprüche der Fürsten- und Königshäuser. Descartes‘ wiederholte Erklärung der Eindeutigkeit von „cogito, ergo sum“, das heisst der wechselseitigen Verbindung und damit der Gleichheit von denkendem und seiendem menschlichem Wesen, schuf eine Bekräftigung des Wertes subjektiven Denkens, die wie ein Anstoss wirkte. Fehlerhaftes und ungenügendes Erkennen waren dadurch nicht ausgeschlossen, im Gegenteil. Blaise Pascal’s Bild des Menschen als „roseau qui pense“ – als eines „schwankenden, aber denkenden Schilfrohrs“ schliesst die vielen anderen Kräfte ein, die emotionalen – auch die angstbesetzten – und triebhaften, die das Denken beeinflussen und möglicherweise das klare Erkennen verhindern. Ein Beispiel mag die vehemente Ablehnung sein, die Descartes selber gegen Blaise Pascal’s physikalische Experimente mit dem Luftdruck im Quecksilberbarometer äusserte, die 1647, als Descartes sich besuchshalber in Paris aufhielt, im Rahmen mehrerer Begegnungen vorgeführt wurden und bei welchen Descartes das Vakuum als unvereinbar mit der Unumstösslichkeit der Lehre von der Allgegenwart Gottes erklärte. Doch wie Pascal in der Abfolge seiner Traités du vide[36] nachweisen konnte, liess sich das Gesetz des Vakuums, das gleichzeitig in Florenz von Evangelista Torricelli[37] – einem Schüler und Nachfolgers Galileis – vertreten worden war, auch gegen die religiösen Vorbehalte als Tatsache bestätigen.
Der Zweifel als kreativer Erkenntnisanstoss, wie Descartes ihn proklamiert hatte, konnte als Bestätigung des Denkens die Möglichkeit zu einer Korrektur naturwissenschaftlicher Gesetze öffnen und deren Bedeutung stärken – wenngleich noch nicht sichern -, nachdem über Jahrhunderte die Verbindung weltlicher Herrschaft und Religion eine kritiklose Glaubenshaltung verlangt und deren Entwicklung behindert hatte. Doch einmal mehr bestätigte sich, dass der Zweifel als Anstoss zum Denken nicht genügte, dass das Kundtun von Erkenntnis und dessen Umsetzung einer zusätzlichen Kraft bedurfte: jener des Überwindens von Angst und Furcht, des Muts. Unter den Bedingungen des 17. Jahrhunderts geschah dies nur in Ausnahmefällen. Baruch de Spinoza[38] wurde zum Wegweiser und Vorbild.
Die Auseinandersetzung mit Descartes und jene mit Spinoza setzten bei mir beinah gleichzeitig ein. Die denkerischen Erbschaften, die sich durch die Lektüre anboten, gingen ineinander über, doch sie wirkten sich unterschiedlich aus. Spinoza erschien mir in allem radikaler, zugleich unabhängiger, gütiger und bescheidener, somit überzeugender.
„Nachdem die Erfahrung mich gelehrt hat, dass alles, was im gewöhnlichen Leben sich häufig uns anbietet, eitel und wertlos ist, da ich sah, dass alles, was und vor welchem ich mich fürchtete, nur insofern Gutes oder Schlimmes in sich enthielt, als die Seele davon bewegt wurde, so beschloss ich endlich nachzuforschen, ob es irgend etwas gebe, das ein wahres Gut sei, dessen man teilhaft werden könne, und von dem allein, mit Ausschluss alles Übrigen, die Seele ergriffen werde, ja dass es etwas gebe, durch das ich, wenn ich es gefunden und erlangt, eine beständige und vollkommene Freude auf immerfort geniessen könne. Ich sage: ‚endlich beschloss ich‘. Denn auf den ersten Blick erschien es nicht ratsam, für etwas noch Ungewisses das Gewisse aufzugeben. (…) Dasjenige nämlich, worum es im Leben meistens geht und was unter den Menschen, wie deren Taten zeigen, als sozusagen höchstes Gut eingeschätzt wird, lässt sich auf diese drei Dinge zurückführen: nämlich auf Reichtum, Ehre und Genusssucht. Durch dies drei wird der Geist so beansprucht, dass er kaum noch an irgendein anderes Gut zu denken vermag. (…) Alle jene Dinge aber, denen man gewöhnlich nachjagt, bieten nicht nur kein Mittel zur Erhaltung unseres Seins, sondern stehen ihr sogar im Wege. Häufig sind sie die Ursache des Untergangs derer, die sie besitzen, immer aber (das ist noch sorgfältiger darzulegen) die Ursache des Untergangs derer, die von ihnen besessen werden. (…) Diese Übel schienen mir bei weiterem Nachdenken daraus zu resultieren, dass all unser Glück oder Unglück auf einem einzigen Sachverhalt beruht, nämlich auf der Beschaffenheit des Gegenstandes, dem wir uns in Liebe hingeben. Denn über das, was man nicht liebt, wird niemals Streit entstehen. Es wird keine Trauer geben, wenn es zugrunde geht, keinen Neid, wenn ein anderer es besitzt, keine Furcht, keinen Hass, kurz gesagt, keine Erregung des Gemüts. All das findet sich nämlich nur bei der Liebe zu Dingen, die zugrunde gehen können, wie es all diejenigen sind, von denen wir soeben gesprochen haben. Aber die Liebe zu einem ewigen und unendlichen Ding nährt das Gemüt allein mit Freude, die ihrerseits frei von aller Trauer ist, etwas, das äusserst begehrenswert ist und mit aller Kraft zu erstreben ist.“[39]
Die Aufzeichnungen, die Spinoza 1662 – mit dreissig Jahren – im Traktat zur Verbesserung des Verstandes festhielt und die er nie zu Ende führte, blieben für ihn eine Art Richtschnur in der Abfassung der Ethik[40], mit welcher er etwa gleichzeitig einsetzte, die er Schritt für Schritt mehrere Jahre lang durchkämmte, allein und im Austausch mit seinen Freunden[41], bis er sie kurz vor seinem Tod abschloss, ohne sie veröffentlichen zu können. Es findet sich im Traktat das Zögern, das er in seiner Jugend kannte, doch ebenso das Aufflammen des Entscheids, den Weg, den er im Geist klar erfasste, zu wagen, ohne zu wissen, wie er ihn angesichts der Bedürfnisse des Körpers und der Notwendigkeit des politisch gelenkten Zusammenlebens mit anderen Menschen bewältigen würde.
Von den Herkunftsvoraussetzungen her hatte Spinoza weder Reichtum noch Beziehungen zu Fürstenhäusern oder zu wichtigen Kirchenvertretern gekannt, wie es bei Descartes der Fall war. Aussenseitertum und Eigenverantwortung wuchsen wechselseitig heran, einerseits auf Grund der schwierigen Lebensbedingungen, unter denen er gross wurde, andererseits entgegen diesen Bedingungen. Armut und Verfolgung konnten die Sorgfalt nicht beinträchtigen, mit welcher er die Grundsätze seiner selber umzusetzen suchte, frei von Misstrauen und Missgunst, von Hader oder Rachsucht. Die Erkenntnis „Hass kann niemals gut sein“[42], in keiner Variation, die er in der Ethik als Schlussfolgerung festhielt, hatte ihn vermutlich als Voraussetzung geleitet. Er strebte weniger nach klarster Erkenntnis im Vergleich mit anderen Denkern seiner Zeit, sondern unabhängig von Anerkennung nach dem „wahren“ und zugleich „höchsten Gut“, das „Glück“ oder „Glückseligkeit“ bedeutet und das aus der Übereinstimmung von Intellekt und Gemüt, von Geist und Körper wächst, trotz aller Hindernisse durch die Macht der Affekte. Es galt, deren Erkenntnis nicht zu scheuen. Von zentralem Wert war für ihn die Erfahrung verlässlicher Freundschaft, wie sie auch für Descartes galt, aber anders, bedingungsfrei, ausgehend vom Verstehen und Geben dessen, was dem anderen Menschen wohl bekam: ein grundsätzliches Vertrauen in das gleiche Menschsein, das in je zeitlicher Begrenztheit Teil des zeitlos Göttlichen ist. Letztlich beruhten bei Spinoza die Gesetzmässigkeiten im Erlangen von Glück – dem „summum bonum“ – , sowohl im Gestalten und Umsetzen des privaten wie des gesellschaftlichen oder staatlichen Lebens, auf den gleichen „geometrischen“ Grundsätzen: auf dem Freiwerden von der inneren Knechtschaft der Affekte, auf wechselseitigem menschlichem Wohlwollen, auf dem furchtlosen Fortsetzen und Umsetzen der Erkenntnis des richtigen Weges.
In Zusammenhang der Lebensgeschichte von Baruch de Spinoza – oder Bento, wie der Rufnahme war -, stiess ich auf etliche Lücken, die vielleicht damit zusammenhängen, dass er nie im Rampenlicht stehen wollte. Ohne Zweifel steht für seine Biographen fest, dass er in Amsterdam zur Welt kam und im portugiesisch-sephardischen Milieu aufwuchs[43]. Von seinem Vater, Michel d’Espinosa, ist bekannt, dass er aus Vidiguera in Süd-Portugal stammte und um 1615 herum mit anderen jüdischen Verfolgten in die Republik der Sieben Vereinigten Niederlande floh, um dem Zwang zur Taufe zu entkommen. Er liess sich in Amsterdam nieder und konnte sich als Kaufmann registrieren lassen. Seine erste Ehefrau, Rahel, starb 1627. Auch Bentos Mutter, Hana Debora d’Espinosa, seine zweite Ehefrau, starb in jungen Jahren an „Schwindsucht“ respektive an Tuberkulose, als ihr Sohn sechs Jahre alt war. Zurück blieben neben ihm aus der ersten Ehe Isaac , der 1649 starb, sowie die zwei Töchter, Rebecca und Mirjam, von denen die jüngere, Mirjam, 1651 starb. Der Tod war stets gegenwärtig. Auch Spinoza wird an Tuberkulose sterben, die bei ihm schon im frühen Erwachsenenalter auftrat. Nur Rebecca wird ihn überleben. Sein Vater, der als Frommer in der Gemeinde geehrt war und mehrmals zu den „Parnassim“, dem Ältesten-Rat, gehörte, heiratete ein drittes Mal und starb 1654, zwei Jahre nach seiner Frau Hester, als Spinoza 22 Jahre zählte. Damals musste er mit Gabriel, seinem jüngsten Halbbruder, das väterliche Handelsgeschäft übernehmen, das fortan „Bento y Gabriel de Spinoza“ hiess.
Vermutlich gab Spinoza, der ursprünglich nach dem Willen seines Vaters Rabbiner werden sollte, wegen der kaufmännischen Verpflichtung das Talmud-Thora- Studium nicht auf, sondern er begann, die jüdischen Schriften und Gesetze anders zu lesen, sich mit Moses Maimonides[44]‘ Führer der Unschlüssigen zu befassen, mit der Frage, ob die mosaischen Gesetze tatsächlich göttlichen Ursprungs seien, mit weiteren gewagten Auseinandersetzungen, die er ab 1656 im Kreis um Juan de Prado[45] fortsetzte, einem vor der Inquisition geflohenen portugiesisch-jüdischen Arzt, der über Sevilla, Rom und Hamburg erst ein Jahr zuvor nach Amsterdam gelangt war. Ebenso wenig gab Spinoza das Lateinstudium bei Franciscus van der Enden[46] auf, einem ehemaligen Jesuitenmönch, der sich erst auf Kunsthandel eingelassen hatte, dann eine eigene Schule gründete, Theaterstücke schrieb und zum revolutionären Denker wurde, der sich gegen Sklaverei, für ein allgemeines Schulsystem, für die gleiche Toleranz gegenüber allen Religionen und für eine demokratische Staatsordnung einsetzte, sich in diesem Zusammenhang an der Vorbereitung eines Komplotts gegen den französischen König Louis XIV beteiligte, gefangen genommen und vor der Bastille in Paris erhängt wurde. Spinozas kleine Abhandlung vom Staat wie der 1670 anonym veröffentlichte Tractatus Theologico-Politicus[47], der die lutheranischen Machthabenden provozierte und von dessen Übersetzung ins Niederländische Spinoza daher abriet, waren vermutlich in starkem Mass vom Gedankenaustausch mit van der Enden beeinflusst worden. Zusätzlich lernte er an der Amsterdamer Börse mennonitische Kaufleute kennen, unter anderen Jarig Jelles, Simone Joosten de Vries und Pieter Balling, die als Mitglieder ihrer niederländischen Täufergruppe sowohl ihre theologischen und philosophischen Studien – unter anderem die Auseinandersetzung mit Descartes‘ Schriften – fortsetzten wie diese mit der wirtschaftlich erforderten Arbeit verknüpften. Sie wurden zu Spinozas besten Freunden, mit denen er vertrauensvoll das wissenschaftliche Gespräch führte, das sich im Briefwechsel wie im allmählich entstehenden Werk dokumentiert findet.
Als Spinoza 1656, mit dreiundzwanzig Jahren, beschloss, das verschuldete Geschäft seines Vaters einem Vormund zu übergeben und unter Verzicht auf jegliche Erbschaft daraus auszusteigen[48], hatte kurz vorher die sephardische Gemeinde über ihn und Juan de Prado den „cherem“ – den „grossen Bann“, vergleichbar mit der christlichen Ex-Kommunikation – ausgesprochen. Spinozas Gottesvorstellungen hatten sich von den traditionellen jüdischen entfernt und hatten sich zunehmend den naturwissenschaftlich-philosophischen eines überreligiösen, pantheistischen Ordnungsprinzips angenähert. Dass er es als Gemeindemitglied wagte, einen uralten, auch von Maimonides tangierten Widerspruch in der jüdischen Lehre zu benennen – einerseits das Nichtwissen und die Nichtbenennbarkeit des Göttlichen, andererseits die nicht antastbare Glaubenserklärung göttlichen Ursprungs der mosaischen Gesetze -, das konnte nicht geduldet werden. Er wurde als Freigeist bezeichnet, als Atheist, der nirgendwo dazu gehörte. Damit verlor er auch den wirtschaftlichen Boden. Um seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können, lernte er, Linsen schleifen. Möglicherweise trug diese Arbeit zur Tuberkulose bei, doch sie ermöglichte ihm, materiell zu überleben und sich auf die philosophische Arbeit zu konzentrieren. Fortan nannte er sich Benedictus de Spinoza.
Das einzige unter Spinozas‘ Namen veröffentlichte Buch war Descartes‘ Prinzipien der Philosophie auf geometrische Weise begründet mit dem Anhang, enthaltend metaphysische Gedanken[49], eine knappe, zum Teil ein wenig verbesserte Wiedergabe der cartesianischen Erkenntnislehre im Zwiespalt zwischen Naturwissenschaften und Metaphysik. Durch Vermittlung von Simon de Vries schrieb ein befreundeter Arzt, Lodewijk Meyer, dazu das Vorwort und betonte, Spinoza habe lediglich die Philosophie Descartes‘ zusammengefasst, der lange in Leyden gelebt habe und in Schweden gestorben sei, es handle sich nicht um Spinozas‘ Lehre. In einem Brief an Meyer von Anfang August 1663 hatte Spinoza ihn gebeten, trotz der Betonung der Cartesianischen Lehre zu erwähnen, dass „ich vieles auf andere Art beweise, wie Descartes es bewiesen hat, nicht um Descartes zu verbessern, sondern bloss um meine Anordnung besser einzuhalten, (…) dass ich aus diesem Grund vieles beweise, was Descartes hier ohne einen Beweis festgestellt hat, und dass ich anderes, was Descartes weggelassen hat, hinzufügen musste.“[50] Das Buch erschien 1663 in lateinischer Fassung, ein Jahr später dank der Übersetzung durch Peter Balling[51]‘ in niederländischer Sprache, beide Male mit Hilfe der finanziellen Unterstützung durch den Kreis seiner mennonitischen Freunde, den „Kollegianten“ . Seit 1661 wohnte er bei ihnen in Rijnsburg[52], nicht weit von Leyden. Ein paar zusätzliche Freunde waren dazu gekommen, unter anderen der Buchdrucker und Verleger Jan Rieuwertsz, der für die Herausgabe der zwei Bücher wie der späteren, die anonym oder posthum publiziert wurden, verantwortlich war, und Jan Hendrik Glazemaker, der ebenfalls mit Spinoza bis zum Tod verbunden blieb. Selbst wenn die Freunde nicht alle seine Erkenntnisse teilten, vor allem nicht seine Gottesvorstellungen, blieb die Freundschaft unangetastet.
Vermutlich zog Spinoza 1663, bald nach Erscheinen des Buchs, nach Voorburg bei Den Haag um, wo er knapp sieben Jahre lebte. Noch in Rijnsburg hatte er nicht nur Descartes‘ Prinzipien, sondern auch den unvollendet gebliebenen Traktat über die Verbesserung des Verstandes geschrieben wie die lateinische Fassung des Theologisch-politischen Traktats, dessen Übersetzung ins Niederländische Spinoza nicht zulassen mochte, obwohl dadurch einem Teil des Freundeskreises der Text nicht zur Verfügung stehen konnte. Als das Buch 1670 anonym in Den Haag erschien, weckte es misstrauische Neugier und Aufsehen, ohne dass der ungenannte Autor und der Verleger des Buchs, die nicht unbekannt waren, öffentlich angeprangert werden konnten. Als jedoch zwei Jahre später der liberale Regent Jan de Witt[53] und dessen Bruder Cornelis in Den Haag durch Lynchjustiz aufs grausamste ermordet wurden und die Oranier mit dem 21jährigen Wilhelm III. an die Macht kamen, wurde der Tractatus theologico-politicus als religionsschädlich erklärt und 1674 durch einen Erlass des Hofes verboten. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – verbreitete sich der Tractatus in ungezählten Neudrucken und Übersetzungen nicht nur in Holland, sondern ebenso in England, in Deutschland, Frankreich und selbst in der Schweiz. Darauf wurde 1678 das Verbot verschärft, mit der Androhung schwerer Geldstrafen und Berufsverbote bis zur Verbannung bei Übertretung des Verbots. Spinoza blieb gegenüber all diesen Massnahmen gelassen, wie die Briefe aus jener Zeit belegen. Sein Buch war mit grösster Sorgfalt in mehrjähriger Arbeit in lateinischer Sprache entstanden, er hatte die Neuauflagen nicht verursacht und hatte nichts zu fürchten. Er war höchstens bestrebt, Mängel zu korrigieren, falls solche durch Unachtsamkeit entstanden waren.
Warum und durch wen Spinoza 1673 nach Utrecht beordert worden war, ob es tatsächlich Louis II., der französische Prinz de Condé war, und Spinoza aus diesem Grund bei seiner Rückkehr nach Den Haag in Gefahr war, als Verräter der Volkswut ausgeliefert zu sein, das konnte nicht geklärt werden. Es steht lediglich fest, dass er furchtlos war und seine verängstigten Freunde beruhigte. Auch lehnte er im selben Jahr eine Einladung des Kurfürsten Karl I. Ludwig von der Pfalz ab, als Berater an seinen Hof zu kommen und unter Zusicherung der Lehrfreiheit als Professor für Philosophie an der Universität Heidelberg zu lehren. In Spinozas Antwortbrief an J. Ludwig Fabritius, der eine Professor für Theologie ausübte und der die Einladung des Fürsten übermittelt hatte, hielt er fest: „Da es nie meine Absicht gewesen ist, öffentlich zu lehren, kann ich mich auch nicht dazu entschliessen, diese ausgezeichnete Gelegenheit zu ergreifen, wenngleich ich die Sache lange bei mir erwogen habe. Mein erstes Bedenken ist, dass ich wohl auf die Weiterbildung der Philosophie verzichten müsste, wenn ich mich dem Unterricht der Jugend widmen wollte. Dann habe ich das Bedenken, dass ich nicht weiss, in welche Grenzen die Freiheit zu philosophieren einzuschliessen ist, damit ich nicht den Anschein erwecke, als wolle ich die öffentlich anerkannte Religion stören, denn Entzweiungen entstehen weniger aus feurigem Religionseifer als aus der Verschiedenheit menschlicher Affekte oder aus der Sucht zu widersprechen, die alles, auch das richtig Gesagte, zu verkehren und zu verdammen pflegt. Wie ich dies schon in meinem privaten und einsamen Leben erfahren habe, um wie viel mehr hätte ich es zu befürchten, nachdem ich zu dieser Würde aufgestiegen wäre.“[54]
Spinoza lebte weiter zurückgezogen und mit grösster Disziplin in Den Haag. Die Tuberkulose hatte sich verstärkt, er fühlte sich zunehmend krank. Vermutlich schloss er in jener Zeit erst seine Arbeit an der Ethik nach geometrischer Methode dargestellt[55] ab, wie in einem Brieffragment von August 1675 an den Cartesianer Walther von Tschirnhaus deutlich wird, mit dem er seit längerem in Kontakt stand. Spinoza wünschte, mit Unterstützung durch seine Freunde dieses letzte Werk zu veröffentlichen, doch wegen der laufenden Verfemungen musste er seine Bestrebungen einstellen. An Heinrich Oldenburg[56], einen Theologen aus Bremen, der aus theologischem Interesse mit ihm Kontakt aufgenommen hatte, schrieb er im Sommer 1675: „Gerade zu der Zeit, als ich Ihren Brief vom 22. Juli erhielt, bin ich nach Amsterdam gereist in der Absicht, das Buch, von dem ich Ihnen geschrieben habe, dem Druck zu übergeben. Während ich damit beschäftigt war, wurde überall das Gerücht ausgesprengt, es sei ein Buch von mir über Gott unter der Presse, in dem ich zu beweisen suche, dass es keinen Gott gebe, ein Gerücht, das bei vielen Leuten Eingang fand. Daraus nahmen einige Theologen (vielleicht die Urheber des Gerüchts) Gelegenheit, mich beim Prinzen und bei den Behörden zu verklagen. Ausserdem hörten dumme Cartesianer, die in dem Verdacht standen, mir günstig gesinnt zu sein, nicht auf, meine Meinungen und Schriften überall zu beschimpfen, um diesen Verdacht von sich abzuwenden, und noch jetzt hören sie damit nicht auf. Als ich das von einigen glaubwürdigen Leuten erfahren hatte, die mir zugleich versicherten, dass die Theologen mir überall nachstellten, da entschloss ich mich, die vorbereitete Ausgabe einstweilen zu verschieben, bis ich sehen würde, wie die Sache ausginge, und nahm mir vor, Ihnen alsdann meinen Entschluss mitzuteilen. Die Sache scheint aber von Tag zu Tag eine schlimmere Wendung zu nehmen, und ich bin im Ungewissen, was ich dabei tun soll.“ [57] Erst in Spinozas Todesjahr konnte die Ethik erscheinen, wieder ohne Angabe des Autors.
Das Interesse, das Spinozas Denken gegen Ende seines Lebens zunehmend weckte, war letztlich nur von Seiten seiner alten Freunde wohlwollend. Auf Grund von Gerüchten und Vorurteilen oder infolge einer zufälligen Kenntnis von Textauszügen suchten zahlreiche Neugierige einen Zugang zu ihm und zu seinen unveröffentlichten Schriften. Dies trifft auch auf Gottfried Wilhelm Leibniz[58] zu, der als Lutheraner mit einem grossen Bildungspaket in Theologie, Philosophie, Natur- und Rechtswissenschaft zum katholischen Milieu des Kurfürsten von Mainz Zugang gefunden hatte und als Rat an dessen Revisionsgericht tätig war. Irgendwie hatte er Einblick in den Theologisch-politischen Traktat finden können und sprach darüber als über „eine bis zur Unerträglichkeit freche Schrift“, ja „ein entsetzliches Buch“. Über die Autorschaft hatte ihn der Rhetoriker Johan Georg Graevius aufgeklärt, der sich bei Spinoza wie ein philosophisch Interessierter eingenistet hatte und gleichzeitig einer seiner heimtückischsten und schärfsten Gegner war, ein Freund des calvinistischen Theologen Christoph Wittich, der Descartes‘ Philosophie mit der Theologie zu verknüpfen suchte und gleichzeitig eine Abhandlung mit dem Titel Anti-Spinoza schrieb, die 1690 durch seinen Bruder veröffentlicht wurde. Leibniz, der sich immer wieder in Paris aufhielt – das erste Mal 1671 mit dem Auftrag, König Louis XIV von dessen innereuropäischen Kriegsplänen abzulenken und ihn zu einem Feldzug gegen Ägypten zu überreden – , traf dort 1675 zufällig einen der Freunde Spinozas, mit dem das Gespräch auf die Ethik kam. Auf die an Spinoza gerichtete Anfrage, dem „deutschen Ratsherrn“ eine Abschrift auszuhändigen, wollte dieser nicht eingehen, worauf Leibnizens Neugier noch mehr geweckt wurde. Auf der Rückreise von Paris nach Deutschland machte er Halt in Den Haag und liess ich bei Spinoza vorstellen. Dieser war schon sehr geschwächt, doch trotz des schlechten Gesundheitszustandes gewährte er Leibniz mehrere Gespräche.
Leibniz muss vom ungewöhnlichen Denker sehr beeindruckt gewesen sein, doch „nach dessen Tod war er einer der ersten, die jeden ernsthaften Kontakt mit dem Ruchlosen leugnete. Nur einmal wollte er ihn im Haus eines Haager Regenten bei Tisch getroffen haben, (…) und je mehr Jahre seit den Gesprächen vergingen, desto gehässiger wurde sein Urteil über den abtrünnigen Juden aus Holland.“[59]
Baruch – Benedictus – de Spinoza starb vier Monate nach Leibnizens Besuch, am 21. Februar 1677, noch keine fünfundvierzig Jahre alt, vermutlich in Gegenwart seines Arztes Lodewijk Meyer, tief betrauert von seinen Freunden. Da er keiner Religion angehörte, wurde er in der 1649 gebauten, lutheranischen Nieuwe Kerk rechts von der Kanzel beigesetzt, im Mietgrab 162, dicht neben dem Grab von Jan de Witt. Noch im selben Jahr wurden ohne Angabe des Autors seine unveröffentlichten Manuskripte herausgaben, auch eine hebräische Grammatik, die unvollendet zurückgeblieben war. Die Gebeine kamen nach einigen Jahren ins Beinhaus, später in die Erde vor dem Beinhaus hinter der Kirche, wo heute eine einfache Steinplatte an den grossen Denker erinnert.
Wie erklärt sich die Feindseligkeit, der Spinoza zu seiner Lebenszeit und noch lange später ausgesetzt war? Zum Teil hat ohne Zweifel eine anti-jüdische Grundhaltung mitgewirkt, doch vor allem mag die Offenheit seiner Gottesvorstellung Ursache gewesen sein, eine von der Starrheit der Religionen befreite, pantheistische Erklärung des Göttlichen, die sich allein auf die Vollkommenheit und Zeitlosigkeit der Naturgesetze im unablässigen Werden und Sein – „natura naturans“ und „natura naturata“ – und nicht auf die Bibel mit den menschlich geschaffenen Gottbildern bezog, durch welche die jüdische wie die christlichen Religionen geprägt wurden. Zusätzlich mögen die im Theologisch-politischen Traktat, in der Abhandlung vom Staat wie in der Ethik sorgfältig erläuterten Erkenntnisse von der Natur des Menschen, von der Willensfreiheit und von der urteilsfreien Auseinandersetzung mit den Affekten, ferner von den Formen einer staatlichen Rechtsgemeinschaft so ungewöhnlich gewesen sein, dass sie grosse Unruhe bewirkten. Spinozas Denken ging um viele Jahrzehnte dem voraus, was später als „Aufklärung“ bezeichnet wurde.
Gerade was das Staatswesen betrifft, formulierte Spinoza im Theologisch-politischen Traktat ethische Grundsätze demokratischer Rechtsordnung und Gerechtigkeit, die damals einer Sehnsucht entsprachen, aber nirgendwo der Realität. Spinoza ging es dabei keineswegs um Utopie. Was er an ethischen Kriterien festhielt, sollte sich nicht im „Nirgendwo“ angesiedelt finden wie in Thomas Morus Utopia[60], sondern sollte ein realisierbarer Entwurf demokratisch geregelten menschlichen Zusammenlebens sein, ein Entwurf von realisierbarer Dringlichkeit. „Der letzte Zweck des Staates ist nicht zu herrschen noch die Menschen in Furcht zu halten oder sie fremder Gewalt zu unterwerfen, sondern vielmehr den einzelnen von der Furcht zu befreien, damit er so sicher wie möglich leben und sein natürliches Recht zu sein und zu wirken ohne Schaden für sich und andere vollkommen behaupten kann. Es ist nicht der Zweck des Staates, die Menschen aus vernünftigen Wesen zu Tieren oder zu Automaten zu machen, sondern vielmehr zu bewirken, dass ihr Geist und ihr Körper ungefährdet seine Kräfte entfalten kann, dass sie selbst frei ihre Vernunft gebrauchen und dass sie nicht mit Zorn, Hass und Hinterlist sich bekämpfen noch feindselig gegeneinander gesinnt sind. Der Zweck des Staates ist in Wahrheit die Freiheit.“[61]
Für Spinoza war unbestritten, dass das Zusammenleben der Menschen der staatlichen Gesetze bedarf, die die Handlungsmöglichkeiten zu Gunsten der Gesamtheit nach Kriterien der Gerechtigkeit einschränken und die von jedem Einzelnen gleichermassen zu beachten sind, da allen auch die gleichen Rechte zustehen und jede Ausnahme die Möglichkeit eines Schadens nach sich zieht. „Denn die Menschen werden nicht als Staatsbürger geboren, sie werden erst dazu gemacht. Die natürlichen Affekte der Menschen sind zudem überall dieselben. Wenn daher in einem Staat die Schlechtigkeit mehr herrscht und mehr Verbrechen begangen werden als in einem anderen, so kommt das sicher daher, dass dieser Staat nicht genügend für die Eintracht gesorgt hat, dass er seine Rechte nicht weise genug angeordnet hat, dass er folglich kein vollkommenes Staatsrecht erhalten hat. Denn ein Staatsleben, aus dem die Ursachen von Empörungen nicht verbannt sind, in dem beständig Krieg zu befürchten ist und in dem endlich die Gesetze oft verletzt werden, ist nicht viel vom eigentlichen Naturzustande verschieden, wo jeder Einzelne nach seinem Sinne und unter grosser Gefahr für sein Leben lebt.“[62]
Von entscheidender Bedeutung war für Spinoza, dass kein Gesetz das Denken einschränken darf. Die Gedankenfreiheit war nach seinem Ermessen von höchstem Wert. „Darum wird diejenige Regierung die gewalttätigste sein, unter der einem jeden die Freiheit zu sagen und zu lehren, was er denkt, verweigert wird, und diejenige dagegen gemässigt, die diese Freiheit jedem zugesteht.“[63] Die Gedankenfreiheit schloss für Spinoza jedoch auch ein kritisches Verhältnis zu Gesetzen ein. Falls „jemand nachweist, dass ein Gesetz der gesunden Vernunft widerstreitet und deshalb für seine Abschaffung eintritt, so erwirbt er sich ganz gewiss ein Verdienst um den Staat als einer seiner besten Bürger“[64]. Es wäre kein grösseres Unglück für einen Staat denkbar als das Gegenteil, das heisst, wenn Menschen, bloss weil sie eine andere Meinung haben und nicht zu heucheln verstehen, wie Verbrecher des Landes verwiesen oder eingekerkert und gar zum Tod verurteilt würden.
Für Spinoza ermöglichte die „gesunde Vernunft“ wohl Kriterien für Recht und Unrecht, doch gleichzeitig war er sich der Macht der menschlichen Affekte bewusst, die im Widerspruch zur Vernunft sein können. „Die Affekte, mit denen wir zu kämpfen haben, werden von den Philosophen als Fehler angesehen, in welche die Menschen durch eigene Schuld verfallen. Daher pflegen sie sie zu belachen, zu beweinen, zu tadeln oder, mit noch grösserer Scheinheiligkeit, zu verabscheuen. Damit glauben sie nämlich etwas Erhabenes getan und den Gipfel der Weisheit erreicht zu haben, wenn sie die menschliche Natur, wie sie nirgends existiert, auf alle Weise loben, dagegen wie sie wirklich ist, herunter zu reden verstehen. Sie nehmen ja die Menschen nicht, wie sie sind, sondern wie sie sie haben möchten, und so ist es gekommen, dass sie meistens statt einer Ethik eine Satire geschrieben und niemals eine brauchbare Staatslehre entworfen haben, immer nur eine, die als Chimäre gelten muss oder die man nur in Utopien oder im goldenen Zeitalter der Dichter, wo sie am wenigsten nötig wäre, in die Wirklichkeit hätte umsetzen können.“[65] Gemäss Spinoza ist es dringlich, die Affekte ernst zu nehmen, sie zu erfassen und zu verstehen, sie zu akzeptieren oder sie so zu beeinflussen, dass sie nicht zum Schaden gereichen, unabhängig von der Rangordnung der Affekte, als deren mächtigsten er allerdings „die Begierde“ als „des Menschen Wesenheit selbst“ erachtet. (…). „Hier verstehe ich unter dem Wort Begierde jedes Streben, jeden Drang, jeden Trieb, jede Wollung, die je nach dem Zustand des selben Menschen verschieden und nicht selten einander dergestalt entgegengesetzt sind, dass der Mensch nach verschiedenen Richtungen hingezogen wird und nicht weiss, wohin er sich wenden soll.“[66]
Seines Erachtens bedarf es keineswegs der Verurteilung der Affekte, sondern der Einsicht in die richtige Lenkung. Wer klein beigebe, entmündige sich selbst. „Die menschliche Ohnmacht, die Affekte zu meistern und zu hemmen, nenne ich Knechtschaft“.[67] Diese Form der „menschlichen Knechtschaft“, die von Einzelnen und von Vielen infolge von Kleinmut selber geschaffen werde, könne nur durch Einsicht sowie durch Übung und Mühe gelöst werden, durch fortgesetzte Stärkung im Umsetzen der Vernunft, letztlich in Hinblick auf ein „glückseliges Leben“, in welchem die dem Menschen zustehende Freiheit gelebt werden kann.[68]
Dabei ging Spinoza kritisch auf die von Descartes in den Leidenschaften der Seele vertreten Annahme ein, dass dank der in der Mitte des Gehirns angelegten Zirbeldrüse der Kampf der Seele gegen die von körperlichen Kräften verursachten Affekte gelinge. Spinoza erachtete diese Erklärung als ziemlich leichtfertiges Konstrukt, das sich weder beweisen lasse noch viel Sinn mache.
Ob Spinoza auch Kenntnis hatte von Etienne de la Boëtie’s Discours de la servitude volontaire[69], dieser bedeutenden Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft der Menschen, lässt sich nicht belegen. Es ist möglich, dass sie ihm als denkerische Erbschaft zur Verfügung. Etienne de la Boëtie war in Frankreich mehr als drei oder vier Generationen vor Descartes und Spinoza mit den religionspolitischen Machtkämpfen konfrontiert worden und hatte sich nicht gescheut, dazu Stellung zu nehmen. Er hatte 1559 als Student der Rechte an der Universität Orléans erlebt, wie sein Lehrer Anne de Bourg, der zugleich Parlamentsrat war, wegen der Kritik an der Verfolgung und öffentlichen Verbrennung von Hugenotten selber gefangen genommen und hingerichtet wurde. Der Mut seines Lehrers im Gegensatz zum Mitläufertum der Menge, zur freiwilligen Unterwerfung unter Aufhetzung und Missbrauch von Herrschaft , die in keiner Weise dem menschlichen Wohlbefinden, sondern der Willkür der Mächtigen diente, muss ihn zur Niederschrift seiner Abhandlung veranlasst haben. Michel de Montaigne[70] strebte die Veröffentlichung bald nach dem frühen, unerwarteten Tod seines Freundes an, der sich auf allen Ebenen, auch auf der rechtlichen, für den konfessionellen Frieden eingesetzt hatte, dann 1563 von einer der grassierenden Seuchen unheilbar angesteckt worden war. Wegen der innerfranzösischen Gewaltzustände musste die Publikation mehr als zehn Jahre aufgeschoben werden. Es kursierten wohl einige handschriftliche Kopien, doch der erste Teildruck erschien in Paris erst 1574, die erste deutsche Übersetzung 1593.
Es waren unterschiedliche Erfahrungen und Zielsetzungen, die bei Etienne de la Boëtie und bei Spinoza Anlass gaben, den Ursachen der menschlichen Unfreiheit nachzugehen, doch es findet sich eine gedankliche Verwandtschaft, die verblüfft. Auch Etienne de la Boëtie hielt fest, er glaube nicht fehlzugehen mit der Behauptung, „dass in unsrer Seele ein natürlicher Keim der Vernunft liegt, der durch guten Rat und Umgang gehegt wird, so dass er zu voller Kraft erblüht, und der umgekehrt, wenn er sich gegen die wuchernden Laster nicht halten kann, erstickt oder abstirbt. (…) So besteht kein Zweifel, dass wir von Natur aus alle frei sind, (…) und keinem kann es in den Sinn kommen, dass die Natur auch nur einen in die Knechtschaft versetzt hätte, da sie uns doch alle in Gesellschaft brachte. Aber in Wahrheit ist es ganz nichtig zu erörtern, ob die Natur natürlich sei, da man ja niemanden in Knechtschaft halten kann, ohne ihm Unrecht zu tun, und da nichts auf de Welt so gegen die von Grund aus vernünftige Natur ist wie das Unrecht.“[71] Das Verhängnis sei, dass, wer nur Unrecht gekannt habe, ja wer von der Erziehung her sich daran gewöhnt habe, sich kaum darüber beklagen noch sich dagegen zur Wehr setzen könne. „Immer wenn ich diese Kerle sehe, die den Tyrannen anhimmeln, um aus seinem Unrecht und aus der Unterdrückung des Volkes Gewinn zu ziehen, muss ich staunen über ihre Schlechtigkeit, und manchmal bekomme ich auch Mitleid mit ihrer Dummheit. (…) Sie müssen nicht nur tun, was er sagt, sondern denken, was er will und oft noch seinen Gedanken zuvorkommen, um ihn zu befriedigen, (…) sein Vergnügen für das ihre halten, den eigenen Geschmack um seinetwillen aufgeben, ihren Charakter verändern und ihre Natur verleugnen. Heisst das wohl glücklich leben? Heisst das leben?[72]
Für Etienne de la Boëtie war klar, dass „wer philosophiert, mit seiner Zeit nicht einig sein kann“[73]. Wer die Zeitgeschehnisse kritisch betrachte, komme nicht darum herum, Machtmissbrauch zu erkennen, zu hinterfragen und nach Änderung zu trachten. Menschliche Erniedrigung und Entwürdigung könne nie gerechtfertigt werden. Kein Unrecht lasse sich mildern und keines lasse sich legitimieren, ob die politischen Umstände, unter denen es geschehe, auf Grund eines „durch Usurpation oder Erbfolge oder gar durch die Wahl des Volkes zur Macht gelangten Tyrannen“ entstanden seien[74]. Wenn aber kein Aufbegehren dagegen geschehe, sei zu befürchten, dass das Urteilsvermögen der Menschen in einem Volk „durch Gewohnheit verkümmert“ sei. (…) Wer die Gewalt duldet, ohne ihr zu widerstehen, ist krank. Wer diese Gewalt billigt oder an ihr teilhat, ist rettungslos krank.“[75]
Es war unbestreitbar für den jungen Etienne de la Boëtie, dass sich aus der Ansammlung von Menschen, die sich „der Grausamkeit, der Treulosigkeit und der Ungerechtigkeit“ unterwerfen, dass sich daraus „nicht eine Gemeinschaft bilden kann, sondern eine Rotte. Statt Liebe verbindet sie die Furcht vor einander und sie werden nicht Freunde, sondern Spiessgesellen. (…) Freundschaft dagegen klingt nicht nur heilig, sie ist es auch. Sie entsteht nur zwischen guten Menschen und gründet sich auf gegenseitige Achtung. Man erhält sie weniger durch Wohltaten als durch ein rechtschaffenes Leben. Ein Freund ist des anderen gewiss, weil er seine Redlichkeit kennt: deren Bürgen sind sein guter Charakter, seine Treue und seine Zuverlässigkeit.“[76]
Was Etienne de la Boëtie selber als höchsten Wert erachtete, wollte er weiter vermitteln. „Lernen wir doch einmal, lernen wir recht zu handeln!“[77], rief er auf. Gibt es Entscheidenderes als zu lernen, Vertrauen in das eigene Handeln zu gewinnen? Ohne Zweifel stimmte ihm Baruch de Spinoza zu wie später Heinrich Heine oder Moritz Schlick oder Hannah Arendt und Simone Weil, viele weitere mehr bis zum heutigen Tag.
[1] René Descartes (1596-1650). Die Prinzipien der Philosophie. Mit Anhang: Bemerkungen René Descartes‘ über ein gewisses in den Niederlanden gegen Ende 1647 gedrucktes Programm. Übersetzt und erläutert von Arthur Buchenau. 1955 Hamburg, Verlag Felix Meiner. I. Teil, S. 1
[2] Rainer Schäfer. Zweifel und Sein. Der Ursprung des modernen Selbstbewusstseins in Descartes‘ „cogito“. 2006 Würzburg, Verlag Königshausen und Neumann
[3] Giordano Bruno (1548-1600)
[4] Galilio Galilei (1564-1641)
[5] Elisabeth von der Pfalz (1618-1680)
[6] Descartes. Prinzipien. 1955 Hamburg. Ihrer Hoheit der Fürstin Elisabeth, XXIX, 31-34
[7] Michael Spang. Wenn sie ein Mann wäre. Leben und Werk Anna Maria van Schurman 1607-1678. 2009 Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft
[8] Jean de Labadie (1610-1674), ursprünglich ein Jesuit, der mit 19 Jahren, bald nach der Priesterweihe, mystische Erfahrungen machte und aus dem Orden austrat, mit vierzig Jahren zur reformierten Kirche übertrat, jedoch die streng rationale lutherische und calvinistische Schriftdeutung ablehnte und eine Anhängerschaft um sich scharte, die eine pietistisch-mystische Glaubensform vertrat.
[9] Descartes. Prinzipien. 1955 Hamburg. I. Teil, 9-10, S 3-4
[10] René Descartes. Les passions de l’âme. Introduction et notes par Geneviève Rodis-Lewis. 1970 Paris, Librairie philosophique J. Vrin – Leidenschaften der Seele. Übersetzt und erläutert von Dr. Arthur Buchenau. 3. Auflage. 1911 Leipzig, Verlag Felix Meiner
[11] Descartes. Leidenschaften. 1911 Leipzig. Erster Teil, Artikel 31, S. 17
[12] René Descartes. Discours de la méthode. – Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung. Übersetzt und herausgegeben von Lüder Gäbe. 1960 / 1969 Hamburg, Verlag Felix Meiner
[13] Descartes. 1960/1969 Hamburg. I, 14-15. S. 17
[14] Descartes. Methode. 1960/1969 Hamburg. II, 3, 5. S. 25, 27
[15] Uwe Schultz. Descartes. Biographie. 2001 Hamburg, Europäische Verlagsanstalt
[16] René Descartes. Musicae compendium. 1618 Leyden. – Herausgegeben, ins Deutsche übersetzt und kommentiert von Johannes Brockt. 2011 Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft
[17] Tycho Brahe (1546-1601)
[18] Johannes Kepler (1571-1530)
[19] Descartes. Methode. 1960/1969 Hamburg. II, 7, 8. 9. 10. S. 31, 33
[20] Descartes. 1960/1969 Hamburg. III, 1. S. 38-39
[21] Descartes. 1960/1969 Hamburg. IV, 1 S. 53
[22] Aurelius Augustinus (354-430). De civitate Dei. Bd. II. Xi, 26. 1955 Zürich, Artemis Verlag. S. 47
[23] René Descartes. Regulae ad directionem ingenii. – Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft. Lateinisch-deutsch. Kritisch revidiert, übersetzt und herausgegeben von Heinrich Springmeyer, Lüder Gäbe und Hans Günther Zekl. 1973 Hamburg, Verlag Felix Meiner
[24] René Descartes. Les Méditations métaphysiques. Texte, traduction, objections et réponses présentés par Florence Khodoss. 1963 Paris, Presses universitaires de France
[25] René Descartes. Gespräch mit Burman. Übersetzt und herausgegeben von Hans Werner Arndt. Lateinisch-Deutsch. 1982 Hamburg, Verlag Felix Meiner
[26] Ausschlaggebend war dabei die heilsgeschichtliche Interpretation des Alten und des Neuen Testaments durch Johannes Coccejus (1603 –1669), der über den dreifachen „Gottesbund“ – foederatio – mit Adam, Moses und Christus die wichtigsten Glaubenssätze begründete, dadurch die einseitig deterministische Linie der göttlichen Vorherbestimmung in Annäherung an die cartesianische Metaphysik öffnete, jedoch das religiöse Spannungsverhältnis zwischen lutheranischer und calvinistischer Prädestination und Gnade beibehielt.
[27] Marin Mersenne (1588 – 1648)
[28] Zu erwähnen ist unter anderem die Synopsis mathematica von 1626. Mersenne hatte auch bedeutende Erkenntnisse zu Primärzahlen, zur Akustik, zur Schallgeschwindigkeit und anderem mehr veröffentlicht.
[29] Pierre Gassendi (1592-1655), der als Theologe wie als Philosoph und Naturwissenschaftler einen bedeutenden Beitrag zur beginnenden Aufklärung leistete, indem er eine grundsätzlich Kritik an der aristotelischen Philosophie vornahm, gleichzeitig die Philosophie Epikurs neu untersuchte und deren falsche Interpretationen korrigierte.
[30] Claude Picot (1601 – 1668)
[31] Descartes. Prinzipien. 1955 Hamburg. Schreiben Descartes‘ an Picot. XXXVII, 5-26
[32] Kurz vor Abschluss des Friedensvertrags eroberte die schwedische Armee die Kleinseite Prags und Königin Kristina, deren Vater Gustav II Adolf 1631 in der Schlacht von Lützen in Zusammenhang dieses Kriegs getötet worden war, befahl, dass a l l e Kunstschätze Prags beschlagnahmt und nach Schweden gebracht werden sollten.
[33] Laure Wyss. Weggehen ehe das Meer zufriert. Fragmente zu Königin Christina von Schweden. 1994 Zürich, Limmat Verlag
[34] Theodor Ebert. Der rätselhafte Tod des René Descartes. 2009 Aschaffenburg, Alibri Verlag
[35] Descartes. 1911 Leipzig. S. VII – XXXi
[36] Blaise Pascal. Traités de l’équilibre des liqueurs et de la pensanteur de la masse de l’air. In: Oeuvres complètes. Texte établi, présenté et annoté par Jacques Chevalier. 1954 Paris, Editions Gallimard. S. 359 -471
[37] Evangelista Torricelli (ca. 1608-1647), ein Physiker armer Herkunft, der Galileis Erkenntnisse unterstützte und der als hervorragender Linsenschleifer auch dessen Fernrohr und Mikroskope verbessern konnte, etwa drei Monate vor dessen Tod zu seinem Assistenten in Florenz wurde und wissenschaftliche Anerkennung fand, jedoch mit 39 Jahren an Tuberkulose starb, in mancher Hinsicht in Analogie zu Baruch de Spinoza.
[38] Baruch (Bento Espinosa resp. Benedictus) de Spinoza (1632 – 1677)
[39] Spinoza. Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes und über den Weg, auf dem er am besten zur wahren Erkenntnis der Dinge geleitet wird. – Abhandlung vom Staat.1977 Hamburg, Felix Meiner Verlag. S. 3-13
[40] Spinoza. Die Ethik nach geometrischer Methode dargestell – Ethica ordine geometrico demonstrata. Lateinisch/Deutsch. Revidierte Übersetzung von Jakob Stern nach der lateinischen Edition von Carl Gebhardt. 1977 Stuttgart, Verlag Philipp Reclam jun.
[41] Spinoza. Briefwechsel. Übersetzung und Anmerkungen von Carl Gebhardt. Ergänzte Auflage von Manfred Walther. 1977 Hamburg, Felix Meiner Verlag
[42] Spinoza. Ethik, IV, Lehrsatz 45. 1977 Stuttgart, S. 535.
[43] Hubertus G. Hubbeling. Spinoza. 1978 Freiburg im Br. – München, Verlag Karl Alber. – Manfred Walther, Michael Czelinski (Hg.). Die Lebensgeschichte Spinozas. Lebensbeschreibungen und Dokumente. 2 Bde. 2006 Stuttgart – Bad Canstatt, Verlag Frommann-Holzboog. (Es handelt es sich um eine überarbeitete, ergänzte Ausgabe von Jacob Freudenthals Werk unter dem gleichen Titel von 1899).
[44] Moses Maimonides (ca. 1135/38 – 1204)
[45] Juan (später Danie) de Prado (1612-1670)
[46] Franciscus van der Enden (1602-1674)
[47] Baruch de Spinoza. Theologisch-Politischer Traktat. Auf der Grundlage der Übersetzung aus dem Lateinischen von Carl Gebhardt, neu bearbeitet von Günter Gawlick. 1976 Hamburg, Felix Meiner Verlag
[48] Gabriel de Spinoza blieb ins Geschäft involviert, bis er es 1664 an andere Kaufleute abtrat und nach Jamaica auswanderte.
[49] Baruch de Spinoza. Descartes‘ Prinzipien der Philosophie auf geometrische Weise begründet mit dem Anhang, enthaltend metaphysische Gedanken. Übersetzung von Arthur Buchenau. Einleitung und Anmerkungen von Wolfgang Bartuschat. 1978 Hamburg, Felix Meiner Verlag
[50] Spinoza. Briefwechsel. 1977 Hamburg, S. 66
[51] Peter Balling verlor im gleichen Jahr sein Kind und befand sich in grosser Trauer über diesen Verlust. In einem Brief vom Juli 1664 ging Spinoza ausführlich auf die Erinnerung seines Freundes an das Schluchzen des Kindes ein und versuchte ihm zu erklären, dass es, gemäss seines Verständnisses, nicht das Kind war, das schluchzte, sondern dass es sich um ein Schluchzen in ihm als Vater handelte.
[52] Das Haus in Rijnsburg, in dem Spinoza vermutlich über ein-zwei Zimmer verfügte, steht noch immer. Es wird nun als „Spinoza-Museum“ bezeichnet, „ein aus Backsteinen gebautes Häuschen am Ende der Dorfstrasse“. Eine genaue Schilderung findet sich in: Eli Rottner. Aus Spinozas Heimat und Constantin Brunners letzter Zufluchtsstätte, 1972, Dortmund-Hörde, Verlag Gerhard Schippel
[53] Jan de Witt (1625-1672) und Cornelis de Witt (1623-1672)
[54] Spinoza. Briefwechsel. Hamburg 1977, S. 206
[55] Baruch de Spinoza. Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt. Übersetzung, Anmerkungen und Register von Otto Baensch. Einleitung von Rudolf Schottländer.1976 Hamburg, Felix Meiner Verlag
[56] Heinrich Oldenburg (ca. 1615 – 1677) besuchte 1661 den in Leyden lebenden Kollegen Johannes Coccejus, dessen Schüler Franz Burman mit Descartes im Briefaustausch stand. Dabei erfuhr er von Spinoza und nahm mit ihm Kontakt auf. Später wurde er unter anderem in Zusammenhang des Kriegs zwischen England und Holland als Vermittler eingesetzt und wurde Sekretär der Royal Society.
[57] Baruch de Spinoza. Briefwechsel. Übersetzung und Anmerkungen von Carl Gebhardt. Zweite, durch weitere Briefe ergänzte Auflage mit Einleitung und Bibliographie von Manfred Walther. 1977 Hamburg, Felix Meiner-Verlag. 68. Brief an Heinrich Oldenburg. S. 267
[58] Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 –1716)
[59] Manfred Walther. Einleitung zu Baruch de Spinoza. Briefwechsel. 1977 Hamburg. S. XXXIX-XL
[60] Thomas Morus (ca. 1478-1535). Utopia, 1516 von seinem Freund Erasmus von Rotterdam im niederländischen (heute belgischen) Leuven publiziert, 1518 in Basel. – Für Thomas Morus wiederum hatte Erasmus von Rotterdam 1509 Das Lob der Torheit verfasst, keine Utopie, sondern eine Satire über die Macht der Dummheit – stultitia -, die gemeinsam mit ihren Töchtern – vanitas, luxuria, acedia und weiteren – sowohl die Könige und Fürsten, die Theologen und Mönche wie die Philosophen an ihrem Gängelband führt.
[61] Spinoza. Theologisch-politischer Traktat. 1976 Hamburg. S. 301
[62] Spinoza. Abhandlung vom Staat. In: Abhandlung von der Verbesserung des Verstandes. 1977 Hamburg. S.88
[63] Spinoza. Theologisch-politischer Traktat. 1976 Hamburg. S. 301
[64] Spinoza. Theologisch-politischer Traktat. 1976 Hamburg. S. 302
[65] Spinoza. Abhandlung vom Staate. Erstes Kapitel, §1. In: Abhandlung von der Verbesserung des Verstandes. 1977 Hamburg. S. 55
[66] Spinoza. Ethik. 1976 Hamburg. S. 167-168
[67] Spinoza. Ethik. 1976 Hamburg. S. 186
[68] Antonio Negri. Die wilde Anomalie. Baruch de Spinozas Entwurf einer freien Gesellschaft. Aus dem italienischen von Werner Raith. 1981 Berlin, Verlag Klaus Wagenbach. – Willi Goetschel. Spinoza’s Modernity. Mendelssohn, Lessing and Heine. 2003 Wisconsin, University of Wisconsin Press.
[69] Etienne de la Boëtie (1530 – 1563). Discours de la servitude volontaire. 1997 Paris, Edition Mille et Une Nuits – Von der freiwilligen Knechtschaft. Unter Mitwirkung von Neithard Bulst, übersetzt und herausgegeben von Horst Günther. 1980 Frankfurt am Main, Europäische Verlagsanstalt
[70] Michel de Montaigne (1533-1592)
[71] de la Boëtie. 1980 Frankfurt am Main. S. 49
[72] de la Boëtie. 1980 Frankfurt am Main. S. 85
[73] de la Boëtie. 1980 Frankfurt am Main. S. 17
[74] de la Boëtie. 1980 Frankfurt am Main. S. 19
[75] de la Boëtie. 1980 Frankfurt am Main. S. 18-19
[76] de la Boëtie. 1980 Frankfurt am Main. S. 91
[77] Etienne de la Boëtie. Von der freiwilligen Knechtschaft. Frankfurt am Main 1980. S. 95