Der Himmel – so fern, so nah – Salongespräche
Der Himmel – so fern, so nah
«Welcher Stern ist Mittelpunkt des Himmels?
Erde, nicht du!»
Rose Ausländers zwei Zeilen fassen zusammen, was im 16. Jahrhundert den Aufruhr zwischen den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und den religiösen Glaubensrichtungen bewirkt hatte und was uns heute in unserem Wissenshunger weiter bewegt. Das menschliche Staunen über den Wechsel von Licht und Dunkelheit, über die Macht der Sonne, den wechselnden Mond und die funkelnden Sterne weckt seit Jahrtausenden die Fragen nach
dem Ursprung und den Gesetzmässigkeiten des Universums sowie nach der Rolle der Erde und der Menschen im Weltganzen.
Von der Mythologie zur Raumfahrt
Diese Fragen standen im Mittelpunkt der Philosophie, wurden Gegenstand der grossen Mythologien und Religionen und bewegten die Kunst. Sie öffneten sich – mit der Verbesserung der optischen Instrumente – in den Bereich der Naturwissenschaften und wandelten sich schliesslich mit zunehmenden astronomischen und physikalischen
Erkenntnissen und den Möglichkeiten der Raumfahrt in neue Fragen.
Was wissen wir über das Universum?
An sechs Abenden werden die Hintergründe und Zusammenhänge zum grossen Thema des Himmels unter der Leitung von Dr. Maja Wicki erörtert, anhand von Vorlesungen und Gesprächen, von Textkopien und Wissensbeiträgen aus der Forschung.
An einem ausgewählten Abend wird Oliver Hahn, Kosmologe ETH Zürich, als Gastreferent die Veränderungen der letzten Jahrzehnte hinsichtlich des Wissens, aber auch des Nichtwissens über unser Universum aufzeigen.
Paul Hindemiths Symphonie Die Harmonie der Welt
Es liegt ein Brief von Gertrud Hindemith-Rottenberg1 vom 5. November 1953 an die Deutsche Grammophongesellschaft DG vor, in welchem sie Bezug nahm zum Generalvertrag für die Aufnahme von jährlich drei Werken ihres Mannes Paul Hlndemlth”, der ihm im Lauf des Sommers angeboten worden war. Sie selber war eine hochbegabte Musikerin, die Tochter des ersten Kapellmeisters der Frankfurter Oper, die ihrem Ehemann seit Beginn der Ehe – die Hochzeit hatte am 15. Mai 1924 stattgefunden – stets zur Seite stand, mit Humor, mit Ausdauer und mit Feingefühl.
Auf Wunsch der DG sollten zuerst die Symphonischen Tänze, die Symphonie Mathis der Maler sowie die Variationen für Klavier und Streichorchester Die vier Temperamente gespielt werden. Gertrud Hindemith schrieb, das sei wohl ein guter Vorschlag, doch Paul wünsche natürlich am liebsten, dass die Harmonie aufgenommen werde.
Auf diesen Wunsch ging die Deutsche Grammophongesellschaft sofort ein, und so wurde am 20. bis 24. März 1954 von den Berliner Philharmonikern in der 1914 geplanten und 1932 eingeweihten protestantischen Jesus-Christus-Kirche(3) in Berlin-Dahlem, die über eine aussergewöhnliche Raumakustik verfügt, die Harmonie der Welt gespielt und aufgenommen.
Gemäss Giselher Schubert, der ab 1974 Hindemiths Werkherausgabe leitete”, war die CD- Aufnahme eine erstaunliche Leistung. Es gelte zu berücksichtigen, hielt er fest, ,,dass dieses satztechnisch ausserordentlich kunstvoll komponierte, ungemein komplexe dreisätzige Werk, das im Finalsatz eine Fuge und eine Passacaglia einschliesst, nur drei Jahre zuvor entstanden und von den Berliner Philharmonikern erst dreimal Anfang Dezember 1952 unter Wilhelm Furtwängler gespielt worden war.”(5)
Diese Komposition zählt ohne Zweifel zu Hindemith’s Hauptwerken. Sie war in der Zeit des Umzugs von den USA in die Schweiz mit der Auftragsunterstützung von Paul Sacher zustande gekommen. Hindemith hing sehr daran, die Aufführung selber zu dirigieren. Nach seinem Empfinden verfälschte jeder fremde Dirigent das Werk. Mit anderen Musikern hatte er es schon mehrmals aufgeführt, u. a. in Stockholm, Oslo, Minneapolis und in Bonn, doch gemäss Giselher Schubert liess Hindemith bei der Aufführung in Berlin-Dahlem, die mit der CD- Aufnahme einherging, überaschende Besonderheiten hervortreten. Er habe die einzelnen Teile ausserordentlich deutlich artikuliert, er habe unterschiedliche Vortragstempi gewählt, die nicht mir den Angaben in der Partitur überein gestimmt hätten. Das Hauptthema habe er sehr ausdrucksvoll ausspielen lassen, während er für die musikalischen Begleitsysteme eine klanglich sehr individuelle – agogische – Differenzierung zugelassen habe, möglicherweise auf Kosten der Homogenität. Alle Instrumente habe er auf diese Weise singen lassen. Die Interpretation des Schlusssatzes sei wie eine Vorwegnahme des Schlusssatzes seiner erst 1957 vollendeten Oper Die Harmonie der Welt gewesen. Eigentlich ist es nicht überraschend, dass sich in der Symphonie- wie in der Opern-Fassung im grossen Finale ein Zusammenstossen und zusammenklingen der widerstreitenden Kräfte der grossen Harmonie des Kosmos und der entsetzlichen Wirklichkeiten menschlichen Hochmuts und Handelns finden.
Als ich während der Arbeit an den Vorlesungen dieses Herbstsemester – in Kenntnis von Johannes Keplers ergreifendem, trostsuchendem Werk Harmonia Mundi – erstmals die Aufnahme der von Hindemith selber dirigierten Symphonie hörte, wurde mir die wunderbar vielschichtige Aussagekraft der.Musik bewusst, die davon abhängt, ob sich Dirigent und Musiker im konzertanten Vortrag frei von persönlicher Eitelkeit ausschliesslich dem ihnen emotional und formal anvertrauten Inhalt widmen und diesem gerecht werden möchten. So muss die Grundhaltung bei der Konzertaufnahme in Berlin-Dahlem gewesen sein. Wieder ist es Giselher Schubert, der in seiner Erinnerung festhält, dass für Hindemith bei einer musikalischen Interpretation ausschliesslich die Aufgabe gegolten habe, ,,eine Komposition ohne störende individualistische Beimischung darzubleten'”. So sei es gewesen. Die Vorgänge auf dem Podium hätten nichts Feierliches, nichts Sensationelles gehabt, wie von Schubert ein anderer Rezensent zitiert wird, im Gegenteil. ,,Der mittelgrosse, untersetzte Mann mit dem mächtigen Schädel, der da vor den Musikern mit selbstverständlicher Nochchalance agiert, wirkt wie einer der ihren. Rund und elastisch sind seine Bewegungen, der ganze Körper ist locker, die fast tänzerische Agilität seiner Erscheinung überträgt sich auf das Orchester. Es folgt ihm, ohne sichtlichen Zwang, einfach, weil es spürt, hier ist jemand, der sein Handwerk bis ins Letzte versteht, der mit klarem Kopf und sehr viel Herz nur Musik macht.”(7)
„Mit klarem Kopf und sehr viel Herz nur Musik machen” schliesst denkerisches und handwerkliches Können ein, ein Wissen um die Abläufe, gleichzeitig eine emotionale Untrügbarkeit. Vermutlich baute sich aus diesen Voraussetzungen Hinderniths Werdegang auf. Während Getrud Rottenberg aus einem grossbürgerlich-musikalischen Elternhaus stammte, wuchs Paul Hindemith in einem Handwerker-Arbeiter-Milieu auf, erst in Hanau und bei den väterlichen Grosseltern in Schlesien, dann ab dem sechsten Altersjahr in Frankfurt am Main. Seine Eltern setzten sich jedoch voll für die musikalische Ausbildung ihrer drei Kinder ein, die früh als .Frankfurter Kindertrio” auftraten, mit Paul, dem Ältesten, der neben anderen Instrumenten in erster Linie die Geige, später die Bratsche spielte, Antonie resp. Toni, der drei Jahre jüngeren Schwester, die eher im Hintergrund blieb, während Rudolf, der ebenfalls hochbegabt Jüngste, als Cellist und später als Komponist und Dirigent Beachtung fand, sich jedoch im Schatten seines Bruders fühlte und sich mehr und mehr dem Jazz zuwandte. Paul Hindemith hatte mit Anna Hegner, einer aus Basel stammenden Geigerin und Musikpädagogin, die einige Zeit in Frankfurt am Main lebte, eine hervorragende Lehrerin erlebt, die ihn auch ans Hoch’sche Conservatorium vermittelte, einer 1878 von Josef Hoch, einem reichen Frankfurter Bürger, als Stiftung eingerichteten Musik-Akademie für begabte, mittellose Menschen jeden Alters. Seine Ausbildung als Geiger und Bratschist erreichte höchste Perfektion, ebenso jene im Bereich der Komposition, auch dank seines Lehrers Arnold Mendelssohn, einem Grossneffen von Felix Mendelssohn- Bartholdy. Bald wurde Hindemith Bratschist im Frankfurter Orchester und ab 1915, mit zwanzig Jahren, mitten im 1. Weltkrieg, Konzertmeister auf der Frankfurter Opernbühne.
Im gleichen Jahr wurde Hindemith’s Vater, der sich mit 44 Jahren freiwillig für den Kriegsdienst gemeldet hatte, als Infanterist in einer der fürchterlichen Schlachten in der Champagne getötet. Paul selber wurde trotz dieses Verlustes im Januar 1918 als Soldat eingezogen und der Militärmusik zugeteilt, die in die entsetzlichen Kriegsplätze im Elsass – Verdun -, in Nordfrankreich und in Belgien versetzt wurde, bis er es nicht mehr aushalten konnte und noch vor Kriegsende, Ende.Dezember 1918, entlassen wurde. Sein kritischer, . politischer Geist hing vermutlich mit den Erfahrungen dieser Gräuel zusammen, auch mit der nationalistischen Aufblähung, die sich in den Kriegsjahren entwickelte und sich mit der militärischen Niederlage sowie den politischen und wirtschaftlichen Bedingungen des Versailler Vertrags verstärkte.
In musikalischer Hinsicht war Paul Hindemith jede Art von Romantik fremd. Es waren vielschichtig klare, manchmal vielleicht sogar karge Klangstrukturen, die er entwarf und spielte. Er wollte nie mit Musik betören. 1923, im gleichen Jahr, als er Gertrud Rottenberg heiratete, bat ihn Paul Wittgenstein um eine Klavierkomposition für die linke Hand, Ludwig Wittgensteins älterer Bruder, der Pianist war und dem zu Beginn des 1. Weltkriegs an der russischen Front nach einer schweren Verwundung der rechte Arm amputiert wurde. Diese Komposition blieb lange verschollen. So viel ich weiss, wurde sie erst 2002 wieder gefunden und erstmals gespielt, ebenfalls von den Berliner Philharmonikern.
Ein wichtiger Freund Paul Hindemiths war Hans Flesch, der Ehemann von Gabriele Rottenberg, Gertruds Schwester, somit auch sein Schwager. Flesch war Arzt, hatte sich als einer der ersten auf Radiologie spezialisiert und kannte sich in technischer Hinsicht hervorragend aus. So wurde er 1924 als erster zum Leiter des Frankfurter Rundfunks gewählt und ermöglichte Paul Hindemith zahlreiche Kompositionsaufträge, unter anderem gemeinsam mit Kurt Weill und Bertolt Brecht. Hindemith wurde auch Mitglied des Amar Quartetts, das er zwischen 1923 und 1930 massgeblich mitbestimmte. Seine Kompositionen wurden an den Donaueschinger Musiktagen aufgeführt und er wurde zunehmend als hervorragender Komponist neuer Musik bekannt, eckte an und wurde bewundert.
Fleschs tragische Geschichte bald nach Hitlers Machtübernahme und während der Kriegsjahre kann hier nicht geschildert werden, doch sie muss für Hindemith ständig präsent gewesen sein, der als „entarteter Künstler” und durch seine Ehe als „Halbjude” ebenfalls bedroht war, der jedoch dank einer rechtzeitig erfolgten Einladung in die USA gelangen konnte und sich dort in Sicherheit befand, während es für Gertrud schwieriger war, aus Deutschland wegzukommen. Ihre Flucht über die Schweiz, Frankreich und Portugal war viel komplizierter und unsicherer, doch 1940 gelangte auch sie nach Amerika.
In Amerika konnten sich Hindemith und seine Frau von 1940 bis 1953 in New Haven (Connecticut) ein wirkliches Zuhause schaffen, mit einem grossen Freundeskreis, in welchem die politischen Geschehnisse in Europa diskutiert und gleichzeitig gemeinsam musiziert werden konnte. Hindemith hatte eine Professur für Komposition in Yale mit einer grossen Anzahl von Schülern, mit zahlreichen Einladungen zu Konzerten, in denen er vor allem als Dirigent wirkte, und in Verbindung damit mit unzählbar vielen Reisen durch die ganze Welt, meist gemeinsam mit seiner Frau.
Ab 1953 lebten Hindemith’s in Blonay am Genfersee, Paul Hindemith noch zehn Jahre, auch von hier aus mit vielen Reisen – u. a. in die skandinavischen Länder und dann nach Berlin in Zusammenhang der Aufnahmen für die Deutsche Grammophongesellschaft -, auch mit grossen Ehrungen, die ihm zuteil wurden, bis er am 28. Dezember 1963 während eines Aufenthalts in Frankfurt am Main an den Folgen einer Pankreasentzündung starb.
Gertrud Hindemith lebte noch vier Jahre in Blonay und widmete sich ganz der Aufarbeitung des Nachlasses ihres Mannes. Sie schlief bei sich zu Hause am 13. März 1967 für immer ein. Das gemeinsame Grab von Paul und Gertud Hindemith befindet sich auf dem Friedhof von St. Légier.
1 Johanna Gertrude Hindemith, geb. Rottenberg (1900 – 1967)
2 Paul Hindemith (1895 -1963)
3 Von 1933 bis 1945 war diese Kirche immer wieder der Treffpunkt der Bekennenden Kirche, in welcher insbesondere Martin Niemöller seine politisch kritischen Predigten hielt. Sie war auch in den letzten Jahren immer wieder ein Schutzraum für Asylsuchende, die für bedrohte Menschen Kirchenasyl bot. Gleichzeitig ist sie einer der besonderen Konzerträume, in welcher viele der grossen Musiker und Musikerinnen, Dirigenten und Orchester auftraten.
4 von 1991 bis 2011 auch Direktor des Hindemith-Instituts in Frankfurt a. M. in der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst (ursprünglich im ehemaligen Rothschild-Palais, wo nun das Jüdische Museum ist)
5 Begleitblatt zur CD Hindemith conducts Hindemith. 1954/2003 Hamburg, Deutsche Grammophongesellschaft, 1.11
6 Begleitblatt zur CD Hindemith conducts Hindemith. 1954/2003 Hamburg, Deutsche Grammophongesellschaft, 1.10
7 Begleitblatt zur CD Hindemith conducts Hindemith. 1954/2003 Hamburg, Deutsche Grammophongesellschaft, 1.10
Herbstsemester 2014, Universität Bern, Zentrum für universitäre Weiterbildung ZUW
Der Himmel – so fern, so nah
Salongespräche – Vorlesungen II. Teil
Welcher Stern ist Mittelpunkt des Himmels? Erde – nicht du !”1
Rose Ausländer wäre in der römischen wie in der frühen christlichen Zeit, die ineinander übergingen und über Jahrhunderte in einander verstrickt blieben, für ihre zwei Zeilen wegen Gotteslästerung angeklagt und vermutlich gelyncht worden. Die Bedeutung der Erde als Zentrum des Weltganzen durfte nicht angetastet werden. Schon in den griechischen Stadtstaaten waren der Philosophie, in welche Kosmologie und Astronomie einbezogen waren, autoritäre Schranken gesetzt. Religionskritische Fragen oder Erkenntnisse, die den offiziellen Richtigkeits- oder gar Wahrheitsanspruch durchbrachen, waren schon damals ein grosses Wagnis. Die einschränkenden Bedingungen und die Forderungen der Anpassung an die herrschende Macht verschärften und verhärteten sich zunehmend unter der römischen Herrschaft, insbesondere als diese infolge der Ausdehnung und der internen Destabilisierung am Zusammenbrechen war. Selbst die grossen Kunstwerke, die in derselben Zeit entstanden sind, konnten nicht übertuschen, mit welcher Grausamkeit gefoltert und getötet wurde, wer kontroverse Meinungen vertrat, ob politische oder religiöse. Die beiden Bereiche galten – gelten zum Teil noch immer – als von analoger Bedeutung. Das Beispiel von Marcus Tullius Cicero (106 – 43 v. u. Z.) mag erwähnenswert sein, wobei in keiner Weise seine jugendliche Übersetzungsarbeit der Schrift Phainomena von Aratos’ von Soloi (ca. 310 – 245 v. u. Z.) über die Sternbilder des nördlichen Teils der Himmelskuppel im Fokus der Verfolgung stand, sondern seine Opposition gegen die Diktatur Caesars und sein Einsatz für die Wiederherstellung der Republik.
Im Bereich der Astronomie galt die gleiche Rigidität wie im Bereich der Politik und der Religion. Aristarchos’ von Samos Erkenntnis des heliozentrischen Systems wurde unter der römischen Herrschaft verschwiegen, wie schon erwähnt wurde. Plutarch (45 – 125) brachte sie in seinem kleinen Buch zum Mondgesicht zwar ins Gespräch, jedoch ohne deren Bedeutung zu veteidigen. Claudius Ptolemäus (ca. 100 – 160), der eigentliche Astronom und Mathematiker seiner Zeit, hat in den 13 Büchern seines Almagest ausschliesslich das geozentrische Weltbild vertreten, das später vom christlichen Lehramt als das allein richtige übernommen wurde. Wer dieses anzweifelte und gleichzeitig die Himmelsspähren in Frage stellte wie Giordano Bruno (1548 – 1600) es wagte, war gnadenloser Verfolgung, schwerster Folter und Tod ausgesetzt.
Doch nicht nur Wissenschaftler, auch Dichter waren gefährdet, wenn ihr Werk nicht den kaiserlichen Vorschriften entsprach. Ovid2 hatte im letzten Jahr v. u. Z. ein Werk in drei Bänden über die Ars amatoria – Die Liebeskunst veröffentlicht, das nach den Sittlichkeitsregeln von Kaiser Augustus – Gaius Octavius Augustus-, dem Grossneffen von Gaius Julius Caesar, der nach dessen Ermordung im Jahr 44 v. u. Z. an die Macht gekommen war, zur Verführung des Volkes beitrug und daher eine Gefahr bedeutete. Zwar waren infolge der strengen, von ihm erlassenen Gesetze die Bürgerkriege beendet worden, doch die Kontroll- und Strafmassnahmen waren gnadenlos. Ein Gericht verdammte Ovid an den äussersten östlichen Rand des grossen Reichs, nach Tomis am Schwarzen Meer (dem heutigen bulgarischen Constanza), wo er bis zu seinem Lebensende bleiben musste. Möglicherweise schrieb er die Metamorphosen als Versuch der Versöhnung mit dem Kaiser, diese Hymne an die vollkommene göttliche Schöpfung, von den Anfängen über alle Veränderungen bis in seine Zeit.
Ein Auszug aus dem ersten der fünfzehn Bücher mag verdeutlichen, was Ovid bezweckte: „Ehe es Meer, Land und den allumfassenden Himmel gab, hatte die ganze Natur ringsum einerlei Aussehen. Man nannte es Chaos: eine rohe, ungeordnete Masse, nichts als träges Gewicht und einen Haufen Samen von Dingen, zusammengeworfene, im Widerstreit befindliche, ohne rechten Zusammenhang. ( … ) Diesen Streit schlichtete ein Gott und die bessere Natur. Er schied nämlich vom Himmel die Erde und von der Erde die Gewässer, und er sonderte von der dichten Luft den klaren Himmel. Nachdem er diese vier herausgeschält und aus dem unübersichtlichen Haufen genommen hatte, trennte er sie räumlich und verband sie so in einträchtigem Frieden. Die feurige Kraft des schwerelosen Himmelsgewölbes sprühte empor und schuf sich ganz oben in der höchsten Höhe einen Platz. Am nächsten steht ihr die Luft, was die Leichtigkeit und den Standort betrifft. Dichter als beide ist die Erde. Sie zog die wuchtigen Elemente an sich und wurde durch die eigene Schwere nach unten gedrückt. Ringsum strömte das Feuchte, nahm den Rand in Besitz und umschloss das feste Erdenrund. – Kaum hatte er – welcher der Götter es auch sein mochte – das Durcheinander so geordnet, zerschnitten und gegliedert, da ballte er zuerst die Erde zusammen, damit sie auf allen Seiten gleich sei und gab ihr die Gestalt einer grossen Kugel. Dann gebot er den Meeren, sich weithin zu ergiessen, von stürmischen Winden gepeitscht anzuschwellen und die Küsten der Erde rings zu umfliessen. Dazu schuf er noch Quellen, unermessliche Seen und Teiche. ( … ) Er gebot auch den Feldern, sich auszubreiten, den Tälern, sich zu senken, den Wäldern, sich mit Laub zu bekleiden, und den steinigen Bergen, sich zu erheben. Und wie den Himmel zwei Zonen zur Rechten und ebenso viel zur Linken durchschneiden, wobei die fünfte heisser ist als die anderen, so teilte des Gottes Vorsorge die vom Himmel umschlossene Erdmasse durch dieselbe Zahl, und gleich viele Zonen hat die schwere Erde. Die mittlere von ihnen ist wegen der Hitze unbewohnbar, zwei Zonen bedeckt tiefer Schnee, ebenso viele hat der Gott dazwischen gesetzt und ihnen ein gemässigtes Klima gegeben, indem er Feuer mit Kälte mischte. Darüber schwebt Luft, die so viel schwerer ist als Feuer, wie Wasser leichter ist als Erde. ( … ) – Kaum hatte er alles mit klar umrissenen Grenzen aufgegliedert, als plötzlich die Sterne, die lange von undurchdringlichem Dunkel bedeckt gewesen waren, am ganzen Himmel aufzuglühen begannen. Und damit kein Bereich ohne Lebewesen sei, die ihm angehören, haben Gestirne und Göttergestalten den Himmelsboden inne, den schimmernden Fischen fielen die Wogen als Wohnstatt zu, die Erde nahm Tiere auf, und Vögel die bewegliche Luft. – Noch fehlte ein Lebewesen, heiliger als diese, fähiger, den hohen Geist aufzunehmen, und berufen, die übrigen zu beherrschen. Es entstand der Mensch, sei es, dass ihn aus göttlichem Samen jener Weltschöpfer schuf, der Ursprung der besseren Welt, sei es, dass die junge Erde, erst kürzlich vom hohen Äther getrennt, noch Samen des verwandten Himmels zurückbehielt. Diese mischte der Spross des Japetus3 mit Regenwasser und formte sie zum Ebenbild der alles lenkenden Götter. Und während die übrigen Lebewesen nach vorn geneigt zur Erde blicken, gab er dem Menschen ein emporblickendes Antlitz, gebot ihm, den Himmel zu sehen und das Gesicht aufrecht zu den Sternen zu erheben. So nahm die Erde, die eben noch roh und gestaltlos gewesen war, verwandelt die bisher unbekannten menschlichen Formen an. “4
Mit den “menschlichen Formen”, die die Erde annahm, vollzogen sich auch die vier Weltalter – vom goldenen, paradiesischen, bis zum verrohten eisernen oder ehernen, als “alle Sünde einbrach, es flohen Scham, Wahrheitsliebe und Treue, an ihre Stelle rückten Betrug, Arglist, Heimtücke, Gewalt und die frevelhafte Habgier'”, wie Ovid zusammenfasste. Zum Abschluss des fünfzehnten Buchs hielt er fest, in Hoffnung auf Kaiser Augustus’ Gnade, dass er nun ein Werk vollendet habe, das nicht Jupiters Zorn, nicht Feuer, nicht Eisen, nicht das nagende Alter werde vernichten können. Dass sich wohl die ungewisse Frist seines Lebens beenden werde, doch dass der bessere Teil fortdauern und sich hoch über die Sterne emporschwingen werde, sein Name werde unzerstörbar sein und durch alle Jahrhunderte im Ruhm fortleben.
Die Schöpfungs- und Menschheitsgeschichte, wie Ovid sie in den Metamorphosen besang oder wie Vergil (70 – 19 v.u.Z.) sie in den Eklogen, in den Buccolica oder in der Aeneis mit Erzählungen verflocht, wurde von der neuen monotheistischen, christlichen Religion nicht aufgehoben, sondern fortgesetzt, mit der hebräischen verwoben und verändert. Für die Schöpfungsgeschichte galten als Urheber nicht mehr Zeus oder Jupiter mit den familieninternen Götterkonflikten und -zuständigkeiten für Harmonie, Schutz oder Strafe des Weltganzen, sondern gemäss der jüdischen Erklärungsversion ein alleiniger Gott, ein allmächtiger Herrscher und Vatergott. Nach der vom römischen Statthalter Pilatus ausgesprochenen und vom Rabbinat unterstützten Verurteilung Jesus’ von Nazareth (ca. 7-4 v. u. Z. – 30), dieses messianisch und revolutionär wirkenden Propheten, breitete sich nach dessen Folter und Tötung am Kreuz seine Lehre durch deren Überzeugungskraft zunehmend aus, auch durch die glühende Verehrung seiner Schüler sowie seiner Anhängerinnen und Anhänger”, Sie waren überzeugt, dass die sakrale Einheit von Vater, Sohn und Geist, die durch die Bedeutung Jesu entstanden war, die Schöpfung vollendete, andererseits Maria als Muttergestalt einbezog, so wie Demeter in der griechischen und Tellus in der römischen Glaubenswelt für das werdende und seiende Leben eine göttliche Schutzfunktion hatten. Doch das unermesslich grosse, abgerundete Werk der göttlichen Schöpfung hatte wie in allen drei vorangegangenen Religionen den gleichen Mittelpunkt, um welchen sich die übrigen Gestirne in ihren eigenen Sphären drehten: die Erde.
Auch in der christlichen Kosmologie gehörten Sonne, Mond und Planeten in den himmlischen Kreisbewegungen um die Erde zu den Sphären des Göttlichen, die nicht zu hinterfragen waren und deren Richtigkeit nicht angetastet werden durfte, bestimmten sie doch den Ablauf von Tag und Nacht, von Kälte und Hitze, von Ebbe und Flut, von Trockenheit und Regen. Ob die Gestirne engelhaft beseelt seien oder nicht, ob sie aus Materie bestehen oder aus reinem Geist, ob sie ewig seien oder geschaffen und somit zeitlich begrenzt, darüber bestand seit den Anfängen der neuen Epoche ein nicht abbrechender Disput unter den Kirchenfürsten und religiösen Denkern aus den verschiedenen Ordensgemeinschaften, der sich in zahllosen Schriften, religiösen Abspaltungen und Konzilien äusserte und sich über Jahrhunderte fortsetzte, mit dem Bezug auf Platons Timaios oder auf Aristoteles1 Naturlehre, oft auch unter Beachtung arabischer oder jüdischer Gelehrter. In den ersten drei Jahrhunderten war die neue Religion für die römischen Machthaber, die das riesige Reich ohnehin kaum mehr zusammenhalten konnten und die Herrschaft allmählich in „Mitkaiser” – Caesaren – aufteilten, eine Provokation, die immer wieder Anlass zu grausamen Verfolgungen gab. Eine der schlimmsten wurde vermutlich um 284 durch Kaiser Diokletian veranlasst – oder durch Galerius, einen seiner Mitkaiser-, bis dieser selber Kaiser war und um 311 ein erstes Toleranzedikt erliess. Es waren gelinde Erleichterungen, die vorerst folgten, doch Verbot und Verfolgung konnten die Ausbreitung nicht verhindern, im Gegenteil. Intellektuelle wie breite Bevölkerungsteile liessen sich von der neuen Lehre überzeugen, vertraten jedoch auch unterschiedliche Überzeugungen – zum Beispiel betreffend der Göttlichkeit Jesu oder betreffend der Dreifaltigkeit -, spalteten sich in Unterreligionen und Zänkereien auf, wobei sich einzelne auch wieder versöhnten. Im Jahr 313 gelang es den Kaisern Kostantin I und Licinius, in Mailand eine Vereinbarung der Religionsfreiheit zu proklamieren, die dem Christentum eine zunehmende Bedeutung zugestand, bis dieses im Jahr 380 unter Kaiser Theodosius zur römischen Staatsreligion erklärt wurde. Doch die Folge war nicht grössere Denkfreiheit, sondern eine Veränderung der kultischen Orthodoxie und neue Machtkämpfe zwischen Rom, Konstantinopel und Alexandria, zwischen den westlichen, den östlichen und den ägyptischen Lehrrichtungen und den darin sich bildenden Religions- und Ordensgemeinschaften.
Bei den meisten religiösen Lehren überwog neben der kosmologischen und astronomischen Auseinandersetzung jene über die Erschaffung des Menschen, dem mit dem Körper von Gott auch Seele und Geist (animus et spiritus) eingehaucht wurde (anima – Hauch), dem daher das Dasein auf der Erde für eine bestimmte, begrenzte Dauer sowohl mit der Verantwortung für das Zusammenleben mit seinesgleichen und für die Annäherung an das Göttliche und die Rückkehr zu diesem auferlegt war, wie auch für die Fortpflanzung und die Pflege von Pflanzen und Tiere. Um der Vielschichtigkeit der menschlichen Aufgaben eine Struktur zu geben, bedurfte es einer Ordnung von Geboten und Verboten, die ebenfalls göttlichen Ursprungs waren, die daher eingehalten und beachtet werden mussten, die zusätzlich im Vollzug von Riten und Opfern Verehrung forderten. Bei Nichtbeachtung dieser Ordnung, bei Überheblichkeit, Hochmut und Willkür, bei Habgier und Gewalt, bei Lug und Trug wurde für den Augenblick des Todes – beim Aushauchen der Seele (animam edere) – angenommen, dass kein Mensch dem göttlichen Urteil und der Strafe entgehen könne. Das Weiterleben nach dem Tod war glaubensmässig nicht anzuzweifeln. Es verknüpfte sich mit der Schöpfungsbedeutung der ausserirdischen Sphären der Welt.
Die Sphären der Zwischenwelt, der Unterwelt und der Himmelswelt stellten sowohl Schrecken und Busse, finsterste Verdammung als auch Hoffnung und Seligkeit in Aussicht, wie Dante (1256 -1321) sie in der Divina Commedia7 schildert: „Grad in der Mitte unserer Lebensreise/ befand ich mich in einem dunkeln Walde,/ weil ich den rechten Weg verloren hatte'”, lauten die ersten drei Zeilen der grossen Jenseitswanderung, die Dante in Begleitung Vergils zur Vorhölle und zu den Schrecken der Hölle führen, dann über das Purgatorio resp. den Läuterungsberg zum Lichtmeer des Himmels, zum Paradies. Dort angekommen führt Beatrice ihn zum Mondhimmel, dann zum Merkurhimmel, wo sie ihm weitere Geheimnisse erläutert, bevor sie ihn zum Venushimmel begleitet:
„Um Dir nun alle Wünsche zu erfüllen,/ will ich noch einige Punkte dir erklären,/ damit du darin siehst, wie ich es sehe./ Du sagst: Ich seh die Luft, ich seh das Feuer,/ Wasser und Erd und alle ihre Mischung/ verderben und nur kurze Weile dauern./ Und doch sind alles dies auch Schöpfungswerke,/ so dass, wenn ich dir erst die Wahrheit sagte,/ sie vor Verderbnis sicher bleiben müssten. / Die Engel, Bruder, und das reine Leben, / in dem du stehst, kann man geschaffen nennen,/ so wie sie sind, in ihrem ganzen Wesen./ jedoch die Elemente, die du nanntest,/ und jene Dinge, die man daraus machte, sind von geschaffner Kraft gebildet worden. Geschaffen ward der Stoff, draus sie bestehen,/ geschaffen ward die Kraft, die sie gebildet/ in diesen Sternen, die hier um sie kreisen./ Die Seele jedes Tiers und jeder Pflanze/ empfängt je nach der Mischung ihrer Kräfte/ Strahl und Bewegung dieser heiligen Sterne./ Doch euer Leben atmet ohne Mittler/ die höchste Güte, die euch so mit Liebe/ erfüllt, dass ihr euch ewig danach sehnet. / Und daraus kannst du eure Auferstehung/ auch noch begreifen, mit der Überlegung,/ wie einst der Menschen Fleisch geschaffen wurde/ bei der Erschaffung unserer ersten Eltern. “9 Die höchste, letzte Erfüllung bedeutete die Begegnung mit Maria, bevor dieser Wanderer aus dem Jenseits, vom Glanz der Dreieinigkeit geblendet, wieder zurückkehrt in den Kreislauf des Menschseins und der Sehnsucht.
Aus der Verbindung von Kosmologie und Religion resp. von Naturwissenschaften und Theologie einen Ausstieg zu finden, möglicherweise eine Trennung, um dadurch eine Möglichkeit neuer Erkenntnis zu schaffen, das hat als wissenschaftliches Bedürfnis und als persönlicher Wunsch ohne Zweifel zahlreiche Denker und Denkerinnen zutiefst bewegt. Sich autoritärer Macht entgegen zu stellen war immer ein Wagnis gewesen, doch mit der Verflechtung von kirchlicher und staatlicher Herrschaft hatten sich die Einschränkungen freien Denkens in Europa noch verschärft. Die von Theologen ausgeübte Inquisition, die ab dem 12. – 13. bis ins 18. Jahrhundert als höchstes Gericht über Leben und Tod entschied und vor keinerlei Folter zurückschreckte, um Verdächtige der Häresie, der Ketzerei oder der Gottesleugnung zu überführen, war von abschreckender Wirkung. Ein aufwühlendes Beispiel findet sich mit Giordano Bruno (1548 – 1600), dem bahnbrechenden kosmologischen Denker der Renaissance.
Giordano Bruno war in Nola am Fuss des Vesuv, nicht weit entfernt Pompeii und von Neapel, zur Welt gekommen. Stets nannte er sich selber Giordano von Nola oder bezeichnete sich als Nolaner. Seine Herkunft war seine Identität, selbst wenn er in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen war. Auf Grund seiner ungewöhnlichen Intelligenz wurde er früh von kirchlicher Seite gefördert. Das erklärt, weshalb er als Fünfzehnjähriger schon Mitglied des Dominikanerordens in Neapel war. Doch mit der Vertiefung des theologischen Studiums begann er bald, verschiedene Dogmen der katholischen Kirche anzuzweifeln und diese Zweifel auch auszusprechen. 1575 – Giordano Bruno war 27 Jahre alt – wurde er vom Vorsteher des Ordens der Ketzerei angeklagt. Die Flucht aus Neapel und der Austritt aus dem Orden waren von gleicher Dringlichkeit, um der Inquisition zu entkommen.
Für den jungen Denker begann ein ruheloses, heimatloses Leben. Er floh durch ganz Italien nach Oberitalien, von dort in die Schweiz, weiter nach Frankreich, wo er in Toulouse und in Paris zwar unterrichten konnte, jedoch wegen der Kämpfe zwischen Katholiken und Hugenotten wieder fliehen musste und nach England gelangte, wo er in Oxford und in London für knappe drei Monate Lehrmöglichkeiten fand, jedoch von den scholastisch- konservativen Professoren vertrieben wurde, darauf nach Deutschland kam, wo er in Wittenberg und in Helmstedt auf grosses wissenschaftliches Interesse stiess, jedoch wegen der politischen Unruhen nicht bleiben konnte. Über Prag, wo er von König Rudolf II ein wenig Unterstützung bekam, gelangte er 1581 nach Frankfurt am Main. Er beschloss, sich für eine Weile zurückzuziehen und eine Gesamtausgabe all seiner Schriften auf Lateinisch zu realisieren. Schon 1584 hatte er in England auf Italienisch Von der Ursache, dem Prinzip und dem Einen10 verfasst, eines der zentralen Bücher seiner aufklärerischen Erkenntnisse.
Doch obwohl Giordano Bruno um die Gefährdung wusste, in der er sich befand, geriet er in eine Falle. In Frankfurt, später in Zürich näherte sich ihm ein Venezianer mit verlockenden Lehr- und Verdienstangeboten, die ihm zuständen, wenn er nach Italien zurückkehre. In Padua sei eine Professur für Mathematik vakant, die ihm entsprechen würde. Giordano Bruno liess sich betören, nichtsahnend, dass er sich damit der Inquisition auslieferte. Die Professur in Padua machte ihm Galileo Galilei abspenstig und in Venedig, kaum angekommen, wurde er von einem reichen Bekannten, der von ihm irgendwelche magische Informationen erpressen wollte, bei der Inquisition verklagt. Er wurde verhaftet und noch in Venedig sieben Mal qualvoll verhört, bis er zustimmte, seine Aussagen zu leugnen. Trotzdem wurde er ans höher gestellte lnquisitionstribunal in Rom ausgeliefert. Während acht Jahren zog sich der Prozess und die Einkerkerung in der Engelsburg hin. Giordano Bruno muss schwerster Folter ausgesetzt gewesen sein, bis das kirchliche Gericht ihn ans weltliche Gericht übergab. Einen Teil seiner philosophisch relevanten Aussagen auch hier zu leugnen, dazu war er bereit, doch an den seines Erachtens wichtigsten Erkenntnissen hielt er fest:
dass Jesus Christus nicht göttlichen, sondern menschlichen Ursprungs sei, dass es kein Jüngstes Gericht gebe, auch nicht Hölle, Fegefeuer und Paradies, ferner dass das ganze geozentrische System mit der Theorie der Sphären ein betrügerisches Konstrukt sei, dass das Universum unendlich und die Erde ein Planet unter vielen sei.
Giordano Bruno wurde zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt und am 17. Februar 1600 auf dem Campe de’ Fiori in Rom lebendigen Leibs verbrannt, offenbar mit angebundener Zunge, damit er nicht zum Volk sprechen konnte.
Sein ganzes Werk wurde vom Vatikan verboten und blieb auf dem Index verbotener Bücher bis 1966, als Papst Johannes XXIII im Rahmen des zweiten Vatikanischen Konzils das Verbot aufhob. Und es dauerte bis zum Jahr 2000, bis Papst Paul II die Verfolgung, Folter und Tötung Giordano Brunos als Unrecht erklärte und dadurch von Seiten der Kirche den mutigen Denker rehabilitierte.
Giordano Brunos Werk war tatsächlich von grösster aufklärerischer Bedeutung11. In religiöser und philosophischer Hinsicht vertrat er die Überzeugung der Einheit von Gott und Natur, Gott und Universum. Seines Erachtens ist die grosse Gesetzmässigkeit von Natur und Universum eins mit dem Göttlichen, und in diesem Eins finden sich Ursache und Prinzip und Kraft des Seins all dessen, was ist, unabhängig von Form und Grösse, von sinnenmässig wahrnehmbarer Materie oder ohne diese. “Der Unterschied sei so gross, wie er wolle, in Bezug auf die eigentümliche Art und Weise, kraft deren die eine zum körperlichen Sein herabsteigt und die andere nicht, die eine sinnlich wahrnehmbare Eigenschaften annimmt, die andere nicht und kraft deren es den Anschein hat, als könne zwischen jener Materie, der die Quantität und das Substratsein für solche Eigenschaften, welche ihr Sein in den räumlichen Dimensionen haben, widerstreben, und der Natur, der weder das eine noch das andere widerstrebt, keine gemeinschaftliche Beziehung bestehen. Dennoch sind beide eins und dasselbe, und der ganze Unterschied beruht( … ) auf der Zusammenziehung der einen zu körperlichem Sein, während die anderen unkörperlich sind.”12
Was damals als schwerste Häresie galt, bedeutete für Giordano Bruno ein umfassendstes, auch in die Naturwissenschaften integrierbares Gottesbekenntnis: die Übereinstimmung von Eins und All. Es ist jene pantheistische Überzeugung, wie sie zwei Generationen nach ihm auch Baruch de Spinoza (1632-1677) vertrat, der wegen seines Mutes von seiner jüdischen Gemeinde in Amsterdam zwar nicht gefoltert und lebendig verbrannt, doch ebenfalls verurteilt und ausgestossen wurde.
Das Universum erachtete Giordano Bruno als unendliche, weder zeitlich noch räumlich geschaffene, sondern als eine aus sich entstehende und bestehende, in sich seiende Ordnung, in welcher die Erde Teil innerhalb des Sonnensystems als nächstem, erkennbarem Ordnungssystem ist, wie die anderen Sterne und Planeten ein materieller Teil unter unendlich vielen Teilen. “Das Universum ist demnach eins, unendlich, unbeweglich. Eins, sage ich, ist die absolute Möglichkeit, eins die Wirklichkeit, eins die Form und die Seele, eins die Materie, eins das Objekt, eins das Wesen, eins das Grösste und Beste, das nicht soll begriffen werden können und daher unbegrenzbar und unbeschränkbar und insofern unbegrenzt und unbeschränkt, folglich unbeweglich ist. Es bewegt sich im Raume nicht, weil es nichts ausser sich hat, wohin es sich bewegen könnte, denn es ist alles. Es entsteht nicht, weil es kein anderes Sein gibt, das es begehren und erwarten könnte, denn es hat alles Sein. Es vergeht nicht, weil es nichts anderes gibt, in das es sich verwandeln könnte, denn es ist selbst alles. Es kann nicht kleiner oder grösser werden, weil es unendlich ist, dem nicht hinzugefügt und von dem nichts weggenommen werden kann. Denn das Unendliche hat keine in bestimmtem Verhältnis zueinander stehende Teile. Es ist in seiner Beschaffenheit nicht veränderlich, weil es nichts Äusseres hat, von dem es Einwirkungen erleiden könnte. Weil es ferner in seinem Sein alle Gegensätze zu Einheit und Harmonie zusammenfasst und keine Neigung zu einem anderen, neuen Sein, oder zu einer anderen und wieder anderen Art und Weise des Seins haben kann, so kann es weder hinsichtlich irgend einer Eigenschaft der Veränderung unterworfen sein noch etwas Gegensätzliches oder Verschiedenes haben, das eine Eigenart an ihm abänderte. Denn in ihm ist alles Eintracht. Es ist nicht Materie, denn es ist weder begrenzt noch begrenzbar. Es ist nicht Form, denn es formt und gestaltet nichts anderes, eben weil es alles, das Grösste, das Eine und das Universum ist.”13
In einer sorgfältigen Abstufung aller denkbaren Gegenargumente und deren Widerlegung geht Giordano Bruno’s Argumentation noch lange weiter, indem er auch alle relevanten Aussagen der griechischen Denker aufgreift, sie mit seiner Erkenntnis vergleicht und deren Mängel oder Richtigkeit erläutert. Jede Art von Materie beruht gemäss seiner Erkenntnis auf der Kleinsteinheit der Monade, die sich durch die Gesetze von Anziehung und Bewegung weiter entwickelt, wie diese Lehre schon in der frühgriechischen Denkgeschichte, möglicherweise auf Pythagoras zurückgehend, unter dem Begriff des Atoms immer wieder vertreten wurde, von Aristoteles auch in Zusammenhang des Begriffs der Entelechie im Sinn der Formbildung auf Grund des Könnens. (Später wurde der Begriff der Monade u.a. auch von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 -1716) aufgegriffen).
Für Giordano Bruno waren Metaphysik und Naturwissenschaft nicht widersprüchliche, sondern sich ergänzende Erkenntnisbereiche. Er war kein Mathematiker, der in einer knappen Formel die Logik der Gesetzmässigkeiten zusammengefasst hätte, er bedurfte der ausführlichen sprachlichen Erklärung. So gelangte er auch zur Raum-Zeit-Einheit, indem er mit der räumlichen Unendlichkeit die zeitliche Unendlichkeit in Verbindung brachte: „Innerhalb des Umfanges des Unendlichen gibt es keinen grösseren und keinen kleineren Teil. Denn dem Verhältnis des Unendlichen nähert sich ein noch soviel grösserer Teil nicht mehr als ein anderer noch soviel kleinerer, und deshalb ist in der unendlichen Dauer die Stunde nicht vom Tage, der Tag nicht vom Jahr, das Jahr nicht vom Jahrhundert, das Jahrhundert nicht vom Augenblick verschieden. Denn die Augenblicke, die Stunden haben nicht mehr Sein als die Jahrhunderte, und jene sind im Verhältnis zur Ewigkeit nicht kürzer als diese.” 14 Damit wurde von Giordano Bruno die aristotelische Trennung zwischen dem Weltbereich unterhalb und oberhalb des Mondes – zwischen dem sublunaren und dem translunaren Bereich – aufgehoben. Zeit und Ewigkeit bedeuteten blass unterschiedliche Benennungen gemäss der Begrenztheit der sinnlichen Wahrnehmung von Bewegungsabläufen, jedoch nicht gemäss des Inhalts. Doch zeigten sich hier nicht Widersprüchlichkeiten? Konnte die Geschwindigkeit einer Lichtwelle mit der Geschwindigkeit der Bewegung anderer Objekte im Universum übereinstimmen? Möglicherweise lässt sich bei Giordano Bruno eine vorausgehende Annäherung an Einsteins Relativitätstheorie finden?
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Es war eine Zeitepoche voller Unruhen und umwälzender Geschehnisse. Dass sie später als „Renaissance” bezeichnet wurde, betraf in erster Linie die ästhetischen Bereiche von Kunst und Architektur, von Dichtung und Musik, gleichzeitig von technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften. Damit in Verbindung geschahen abenteuerliche Seefahrten und überraschende Entdeckungen unbekannter Weltteile, dadurch ein wachsender Wettkampf um Besitz von Ländern und Völkern, um Unterwerfung und Erforschung fremder Kulturen, kurz, um Kolonisierung ganzer Kontinente, gewissermassen um eine möglichst globale Umsetzung ausbeuterischer Wirtschaftsinteressen und christlicher Religion. Dabei vermischten sich die Bereicherungswünsche, Machtmissstände und kriegerischen Verwicklungen der europäischen Fürsten und Könige mit den Herrschaftsansprüchen und Kriegen in den kirchlichen Fürstentümern. Beide gingen einher mit Verwüstung, mit Seuchen und Armut in grossen Teilen Europas, mit Aufständen und sich mit neuen Kriegen umsetzender Reformation und Gegenreformation. In Verbindung mit den Weltumsegelungen wurde aber auch der Erdball neu vermessen und wurden die Sternbilder anders gesehen. Es ist anzunehmen, dass die Reise- und Entdeckungsberichte in die Hände der damaligen Wissenschaftler gelangten, die sich mit den Fragen der kosmologischen und astronomischen Gesetze befassten .
Giordano Brunos tragischer Geschichte waren die Erkenntnisse von Nikolaus von Kues (1401 – 1464) wie jene von Nikolaus Kopernikus (1473 – 1543) vorangegangen, die ebenfalls die Gesetze des Universums betrafen. Beide blieben trotz der klaren Abkehr vom ptolemäisch- geozentrischen System und der Zusage zum heliozentrischen System von der Inquisition verschont. Der eine wie der andere stammte aus wohlhabender, deutscher Familie, studierte erst an deutschen, dann an italienischen Universitäten und hatte ein gesichertes, hohes Amt in der Kirche inne, übte in den Konfessionskriegen eine vermittelnde Rolle aus und vollbrachte zusätzlich grosse wissenschaftliche Leistungen – Nikolaus von Kues als Philosoph, als Mathematiker und als Staatsrechtler, Kopernikus als Arzt und als Staatsrechtler, der 1526 zusammen mit einem ihm nahe stehenden Freund15 auch die Landkarte von Polen-Litauen und 1529 jene von Preussen zeichnete. Beinah nebenher brachten beide grossen Denker bahnschneidende Erkenntnisse im Bereich der Astronomie zustande: Nikolaus von Kues unter vielen andern ein Werk über die Koinzidenz der gegensätzlichen Kräfte im Weltall, Kopernikus insbesondere über die Planetenbahnen und über die Richtungsänderung der Erdachse. Seine präzisen Arbeiten beeinflussterirnassgebllch diejenigen von Tycho Brahe, von Johannes Kepler und von Galileo Galilei.
Um 1509, mit 36 Jahren, hatte Kopernikus sein erstes Werk, den Commentariolus, abgeschlossen und an eine Reihe von Freunden verteilt. Vermutlich hatte er von Aristarchos’ wagemutiger Entdeckung Kenntnis über spätere Kommentatoren gehabt. Da er noch nicht über Fernrohre verfügte, wohl aber über sehr genaue Mauerquadranten, erarbeitete er seine Ergebnisse allein mittels geometrischer Berechnungen. So kam er zu einer sorgfältig begründeten Theorie des heliozentrischen Systems, d.h. des kürzeren oder längeren Umlaufs der Planeten um die Sonne, darunter jenes der Erde im Lauf eines Jahres, während sie vom Mond im Lauf eines knappen Monats (29 Tage, 12 Stunden und 43 Minuten) umkreist wird und sich innerhalb von 23 Stunden, 56 Minuten, 4,10 Sekunden um die eigene Achse dreht. Für Kopernikus war es wichtig, eine Erklärung für die scheinbare Verschiebung der Fixsterne, der damals am weitesten entfernten Sterngruppe, vom Blick des Betrachters auf der Erde zu finden. Er stellte auch eine genaue Berechnung der Planetenbahnen in Aussicht, die er vermutlich mit dem Astronomischen Almanach aus dem Jahre 1535 annähernd vorlegen konnte. Doch auch dieses Werk veröffentlichte er nicht, sondern verteilte es unter der Hand.
Die vatikanische Kurie zeigte sich gegenüber Kopernikus’ Arbeit prinzipiell nicht abgeneigt. Sie war damals bestrebt, für die jährlich wiederkehrenden Festtage, insbesondere für Ostern, eine genauere Kenntnis des Jahresablaufs zu haben, um einen präzisen Kalender erstellen zu können. Es erstaunt daher nicht, dass Kopernikus sein grosses Werk de revolutionibus orbium coelestium (Über die Umschwünge der himmlischen Kreise) Papst Paul III widmete. Es war das einzige Werk, das er in Zusammenhang seiner astronomischen Forschung selber veröffentlichte, das aber erst 1543, im Jahr seines Todes, in Nürnberg erschien, dank der finanziellen Unterstützung durch seine Freunde. Es enthält die Präzision des Frühlingspunktes – die Tagundnachtgleichheit – durch das Erfassen der Bewegung der Erdachse, ebenso eine genaue Berechnung der Umlaufzeit der sechs Planeten um ein geometrisches Zentrum in der Nähe der Sonne im Massstab deren Entfernung von der Sonne: jene des am weitesten entfernten Planeten Saturn in dreißig Jahren, jene des Planeten Jupiter in zwölf Jahren, anschliessend jene des Planeten Mars, der in zwei Jahren seine Bahn durchläuft, sodann, am vierten Platz, jene der Erde – mit der Mondbahn als Enzykel – in einem Jahr, an fünfter Stelle jene der Venus in einem Zeitraum von neun Monaten und schliesslich, an sechster Stelle, die Umlaufberechnung des Planeten Merkur in achtzig Tagen. Kopernikus’ sorgfältige Berechnung ermöglichte zu erklären, warum vom Blick des Menschen aus Nacht für Nacht Tausende von Sternen von Ost nach West wandern: weil sich die Erde selber in entgegengesetzter Richtung von West nach Ost dreht und sich dabei im Lauf eines Jahres gleichzeitig um die Sonne bewegt, dabei länger braucht als die beiden sonnennäheren Planeten Venus und Mars, so dass sich diese aus der Sicht des beobachtenden Menschen nicht gleichmässig, sondern gelegentlich rückwärts über den Himmel bewegen. Diese Wahrnehmung ist vergleichbar mit jener, die wir bei Bahnfahrten erleben und meinen, dass sich die Bäume entlang der Gleise in die entgegengesetzte Richtung sausen, für Kopernikus war es die gleiche Erfahrung bei Kutschenfahrten.
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Mit Tycho Brahe (1546 -1601) findet sich der erste bedeutende Nachfolger von Kopernikus, der dessen Erkenntnisse über die Position der Gestirne mit Akribie erweiterte, ohne vom geozentrischen System wirklich abzuweichen und ohne das heliozentrische voll annehmen zu können. Für ihn galt, was Hölderlin formulierte: … ,,offen die Fenster des Himmels und freigelassen der Nachtgeist, der himmelsstürmende”16 Er vertrat eine Zwischenposition, die als die „tychonische” bezeichnet wurde. In seiner genauen Beobachtung des „grossen Kometen” vom 13. November 1577 bis zum 26. Januar 1578 wurde diese besonders deutlich, als er in möglichst exakten Skizzen dessen Lauf als einen auf die Erde zentrierten darstellte.
Brahes Beobachtungen und genauen Aufzeichnungen begannen lange vor dem Auftauchen des Kometen, schon in jungen Jahren. Er stammte aus einer adligen Familie, war im damals dänischen Südschweden aufgewachsen und besuchte vom dreizehnten Altersjahr an die Universität Kopenhagen, dann jene von Leipzig, von Wittenberg, von Rostock und von Basel, wobei auch er Rechtswissenschaft, Geistes- und Naturwissenschaften vereinte und in keinem Bereich abschloss, sich jedoch auf die Astronomie konzentrierte und bald von seinem Landesfürsten, dem dänisch-norwegischen König Friedrich II, volle Unterstützung erhielt, um auf der Insel Ven im Öresund (zwischen dem heutigen dänischen Helsingborg und dem schwedischen Landskrona gelegen) eine Sternwarte aufzubauen, die Sternwarte Uraniborg (so genannt zu Ehren von Urania, der griechischen Muse des funkelnden Himmelskörpers). In Uraniborg stand alles zur Verfügung, was eine optimale Forschungsarbeit ermöglichte: Studienräume, eine grosse Bibliothek, Herstellungsateliers für Instrumente zur Berechnung der Distanzen und Positionen der Gestirne – insbesondere für einen riesigen Mauerquadranten-, ferner eine eigene Buchdruckerei und Buchbinderei etc. Zusätzlich wurde 1584 auf der gleichen Insel, etwas südlicher, eine unterirdische Sternwarte gebaut, die Stjerneborg – Sternenburg genannt wurde.
Die unablässsige Beobachtung und Aufzeichnung der Sternbilder bewirkte, dass Tycho Brahe 1572, damals 32 Jahre alt, verheiratet und Vater einer Schar Kinder, im Sternbild der Cassiopeia mit ihren fünf Hauptsternen, durch welche sich die Milchstrasse zieht, einen neuen Stern aufleuchten sah, eine „Supernova” oder „stella nova”, die den – von Kopernikus erwünschten – Beweis erbrachte, dass auch unter den Fixsternen Veränderungen geschehen17. ,,lch begann, meinen eigenen Augen zu misstrauen”18, soll Brahe festgehalten haben, da sich mit dieser Entdeckung und der Möglichkeit der genauen Lagebeurteilung endgültig die biblische Lehre der einmaligen Schöpfung von Himmel und Erde auflöste. Insbesondere war die Tatsache aufwühlend, dass sich diese Supernova nicht innerhalb, sondern ausserhalb des Bereichs des Mondes befand, im weitestentfernten der Fixsterne. Er schrieb 1588 einen Bericht De mundi aetherei recentioribus phaenomenis, den er selber an einige Freunde verteilte und der erst 1603, nach seinem Tod, veröffentlicht wurde. Als 1604 wieder eine Supernova entdeckt wurde, unter anderen auch von Johannes Kepler und von Galileo Galilei, bot Brahe’s Publikation Anlass zu einer vergleichenden Diskussion.
Das Ausmass an Entwicklungen und Veränderungen im Weltall zu kennen, das uns heute auf wissenschaftlicher Ebene geboten wird, war damals unvorstellbar. Doch Tycho Brahe gelang es, dank seiner nicht abbrechenden, damals einzigartigen Beobachtungsarbeit einen Katalog von über tausend Standorten von Fixsternen aufzuzeichnen. Er war ein Wissenschaftler des Sehens, der Kopernikus Berechnungen und heliozentrischen Erkenntnisse nicht voll teilte, der es aber fertig brachte, die auf Aristoteles und Ptolemäus aufgebaute Theorie des Himmels zu verändern und zu erweitern, wenngleich nicht zu stürzen. An seiner Seite stand über Jahrzehnte seine um zehn Jahre jüngere Schwester Sophie Brahe (1556 -1643), die sich ebenfalls zu einer hervorragenden Forscherin entwickelte, viele Beobachtungen und Aufzeichnungen teilte oder unabhängig von ihrem Bruder unternahm.
Mit dem Tod von König Friedrich II. am 4. April 1588 brach für Tycho Brahe die Unterstützung seiner wissenschaftlichen Arbeit zusammen. Er musste mit Frau und Kindern und seinem ganzen Forschungshintergrund die Insel Ven verlassen und anderswo eine Aufnahme finden. Während etwa zehn Jahren bot ihm ein wohlhabender Freund in der Nähe von Hamburg einen grossen Gutshof an, bis Rudolf II., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, König von Böhmen und von Ungarn sowie Erzherzog von Österreich, der aus Angst vor einem Angriff der Türken von Wien nach Prag gezogen war, ihn zu sich einlud und anbot, eine Sternwarte für ihn zu bauen. Anfang Herbst 1598 begann der Umzug Tycho Brahes mit seiner Familie, seinem ganzen Forschungsmaterial und all seinen Werken. 1599 traf er in Prag ein und setzte sofort seine Arbeit fort.
Als Assistent stand Brahe ein junger Mathematiker und Astronom zur Seite, Johannes Kepler (1571- 1630), der auf seine Einladung hin etwa gleichzeitig nach Prag gezogen war, weg aus dem ultra-katholischen Graz, wo er an der evangelischen Stiftschule, die der katholischen Universität entgegen stand, Mathematik unterrichtet hatte, jedoch als Protestant zunehmend angefeindet wurde. Zwar war ihm ein angemessenes Einkommen versprochen worden, doch die böhmische Staatskasse war leer und es wurde kaum ein einziges Monatsgehalt ausbezahlt. Keplers Forschungs- und Erkenntnisdrang war demjenigen seines Vorbilds ebenbürtig, wenngleich ihre Methoden sehr unterschiedlich waren. Während Brahe sich auf das Beobachten und Sehen konzentrierte, bestand Keplers Fähigkeit im Rechnen. Doch die ersten Monate waren mit lauter organisatorischen Aufgaben besetzt, mit Auspacken, Sichten und Ordnen der enormen Menge an Dokumenten, mit Entgegennehmen der Wünsche und Aufgaben des Kaisers, der sich in seinem riesigen Herrschaftsbereich in zahlreichen, kaum lösbaren Schwierigkeiten befand. Der Augsburger Religionsfrieden von 1555, den Rudolfs Onkel Ferdinand I zustande gebracht hatte, sollte wohl die Gleichberechtigung der lutheranischen und der katholischen Gläubigen sichern, überliess es jedoch den Fürsten zu bestimmen, welche Religion in ihrem Gebiet gelten sollte (cuius regio, eius religio), sodass ständige Querelen, Mach kämpfe sowie kleinere und grössere Kriege die Folge waren. Dazu belastete Rudolf II. der Türkenkrieg, der an der südöstlichen Reichsgrenze viele Verluste, untragbare Kosten und Bauernaufstände bewirkte, und in all diesen schweren Aufgaben der Zwist mit seinem Bruder Matthias19 – einem der jüngeren von fünf Brüdern und sechs Schwestern -, der ihm Land um Land abspenstig machte und ihn 1611 schliesslich auch als König von Böhmen entthronte. Rudolf II. blieb zwar der kaiserliche Titel erhalten, doch lediglich für sich in seinem Palast auf dem Hradschin in Prag. Gewiss hatte er sich in seiner Regentschaft zunehmend weniger um die innen- und aussenpolitischen Aufgaben gekümmert, sondern sich in Kunst und Wissenschaft, darunter in Astronomie und Astrologie zurückgezogen. Am 20. Januar 1612 starb er, unverheiratet, aber Vater von mindestens sechs Söhnen und Töchtern verschiedener Geliebten, und Matthias wurde Kaiser. Wenig später begann in Europa der Dreissigjährige Krieg.
Johannes Kepler wollte sich nicht um die Weltbühne kümmern, sondern um den Stemenhimrnel20. Der Auftrag von Rudolf II. an Brahe und an ihn war die Verbesserung der Prutensischen (Preussischen) Tabellen, die 1551 im Auftrag von Herzog Albrecht von Brandenburg-Ansbach und an Hand von Kopernikus’ Resultaten durch den Astronomen Erasmus Reinhold erstellt worden waren. Dank dieser Tabellen hatte 1582 Papst Gregor XIII. die Kalenderreform umgesetzt. Es wurde der Gregorianische Kalender geschaffen, der in unserer Weltgegend heute noch gilt und von dem sich die Kalender der orthodoxen Kirchen unterscheiden. Kepler hatte den neuen, römischen Kalender schon benutzt, als er in Graz für den protestantischen Kalender verantwortlich war. Doch auf den Prutensischen Tabellen gab es zahlreiche Unklarheiten, deren Korrektur Kaiser Rudolf II. von den auf Astronomie ausgerichteten Mathematikern am Hof erwartete. Die Rudo/finischen Tabellen, wie sie nach der Korrektur benannt wurden, sollten eine Verbesserung aller Mängel und eine feste Grundlage für astronomische Berechnungen bieten. Bis ins 18. Jahrhundert hinein waren sie tatsächlich die genaueste wissenschaftliche Voraussetzung, auch für Isaac Newton bei der Erarbeitung des Gravitationsgesetzes. Kepler arbeitete daran unter schwierigen Bedingungen noch über zwei Jahrzehnte, bis knapp drei Jahre vor seinem Tod.
Als im Oktober 1601 Tycho Brahe in Folge eines Gastmahls im Hradschin schwer erkrankte, vermutlich an einem Blasenriss, brachte er es trotz des täglich zunehmenden Leidens zustande, noch ein umfassendes Testament zu schreiben, in welchem u.a. sein ganzes wissenschaftliches Werk und alle Instrumente an Johannes Kepler vermacht wurden. Zehn Tage später starb er, und die Hinterlassenschaft, die für seine Frau und seine übrigen Angehörigen wie für seine wissenschaftliche Arbeit blieb, war die Fortsetzung einer lebenslang geübten Sorgfalt. Johannes Kepler wurde von Rudolf II. zum kaiserlichen Mathematiker erklärt, der den Auftrag fortzusetzen und zu erfüllen sowie gleichzeitig für den Kaiser astrologische Prognosen zu erstellen hatte.
Was für Kepler das dringlichste Anliegen war, betraf die astronomisch-wissenschaftlichen Berechnungen in seinem eigenen Forschungsbereich, die er hunderte Male wiederholte, um in seiner Argumentationskette der Ergebnisse sicher zu sein. Es ging insbesondere um die exakte Untersuchung der Umlaufbahn des Planeten Mars um die Sonne, die seine Vermutung bestätigte, dass es sich nicht um eine Kreisbahn, sondern um eine elliptische Umlaufbahn handelt. Dass sämtliche Planeten, auch die Erde, in elliptischen Bahnen um die Sonne ziehen, die deren gemeinsamer Brennpunkt ist. Abweichungen kommen vor und betreffen zum Beispiel Kometen, die parabelförmige Bahnen haben. Die Gesetzmässigkeit der Umlaufbahnen war die erste, bedeutende Erkenntnis. In Verbindung damit stand auch die zweite Erkenntnis, die den von der Sonne zum Planeten gezogenen Fahrstrahl betrifft, der in gleichen Zeiten gleich große Flächen überstreicht, eine Erkenntnis, die alle Zentralkräfte betrifft, ob es sich um kugelförmige oder um elliptische Gravitationsfelder handle, die auf einen zentralen Punkt bezogen sind wie die Planeten auf die Sonne.
Diese Erkenntnisse, die später als das erste und das zweite der drei Kepler’schen Gesetze galten, publizierte er 1609 mit allen Berechnungen, Erklärungen und zahllosen Skizzen in seiner Schrift Astronomia nova, die damals nicht grosses Aufsehen erregte, jedoch zu Angriffen von katholischer wie von protestantischer Seite führte. Zur Erkenntnis des dritten. Gesetzes gelangte er erst gegen Ende seines Lebens, als er auch die Rudolfinischen Tabellen abschliessen konnte. Während die zwei ersten Gesetze das Zwei-Körperverhältnis betreffen, geht es beim dritten Gesetz um Mehrkörperverhältnisse und um Kräfte, die mit dem Abstand vom Zentralkörper quadratisch abnehmen, Keplers Erkenntnis wird sein, dass die Quadrate der Umlaufzeiten zweier Planeten sich wie die dritten Potenzen der großen Bahnhalbachsen verhalten.
Ein Briefaustausch mit Galilei hatte schon in Graz begonnen, vor der Zeit in Prag, war aber für die beiden Forscher von ungleicher Bedeutung und wurde stärker, auch offener von Kepler geführt als von Galilei beantwortet. Darüber später mehr.
Wer war Johannes Kepler tatsächlich? Er hatte eine weniger leichte Kindheit gehabt als Tycho Brahe. Sein Vater verliess immer wieder als Söldner die Familie, so dass während Jahren Obhut und Unterhalt der sechs Kinder allein von seiner Mutter, Katharina Kepler, abhing. Diese hatte dem Knaben, als er mit vier Jahren an Pocken erkrankt war, mit ihrer Heilkunst das überleben ermöglicht, doch nicht verhindern können, dass seine Augen sehr geschwächt blieben. Sie unterstützte vermutlich auch am stärksten seinen Wissenshunger. Es ist anzunehmen, dass sie im Spätherbt 1577 mit dem Sechsjährigen den Kometen betrachtete, der mit seinem Schweif bis in den Januar 1578 hinein unterschiedlich stark sichtbar war. Dass sie 1620 wegen ihrer Fähigkeiten der Hexerei angeklagt, über ein Jahr gefangen gehalten und gefoltert würde, schliesslich knapp dem Todesurteil entkam, nicht zuletzt dank dem Einsatz ihres Sohnes Johannes, das liess sich nicht vorhersehen. Ab dem fünften Altersjahr besuchte dieser die Schule, jedoch mit vielen belastenden Erfahrungen, mit Schikanen durch Lehrer und Plagereien durch Gleichaltrige, mit Unterbrüchen und ständigem Wechsel, da die Familie von der freien Reichstadt Weil-die-Stadt nach Leonberg zog, dann nach Ellmendingen, wo sein Vater ein Gasthaus übernommen hatte. Seine ungewöhnlichen mathematischen Begabungen fielen früh auf, so dass er vom protestantischen Pfarrer Unterstützung bekam, das Gymnasium in evangelischen Klosterschulen zu besuchen und 1589 in Tübingen am Evangelischen Stift Theologie zu studieren. 1591 beendete er das Studium als Magister, ohne je eine Funktion als Theologe zu übernehmen.
Der grosse Gewinn der Studienzeit in Tübingen war für Johannes Kepler die Begegnung und Freundschaft mit Michael Mästlin (1550-1630), einem damals bedeutenden Mathematiker und Astronomen, der über eine Abschrift von Kopernikus’ De revolutionibus orbium coelestium verfügte, diese Kepler zur Verfügung stellte und ihn vom heliozentrischen System überzeugte. Mästlin war es, der unter anderem das „aschgraue” Mondlicht, das insbesondere vor und nach dem Neumond hinter der kleinen Sichel erscheint, als Rückwirkung des auf die Erde fallenden Sonnenlichts auf den Mond deuten konnte. Er blieb sein Leben lang ein Freund des zwanzig Jahre jüngeren Kepler und unterstützte dessen Forschungsarbeit, ohne sich vorzudrängen. Beide starben im gleichen Jahr.
Als Kepler in Prag 1609 seine Astronomia nova abschloss, erhielt er nach mühsamem Hin- und Herfeilschen von Rudolf II. die Zusage von vierhundert Gulden zur Deckung der Druckkosten, doch diese waren mehr als doppelt so hoch. Schliesslich wurden Kepler weitere fünfhundert Gulden freigesprochen, eigentlich sein Jahresgehalt, ohne dass ihm je die entsprechende Summe ausbezahlt worden wäre. Es gibt Aufzeichnungen von Keplers Frau Barbara, wie schwierig unter den spärlichen Finanzen der Alltag war, dass sie ständig von ihrem Erbe zehren musste, um die Familie durchzubringen. Kepler hatte die Müllerstocher, die schon zweimal verwitwet war, 1597 in Graz geheiratet, als er seine Lehrtätigkeit als Mathematiker am evangelischen Stift, gleichzeitig als Landesvermesser und als Verantwortlicher für den Kalender begonnen hatte. Sie hatte ihm dort zwei Kinder geboren, die früh starben, hatte mit ihm die religiösen Anfeindungen durchgestanden, die bewirkten, dass die Zahlungen für die Lehrtätigkeit während zwei Jahren ausblieben und die Familie 1600 Graz definitiv verlassen musste. Doch auch in Prag wurde das Leben nicht leichter. Von den drei Kindern, die dort zur Welt kamen, überlebten nur ein Sohn und eine Tochter. Als Barbara Kepler 1611 starb, starb im gleichen Jahr auch ihr Sohn.
Auch in Prag waren die Lebensbedingungen schwer tragbar. Trotzdem veröffentlichte Kepler noch zwei wissenschaftliche Arbeiten, eine über die Entstehung der hexagonalen, wunderbar vielfältigen Struktur der Schneeflocken, eine zweite – Dioptrice – über die Struktur eines Fernrohrs, das zwei Jahre später durch einen mit ihm befreundeten Jesuiten und Astronomen, Christoph Scheiner, hergestellt wurde. Dieser stand damals mit Galilei in Konflikt, da dieser ihm nicht zubilligen wollte, Entdecker der Sonnenflecken zu sein. Für Galilei war der Erfolg jedes anderen Zeitgenossen eine Bedrohung seines eigenen Rangs, und diesem Misstrauen entsprach sein skeptischer, wenig wohlwollender Blick auf Kepler als Rivalen. Kepler hielt damals Ausschau nach einer Professur an der Universität von Tübingen, doch gemäss deren erzkonservativ-aristotelischen Grundstimmung war er ein Ketzer, und die Wahl wurde ihm verwehrt. So zog er 1612 nach Linz, wo ihm eine Lehrstelle in Mathematik angeboten wurde und wo er vierzehn Jahre lang blieb. Er heiratete nochmals, die 24-jährige Suzanne Reutlinger, die als Waisenkind in einem vornehmen Haushalt aufgewachsen war, die ihn lieb hatte und ihm sechs oder sieben Kinder gebar, von denen vier überlebten. Auch die Tochter aus der ersten Ehe Keplers fand Platz in der neuen Familie. Doch die konfessionellen Schikanen in Linz belasteten Kepler zunehmend, selbst die Kinder, die unter Zwang die katholischen Gottesdienste besuchen mussten und von den Mitschülern geschlagen und geplagt wurden, nicht anders als deren Vater zu seiner Schulzeit. Eine Lehrstelle in Mathematik in Rostock, um die sich Kepler bewarb, wurde ihm ebenfalls verwehrt. Gleichzeitig wurde 1615 seine über siebzigjährige Mutter in Leonberg, ihrem alten Wohnsitz, wo sie ein kleines Haus und ein wenig Land besass, der Hexerei angeklagt21.
Die Anklage beruhte auf Verleumdungen durch eine Mitbewohnerin der kleinen Stadt, Ursula Reinbold, die wegen Hurerei in einem schlechten Ruf stand und deren Mann für sie die Rolle des Anklägers gegen die alte Mutter Johannes Keplers übernahm. Der Leonberger Vogt Lutherus Einhorn, der schon mehrere Frauen wegen Hexerei gefangengenommen und auch Todesurteile vollstreckt hatte, unterstützte die Anklage und deren Umsetzung mit Übereifer. Johannes Kepler mischte sich sofort ein und holte seine Mutter 1616 nach Linz. Für eine Weile kam sie sich geschützt vor und erholte sich. 1620 meinte sie, wieder nach Leonberg zurückkehren zu können, doch kaum war sie dort, wurde sie erneut gefangengenommen, eingekerkert, an Eisenketten gefesselt und mit schwerster Folter bedroht, bis sie am 28. September 1621, nach 405 Tagen Kerker, nach Einspruch von Herzog Johann Friedrich von Württemberg, in einem endgültigen Urteil in Güglingen als schuldlos erklärt wurde. Als Verteidiger hatte Johannes Kepler einen Freund aus der Studienzeit in Tübingen, Christoph Besold, beiziehen können, der die Untragbarkeit der Indizien nachweisen konnte. Doch der Freispruch reizte den Hass des Reinboldschen Anklägerpaars noch mehr, Aufhetzungen und Plagereien setzten sich fort. Am 13. April 1622 starb Katharina Kepler eines „natürlichen Todes”, erschöpft und entkräftet von den durchgestandenen Quälereien.
Unter den Argumenten der Anklage gegen seine Mutter hatte die von Johannes Kepler in zwei Nächten verfasste Niederschrift einer Traumerfahrung mitgewirkt, die unter dem Titel Somnium sive astronomia lunaris – Der Traum, oder: Mond Astronomie22 eine Mischung von science fiction und astronomischen Informationen war. Die kleine Schrift wurde als Beweis für die Hexenkunst der „Keplerin” benutzt. Sie war etwa gleichzeitig wie die Astronomia nova entstanden, 1609, und blieb bis nach Johannes Keplers Tod unveröffentlicht, doch offenbar war sie unter der Hand in Leonberg und Güglingen bekannt geworden und wirkte sich verhängnisvoll aus.
Kepler schilderte im Somnium, er sei am Lesen eines Buchs über Libussa, eine Frau mit Zauberkräften, gewesen und sei dabei eingeschlafen. Da habe er von einem vierzehnjährigen isländischen Knaben Duracotus geträumt, der von seiner Mutter Fiolxhilde, einer Kräutersammlerin und Magierin, an einen Seemann übergeben worden sei, der ihn beauftragt habe, auf einer dänischen Insel einen Brief an Tycho zu übergeben. Auf der Insel habe er Dänisch gelernt und sei mehrere Jahre mit Tycho und seinen Schülern geblieben, habe mit ihnen den Nachthimmel beobachtet und sei in die Geheimnisse der Astronomie eingeführt worden. Nach seiner Rückkehr nach Island habe ihm seine Mutter das Geheimnis ihrer eigenen Himmelskenntnisse offenbart. Sie habe Duracotus erzählt, dass sie Verbindung zu Dämonen habe, die sie über alle Distanzen an jeden anderen Ort versetzen könnten, auch auf eine fünfzig tausend Meilen im Äther entfernt liegende Insel, die Levania oder Mond heisse. Auf der Reise dorthin sei es sehr kalt gewesen, doch die Dämonen hätten für genügend Wärme gesorgt, auch für feuchte Schwämmchen, die in den Nasenlöchern das Atmen ermöglichten. Am Lagrange-Punkt23 zwischen Erde, Sonne und Mond hätten die Dämonen die Fahrtbeschleunigung verringern müssen, um bei der Landung auf Levania den Aufprall zu verhindern. Damit die Dämonen nicht durch die Sonne überwältigt würden, hätten sie sich im Erdschatten aufhalten müssen, der von den Bewohnern der Insel Volva genannt werde. Die Insel sei in zwei Hemisphären geteilt, in Privolva und in Subvolva, Von Privolva aus könne Volva – die Erde – nicht sichtbar sein, während sie von Subvolva aus als Mond gesehen werde, riesig gross, ,,das grossartigste Schauspiel”24. Die Dämonen hätten noch weitere Erklärungen ausgeführt – über die Sicht der Sonnenfinsternis vom Mond aus, über die Grösse der Planeten je nach Distanz der Mondhemisphären von der Erde, auch über die Grösse von Levania, über die Bewohner von Privolva und von Subvolva, über die Pflanzen auf beiden Teilen der Insel, über deren Bewohner, deren Lebenszyklus und Tod. Doch mitten in dieser Schilderung sei er plötzlich wegen eines mächtigen Sturms aufgewacht und habe bemerkt, dass sein Kopf bedeckt und sein Körper in Leintücher eingewickelt gewesen sei wie die Leute, von denen im Traum gesprochen worden sei.
Nach dem Tode von Katharina Kepler wurde es für Johannes Kepler und seine Familie noch düsterer, in Linz zu leben. Der sich ausbreitende Krieg, der dreissig Jahre dauern wird, ein Krieg sowohl zwischen den zwei christlichen Konfessionen wie zwischen dem österreichischen Kaiser, den grossen katholischen Fürstenhäusern und deren Verbündeten gegen die protestantischen Könige und deren Zugewandte, zu denen auch das Französische Königshaus gehörte. legitimierte mit den Siegen der katholischen Heere und Söldnertruppen zunehmend den Hass gegen die Protestanten. Für Kepler, der ständig zwischen den Konfessionen zu vermitteln suchte, war die Lebensgrundlage äusserst prekär. In all den Jahren hatte er an den Rudolfinischen Tabellen weiter gearbeitet. In Zusammenhang dieser Arbeit war auch der erste Band eines astronomischen Lehrbuchs entstanden, das er als Epitome –Auszug aus einem grösseren Werk verstand. Doch als er am zweiten Band arbeiten wollte, erkrankte seine kleine Tochter Katharina schwer und starb, nachdem wenige Monate vorher Margareta Regina gestorben war, das erstgeborene Kind aus seiner Ehe mit Susanne. Es waren schwer tragbare Erfahrungen. Sie bewirkten, dass er sich nicht weiter mit dem Lehrbuch befassen mochte. Er brauchte eine Denkarbeit, die ihm inneren Halt bot und Trost. So kamen 1618 in wenigen Monaten die fünf Bände der Harmonio mundi – libri V zustande, die Weltharmonie, ein unvergleichbares Werk. Es ist ein Loblied auf die göttliche Weisheit, das sich teilweise wie ein grosser Psalm liest. ,,0 Du, der Du durch das Licht der Natur das Verlangen nach dem Licht Deiner Gnade in uns mehrest, um uns durch dieses Licht Deiner Herrlichkeit zu geleiten, ich sage Dir Dank, Schöpfer, Gott, weil du mir Freude gegeben hast an dem, was Du gemacht hast, und ich frohlocke über die Werke Deiner Hände. Siehe, ich habe jetzt das Werk vollendet, zu dem ich berufen ward.”25
Dieses Werk umfasste für Kepler die Erkenntnis der vielfach übereinstimmenden Weltordnung. Sie findet sich in den atomaren Prinzipien, den Zellsystemen der Natur, zu denen alles Bestehende, das Lebendige und das Vergangene sowie das Kommende gehört, das sich in den Schneeflocken und Kristallen, im grossen Kunstwerk des Weltalls ebenso kund tut wie in der Musik. Es sind die Gesetze der reinen Geometrie, der kunstvollen Polygone – der fünf-, sechs-, sieben- und zwölfeckigen Vielecke – in einer Multiplizität von Formen, die sich ebenso in den Tonstrukturen der grossen und kleinen Terz, der Quarte, Quinte, der grossen und kleinen Sexte bis zur Oktave zur Harmonie der Klangwelt vereinen. Über diese Erkenntnis gelangte Kepler am 15. Mai 1618 zum dritten Planetengesetz, mit welchem er die Umlaufzeiten zweier Planeten. und ihre mittleren Abstände von der Sonne in einem festen Verhältnis zu einander festhalten konnte. Es lautet, wie schon angedeutet wurde: Die Quadrate der Umlaufzeiten zweier Planeten verhalten sich zu einander wie die dritten Potenzen der großen Bahnhalbachse-n. Er selber war verblüfft über die Klarheit, die sich ihm dadurch offenbarte, da „sich zwischen meiner siebzehnjährigen Arbeit an den tychonischen Beobachtungen und meiner gegenwärtigen Überlegung eine so treffliche Übereinstimmung ergab, dass ich zuerst glaubte, ich hätte geträumt und das Gesuchte in den Beweisunterlagen vorausgesetzt. Allein es ist ganz sicher und stimmt vollkommen.”26
Die Publikation dieses wichtigen Werkes war nicht möglich. Die römische Kirche hatte Kepler, ohne dass er davon erfahren hätte, auf den Index gesetzt. Auch der erste Band der Epitome Astronomiae Copernicae – Abriss der kopernikanischen Astronomie, an welchem er zwischen 1618 und 1621 gearbeitet hatte, stand unter dem Verbot, gedruckt und verbreitet zu werden. Kepler erschien dieses Verbot unverständlich, ja absurd. In einem Brief an Galilei bat er diesen um genaue Information. Er wollte wissen, ob das Verbot für ganz Österreich gelte, was aus seinen Werken werden sollte, was er zu befürchten habe, wenn sich diese trotzdem verbreiteten. Ob Galilei antwortete, ist ungewiss, vermutlich eher nicht. Zahlreiche Briefe von Kepler blieben unbeantwortet. Während Galilei sich bemühte, sich dem Vatikan anzupassen und dabei Erfolg hatte, obwohl 1616 auch gegen ihn ein Publikationsverbot ausgesprochen worden war, galt Kepler als Protestant und kopernikanischer Wissenschaftler zum vornherein als unvereinbar mit den gegenreformatorischen Bedingungen.
Es gab um die gleiche Zeit eine weitere Konfrontation zwischen Galilei und Kepler. In der zweiten Jahreshälfte von 1618 -Anfang 1619 wurden überall in Europa nacheinander drei Kometen gesehen. Der dritte war der hellste und wurde weitherum als Warnung vor einer unheilvollen Entwicklung in Zusammenhang des Kriegs gedeutet. Galilei hatte zwar im Frühling desselben Jahres eine Pilgerfahrt nach Loreto gemacht, jedoch in den Herbst- und Wintermonaten, als die Kometen am Himmel sichtbar waren, keinen einzigen beobachtet. Wegen Gicht und Fieber hatte er das Bett gehütet. Er mischte sich jedoch in die Beobachtungen der Anderen ein, insbesondere in einen Bericht, der 1619 vom zwanzig Jahre jüngeren Jesuiten Orazio Grassi (1583 – 1654), einem Mathematiker, Astronomen und Architekten, unter dem Pseudonym Lotario Sarsi Sigenzano veröffentlicht wurde. Für diesen waren Tycho Brahes Messungen der Kometen bahnen von 1607 und die damit verbundene Bestätigung, dass es sich bei den Kometen um Himmelskörper handelt, die zentrale Grundlage seiner Ausführungen. Gerade diese griff Galilei an, indem er in einer umfangreichen Schrift – // Saggiatore – der Goldgräber- behauptete, die Kometen seien blasse Lichtreflexe in der Erdatmosphäre wie Regenbogen oder Nordlichter, jedoch keine Himmelskörper. Tycho Brahes Planetentheorie tauge ohnehin nichts, sie sei in philosophischer Hinsicht völlig ungenügend. Das Buch widmete er Papst Urban VIII, der 1623 neu gewählt worden war und mit dem er in freundschaftlichem Austausch gestanden hatte, als er noch Kardinal Maffeo Barberini gewesen war. Kepler hatte 1624 anlässlich eines Besuchs in Wien davon Kenntnis bekommen und stellte mit Entsetzen fest, dass Galilei ihn als Zeugen für die falsche Erklärung der Planeten nannte. Er schrieb ihm sofort, jedoch auf höfliche Art, dass er eine andere Theorie vertrete. Und er erläuterte den Kometen als Gestirn, das ebenfalls die Sonne umkreise, mit einem kugelförrnlgeh Kopf, den er wie verdichteten Nebel verstehe, während der Schweif die Ausströmung aus diesem Kopf sei, die durch die Strahlen der Sonne aus diesem nach der von ihr abgewandten Seite herausgetrieben werde. Galilei erhielt Keplers Brief, schob jedoch die geschuldete Antwort immer wieder hinaus und liess sie schliesslich versickern, wie er in einer Korrespondenz mit Cesare Marsili selber erwähnte, einem Bekannten aus der guten Gesellschaft von Bologna, den er anlässlich der Wahl Urban VIII in Rom kennen gelernt hatte27.
Von Linz aus, wo Kepler die Rudolfinischen Tabellen beendete, versuchte er, Kontakte zu Geldquellen in Deutschland zu knüpfen, um Mittel für die Druckkosten dieses bedeutenden Werks zusammenzutragen. Fünfundzwanzig Jahre hatte er daran gearbeitet, zuerst mit Tycho Brahe, dann allein. Das Resultat dieser Arbeit war mehr wie eine Erbschaft, es war zugleich ein Testament, das für eine grosse Nachkommenschaft an Naturwissenschaftlern in gedruckter Form vorliegen sollte. Doch als im Frühjahr 1626 in Oberösterreich die Bauernaufstände begannen und Linz belagert und besetzt wurde, ging die Druckerei in Flammen auf. Kepler wusste nicht mehr aus noch ein. Vermutlich kam ihm sehr gelegen, dass sich 1627 Albrecht Wallenstein28 (1583 – 1634) an ihn wandte und ihn um ein Horoskop, überhaupt um Beratung und Prognosen bat. Als Gegenleistung bot er ihm finanzielle Unterstützung und eine Druckerei in Sagan (dem heutigen polnischen Zagan) an, dem Hauptort seines schlesischen Erzherzogtums. Kepler fand für seine Familie in Regensburg eine Unterkunft, während er zeitweise in Ulm, zeitweise in Sagan seine Arbeiten fortzusetzen versuchte.
Die Anfrage Wallensteins an Kepler erfolgte in Fortsetzung eines weit zurückliegenden Auftrags. Wallenstein, eigentlich von Waldstein, aus böhmischem Kleinadel, hatte sich schon in Prag über einen Mittelsmann an Kepler gewandt und ihn um ein Horoskop gebeten, damals als Freund des Erzherzogs Matthias, als dieser in der Fehde um den österreichischen Königsthron, dann um die Kaiserkrone seinen Bruder Rudolf II. befeindete und schliesslich entthronte. Kepler hatte damals lediglich um die genaue Geburtszeit nachgefragt und auf Grund dieser Kenntnis eine präzise charakterliche Schilderung und eine Prognose bis zum Jahr 1625 verfasst, die Wallenstein ständig bei sich trug und mit Kommentaren ergänzte, als er mit Ausbruch des Kriegs zum Anführer von Kaiser Matthias’ Söldnertruppen wurde, schliesslich zum Oberbefehlshaber der kaiserlichen Armeen von Ferdinand II. wie jener der katholischen Liga in den zahllosen Schlachten gegen die Armeen der protestantischen Fürstenund Königtümer Deutschlands, Dänemarks und Schwedens, gleichzeitig zum vielfachen Herzog, bis er infolge interner Machtkämpfe von einem Vertrauten des Kaisers ermordet wurde. Im zweiten Horoskop hatte Kepler ihn vor einer bedrohlichen Entwicklung um das Jahr 1634 herum gewarnt, eine Warnung, die sich tatsächlich erfüllte.
Johannes Keplers Leben ging vorher zu Ende. Als 1630 anlässlich des Reichstags in Regensburg das wachsende Misstrauen der katholischen Fürsten sich gegen den übermächtigen Ferdinand II. und gegen Wallenstein richtete und dieser als Generalissimus entmachtet wurde, hatte auch Kepler sich nach Regenburg zurückgezogen. Er war erschöpft. Seine Hoffnung war gewesen, dass sich sein fünfbändiges Werk Harmonice mundi als Vorzeichen eines nahen Friedens erweise, wie er in einer Widmung an Kaiser Ferdinand II. festgehalten hatte. Doch als er am 16. November 1630 starb, weitete sich der Krieg für weitere acht Jahre aus und verwüstete ganz Europa mit unvorstellbarer Grausamkeit.
Galileo Galilei (1564 – 1641/42) und Johannes Kepler waren Zeitgenossen, die leidenschaftlich das gleiche Forschungsziel teilten – die Erkenntnis der Geheimnisse des Regelsystems der Gestirne resp. von Himmel und Erde. Jedoch in der Methode wie in den prägenden Eigenschaften ihrer Persönlichkeit hätten sie nicht unterschiedlicher sein können. Galileo Galilei stand in der zeitgeschichtlichen Beachtung stets im Vordergrund. Isaac Newton und Albert Einstein gehörten zu den wenigen Wissenschaftlern, die die überragende Bedeutung Keplers erkannten. Doch Galilei hatte über Fähigkeiten verfügt, die Kepler fehlten.
Zu Galileis Lebens gibt es eine frühe Biographie, die von Vincenzo Viviani (1622 -1703) verfasst wurde. Als knapp zwanzigjähriger Mathematiker war Viviani nach Arcetri nahe Florenz zum kranken, an einem Auge erblindeten Meister gezogen, der in seinem Landhaus unter päpstlichem Hausarrest stand, hatte bei ihm die letzten Jahre verbracht und für ihn aufgeschrieben, was er diktierte. Auch bei seinem Sterben und Tod war er an seiner Seite. So ist einiges über Galileis Kindheit und Jugendzeit bekannt, auch über das spätere Leben, das dieser vermutlich seinem jungen Begleiter erzählt hat29•
In diesem Lebensbericht erfahren wird, dass Galileo Galilei in Pisa zur Welt kam und bis zum zehnten Altersjahr dort lebte, dass sein Vater Vincenzio Michelangelo Galilei ein bekannter Lautenspieler war, der auch neue Musik lehrte und 1581 ein Werk zur mathematisch strukturierten, spekulativen Musik veröffentlichte, das Aufsehen erregte. Dass seine Mutter Giulia aus der vornehmen Familie der Ammannati di Pistoia stammte, dass er der älteste einer grossen Kinderschar war und nach dem Umzug der Familie nach Florenz dort zur Schule ging, ab dem zwölften Altersjahr für ein Jahr in die Klosterschule Santa Maria di Vallombrosa versetzt wurde, wo er ein schweres Augenleiden hatte. Damals habe er Mönch werden wollen, doch sein Vater habe ihm davon abgeraten und habe ihn an die Universität von Pisa geschickt, um Medizin zu studieren, in Kombination mit Aristotelischer Philosophie. Er habe bei einem Verwandten gewohnt, einem Kaufmann, habe sich jedoch bald auf Mathematik konzentriert, entgegen dem Willen seines Vaters, bis er so weit in die euklidischen Geometrie vorgedrungen gewesen sei, dass er seinen Vater informiert habe und sich von ihm habe prüfen lassen. 1583, mit 19 Jahren, habe er durch die Beobachtung eines frei schwingenden Leuchters im Dom von Pisa das Gesetz des lsochronismus entdeckt, nämlich dass ein frei schwebendes Pendel für eine Schwingung immer dieselbe Zeit brauche, unabhängig von der Reichweite der Schwingung.30 1585, nach vier Jahren Studium, sei er nach Florenz zurückgekehrt, habe für sich weiterstudiert sowie in Florenz und in Siena Mathematik unterrichtet. Ferner habe er zum Zweck der Umsetzung des archimedischen Gesetzes zur Bestimmung von Volumen und Dichte die hydraulische Waage gebaut, dazu auch eine kleine Schrift verfasst, die den Inspektor der toskanischen Festungen, den Marchese Guidobaldo del Monte, beeindruckt habe. r habe gehofft, dessen Unterstützung zu erlangen, was bei seiner Bemühung um eine Mathematik-Professur in Pisa 1589 tatsächlich geschehen sei, zwar zu einem miserablen Gehalt, aber immerhin eine Professur. Vorher aber sei er das erste Mal in Rom gewesen und habe dort Kontakt zu Christopher Clavius gefunden, dem grossen Mathematiker, der 1582 die Umsetzung des Gregorianischen Kalenders zustande gebracht hatte und der als der moderne Euklid galt.
Die Entwicklung des strebsamen Erwachsenen wird weiter geschildert: 1591 entdeckte Galilei das Gesetze der Zykloide, resp. der zyklischen Kurve und empfahl dessen Anwendung beim Bau von Brücken. Ausserdem experimentierte er mit frei fallenden Körpern, möglicherweise tatsächlich vom schiefen Turm von Pisa aus, und bewies, dass – entgegen dem von Aristoteles aufgestellten Gesetz – Körper nicht in Proportion zu ihrem absoluten Gewicht fallen. Im gleichen Jahr 1591 starb sein Vater und er geriet in finanzielle Schwierigkeiten. Dank Guidobaldo del Monte’s Empfehlung wurde ihm an der Universität von Padua für sechs Jahre zu einem höheren Gehalt eine Professur in Mathematik angeboten. Auch konnte er Studenten aus reichen Häusern bei sich zu Hause beherbergen, die damit einiges zum Einkommen beitrugen. Er schrieb eine Abhandlung über Befestigungen, über das Heben von Wasser sowie über die Statik einfacher Maschinen, die zum Entwurf seiner Schrift Le Mecaniche wurde.
Etwa 1594 hatte er erstmals Schmerzen wegen Arthritis, die ihn sein Leben lang plagte. Er begann in jener Zeit jedoch, in einer kleinen Werkstatt, die er eingerichtet hatte, einen „geometrischen und militärischen Kompass” herzustellen und eine Anleitung zu dessen Gebrauch zu drucken. Das Modell verkaufte er in ganz Europa. Gleichzeitig war er in Kontakt mit Jacopo Mazzoni, einem der grossen Altphilologen jener Zeit, der an der Universität von Pisa Philosophie lehrte und sich für Astronomie interessierte. Mazzoni hatte sich öffentlich zu Gunsten der kopernikanischen heliozentrischen Theorie gegen die geozentrische von Aristoteles und Ptolemäus geäussert. In diesem Zusammenhang nahm Galilei erstmals Stellung zur zentralen kosmologischen Frage und unterstützte in einem Brief an Mazzoni dessen Aussage, schrieb in diesem Zusammenhang auch De Sphaera, eine Abhandlung über die ptolemäische Lehre und einen ersten Brief an Johannes Kepler, der damals noch in Graz Mathematik unterrichtete.
Galileo Galilei war nicht verheiratet, hatte aber eine Beziehung zu einer sechs Jahre jüngeren Frau aus Venedig, Marina Gamba, die ihm drei Kinder gebar. 1600 kam Virginia zur Welt, 1601 Livia und 1606 Vincenzo. lm Taufregister findet sich für keines der Kinder der Name des Vaters. Als Galilei 1610 von Grossherzog Cosimo de’ Medici zum „Ersten Mathematiker und Philosophen der Toscana” ernannt wurde, mit einer Professur in Mathematik an der Universität von Pisa, ohne Lehrverpflichtung, mit Wohnsitz in Florenz und mit festem Gehalt, da trennte er sich von Marina Gamba, überliess ihr den knapp vierjährigen Knaben und nahm die zwei Töchter mit sich; übergab sie jedoch zur Betreuung einem Kloster, in welchem die zwei Mädchen später auch Nonnen wurden, Virginia als Schwester Maria Celeste und Livia als Schwester Arcangela. Marina Gamba starb in Venedig zwei Jahre nach derTrennung von Galilei, 1612, ohne dass die Todesursache irgendwo festgehalten wurde. Den Sohn Vincenzo nahm Galilei zu sich, stellte eine Kinderfrau an, Marina Bartoluzzi, und beantragte beim Grossherzog der Toscana die Anerkennung seiner Vaterschaft.
Als im Spätherbst 1604 “in pede Serpentarii” wie Johannes Kepler festhielt, ,,im Fuss des Schlangenträgers” auf dem Himmelsäquator, der westlich von der Milchstrasse berührt wird, ein neuer Stern hell aufblinkte, die Supernova, wie sie bezeichnet wurde, waren es zwei italienische Mönche, die damals als Mathematiklehrer und als Astronomen ebenfalls für die Medici von Rang waren, somit in Konkurrenz zu Galilei standen: der etwa gleichaltrige llario Altobelli, der den Stern als einer der ersten am 9. Oktober 1604 von Verona aus erblickte und sofort Galilei die genauen Anga ben schickte, sowie ebenfalls in der gleichen Nacht der um zwanzig Jahre ältere Raffaello Gualterotti, der in Florenz vermutlich das erste Teleskop gebaut hatte, mit den konkav-konvexen Linsen, die Galilei später auch nutzte, ohne dass dieser die Erfindung anerkannte. Es gibt einen Brief von 1616 von Raffaello Gualterotti, in welchem er Galilei diese mangelnde Anerkennung vorwirft, er habe ihm dies in mehreren Gesprächen schon gesagt. Auch betont er darin, dass er schon von 1568 bis 1574, als Galilei noch ein Kind war, während sechs Jahren, den Himmel beobachtet habe und keinen Beweis für die Ration der Erde um die Sonne habe finden können. Der Abendstern habe immer an derselben Stelle des Himmels geleuchtet. Dass er daher auf dem geozentrischen System beharre, das sehen Aristoteles und Ptolemäus vertreten hätten31. Die Supernova sah Galilei erst am 28. Oktober das erste Mal, hielt dann gleich drei Vorträge darüber und schrieb dazu eine kleine Studie Discorso intorno alla nuova stella.
Damit provozierte Galilei allerdings eine heftige Diskussion mit anderen Astronomen, insbesondere mit Baldassare Capra, der an der Universität von Padua in Kontakt mit deutschen Studenten gekommen war, darunter mit Simon Mayr (Marius) von Gunzenhausen, einem Schüler von Tycho Brahe und Johannes Kepler, und der Galilei in seiner Consideratione astronomimca sopra la nuova et portentosa stella ehe nell’anno 1604 a di 10 ottobre apparve ungenügender Kenntnisse bezichtigte. Galilei ging nicht darauf ein, veröffentlichte aber ein Jahr später seinen Dialogo de Cecco di Ronchitti in perpuosito de la Stella nova, in welchem er Capra in jeder Form lächerlich machte. Capra und sein Vater wollten sich rächen, indem sie in einem Prozess Galilei’s “geometrischen und militärischen Kompass” als der Nachahmung ihres eigenen Proportionenzirkels anklagten, allerdings ohne dabei recht zu bekommen. Eine weitere Kontroverse um seinen Discorso intorno alla nuova stella kam 1606 von Seiten von Lodovico delle Colombe, einem Florentiner Aristoteliker, der behauptete, es handle sich nicht um einen neuen Stern, sondern blass um das Aufleuchten eines schon bestehenden Sterns, am Himmel könne es keine Änderungen geben, und den Galilei mit den Osservazioni di Alimberto Mauri angriff. Zehn Jahre später, 1616, wird delle Colombe zu den Anführern der lnquisitionsuntersuchung gehören.
Offenbar hatten Galileo Galilei die Angriffe gegen sein Bekenntnis zum kopernikanischen Weltbild zugesetzt und so hielt er sich dazu über einige Jahre still, befasste sich mit dem Magnetismus und unterrichtete den jungen Cosimo II, den Sohn von Erzherzog Ferdinand 1. und dessen Frau Christina von Lothringen. Doch 1609, nachdem der venezianische Senat ihm eine lebenslängliche Professur in Padua mit genügend hohem Einkommen bestätigt hatte, begann er sich für die ,,Occhialini” – die „Brillen” zu interessieren, wie die Fernrohre oder Teleskope in Italien zuerst genannt wurden und von denen ihm Paolo Sarpi, ein einflussreicher venezianischer Gelehrter und Politiker, berichtet hatte. In Paris und in Mailand waren sie schon auf dem Markt, selbst Rudolf II. und der Papst besassen ein Exemplar. Dass in London Thomas Harriot schon einige Monate früher die Mondoberfläche und die Jupitermonde in Zeichnungen fest gehalten hatte, wusste damals kaum jemand auf dem Festland, auch nicht dessen Entdeckung des Brechungsgesetzes des Lichts von 1601, da er seine Entdeckungen nicht publizierte.32 Galilei zog sich in seine Werkstatt zurück und befasste sich zielstrebig nur noch mit dem flämischen Modell, das ihm zur Verfügung stand, das eine zwanzigfache Vergrösserung ermöglichte und das er mit grösstem Eifer zu verbessern und zu verfeinern suchte, nicht allein, sondern mit Hilfe von Marco Antonio Mazzoleni, einem hervorragenden Handwerker, den er für sich arbeiten liess, und in Zusammenarbeit mit Girolamo Magnati, dem Inhaber einer Glasmanufaktur auf der Insel Murano und nahem Freund. Innerhalb weniger Wochen stand ihm ein Teleskop mit feinsten konvexen und konkaven Linsen und einer 1000-fachen Vergrösserung zur Verfügung. Es ermöglichte eine umwälzende Verbesserung der Sichtmöglichkeiten der Gestirne, mit welcher sich die Kopernikanischen Theorien bestätigen liessen – und womit er dem Markt die Stirn bieten konnte. Er nahm sofort mit Paolo Sarpi Kontakt auf und bot ihm an, so schnell wie möglich das Teleskop in Venedig zu präsentieren, hatte er doch erfahren, dass in Padua und in Venedig ein ausländischer Geschäftsmann auf der Durchreise schon ein Teleskop zum Verkauf angeboten hatte. Doch Galileo Galilei erhielt als erster die nötige Beachtung: am 21. August 1609 konnte er der venezianischen Regierung und den geladenen Gästen sein Fernrohr präsentieren – und sie überzeugen.
Die Erforschung des Himmels war das verbissen angestrebte Ziel. ,,Obwohl seine Gesundheit geschwächt war, verbrachte er während der Monate Januar und Februar 1610 die meisten Nächte hinter dem Fernrohr um Beobachtungen anzustellen.”33 Über seine Arbeit und seine Erkenntnisse schrieb er sein Buch Sidereus-Nuncius – Der Sternenbote resp. Die Nachricht von neuen Sternen34, das er 1610 veröffentlichte. lnteressanterweise findet sich in Vicenzio Viviani’s bibliographischen Aufzeichnungen kein Bericht über Galileis Präsentation des Teleskops in Venedig, wohl aber über den Inhalt des Sidereus Nuncius: ,,Galilei betrachtete erstlich den Mond aufs genaueste und entdeckte, dass derselbe eine ungleiche Superficies habe und nicht anders als unsere Erde voller Täler und Berge sei. So hat er auch gefunden, dass die sogenannte Via lactea nichts anderes sei als eine Menge Fixsterne, welche wegen ihrer unermesslichen Weite, wie auch wegen ihrer Kleinigkeit in Vergleichung mit anderen Sternen von unserem blossen Auge nicht mögen erkennet werden. Ferner hat er hin und wieder andere unzählbare Fixsterne wahrgenommen, so den Alten ganz unbekannt gewesen. Ja, als er einmal mit einem ganz neuen urta besseren Tubus den Jupiter betrachtete, so wurde er gewahr, dass derselbe mit vier Sternen, welche mit einer regulären Periode um ihn herumlaufen, umgeben sei, welche er denn zu unsterblicher Ehre des Durchlauchten grossherzoglichen Hauses mit den Namen der Mediceischen Sterne 0der Planeten belegt hat. Alle diese Entdeckungen hat er anno 1610 getan im Monat Januar, und nachdem er seine Observationen den ganzen folgenden Monat Februar fortgesetzt, solche alsbald der Welt bekannt gemacht durch seinen ,Sidereus Nuncius’, welche er im Anfang des März zu Venedig drucken liess und dem Grossherzog Cosimo dedizierte. “35
Im gleichen Jahr 1609 hatte Johannes Kepler die zwei ersten Planentengesetze entdeckt, unter schwierigsten Bedingungen. Was für Garnei von zentraler Bedeutung war betraf weniger die Erkenntnis des Regelsystems des Weltganzen als die Bestätigung seiner Bedeutung als Entdecker neuer Monde und Sterne durch das Haus der Medici, damit eine Bestätigung seiner finanziellen Sicherheit und seines gesellschaftlichen Rangs im Florentinischen Machtzentrum. Nach der erfolgreichen Präsentation des Fernrohrs in Venedig, der Benennung der vier Jupitermonde als Medici-Monde und der Widmung des Sidereus Nuntius an Grossherzog Cosimo II. reichte er eine förmliche Bewerbung zur Einstellung in dessen Dienste ein – und wurde belohnt. Er erhielt den Titel „Erster Mathematiker und Philosoph des Grossherzogs der Toscana”, gab damit den Wohnsitz in Padua auf, trennte sich, wie schon erwähnt, von Marina Gamba und richtete sich herrschaftlich in Florenz ein. Gleichzeitig baute er elne Werkstätte zur Herstellung von Teleskopen auf. Eine steigende Nachfrage aus ganz Europa gelangte an ihn und versprach ein beachtliches Einkommen. Und Galilei reiste ein zweites Mal nach Rom, wo er als Entdecker gefeiert wurde, gleichzeitig aber in den Verdacht von Kardinal Bellarmin geriet, der sich beim Collegia Romano über die Vereinbarkeit von Galilei’s Sidereus Nuntius mit den Grundsätzen der Kirche erkundigte. Fürs erste wurde er durch eine wohlwollende Antwort von Christopher Clavius beschwichtigt. Auch Kepler hatte gleich 1610 die Existenze der Jupiter-Monde bestätigt und hatte sich damit zu Gunsten Galileis geäussert. Doch auf das dringliche Gesuch des Prager Kollegen, ihm so schnell wie möglich ein Teleskop zu senden, da die Instrumente, über die er verfüge, höchstens das Zehnfache vergrössern würden, darauf ging Galilei nicht ein.
Nach der Rückkehr aus Rom verschärften sich die Auseinandersetzungen mit den Vertretern der aristotelischen und ptolemäischen Richtlinien, einerseits wegen der lnfragestellung durch Philosophen wie Lodovico delle Colombe sowohl der von Galilei vertretenen Erdbewegung wie dessen Bericht über schwimmende Körper, den Discorso intorno alle cose ehe stanno in su l’acqua, andererseits wegen Angriffen von Geistlichen von der Kanzel aus auf das heliozentrische System generell, das von Galilei vertreten werde, das der Religion widerspreche. Ein privater Briefwechsel von Galilei mit Lodovico delle Colombe wurde durch einen Geistlichen an die Indexkongregation des Heiligen Offiziums in Rom zum Überprüfen geschickt.
Schon vor der zweiten Reise nach Rom hatte Galilei mit der Beobachtung der Sonnenflecken begonnen, in der Meinung, er sei der erste und einzige, der diese entdeckt habe. In diesem Zusammenhang entstand ein unerfreulicher Wettstreit mit dem deutschen Jesuiten, Astronomen und Professor für Mathematik an der Universität von lngoldstadt Christoph Scheiner, der schon einige Monate vorher davon Kenntnis hatte und der unter dem Pseudonym Apelles darüber einen Bericht veröffentlicht hatte – entgegen dem Ratschlag des religiösen Vorgesetzten seines Ordens. Scheiner hatte mit Hilfe von Keplers Dioptrice ein Fernrohr gebaut und auf einem Kirchturm eine kleine Sternwarte eingerichtet, um die Sonnenflecken zu beobachten, hatte dann ein sogenanntes Helioskop entwickelt, das die Projektion des Sonnenlichts auf eine Flächte ermöglichte; schliesslich eine parallaktische Montierung des Helioskops mit einer Blende, auf welche eine verschiebbare, mit zwei Öffnungen versehene Abdeckplatte gelegt werden konnte, so dass die Optik scharf eingestellt werden konnte.
Um die kopernikanische Theorie im Vergleich mit der ptolemäischen als die wahrscheinlichere Hypothese zu erklären und um deren Verurteilung zu verhindern, hatte Galilei einen Bericht über Ebbe und Flut des Meeres geschrieben, den Discorso del flusso e reflusso del mare, doch er erreichte das Gegenteil. Er beschloss, eine dritte Reise nach Rom zu wagen. Das war 1615. An die Grossherzoging Christina von Lothringen hatte er einen Brief geschrieben, in welchem er seine grundsätzliche Stellungnahme zur Frage der Übereinstimmung des heliozentrischen Systems mit der Religion erläuterte, nicht als Mathematiker, sondern so, wie er diese als Philosoph verstand. Dabei versuchte er, eine Zwischenposition zu vertreten, ein wenig wie Tycho Brahe, um der Erde ihre Bedeutung nicht abzusprechen. Eine Kopie davon schickte er an Piero Dini, einen Freund, der eine wichtige Position in der römischen Kurie einnahm. ln diesem Brief hielt er fest: ,,Mir scheint, dass es in der Natur eine hochgradig spirituelle Substanz von sehr zarter und flüchtiger Beschaffenheit gibt, die das Universum durchflutet, jeden Gegenstand ohne Widerstand durchdringt und alle Lebewesen erwärmt, belebt und fruchtbar erhält. Die Sinne zeigen uns, dass die Sonne selbst der hauptsächliche Empfänger dieses Fluidums ist. Das gewaltige Licht, das von ihr ausgeht und das sich über das gesamte Universum ausdehnt, begleitet von jenem wärmenden Geist, durchdringt die Köper aller Lebewesen und erhält ihr Leben und ihre Fruchtbarkeit. Man kann ohne weiteres annehmen, dass es sich dabei um mehr als nur um Licht handelt, da es in der Lage ist, alle körperlichen Substanzen, gleich welcher Dichte, zu durchdringen. Dass der Körper der Sonne der Empfänger dieses Geistes und dieses Lichts ist, ( … ) scheint mir durch die Heilige Schrift bestätigt zu werden. Dort sehen wir, wie vor der Erschaffung der Sonne der Geist mit Hilfe seiner wärmenden und befruchtenden Kraft die Wasser bewegte. In ähnlicher Weise finden wir, dass das Licht am ersten, die Sonne dagegen am fünften Tag erschaffen wurde. Wir können daraus die Bestätigung ableiten, dass dieser befruchtende Geist und dieses Licht, welche das Universum durchdringen, sich im Körper der Sonne vereinigen und verstärken. Deshalb hat dieser seinen Platz im Zentrum des Universums.” 36
Ohne Zweifel war sich Galilei bewusst, wie kompliziert es war, gleichzeitig die neuen astronomischen Erkenntnisse zu vertreten und der biblischen Lehre treu zu bleiben. Er stellte sich vor, dass es eventuell möglich war, das ptolemäische System als ungenügend zu erweisen, ohne dadurch gleichzeitig in Verdacht zu geraten, das kopernikanische als richtig zu vertreten oder gar zu beweisen, war doch dieses – speziell Kopernikus’ De revolutionibui orbium – vom Heiligen Römischen Gericht in eben jenem Jahr verdammt worden. Im Brief an die Grossherzogin Christina wie an Piero Dini, der diesen an die zentralen römischen Instanzen weiterleitete, bemühte sich Galilei daher auf diplomatische Weise, die von Aristoteles geschaffene Hierarchie des Kosmos resp. die geozentrische Theorie wie zu übergehen und die pythagoreische, auch von Platon beachtete Idee, dass der Sonne die zentrale Bedeutung zukomme, mit der Bibel in Übereinstimmung zu bringen. Doch für die Kirche kamen Kompromisse nicht in Frage. Aristoteles und die aristotelische Struktur der scholastischen Lehre waren von fundamentaler Bedeutung für die christliche Weltanschauung und durften nicht einfach übergangen oder als unbedeutend erklärt werden. Für Galilei andererseits hätten Wissenschaft und Bibel sich nicht widersprechen müssen. Diesbezüglich hatte er eine ännliche Grundhaltung wie Tycho Brahe, den er jedoch in seiner Argumenfation gegen Oratio Grassi ablehnte. Die Bibel galt für ihn als Quelle der Wahrheit, gleichzeitig waren die astronomischen Erkenntnisse, an die er dank seiner Instrumente gelangt war, nicht in Frage zu stellen. Er verlangte eigentlich von den Theologen, dass sie sich von der Wissenschaft und den wissenschaftlichen Erkenntnissen fern hielten, dass sie sich auf keinerlei Überprüfung und Interpretation hinsichtlich deren Übereinstimmung mit der Bibel mehr einlassen sollten. Hätten sich Rom und seine theologische Elite damit abgefunden, würden sich die religiösen Wissensbereiche ausschliesslich mit der Interpretation der Bibel, der Umsetzung der religiösen Rituale sowie der Fragen der Alltagsmoral befassen.
Dass Rom dieser Forderung, hätte Galilei sie ausgesprochen, nicht hätte zustimmen können, ist klar, doch es ist anzunehmen, dass der Vatikan und die zuständigen Theologen der Inquisition ihn nicht so verstanden. Vermutlich wäre Galilei sonst nicht so einfach davongekommen. Sie hätten seine Versicherung, dass die Bibel – richtig interpretiert – nicht irren könne, als bare Münze angenommen und hätten deren Leerformelcharakter gar nicht erkannt. ,,In ihren Augen behauptete Galilei, dass nicht die ptolemäische, sondern nur die kopernikanische Astronomie eine physikalisch wahre Beschreibung der Planentenbewegungen enthalte und dass es in der Bibel keine Textstelle gebe, die einer Bewegung der Erde und einer unbeweglichen Mittenstellungder Sonne strikt widersprechen. Auf die Galileische Forderung, die Fehlerhaftigkeit des kopernikanischen Systems zu beweisen, brauchte man sich nicht einzulassen zumal man das tychonische System zur Verfügung hatte. ( … ) Die Astronomie des Kopernikus mochte besser sein als die des Ptolemäus, nicht aber als die Brahes, und die wiederum hatte den Vorzug, dass sie mit Aristoteles vereinbar war.”
Galileis’ Bericht über die Gezeiten der Meere vom vorangegangenen Jahr, von welchem er eine Kopie dem Florentiner Kardinal Alessandro Orsini gegeben hatte, damit dieser sie dem Papst vortrage, trug vermutlich dazu bei, dass dieser die inquisitorische Untersuchung beenden und entscheiden wollte. Das „Heilige Offizium” hielt am 23. Februar 1616 fest, dass es zwei Sätze gebe, die überprüft worden seien. Der erste Satz, ,,die Sonne ist der Mittelpunkt der Welt und besitzt eine örtliche Bewegung” sei in philosophischer Hinsicht „töricht und absurd”, in religiöser Hinsicht „formal häretisch, da er den Lehren der Heiligen Schrift an vielen Orten widerspreche wie auch mancher Auslegung der Kirchenväter und Doktoren. Der zweite Satz, ,,die Erde ist nicht Zentrum der Welt und nicht unbeweglich, sondern bewegt sich in Bezug auf sich selbst als Ganzes und auch in täglicher Bewegung”, sei philosophisch wie der erste Satz zu beurteilen. Theologisch sei er nicht häretisch, aber irrtümlich im Glauben, Dieser Entscheid, der als „Dekret” galt, wurde nicht voll veröffentlicht, der Hinweis auf Häresie blieb, wenigstens vorläufig, weg. Erst 1633, als der Prozess nochmals aufgegriffen wurde, stand dieser im Mittelpunkt. Galileo Galilei konnte sich erleichtert fühlen. Er wurde jedoch von Kardinal Roberta Bellarmin der in Rom als Grossinquisitor den Prozess gegen Giordano Bruno geführt hatte, ermahnt, er solle nicht länger am heliozentrischen System festhalten, er solle es höchstens als Hypothese erwähnen. Gleichzeitig überreichte er ihm eine Bescheinigung, dass seine persönlichen Schriften nicht beanstandet würden und er diese nicht abschwören müsse.
Galilei befand sich wieder auf freiem Fuss in Florenz, verbesserte ein Teleskop, das auf dem Meer gebraucht werden konnte und verhandelte mit Spanien über die Verwendung der astronomischen Erkenntnisse, insbesondere der Jupitermonde, zum Zweck der Navigation. Er war häufig krank. Seine beiden Töchter Virginia und Livia waren nacheinander ins Kloster eingetreten. Die Beobachtung der drei Kometen von 1618, über die in ganz Europa publiziert wurde, hatte er wegen seiner Schmerzen praktisch verpasst. Er hatte am Krankenbett mit Freunden darüber diskutiert und war nach Loreto gepilgert. Als Antwort auf eine Publikation des Jesuiten Oratio Grassi, der die Kometenbahnen korrekt beschrieben, jedoch tychonisch-geozentrisch nicht durch die Sonne, sondern durch die Erde gelenkt erklärte, liess er an der Florentiner Akademie von Mario Guiduccl, einem Freund, einen von ihm verfassten Vortrag halten, der gegen Grassi gerichtet war, worauf dieser unter dem Pseudonym Lothario Sarsi wieder eine Gegenschrift Libra Astronomica ac Philosophica veröffentlichte. Es entflammte ein Streit, bei welchem Galilei durch Kardinal Maffeo Barberini Unterstützung bekam, der für ihn ein Loblied veröffentlichte, die Adulatio pernicosa. Zwei Jahre später, 1623, wurde Barberini zum Papst gewählt und hiess fortan Urban VIII. Seinetwegen reiste Galilei ein Jahr später zum vierten Mal nach Rom und wurde zu sechs Gesprächen empfangen. Urban VIII. ermutigte ihn, seine Gedanken zum Sternensystem aufzuschreiben, sich jedoch strikte an die Vorschriften von 1616 zu halten. Inzwischen war in Florenz Cosimo II gestorben, und da sein Sohn Ferdinand II. noch ein Kind war, übernahm dessen Mutter, die Grossherzoging Christina von Lothringen, die Regierungsverantwortung. Galilei wurde als Mitglied in die Accademia Fiorentina aufgenomen. Auch schrieb Tommaso Campanella (1568-1639) zu seinen Gunsten eine Apoloqia pro Gatileo, dieser mutige, aus Kalabrien stammende Dominikanermönch, der auf Grund seiner anti-aristotelischen, aufklärerischen Naturphilosophie und seiner utopischen Staats- und Sozialentwürfe während siebenundzwanzig Jahren schwerster inquisitorischer Verfolgung, Einkerkerung und Folter ausgesetzt war, irre wurde und so dem Todesurteil knapp entkam, erneut verhaftet wurde, schliesslich von Papst Urban VIII. entlastet wurde und sich nach Frankreich retten konnte, wo jedoch das Auge der römischen Inquisition ihn und seine Publikationen weiter im Blick behielt.
Im Konflikt mit Oratio Grassi schrieb und veröffentlichte Galilei das Buch Saggiatore – Der Prüfer, mit Widmung an Papst Urban VIII., in welchem er Grassi aufs härteste angriff und lächerlich machte. Offenbar war er sich nicht bewusst, in welchem Mass er sich dadurch selber gefährdete, wie seine Argumentation gegen Grassi eine Argumentation gegen ihn war. Grassi war Teil des Jesuitischen Collegia Romano, das sich gegen die Orthodoxie der aristotelischen Himmelsphysik stellte, jedoch die tychonisch-geozentrischeVersion des Planetensystems in Verbindung mit der Sonne vertrat. Grassi war auf Grund eigener Beobachtungen und sorgfältiger Vergleiche der Beobachtungen aus ganz Europa zum Schluss gekommen, dass, weil beim Betrachten der Bahn der Kometen die Parallelaxe fehlte, diese jenseits der Mondsphäre verlaufen sei, etwa in gleicher Entfernung von der Erde wie Merkur und Sonne. Auch habe er festgestellt, dass der Schweif der Kometen immer in die der Sonne entgegengesetzte Richtung wies, dass dieser daher nicht aus sich selber leuchtete sondern von der Sonne beleuchtet wurde.
Für Grassi war Galilei ein Lehrer gewesen, den er verehrte. Er hatte von ihm gelernt, einfach zu beobachten, die Beobachtungen zu schildern und nicht über die Ursachen zu spekulieren. Nun aber argumentierte Galilei gegen ihn wie gegen einen Aristoteliker, sowohl in seinem Saggiatore wie in einer Abhandlung, die er zusätzlich gegen Grassi unter dem Namen von Maria Guiducci, einem Freund, veröffentlichte, indem er zum Beispiel aus dem unregelmässigen Bahnverlauf des Kometen ableitete, dieser könne keine kreisförmige Bahn haben, da er vorher noch nie gesehen worden sei. Dass er ferner wissen möchte, wie gross das Universum sei, wenn angenommen werde, der Komet durchlaufe in den vierzig Tagen seiner Sichtbarkeit eine derart grosse Bahn, dass deren vierhundertster Teil die Hälfte des sichtbaren Universums sei. Als Kopernikaner hätte Galilei doch selber ein riesiges, unendliches Universum angenommen und nicht ein messbares, auch würde von Grassi keineswegs behauptet, die Kometen seien planetengleich und würden eine analoge kreisförmige oder elliptische Bahn verfolgen. Ebenso würde Galilei’s – aristotelische – Erklärung verblüffen, die Kometen bestünden aus Dämpfen, die von der Erde vertikal aufstiegen und sich infolge von Reibung an der Innenseite der lunaren Sphäre entzünden würden. Allerdings würden sie, falls dies der Fall wäre, nach wenigen Momenten verglühen und könnten nicht während vierzig Tagen beobachtet werden.
Galileis Argumentation war so verwirrend, polemisch und gleichzeitig rhetorisch brillant, dass er Grassi in eine hilflose Defensive versetzte, in welcher sich dieser in erster Linie um Kompromisse bemühte. Er könne nicht verstehen, schrieb er, warum Galilei das Collegio Romano so massiv angreife, nachdem dieses ihm zu seinem Ruhm verholfen habe. Auch Kepler, der eigentlich Galilei stets bewundert und ihn in jeder Hinsicht geehrt hatte, war sprachlos über die massive Verunglimpfung Tycho Brahes und Oratio Grassis, ebenso über die Widersprüchlichkeit von Galilei’s Erklärung der Kometen. Dazu kam, dass Galilei immer wieder vom Thema völlig abwich, jedoch vorgab, er entgegne damit falschen Aussagen von Grassi. Und da dieser sich angegriffen fühlte, reagierte er und das „Kauz-Maus-Spiel”38 setzte sich fort. Galilei ging dann plötzlich auf die Erzeugung von Wärme und auf die Bedeutung von „Wärme” über, die er als eine Empfindung erklärte, die durch Sinneswahrnehmung erzeugt würde wie Geruch, Geschmack und Farbwahrnehmung.
So wechselte Galilei zwischen Polemik gegen Grassi und neuen Ideen hin und her, vermutlich sowohl um seiner eigenen Stellung einen unbestreitbaren höheren Rang zu geben wie um die Konkurrenz zwischen dem kopernikanischen und tychonischen System auszutragen. Möglicherweise eckte ihn besonders das Beharren des Jesuitischen Collegia Romano auf der aristotelischen Weltansicht an, die unter der Vorgabe der tychonischen Aufklärung eine Mischung von Orthodoxie und Fortschritt darstellte, was letztlich eine Täuschung bedeutete und eine Blockade bewirkte. Auch Christoph Scheiner, der zu den fähigsten Astronomen unter den deutschen Jesusiten gehörte, musste sich dem gleichen Druck beugen und konnte höchstens als Beobachtung und Vermutung postulieren, was eine lnfragestellung und Korrektur der aristotelischen Grundsätze bedeutet hätte. Wer sich nicht duckte, wie es für Giordano Bruno der Fall gewesen war und wie Tommaso Campanella es erlebte, wurde der bösartigen Verstrickung mit dem schlimmsten Element menschlicher Verführung, mit dem “Teufel” verdächtigt und war gnadenloser Verfolgung ausgesetzt.
Ende 1618 war nicht nur durch die drei Kometen gekennzeichnet, sondern noch stärker durch die Tatsache des Kriegs, der eingesetzt hatte, und sich aufs verhängnisvollste über dreissig Jahre fortsetzte. Die Römische Kirche – wie auch die Lutheranische und die Calvinistische – befanden sich in einem Zustand wachsender Verunsicherung und Aggressivität. Die Überwachung der Gläubigen, Anschuldigungen, Folter und Todesurteile häuften sich. Papst Urban Vlll., der sich, wie schon erwähnt, 1616 noch als Kardinal Maffeo Barberini für Galileo Galilei eingesetzt und 1620 eine Lobeshymne auf ihn geschrieben hatte, war politisch auf verhängnisvoller Bahn. Erst hatte er zwischen Habsburg und Frankreich hin und her taktiert, dann sich dem Druck Richelieu’s gefügt, Österreich im Stich gelassen und sich mit Frankreich und dem protestantischen Schweden vereint. Nicht nur war er deswegen vom König von Spanien öffentlich angeprangert worden, sondern er musste sich innerhalb der eigenen Kurie gegen ein Komplott verteidigen. Er stand mit dem Rücken zur Wand. Um seine Macht zu bekunden, benutzte er jedes Mittel. Selbst Galilei diente zu diesem Zweck. “Und wenn er seinen Blick von der grossen, weltumspannenden Perspektive zurücknahm zu diesem lästigen, gelehrten Getue über die Planeten, so erkannte er das gleiche Muster – nur in kleinerem Format. Er hatte versucht, als grossherziger Renaissance-Fürst die Wissenschaften unter seinen Schutz zu stellen. Nun stand er da, ausgespielt von Galilei wie von Richelieu. Galilei, der sich als sein Bundesgenosse angeboten hatte, hat es gewagt, Laiendenken gegen die geistige Autorität der Kirche zu mobilisieren und dabei einen Skandal verursacht. Doch zumindest musste er, Urban, in diesem Fall nicht untätig zusehen. Er konnte ihm das Rückgrat brechen und diese Bande für alle sichtbar demütigen. Er würde intervenieren, und seine Intervention würde furchtbar werden.”39
Galilei selber fühlte sich jedoch in seinem Selbstwert als Gelehrter bestärkt. Er verbesserte das von ihm erfundene Mikroskop, befasste sich mit den Gezeiten, mit Hydraulik und mit Magnetismus, begann am Dialogo zu arbeiten, empfing Besuche – zum Beispiel von Elie Diodati, einem calvinistischen Rechtsgelehrten aus Genf, der in Paris lebte und der mehrere Abschriften von Galileis Manuskripten mitnahm und dort verteilte. Ebenso stand er in Briefaustausch mit Gelehrten wie Pierre Gassendi (1592 – 1655), der in Aix-en-Provence eine Professur in Philosophie gehabt hatte, die er aufgab, als die Leitung der Universität an die Jesuiten überging und er sich auf eine umfassende Aufarbeitung von Epikurs Philosophie konzentrierte, gleichzeitig die Gesetze des Planetensystems untersuchte und auf Grund seiner Sorgfalt zu erstaunlichen Beobachtungen kam 40. Gleichzeitig fühlte er sich häufig krank, von seinen Gegnern angegriffen. Doch Florenz gewährte ihm einen Sitz im Rat der Zweihundert d.h.in der Legislative und damit das Bürgerrecht.
Der Dialogo di Galileo Galilei sopra i due Massimi Sistemi del Mondo Tolemaico e Copernicano – Dialog von Galileo Galilei über die zwei wichtigsten Weltsysteme, das ptolemäische und das kopernikanische, an dem er, mit Unterbrechungen, fünf Jahre gearbeitet hatte, konnte 1630 abgeschlossen werden, nicht als eine auf mathematischen und physikalischen Formeln gestützte lateinische Abhandlung, sondern als ein auf Italienisch verfasstes, während vier Tagen sich fortsetzendes, fiktives Gespräch zwischen drei Männern, von denen zwei die Namen verstorbener Freunde von Galilei trugen: Sagredo in Erinnerung an Giovan Francesco Sagredo, den hoch gebildeten, venezianischen Freund, der 1620 gestorben war und in dessen Palast das Gespräch stattfinden sollte, und Salviati, den aus florentinischem Adel stammenden Freund Filippo Salviati, der ihn stets unterstützt hatte, in dessen Landhaus er sich erholen konnte, den er seit 1614 vermisste und den er zum Stellvertreter seiner eigenen, persönlichen Ansichten machte. Die dritte Person, Simplicio, den Galilei dem Namen nach in erster Linie als „simpel” darstellen wollte und der im Gespräch die peripathetische Linie repräsentiert, bezog er eventuell auf den im Jahr 549 u. Z. verstorbenen griechischen Philosophen Simplikios aus Kilikien, der in Alexandria und in Athen als Neuplatoniker die Schriften Aristoteles interpretiert hatte und der 529 u. Z. infolge der römischen Besetzung Athens und der von Justinian 1. veranlassten Schliessung der Philosophenschule nach Persien auswandern musste.
Für Galilei sollte das Gespräch zwischen Sagredo, Salviati und Simplicio den Beweis erbringen, dass das Beharren auf der Unbeweglichkeit der Erde absurd war, dass es überzeugende Beweise und Argumente gab, das heliozentrische System anzunehmen, ohne dass ihm vorgeworfen werden konnte, die von der Kirche streng vertretene aristotelische Metaf)hysik anzutasten. Und gleichzeitig bezweckte er zu beweisen, dass alle Erkenntnisse betreffend der astronomischen Erscheinungen, die letztlich von Archimedes’ Bewegungslehre ausgingen, allein mit dem heliozentrischen System, so wie er es verstand, vereinbar waren. Galilei fühlte sich – vermutlich – sicher, über genügend empirische Tatsachen zu verfügen, um überzeugen zu können.,, … ich erkläre mich einverstanden mit einer seiner (Aristoteles’) Behauptungen, dass nämlich die Welt mit .allen Dimensionen ausgestattet und darum von höchster Vollkommenheit Ist, d.h. aus Teilen besteht, die nach höchsten und vollkommenen Gesetzen angeordnet sind ( … ). Nach Feststellung eines solchen Prinzips lässt sich ohne weiteres schliessen, dass, wenn die Hauptmassen des Weltalls vermöge ihrer Natur beweglich sind, ihre Bewegungen unmöglich geradlinig oder anders als kreisförrnig sein können .. Der Grund ist ganz einfach und liegt auf der Hand. Denn was sich geradlinig bewegt, verändert seinen Ort und entfernt sich im Fortgang der Bewegung mehr und mehr vom Ausgangspunkt und von allen im lauf der Bewegung erreichten Punkten. Käme nun einem Körper solche Bewegung von Natur aus zu, so wäre er von Anfang an nicht an seiner natürlichen Stelle, mithin die Anordnung der Teile der Welt keine vollkommene. Wir setzen aber voraus, dass ihre Ordnung vollkommen sei, dem gemäss können sie nicht von Natur dazu bestimmt sein, ihre Stelle zu wechseln und folglich auch nicht, sich geradlinig zu bewegen. Da ausserdem die geradlinige Bewegung ihrer Natur nach unendlich ist – denn die gerade Linie ist unendlich und von unbestimmter Länge – so kann kein beweglicher Körper den natürlichen Trieb haben, sich in gerader Linie dahin zu bewegen, wohin er unmöglich gelangen kann, insofern einer solchen Bewegung kein Ziel gesetzt ist. ( … ) Sobald ich nämlich sage, dass im Weltall tausenderlei Kreisbewegungen möglich sind und folglich tausend Mittelpunkte, so wird es auch tausenderlei auf- und abwärts gerichteter Bewegungen geben. “41
Der Dialog sollte mit Hilfe einfachster Logik ein revolutionäres Umdenken zustande bringen. Die mathematische Klarheit und Schlichtheit Keplers in der Begründung der elliptischen Bahnen und der weiteren zentralen Planentengesetze, die später für Isaac Newton und für Albert Einstein wegleitend sein werden, beachtete Galilei nicht. Er vermittelte Beispiele, Vergleiche und Erklärungen, die ihm einleuchtend erschienen, wie zum Beispiel bei der Erläuterung der Möglichkeit vieler Mittelpunkte im Weltall den Vergleich mit der Tendenz der Erde, als Anziehungskraft für abgetrennte Teile ihrer Elemente zu wirken, so wie schon Plutarch in seiner Schrift über das Mondgesicht – De facie in orbe lunae argumentiert hatte. Als Grund, weshalb der Mond nicht zur Erde hinfalle, hatte er die Zentrifugalkraft seines Umschwungs genannt, die der Anziehungskraft der Erde die Waage halte. Doch anders als Galilei hat es Plutarch gewagt, aus der widerspruchsfreien Behauptung vieler verschiedener Welten, die als verschiedene Ausgangspunkte kohäsiver Kräfte auf die zu diesen Welten gehörenden Körper wirken, die einleuchtende Schlussfolgerung eines unendlichen, leeren kosmischen Raums ohne Zentrum zu ziehen. Für Galilei kam es gar nicht in Frage, eine solche Erkenntnis in Erwägung zu ziehen, sondern er zog es vor, sich auf die Bewegung der Planeten sowie der Erde um die Sonne und um sich selbst zu konzentrieren. So konnte die Erde die aristotelischen Elemente von Mitte und Peripherie wahren wie auch die gleichförmige, fortdauernde Bewegung auf einer vollkommenen Kreisbahn. Er betonte jedoch – was er schon im Saggiatore vertreten hatte-, dass er nicht an einer Vielzahl fester Sphären festhalte, sondern dass er annehme, “es existiere ein sehr feiner ätherischer Stoff in den Weiten des Universums, durch den die festen Himmelskörper sich aus eigener Kraft bewegen und ihre Bahnen vollenden.”42 Das Entstehen der Passatwinde erklärte er aus der Reibung zwischen diesem ,,feinen ätherischen Stoff” und der Bewegung der Erde mit ihrer unebenen, von Bergen und Tälern durchzogenen Oberfläche. Auch müsste da, wo die Drehung der Erde von Ost nach West am raschesten erfolge, d.h. an den am weitesten von den Polen entfernten Stellen, das stärkste Wehen gespürt werden. Und tatsächlich sei dies der Fall, wie bei Schiffsfahrten bewiesen werden könne. Von Ost nach West gelangten diese wesentlich schneller ans Ziel als in umgekehrter Richtung.
Die über das Fernrohr möglich gewordenen Beobachtungen dienten Galilei, experimentell zu belegen, dass das aristotelisch-ptolemäische System keine Gültigkeit mehr hatte. Als Indiz benutzte er die Phasen de Venus als ,,Abendstern” und als “Morgenstern”, die deutlich machten, dass sie nicht um die Erde, sondern um die Sonne kreist, oder die Jupiter-Monde, dass nicht nur die Erde mit dem Mond und nicht nur die Sonne mit der Erde und den anderen Planeten, sondern dass auch andere Planeten zu Mittelpunkten von Himmelskörpern werden können. Er liess auch durch eine grosse Anzahl von Beispielen verdeutlichen, dass das von Aristoteles für die stillstehende Erde vertreten Gesetz der vertikalen Fallrichtung von Gegenständen an den gleichen Punkt, von welchem sie in die Höhe geworfen wurden, zutreffe, wenn der Untergrund in Bewegung sei, wie dies bei stillstehenden und bei ruhig fahrenden Schiffen bewiesen werden könne. Weitere Beweise mittels der Gesetze der Mechanik zu Gunsten des heliozentrischen Systems liess er zum Teil eher ungeschickt und mangelhaft erläutern, nicht zuletzt weil er die Forschungsresultate von Kepler, insbesondere die Belege der elliptischen Bahnen, missachtete und weiter stur an den kreisförmigen und epizyklischen festhielt. So liess er gegen Ende des Dialogo aussagen, was er schon in den Briefen über Sonnenflecken festgehalten hatte: “Ich bin sicher, dass kreisförmige Bewegungen auf exzentrischen und epizyklischen Bahnen wirklich existieren. Doch dass die Natur von diesem Gewirr an Sphären und Bahnen Gebrauch macht, um sie hervorzubringen, ist eine Hypothese, die nur der Bequemlichkeit astronomischer Berechnungen dient, keine Beschreibung, an die man glauben soll. Meine Auffassung ist ein Kompromiss zwischen der Auffassung der Astronomen, dass sowohl exzentrische Bewegungen der Sterne selbst vorlägen als auch exzentrische Sphären und (feste) Bahnen, auf denen sie sich vollziehen, und der Meinung der Philosophen, die alle Bewegungen, Bahnen und Sphären verwerfen, wenn sie nicht konzentrisch zum Mittelpunkt der Erde verlaufen. “43
Um das Imprimatur des Vatikans für den Druck des Dialogo zu erreichen, reiste Galilei 1630, ein fünftes Mal nach Rom. Zuständig für die Begutachtung des Werks war der aus Genua stammende Dominikanermönch Niccolo Riccardi, der schon 1623 für die Zustimmung zum Druck des Saggiatore zuständig war. Doch damals hatte es sich bloss um den Disput um die drei Kometen gehandelt, während nun das ganze Weltsystem im Zentrum der Auseinandersetzung stand. Gleichzeitig starb unerwartet der erst fünfundvierzig jährige Frederico Cesi, ein naher Freund Galileis, der, aus höchstem Adel – seine Mutter war eine Orsini – und auf Grund seines naturwissenschaftlichen Erkenntnishungers, die Accademia die Lincei gegründet hatte, zu welcher Mitglieder aus ganz Europa eingeladen waren und zu denen auch Galilei gehörte, die aber dem Vatikan wegen der auf Beobachtung und Erfahrung ausgerichteten Erforschung der Naturphänomene ein Dorn im Auge war. Cesi hätte die Kosten für den Druck des Werks übernommen und wäre für ihn eine standesmässige Garantie gewesen. In Rom brach die Pest aus und Galilei wollte zurück nach Florenz. Die Frage der vatikanischen Druckerlaubnis zog sich hin. Schliesslich wurde sie von Riccardi als vorläufig, nicht als definitiv zugestanden, unter der Bedingung, dass Galilei wesentliche Korrekturen umsetzen werde: das kopernikanische System durfte nicht als das richtige erklärt werden, er sollte lediglich von Hypothesen sprechen und zum Abschluss des Dialogs die Richtigkeit des ptolemäischen Systems hervorheben. Zur Überprüfung dieser Bedingungen wurde der Inquisitor von Florenz beauftragt.
Galilei nahm alles auf die leichte Schulter, das Florentiner Imprimatur erhielt er problemlos. Er wies das Angebot von Venedig ab, den Druck des Dialogo zu übernehmen. Da dieser wegen Federico Cesi’s Tod in Rom nicht in Frage kam, wollte er ihn so schnell wie möglich in Florenz realisieren. Er gab ihn in Auftrag und im Februar 1632 lag das Buch vor, dem Grossherzog Federico II von Medici gewidmet, fälschlicherweise mit dem Imprimatur Roms auf der ersten Seite.
Damit setzte das Verhängnis für Galilei ein. Er hatte sich nicht um die von Niccolo Riccardi festgehaltenen Bedingungen geschert und war in keiner Weise auf den dringlichen Rat, den ihm Urban VIII. schon 1616 wohlwollend gegeben hatte, eingegangen. Zusätzlich hatte er ihn mit der Person von Simplicio, der im Gespräch die ptolemäisch-aristotelische Linie vertritt, lächerlich gemacht. Auf Anordnung des Papstes und unter Druck des Collegia Romano, das schon durch den Saggiatore mit den fortgesetzten Erniedrigungen von Grassis durch Galilei aufgebracht war und das im Dialogo die tychonische Linie, die von ihm vertreten wurde, völlig vermisste, wurde im August 1632 der Verkauf des Dialogo verboten und zwei Monate später, im Oktober, der Befehl erlassen, Galileo Galilei müsse vor der Inqusition in Rom erscheinen. Nun aber litt er seit Anfang Jahr unter einer sich verschlimmernden Augenkrankheit, zusätzlich herrschte in Rom weiter die Pest. Ein kleiner Aufschub wurde ihm gewährt, doch im Februar 1633 musste er sich in Rom dem lnquisitionsgericht stellen, in der Kirche Santa Maria sopra Minerva. Die Verhöre setzten ein, allerdings ohne leibliche Folter und ohne dass Galilei in Eisen gelegt und unter der Erde eingekerkert worden wäre.
Der Prozess lässt sich schwer nachvollziehen. Die mit der Publikation des Dialogo vorliegenden Anklagepunkte erwiesen sich als ungenügend, da durch das Rollenspiel der drei Gesprächsteilnehmer nie Galilei selber eine Meinung ausgesprochen hatte. So sei auf einem Punkt beharrt worden, der durch eine Aktennotiz im Protokoll des Verfahrens von 1616 die Anklage legitimierte. Doch selbst dieser Punkt erschien allen Kommentatoren unklar. Es ist anzunehmen, dass es um das strikte Verbot ging, die kopernikanische Lehre, die im selben Jahr von der Inquisition verdammt worden war, auch bloss zu erwähnen. Galilei hätte sich davon völlig abwenden müssen, doch dieses Gebot leuchtete ihm nicht ein, und so überging er es. Gemäss Giorgio de Santillana lief der Prozess gegen Galilei ähnlich ab wie die politischen Prozesse der 1940er Jahre in der Sowjetunion: so wie Stalin von Nikolaj Bucharin und den Mitangeklagten in den Moskauer Prozessen von 1936 – 1938 verlangt habe, die Anklage gegen sich eigenhändig zu formulieren und ein volles, umfassendes Geständnis abzulegen, so habe sich Urban VIII. gegen Galilei verhalten, als Rächer für den Mangel an Anpassung und Unterwerfung nach dem grosszügig zugestandenen Aufstieg in die Elite der Gesellschaft. Urban VIII. rächte sich für die persönliche Demütigung, die er durch die Publikation des Dialogo empfand, und er rächte sich für den Widerstand gegen die Macht- und Wahrheitserklärung der Kirche in Fragen des göttlich geregelten, universalen Weltsystems. Auf der Bühne des Denkens zu Fragen der Kosmologie geschah eine Schlacht wie gleichzeitig in Europa auf der Bühne der Besitzansprüche über Länder und Völker, auf beiden Bühnen in Namen der Religion. Während 1616 die Jesuiten des Collegia Romano sich in einer wagemutigen Opposition gefühlt hatten, da sie Tycho Brahe’s Weltsystem als richtig erachteten und damit gegen das päpstliche ptolemäische Banner wie gegen die Dominikaner anstanden, die es unterstützten, hatten sich 1633 die Kräfteverhältnisse umgekehrt. Nun unterstützten sich Vatikan und Jesuiten wechselseitig, wie es im Prozess gegen Galilei deutlich wurde, während die Dominikaner eher auf einer aufklärerischen Linie standen. Es wundert nicht, dass Urban VIII. den aus Wien stammenden Jesuiten Melchior lnchofer, der selber vor nicht langer Zeit der Inquisition ausgesetzt gewesen war, beauftragt hatte, das Gutachten gegen Galilei zu verfassen und die Nichtübereinstimmung von Heliozentrismus und Heiliger Schrift zu belegen.
Am 22. Juni 1633 wurde Galileo Galilei durch das Heilige Offizium wegen Ketzerei zu lebenslangem Hausarrest und zu jeglichem Publikationsverbot verurteilt, nicht zu Tode, da er bereit gewesen sei, ,,mit ,aufrichtigem Herzen und ungeheucheltem Glauben’ seine Irrtümer und Ketzereien zu verfluchen und zu verwünschen”44, Der Dialogo wurde auf den Index gesetzt und jeder Verkauf des Buches verboten. Der Kerker der Inquisition blieb Galilei erspart wegen des hohen Alters und wegen seiner geschwächten Gesundheit. Als er bat, zur medizinischen Behandlung Arcetri verlassen zu dürfen, um in Florenz seinen Arzt aufzusuchen, wurde Urban VIII. wütend und drohte ihm die sofortige Einkerkerung an, falls er sich zusätzliche Vergünstigungen anmasse.
Interessant ist zu wissen, dass sich im Prozess gegen Galilei von den zehn Richtern drei der Stimme enthielten. Zu ihnen gehörte der Erzbischof von Siena, der Florentiner Ascanio Piccolomini, der nach dem Urteil den geschwächten alten Mann, der am Erblinden war, für einige Monate bei sich aufnahm, ohne sich um den Kommentar des Papstes zu kümmern. In Arcetri selber wurde Galilei von treuen Freunden besucht und unterstützt, insbesondere von Vincenzo Viviani, auch bei der Aufzeichnung seines letzten wissenschaftlichen Werks, das er diktierte und das Discorsi betitelt wurde – Unterredungen und mathematische Demonstrationen über zwei neue Wissenszweige, die Mechanik und die Fallgesetze betreffend. Das Manuskript wurde heimlich aus Arceti hinausgetragen und von Hand zu Hand bis in die Niederlande geschmuggelt, nach Leyden, wo es in der seit 1583 bestehenden Buchhandlung der Nachkommen von Ludovic Elzevir gedruckt wurde, mit einem deutlichen Hinweis auf der ersten Seite, dass der Druck ohne Zustimmung von Galileo Galilei erfolge. Auch der Dialogo wie der Brief an die Grossherzogin Christina wurden heimlich weiter gedruckt und verbreitet. Das lnquisitionsgericht konnte keines der Werke auslöschen, das Anlass zur Verurteilung geboten hatte. Die Werke wirkten durch sich selbst, sie waren Ansporn zur kritischen Auseinandersetzung mit Forschungsergebnissen und deren Deutung. Gerade weil sie verboten waren, boten sie sich zur Fortsetzung des Suchens nach Erkenntnis förmlich an.
Galilei selber hatte ohne Zweifel auf dem hohen Wert seiner Schriften beharrt, doch gleichzeitig bezeichnete er das Fernrohr, das er zuerst als als „perspicillum” resp. als “occhialino” – als Brille für das bessere Erkennen fern gelegener Objekte bezeichnete, als das eigentliche Medium seiner Erkenntnis. Es war das Instrument, das Kepler in seinem kleinen Werk Dioprice schon im Jahr 1611 vorgeschlagen hatte und das die Forschungsmethoden der Neuen Philosophie grundlegend veränderte, wenngleich es mit seinen internen Linsen in erster Linie für irdische Anwendungen diente und nur eine annähernde Verstärkung des Blicks auf Sonne, Monde und Planeten ermöglichte. Für die genauere Erkenntnis der Himmelskörper brauchte es zusätzlicher technischer Verbesserungen. Für Galilei war es auf jeden Fall klar, ,,sein Glück nicht in alten Büchern, sondern in genauen Beobachtungen und persönlicher Hingabe zu suchen”, wie er notiert hatte. Denn „niemand wird zum Philosophen, indem er sich über die Schriften anderer seinen Kopf zerbricht ( … ). Das eigentliche Objekt der Philosophie ist vielmehr das grosse Buch der Natur.”45 Die Philosophie wurde zur Naturphilosophie. Mathematik, Geometrie und Physik dienten zur Klärung der komplexen Ordnungsregeln in der Anatomie wie in der Geologie und in der Astronomie, bedurften jedoch in allen Bereichen der Unterstützung durch kunstvolle Handwerker, insbesondere durch Optiker, die immer feinere Linsen für Mikroskope wie für Teleskope herstellten, die länger und länger wurden, auch immer perfekter. Als Beispiele sind die italienischen Optiker Eustachio Divini und Giuseppe Campani zu erwähnen, die für Givanni Domenico Cassini die Teleskope herstellten, mit denen er vom Observatorium in Paris aus unter anderem die Eigendrehung des Planeten Jupiter und die Saturn-Monde Japetus und Rhea, später zusätzlich Dione und Thetys entdeckte und dem französischen König Louis XIV den Glanz der vierzehn Planeten und Monde zusprach, gleichzeitig weiter das tychonische und nicht das kopernikanische System verfocht und die Gesetze Keplers wie Newtons ablehnte. Widersprüchliches und Erstaunliches hielten sich die Waage.
Unter den revolutionären denkerischen Veränderungen jener Zeit war der Austausch an Erkenntnisprozessen und offenen Fragen zwischen den Denkern und Denkerinnen von grösster Bedeutung, auch von einer Generation zur nächsten und von einer Nation zur anderen. Es war eine Tatsache, dass sich gleichzeitig mehrere Forscher mit den gleichen Problemen befassten, ohne dass diese voraus abgesprochen gewesen wären. Allerdings wurde schon damals gemeinsames Denken ungleich angeschaut und umgesetzt, und Informationen über Arbeitsprozesse und Resultate wurden ungleich weitergegeben, zum Teil ohne Vorbehalte, wie es Kepler gegenüber Galilei tat, zum Teil mit Misstrauen und Zurückhaltung, wie es von Galilei gegenüber Kepler geschah. Streit um die Erstentdeckung war nicht selten, ob es um Sonnenflecken oder um Infinitesimalrechnungen oder um die Herstellung der Spiralfederuhr ging. Latein war noch immer die allgemein gültige wissenschaftliche Sprache, während gleichzeitig mehr und mehr auch in der je nationalen Sprache veröffentlicht wurde. Bedeutende Denker wie Christoph Scheiner oder Pierre Gassendi traten in Zusammenhang mit Galilei schon in Erscheinung, viele weitere waren im Aufstieg oder nahmen schon bedeutende Ränge ein, so Evangelista Torricelli, der in Florenz die Nachfolge Galileis als Hofmathematiker übernahm oder Robert Boyle, der sich mit Galileis Versuch, das Gewicht der Luft zu messen, näher befasste und der in London das Invisible College mitbegründete, aus welchem die Royal Society zum Zweck der Förderung der Naturwissenschaften hervorging, René Descartes46, der in seinen Thesen über die Gesetze von Ruhe und Bewegung mit Isaac Beeckman in fortgesetztem Austausch stand und dessen Werk auch Cristiaan Huygens und Isaac Newton wichtige Impulse für die Arbeiten über Druck- und Stosswirkung gab, Huygens, der auch im Bereich der Entwicklung der Teleskope wichtige Erneuerungen bewirkte, indem er die überlangen Rohre einfach weg liess und ein Luftfernrohr schaffte, oder Blaise Pascal, der mit seinem Gesetz über den Luftdruck und seinen Wahrscheinlichkeitsrechnungen einem Kreis anderer Denker Anreize bot, Baruch de Spinoza47, der zusätzlich zu seiner bedeutenden philosophischen Arbeit zu einem anderen wissenschaftlichen Gottesbegriff und zur Ethik wichtige Erkenntnisse vermittelte und im Bereich der Optik hervorragende Mikroskope und Ferngläser herstellte, Gottfried Wilhelm Leibnitz, der mit den Theorien zur Integralrechnung, zu den unendlichen Reihen, zur Kombinatorik oder zur Wahrscheinlichkeitsrechnung und mehr sich den Rang des Universalgelehrten schuf, ferner, wie sich zeigen wird, eine grosse, weitere Anzahl von Forschern und auch Forscherinnen, Denkern und Denkerinnen, Handwerkern in allen Bereichen des Schauen und Messens und Wägens. Fragen nach der Grösse und nach dem Alter des Alls und den unzählbaren Elementen im All, nach den Kräfteverhältnissen und den Rotationsbewegungen zwischen Sonne, Erde und Planeten, Erde und Fixsternen, zwischen Planeten und Planeten und Monden, mit denen sich seit der Antike die klügsten der schauenden und denkenden Menschen befassten, in einer Wendephase der Erkenntnis Kopernikus, Galilei, Kepler und Newton, begleitet von vielen vielen bedeutenden Vorgängern, Zeitgenossen und Nachfolgern, sie setzten sich fort, erweiterten sich und stellten sich neu.
Isaac Newton (1642 – 1727)48 brachte vermutlich einen Höhepunkt dieser Erkenntnisphase zustande, indem er die wichtigsten Bestände vorangegangener Forscher – von Kopernikus das Gesetz der Bewegung der Erde um sich selbst und um die Sonne, von Galilei wichtige Erkenntnisse zur Beschleunigung und zum Fallgesetz, von Kepler die Gesetze der elliptischen Bahnen der Planentenbewegungen, von Descartes das Trägheitsprinzip – sowie zeitgenössischer Wissenschaftler in sorgfältigster Koordination mit seinen eigenen Erkenntnissen und Denkprozessen verbinden konnte. Dabei war er eigenbrötlerisch und hoch sensibel. Noch vor der Geburt hatte er seinen Vater verloren, war während vier Jahren allein mit seiner Mutter und nach deren zweiten Heirat mit seiner Grossmutter aufgewachsen, in einer Kleinstadt im ländlichen Umfeld seines Vaterhauses zur Schule gegangen, dann neun Jahre später, nach dem Tod des Stiefvaters, hatte er wieder mit der Mutter und deren Tochter aus zweiter Ehe, seiner Halbschwester, zusammen gelebt, vom achtzehnten Altersjahr an als Student im streng religiös-anglikanischen Trinity College in Cambridge. Seit frühester Jugend beschäftigte ihn die Theorie der Gravitation, faszinierten ihn die Infinitesimalrechnung und die Theorie des Lichts, der Spektralfarben und deren Brechungen. Mit dreiundzwanzig Jahren, 1665, kurz nach Abschluss des Studiums in Theologie und Mathematik, kehrte er ins Elternhaus nach Wollsthorpe zurück, da das College infolge der grossen Pest geschlossen werden musste. Allein vertiefte er sich weiter in die Fragen der Optik und des Lichts, der Algebra, die ihn zu den Gesetzen der Infinitesimalrechnung lenkten, und der Mechanik, die allmählich zur Erkenntnis der Gravitationsgesetzte führte.
Als 1667 das Trinity College wieder geöffnet wurde, wurde Newton Mitglied einer anglikanischen Widerstandgruppe, die sich gegen den Willen von König James II, der katholisch war, zur Wehr setzte und verhindern konnte, dass das College der Macht des Vatikans unterstellt wurde. Gleichzeitig legte er die erste Fassung seiner Abhandlung über die lnfinitesimalrechnung vor – De Analysi per Aequationes Numeri Terminorum lnfinitas –, die sofort eine hohe Anerkennung bewirkte und ihm einen Lehrstuhl in Mathematik ermöglichte, zwei Jahre später noch einen in Optik. Schon seit längerer Zeit befasste er sich selber mit der Herstellung optischer Geräte.1672 stellte er der Royal Society ein Spiegelteleskop vor, zusammen mit seiner Schrift The New Theory about Light. Der damalige Sekretär der Royal Society, Henry Oldenburg, der, ursprünglich aus Bremen, mit allen grossen Gelehrten seiner Zeit in Korrespondenz stand – u. a. mit Baruch de Spinoza, mit John locke, mit Christiaan Huygens, insbesondere mit Robert Boyle, dem Naturphilosophen, Chemiker und Physiker, der Oldenburg seinen Sohn zur Erziehung anvertraute, er mass Newtons Schrift einen hohen Wert bei.
Völlig unbegründet – oder eventuell aus Eifersucht oder Neid -, wurde Newton von Robert Hook angegriffen, der ebenfalls als Mathematiker in der Royal Society eine bedeutende Stellung einnahm und der ihm die Autorschaft abspenstig machte. Newton ertrug Querelen und Angriffe schlecht, er reagierte darauf mit schneller Verbitterung. Fünfzehn Jahre später, 1687, als Newton auf Drängen der Royal Society sein Hauptwerk veröffentlichte, die Philosophiae naturalis Principia Mathematica, und darin seine Gesetze der Bewegung und der Schwerkraft der Gravitation erläuterte und als Wissenschaftler weltweit eine grosse Anerkennung fand, klagte Hook ihn erneut an, ihm die Idee gestohlen zu haben, dass die Schwerkraft mit dern Quadrat der Entfernung abnehme. Es erstaunt nicht, dass Newton die Veröffentlichung des Briefs an Oldenburg, in welchem die Erkenntnisse der Spektralanalyse dargestellt worden waren, erst 1704, nach Robert Hookes Tod, zulassen wollte49.
Vorausgegangen war 1684, quasi als Entwurf, die Veröffentlichung einer ersten Erläuterung der Bewegungsgesetze unter dem Titel De Motu Corporum in Gyrum, mit welcher Newton nach sechs Jahren völligen Rückzugs in die Fragen der Mechanik zurückgekehrt war. Einen wichtigen Einfluss auf die Veröffentlichung hatte Edmond Halley (1656 -1742), der Newton in Cambridge aufgesucht hatte, um mehr Klarheit über die Richtigkeit der Kepler’schen Gesetze zu finden, nachdem ein Gespräch mit Hooke die Unklarheiten verstärkt hatte. Halley war damals Sekretär der Royal Society und versprach Newton eine finanzielle Unterstützung für die Publikation. Doch nicht die Royal Society, die knausrig war, bot dafür die Mittel an, und so realisierte Halley das Versprechen, das er gegenüber Newton abgegeben hatte, aus eigener Tasche und kam deshalb in finanzielle Schwierigkeiten. Doch sein Bedürfnis, die Gesetze des Kosmos zu verstehen und sein Talent in schwierigen Situationen zu vermitteln war von überzeugender Wirkung (s. später mehr).
Newton hatte mehrere schwer belastende Erfahrungen gemacht, die den Rückzug von sechs Jahren bewirkt hatten. Erst war er wegen elner theologischen Arbeit über die Dreifaltigkeitslehre, die er als häretische Erfindung aus dem 4. Jahrhundert belegte, in heftigen Dissens mit den Vorgesetzten der anglikanischen Kirche geraten, darauf wurde er in einen Streit mit englischen Theologen in den Niederlanden verwickelt, schliesslich starb noch seine Mutter. Er konnte die Geschehnisse weder ertragen noch verarbeiten und wurde depressiv. In dieser Zeit befasste er sich praktisch nur noch mit Fragen der Alchemie und Astrologie, dieser geheimen Sparte ältester Naturphilosophie, in welcher die Kräfte des Kosmos und deren Einfluss auf die Metalle und auf das Verhalten der Menschen im Mittelpunkt standen. Die Aufzeichnungen, die Newton dazu machte, blieben geheim, wurden von ihm selber und später von der Tochter seiner Halbschwester, Catherine Barton (1679 -1739), verborgen gehalten, die in der letzten Phase seines Leben bei ihm wohnte, sich um ihn sorgte, die er adoptierte und der er seinen ganzen Nachlass überliess. Fragen über Immaterielle Anziehungskräfte im Licht, über mechanische Kräfte, die durch den Äther wirken, somit über den Einfluss der Gesetze der Schwerkraft auf den Menschen und vieles mehr waren für ihn von ähnlich brennender Bedeutung wie die mathematisch wissenschaftlichen. Doch sie gehörten zur Geheimlehre, die er in den Tagen und Nächten seiner Abwesenheit von der Öffentlichkeit vertiefte und die unbekannt blieben, bis sie 1936 bei Sotheby in London versteigert wurden und in den Besitz von John Maynard Keynes kamen, der sie wiederum dem King’s College vermachte.
Freundschaften waren für Isaac Newton von zentralem Wert, der Verlust einer Freundschaft eine Erschütterung. Ein Beispiel findet sich in der Verbindung zum zwanzig Jahre jüngeren Nicolas Fatio de Duillier (1664-1753) aus Basel, der ebenfalls ein bedeutender Mathematiker war, mit achtzehn Jahren in Paris in Cassini’s Observatorium mitzuarbeiten begann, anschliesssend nach England ging, mit Huygens in Zusammenhang der Infinitesimalrechnungen in engem Briefkontakt stand und in Cambridge Isaac Newton kennen lernte. Fatio’s Vortrag vor der Royal Society über eine Verbindung zwischen der mechanischen Gravitationslehre Huygens und dem Gravitationsgesetz Newtons erregte grosses Aufsehen, war jedoch unabgeschlossen und beschäftigte Fatio bis zu dessen Lebensende. Erst 1748 griff Georges-Louis Le Sage sie wieder auf und veröffentlichte sie in Verbindung mit seiner eigenen Arbeit zur kinetischen Energie von Gasen.
Nicolas Fatio weckte viel Beachtung, und entsprechend wurde er 1688 zum Mitglied der Royal Society ernannt. Er stand mit zahlreichen Denkern und Wissenschaftlern im Austausch, doch mit Newton verband ihn eine besondere Nähe. Als er 1694 mit Leibnitz eine Korrespondenz begann und sich von Newton mehr und mehr zurückzog, konnte dieser sich in seinem Gefühl des Verlustes kaum fassen, er war verzweifelt und brauchte die Unterstützung durch andere Freunde, durch John Locke wie durch Samuel Pepys, den Dichter und Politiker, die beide Teile der sich von einander lösenden Beziehung gut kannten und Newton stützten. Einige Jahre später, im Streit zwischen Leibnitz und Newton um die Urheberschaft der lnfinitesimalrechnung, bekannte sich Fatio zu Newton und liess deutlich verstehen, dass er Leibnitz bezichtigte, sich des geistigen Eigentums des anderen bemächtig zu haben.
Newtons Bedeutung wuchs nicht nur im Kreis der Naturphilosophie an sondern auch im schwierigen politischen Milieu der damaligen englischen Gesellschaft. 1696 wurde er zum Master und Wächter der Münzprägestätte ernannt, vermutlich auf Empfehlung von Charles Montagu, der später zum 1. Earl of Halifax ernannt wurde, auch er ein etwa zwanzig Jahre jüngerer Freund aus der Zeit in Cambridge. Newton, der mit diesem Amt seine Professur aufgab, übernahm gewissermassen die Verantwortung der compliance für die Herstellung von Gold- und Silbermünzen, eine Aufgabe, die er sehr ernst nahm. Jede Art von Täuschung oder Betrug erachtete er als unannehmbar. Gleichzeitig stand ihm nun ein hohes Einkommen zu und er konnte ein stattliches Haus mit eigenem kleinem Observatorium in London beziehen. Ab dann ungefähr wohnte Catherine Barton, seine Halbnichte bei ihm, die durch ihren Charme, ihre Bildung und ihre Eigenwilligkeit beeindruckte und die aufs vortrefflichste sein öffentlich bekanntes und sein verborgenes Eigentum verwaltete.
Merkwürdig mutet an, dass eine andere Querele um die Urheberschaft von Ideen und Erkenntnissen zu Ungunsten von Newton entschieden wurde. Dabei ging es um die Forschungsergebnisse des etwa gleichaltrigen John Flamsteed. des königlichen Hofastronomen, dessen wichtigste Untersuchungen zur Zeitungleichheit De inaequilitate dierum solarium dissertatio astronomica 672 publiziert worden waren, nachdem er an die 3000 Planeten, Sterne und Monde untersucht, registriert und zu einem Sternenkatalog zusammengetragen hatte. Die Zeitungleichheit, die er aufs sorgfältigste errechnen konnte, beruht auf der durch die elliptische Bahn bedingten, leicht ungleichen Geschwindigkeit der Erdbewegung um die Sonne, ferner auf der Tatsache, dass die Erdachse nicht senkrecht zur Bahnebene der Erde steht. Gegenüber den Fixsternen wirkt sich die Erdachse stets gleich aus, gegenüber der Sonne zeigen sich Ungleichheiten. Diese Tatsache erklärt, dass wir hier in Mitteleuropa im Dezember die Zeit der dunklenTage und langen Nächte erleben, da die nördliche Halbachse der Erde von der Sonne weg geneigt ist, während wir im Juni, wenn unsere Erdseite der Sonne zugeneigt ist, die langen, hellen Tage und kurzen Nächte geniessen, Newton hatte in den Principia mathematica einzelne Ideen von Flamsteed übernommen, ohne seine Autorschaft anzugeben. Als dieser deswegen eine Klage gegen ihn erhob, gab ihm das Gericht recht. Auch diese belastende Tatsache ertrug er schlecht, nicht dass er deswegen depressiv geworden wäre, sondern wütend. John Flarnsteed hatte wie Robert Hooke zu den Kollegen gehört, mit dem er während Jahren in Fragen der Mechanik – zum Beispiel in Zusammenhang der Kepler’schen Gesetze – eng zusammengearbeitet hatte. Als 1713 eine neu überarbeitete, zweite Ausgabe der Principia mathematica erschien, bestand die Rache in der völligen Tilgung von Harnsteed’s Namen. Es gab Harnsteed als Forscher nicht mehr, wenigstens nicht mehr in Newton’s Werk.
Andere Namen, die für Newton von Bedeutung waren, blieben in seinem grossen Werk erwähnt, so – unter anderen – der gut zwanzig Jahre ältere Jean Picard (1620 – 1682), der sehr jung starb und dessen Erkenntnisse er zur Überprüfung und Vergewisserung der Gravitationstheorie brauchte. Picard hatte das Fadenmikroskop als astronomisches Messgerät eingeführt, er hatte die Länge eines Grades eines Meridianbogens bestimmt und mittels ungezählter Messungen von verschiedenen Orten aus zum Zenit, d. h. zum genauen Punkt über dem Beobachter als Verlängerung des örtlichen Gravitationsvektors, die Grösse der Erde berechnet. Auch hatte er als erster ein „astronomisches Jahrbuch” geführt und dieses 1679 unter dem Titel Connaissance des temps veröffentlicht. Auch der zwölf Jahre ältere Geophysiker Jean Richer (1630 -1696) wurde in seiner Bedeutung anerkannt, der mit Cassini zusammen am Observatorium in Paris gearbeitete hatte und sich nach Cayenne – Französisch-Guinea – begeben hatte, wo er zwischen 1671 und 1673 unter anderem den Umlauf des Mars um die Sonne beobachtete und dabei die Ergebnisse des Perigäms, d.h. des geringsten Abstands zur Erde, mit jenen von Cassini verglich. Auch er bestimmte die Länge eines Gradbogens eines Meridians und konnte erkennen, dass die Erde an den Polen abgeplattet ist. Seine Erkenntnis, dass ein Sekundenpendel in Äquatornähe kürzer sein muss als in Paris, weil die Entfernung von Cayenne zum Erdmittelpunkt grösser ist als jene von Paris, bedeutete für Newton – wie auch für Huygens – eine Bestätigung ihrer theoretischen Vermutung.
Die unerfreuliche Geschichte um Flamsteed konnte nicht verhindern, dass Newton in gesellschaftlicher Hinsicht weitere Ehrungen erhielt. Er wurde 1703 von der Royal Society zum Präsidenten gewählt, auf Lebenszeit, und zwei Jahre späte 1705 von Königin Anne zum Ritter gekürt. So wurde er Sir Isaac Newton. Doch nicht dieser Ehrungen wegen nimmt er in der Geschichte einen grossen Platz ein, nein. Er hatte mit seiner Philosophiae Naturalis Principia mathematica von 1687 eine Verknüpfung aller vorangegangenen wichtigen Erkenntnisse zustande gebracht, die er selber erweiterte und verfeinerte, bis er schliesslich zu einer Formel kam, die „letztlich alle drei Kepler’schen Gesetze in sich vereinte und darüber hinaus möglicherweise so ziemlich alles im Weltall dazu: Jedes Objekt zieht jedes andere Objekt mit einer Kraft an, die umgekehrt proportional ist zum Quadrat der Entfernung. “50
Gemäss Richard Panek war diese Formel „ein Gedankensprung von hohem ästhetischem Reiz”, über den sowohl Künstler als auch Astronomen staunen konnten und der ohne ihre gemeinsamen vorangegangenen Anstrengungen zur Erweiterung der Perspektive nicht denkbar gewesen wäre. Die Erweiterung der Perspektive durch Newton ermöglichte den definitiven Abschied von der arlstotsllschen Physik. Es gab dagegen Bedenken.und Widerstände, doch junge Wissenschaftler waren dafür Feuer und Flamme, wie Roger Cotes, (1682 -1716), ein Mathematiker, der mit knapp vierundzwanzig Jahren in Cambridge am Trinity College Professor in Astronomie wurde, Newtons Nachfolger, und der mit kaum vierunddreissig Jahren an einem plötzlichen Fieber starb. Cotes schrieb in der 17i3 erfolgten 2. Auflage der Principia mathematica das Vorwort und stellte die rhetorische Frage, ob jemand daran zweifeln könne, dass die Schwerkraft, die Ursache des Fallens eines Steines in Europa sei, doch ob dies auch noch in Amerika gelte? Wenn die gleiche Tatsache aber für den einen wie für den anderen Kontinentgelte, gelte sie auch für andere Welten. Der Grund sei derselbe wie für die Tatsache, dass der Mond der Erde folge und die Erde der Sonne: die Schwerkraft.
Newton konnte nicht sagen, was Schwerkraft tatsächlich ist. Er nannte sie ‘Fernwirkung’ – ,action at a distance’, und er blieb bei dieser Erklärung, selbst wenn Kollegen ihn deswegen verspotteten. Seine Antwort war, dass er nicht daran zweifelte, da er den mathematischen Beweis erbringen konnte. Dass die Natur selber den Beweis erbrachte, dass die Erde sich drehte, dass ihre Bahnen berechenbar und die Berechnungen überprüfbar waren. ,,Die Schwerkraft muss durch ein Agens verursacht werden, das ständig wirksam ist und gewissen Gesetzen unterliegt. Doch ob dieses Agens materiell oder immateriell sei, muss ich der Einschätzung meiner Leser überlassen. “51 Auf jeden Fall gab es für ihn keinen Zweifel an der Tatsache, dass „das kopernikanische System der Planentenstände sich als eine riesige Maschine herausstellte, die nach mechanischen Gesetzen funktioniert, die hier zum ersten Mal verstanden und erklärt werden.”52
Wie entwickelte sich mit der neuen Kenntnis der Gravitationsgesetze, mit der zusätzlichen Präzision im Beobachten und im Berechnen der Himmelskörper der Erkenntnishunger weiter? Unendlich vieles stand noch bevor, wurde doch die Unendlichkeit des Universums und das Staunen über die Unendlichkeit des Nichtwissens mehr und mehr bewusst. Auf einzelne wenige weitere Schritte werde ich mich beschränken müssen.
Newton’s Formel diente im 18. und 19. Jahrhundert generell, um Zahlenwerte aus teleskopischen Beobachtungen einsetzen zu können, um mit grosser Genauigkeit die Bewegung von Himmelskörpern vorherzusagen oder zu erklären. Selbst wenn – scheinbar – Widersprüche auftauchten, zum Beispiel Unregelmässigkeiten in den Umlaufbahnen von Jupiter und Saturn, erwies sich später, dass die Berechnungen ungenau waren und dass das Gesetz stimmte. ,,So geschah es mit Newtons brillanter Entdeckung”, schrieb der französische Mathematiker Pierre Simon de Laplace (1749 – 1827), ,,dass jede auftauchende Schwierigkeit schliesslich zu einem neuen Triumph führte, ein sicheres Zeichen, dass es sich hier um das wahre System der Natur handelt.”53 Laplace, der mitten in den Wirren der Französischen Revolution und später der Napoleonischen Herrschaft seine mathematischen und astronomischen Studien fortsetzen und ab 1799 in mehreren Bänden Le Traité de mécanique céleste – Die Abhandlung über die Himmelsmechanik– veröffentlichen konnte, hatte Newtons Theorie aufs genaueste überprüft, indem er die Umlaufbewegungen aller – ungefähr dreissig – damals bekannten Objekte im Sonnensystem mittels der Newton’schen Gesetze nochmals berechnete, “unter Berücksichtigung der berechenbaren Auswirkungen jedes Objekts auf jedes andere und umgekehrt, alles in allem ein wirbelndes Wechselspiel gegenseitiger Anziehungen. Wie ein neugieriges Kind, das einen Wecker auseinandernimmt, konnte auch Laplace nicht die kleinste Schraube oder Sprungfeder auslassen, als er seine Himmelsmechanik wieder zusammensetzte. Irgendwie gelang ihm dies schliesslich sogar.”
Richard Panek hält zu Recht fest, dass an Stelle der biblischen Schöpfungsordnung nicht die Anarchie eingetreten war, wie die religiösen Gegner des Kopernikanischen Systems befürchtet hatten, sondern dass die Erkenntnis einer anderen Ordnung ermöglicht wurde: das Universum der Geometrie und der Physik, ,,ein paar einfache Regeln, die die Bewegung eines jeden Rädchens im Uhrwerk des Kosmos vorhersagen und erklären konnten, ein einziges Gesetz, das alle physikalischen Geschehen beherrschte von Stund an bis in Ewigkeit, bis zum Ende des Universums.” Doch eben, wo war das Ende des Universums?
Es war Wilhelm (William) Herschel (1738 -1822), ein Zeitgenosse von Laplace, der es wagte, sich die Frage wirklich zu stellen. Gewiss war er nicht der einzige, doch er suchte die Frage zu beantworten. Konnte das Sonnensystem überschritten werden? Eigentlich war Herrschel ein Musiker, ein Oboist, dessen Vater Isaac schon ein Musiker gewesen war. Anlässlich der 1757 im Siebenjährigen Krieg erfolgten Besetzung Hannovers durch die französischen Truppen konnte er nach England fliehen und an verschiedenen Orten als Musiklehrer, als Organist und als Komponist wirken. Zunehmend beschäftigte ihn das mathematische Ordnungssystem der Musik, er vertiefte sich in Mathematik und schliesslich in Astronomie, ins Ordnungssystem des Alls, insbesondere in die noch ungelösten Fragen der Fixsterne. Dabei erkannte er, dass das zweidimensionale System nicht genügte, um in die Tiefe des Alls vorzudringen, dass es eine dritte Dimension brauchte, um für die Position jedes Himmelskörpers sowohl die Länge (length oder longitude) die Breite (breadth oder latitude) und die Tiefe (depth oder profundity) erfassen zu können. Doch dazu fehlten die Instrumente. Selbst mit den besten Teleskopen war es nicht möglich, die Parallaxe eines einzelnen Sterns unter den Fixsternen zu messen. Die Distanz zwischen Erde und Fixsternen musste unsagbar riesig sein. Im Vergleich damit war jene zwischen Erde und Sonne winzig, obwohl schon damals angenommen wurde, sie betrage (gemäss der astromischen Einheit AE) mindestens 270 Millionen km (heute 299,4 km). Wie erklärte sich, dass die Sterne trotz der unsagbar riesigen Distanz noch so hell leuchteten, fragte sich Herschel. Allmählich wurde klar, dass es noch unzählige Sonnen mit je eigenem Planetensystem geben musste, dass diese weit entfernten Sterne gar nicht „fix” waren. Es war Edmond Halley gewesen, der dazu einen wichtigen Beitrag geleistet hatte, als er 1718 bekanntgab, er habe zwar keine Parallaxe, wohl aber eine Positionsveränderung eines Sterns festgestellt, die nicht durch die Bewegung der Erde verursacht worden sei, sondern innerhalb des Sternsystems selber. Auch habe er diese Beobachtungsdaten mit den 1500 Jahre zurückliegenden ptolemäischen Aufzeichnungen verglichen und habe eine erstaun liehe Bestätigung gefunden. Seine Beobachtungen wurden durch James Bradley (1693 -1762) bestätigt, der ebenfalls keine Parallaxe feststellen konnte, iedoch dank eines verbesserten Gerätes, eines Reflektors resp. eines Spiegelteleskopes. die Entfernung zum nächsten Stern ausserhalb unseres Sonnensystem auf 400 000 AE berechnen konnte, das heisst auf 58 Billionen km. Die Vorstellung war nicht nachvollziehbar, sie war über wältigend.
William Herschel, in Zusammenarbeit mit seiner Schwester Caroline, die eigentlich Sängerin war und eine bedeutende Astronomin wurde – sie entdeckte in zehn Jahren acht neue Kometen -, und seinem Bruder Alexander, verbesserte ebenfalls den Spiegelreflektor für seine Beobachtungen. Schliesslich verfügte er über ein Instrument, das 6000-fache Vergrösserungen ermöglichte „Als ich begann, mich mit Astronomie zu beschäftigen,”entschloss ich mich, nichts als gegeben hinzunehmen, sondern zunächst einmal mit eigenen Augen alles anzuschauen, was andere vor mir gesehen hatten”55 hatte er festgehalten, und es gelangen ihm erstaunliche neue Entdeckungen, so die des Planeten Uranus, der etwa doppelt so weit von der Sonne entfernt ist wie Saturn, dessen Umlaufbahn bis zu jenem Zeitpunkt als die äusserste angenommen wurde. Uranus war quasi ein”Wandelstern”, der zwischen dem schon bekannten Sonnensystem und den unbekannten Himmelskörpern der Milchstrasse eine Vermittlung darstellte. “Um das Planetensystem (The Heavens) herum gibt es einen bemerkenswerten Bereich, der auf Grund seines eigentümlichen Aussehens ,Milchstrasse’ genannt wird. Früher wurde angenommen, dies rühre von einer grossen Zahl kleinster Sterne her. Das Teleskop zeigt jedoch, dass es sich wohl anders verhält. Daher muss das milchige Aussehen eine andere Ursache haben.”56 In einer Notiz hatte Herschel festgehalten, dass er in einer einzigen Beobachtungsperiode von 41 Minuten an die 258 000 Sterne habe vorbeiziehen sehen. Als die Fachleute der Royal Society daran zweifelten, packte er sein Instrument sogfältig ein und führte es dem Hofastronomen Nevil Maskelyne vor. An seine Schwester schrieb er, sein selber erstelltes Modell werde von Dr. Maskelyne bereits nachgebaut, und an einen Freund: “Ich vermute, es gibt nicht viele Menschen, die je in der Lage wären, mit einem Gerät wie meinem mit einer 6450-fachen Vergrösserung einen neuen Stern zu entdecken, geschweige denn, hätten sie ihn entdeckt, auch festzuhalten. Auch das Sehen ist in gewissem Sinn eine Kunst, die erlernt werden muss. Jemandem beizubringen, bei einer solchen Vergrösserung etwas zu erkennen, ist das das gleiche, wie jemandem das Spielen einer Händel-Fuge auf der Orgel beizubringen. Ich habe das Beobachten in vielen Nächten erlernt, und es wäre verwunderlich, wenn jemand durch eine so lange Praxis nicht eine gewisse Geschicklichkeit erwerben würde.”57
Nicht die Verbesserung der quantitativen Messungen war in erster Linie Herschels Ziel, sondern die Erweiterung des Blicks in die dritte Dimension des Alls, in die Tiefen des Raums. Gegen Ende seines Lebens erkannte er eine weitere Konsequenz seines Strebens nach Wissen. “Wenn Licht 9,4 Billionen Kilometer pro Jahr zurücklegt, während die nächsten Sterne einige Dutzend Billionen Kilometer entfernt sind und seine Instrumente in der Lage waren, Licht von Tausende Male entfernten Sternen aufzunehmen, dann war eine merkwürdige Schlussfolgerung unvermeidlich: ,Ein Teleskop, das in die Tiefen des Alls vorstossen kann’, hielt er fest, ,kann damit, wie man sagen könnte, auch in die Vergangenheit blicken’.”58 Seine Arbeit hatte ihn buchstäblich in die dritte Dimension versetzt und hatte Raum und Zeit entschlüsselt, und trotzdem blieb die Frage der Sternenparallaxe ungelöst, geschweige jene vom Rand des Universums. Die Forschungsarbeit erwies sich als unabschliessbar.
*
John Herschel, William Herschels Sohn, auch er zugleich Musiker und Astronom, hatte das Teleskop seines Vaters demontiert und als einer der ersten eine neue optische und chemische Methode entwickelt: jene der Fotografie. Einern amerikanischen Chemiker, Henry Draper, gelang 1840 die erste Daguerreotypie des Mondes. In den nächsten Jahren und Jahrzehnten verfeinerten und verstärkten sich die Aufnahmen. 1882 gelang es David Gill, königlicher Astronom im Observatorium am Cap der Guten Hoffnung, die Aufnahme eines Kometen zu machen, gleichzeitig einer Unzahl von Sternen. Darauf arbeitete er während fünf Jahren daran, die ganze südliche Hemisphäre zu fotografieren, indem er sie in 612 Felder einteilte und jedes davon eine halbe bis eine Stunde belichtete. So kam ein Katalog zustande mit 454 875 Sternen. Wenige Jahre später, 1888, konnte der britische Astronom Isaac Roberts nach drei Stunden Belichtungsdauer die Aufnahme des Andromeda-Nebels zustande bringen und beweisen, dass es sich um einen Spiralnebel handelt. Etwa gleichzeitig entstanden mittels eines fotografischen Teleskops der französischen Forscher Paul und Prosper Henri, zwei Brüdern, Aufnahmen der Plejaden, auf denen 2326 Sterne sichtbar waren. Im Jahr 1900 kam James Keeler, der das kalifornische Liek Observatory leitete, mit seinem 36-Zoll-Reflektor zu einem Ergebnis von etwa 120 000 Nebeln unterschiedlichster Grössen. Das Teleskop war durch die Kamera übertroffen worden.
Ein weiteres Instrument kam hinzu, das Spektroskop, das die chemischen und mineralogischen Strukturen der Sterne klärte, nachdem der französische Philosoph Auguste Comte diese Möglichkeit völlig in Frage gestellt hatte und so die Sinnlosigkeit von Forschungsaufgaben ausserhalb des Sonnensystems, im Bereich der Sterne, betonen wollte. Doch 1859, zwei Jahre nach seinem Tod, benutzten zwei Physiker das Spektroskop, um die chemischen Zusammensetzung der Sonne zu untersuchen, und die Forschungsarbeiten in diesem Bereich setzten sich fort. Die erste Erkenntnis dieses Instruments gelang 1815 Joseph Fraunhofer, einem Glasschleifer und Spiegelmacher, der später zu einem bedeutenden Physiker wurde. Er wollte ein Experiment von Newton überprüfen und liess einen Sonnenstrahl durch ein Prisma fallen, indem er ihn zuerst durch ein Teleskop leitete. Dabei ergab sich aber nicht das Farbenspektrum von Violett bis Rot, wie Newton es kannte, sondern eine unzählbare Anzahl breiter und dünner vertikaler Linien. Fraunhofer begann sie zu zählen und zu vermessen und gelangte auf 500 Linien allein im Sonnenspektrum. Es brauchte wieder einige Jahre, bis 1859 zwei deutsche Chemiker, Robert Wilhelm Bunsen und Gustav Robert Kirchhoff, erkannten, dass die Linien durch die chemische Zusammensetzung der Stoffe entstanden, durch die das Licht ausging. Jede Substanz hat ihr eigenes Muster, und da jedem Muster eine Verbindung zugeordnet werden kann, stand die Erkenntnismöglichkeit der chemischen Zusammensetzung der Himmelskörper nah.
Es war William Huggins, ein britischer Astronom, der 1863 begann, mit seinem Spektroskop Nebel im All zu untersuchen. Am 29. August 1864 ging es um einen Nebel im Sternbild des Drachen. Doch es ergab sich kein Spektrum, wie er es erwartete, sondern eine einzige, leuchtende Linie. Er war verblüfft, überprüfte die Apparaturen und kam zur Erkenntnis, dass es sich nicht um einen Sternhaufen handelte, sondern um Gas. Huggins untersuchte in den nächsten Jahren weitere sechzig Nebel und kam zur Erkenntnis, dass ein Drittel davon auf leuchtendes Gas schliessen liess. Mit der Spektralanalyse begann ein neuer Wissenschaftszweig Fuss zu fassen, die Astrophysik, die gleichzeitig die Neue Astronomie einleitete. Die beiden neuen Untersuchungsmethoden der Fotografie und der Spektroskopie ergänzten sich, und so kam es, dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Observatorien wie Laboratorien aussahen, wie Huggins festhielt: ,,Das charakteristische Spektrum irdischen Sauerstoffs war identisch mit dem von Sternenlicht”, schrieb er. ,,Ähnlich verhielt es sich mit den Spektren von Eisen. Auch Natrium, das auf der Erde überall vorkommt, ist offenbar im Kosmos verbreitet. ( … ) Primitive Batterien, die stark schädliche Gase ausströmten, wurden vor dem Fenster im Freien aufgestellt. Eine grosse Induktionsspule war mit einer Reihe Leidener Flaschen auf einem fahrbaren Gestell montiert, damit sie die Bewegungen des Okulars verfolgen konnte. Regale mit Bunsenbrennern, Vakuumröhren und Chemikalienflaschen, insbesondere Proben reiner Metalle, standen entlang der Wände. Das Observatorium wurde zu einem Ort, wo die irdische Chemie und die Chemie des Weltalls in direkten Kontakt traten.”59
Die Neue Astronomie berief sich zunehmend auf neue, exaktere Techniken im Aufnehmen und Wiedergeben von Bildern. George Ellery Haie (1868 -1938) aus Chicago, der sich noch als Student für die Herstellung eines Spektroheligrafen einsetzte, um die Chromosphäre resp. die meist auch Wasserstoff und Helium bestehende Gasschicht in der Atmosphäre der Sonne untersuchen zu können, der später sich um den Bau und Ausbau hervorragender Observatorien in Chicago, in Passadena und auf dem Palemar Mountain bemühte, die dank riesiger Spendensummen amerikanischer Industriellen-Milliardäre zustande kamen, er wurde psychisch zunehmend belastet und war immer wieder schubweise krank. Für die Sponsoren der grossen Forschungsanlagen war die Gegenleistung, dass ihr Name zum Namen des Observatoriums wurde, wie z. B. das Yerkes Observatorium in Chicago, das durch die Spende von Charles T. Yerkes, einem Massentransport-Mogul, zustande kam, oder das Liek Observatorium in Kalifornien, das von James Liek, einem erfolgreichen Pianobauer, finanziert worden war. Ebenso leistete der Stahlindustrielle Andrew Carnegie auf Anfrage von Haie die nötige Unterstützung für ein riesiges Spiegelteleskop auf Mount Wilson, das Jahre brauchte, bis es genutzt werden konnte.
In der enthusiastischen Welle jener Zeit konnte nicht erahnt werden, welche Wahrheiten “ans Licht” kämen, wie Haie als Zielsetzung formulierte. Es stand vieles bevor. 1917 vertrat Heber Doust Curtis seine These der “Welteninseln” resp. der Galaxien in grösserer Menge, während Harlow Shapely die Milchstrasse in ihrem enormen Umfang von etwa 3’000 Millionen Sternen, Planeten, Gasnebeln und weiteren Objekten als die einzige Galaxie verstand. Curtis hatte am Liek Observatorium in Kalifornien bei der Untersuchung von Spiralnebel-Aufnahmen 11unterhalb des Zentrums einen dunkeln Streifen” festgestellt, “ein dünnes Band lichtschluckender Materie, eine Art kosmischen Staubs”, Er stellte Fragen betreffend der Milchstrasse, die eventuell auch ein Spiralnebel sein könnte, betreffend neuer Sterne – Novae – die jedoch nicht die Grösse der Andromeda-Nova von 1885 erreichten. Edwin Hubble vom Mount-Wilson Observatorium entschied die Auseinandersetzung zu Gunsten von Curtis. Er hatte insbesondere die Cepheiden untersucht, Sterne mit regelmässigen Lichtschwankungen, und in diesem Zusammenhang konnte er im Andromeda-Nebel eine Entdeckung machen, für deren Bestätigung er ein weiteres Jahr brauchte. Doch 1924 konnte er sein Schätzung veröffentlichen: dass sich der Andromeda-Nebel eine Million Lichtjahre von der Erde entfernt befindet, in einer riesigen Entfernung von den weitest entfernten Bereichen der Milchstrasse. Die Ausdehnung des Universums war damit durch experimentelle Beobachtung bestätigt. Auf rein mathematischem Weg hatte Albert Einstein (1879-1955) Jahre zuvor, um 1912 herum, in Zusammenhang seiner Ausarbeitung der Allgemeinen Relativitätstheorie die Ausdehnung des Universums festgestellt, doch diese Tatsache erschien im unvorstellbar. Er wollte sie nicht annehmen. Und so erdachte er sich 1917 einen “Phantom-Faktor”, eine “Kosmologlsche Konstante”, damit das Universum in seinen Gleichungen stabil bliebe, obwohl er aus mathematischer Sicht einsehen musste, dass dies unmöglich war.
Einstein hatte mehrmals grosse Bewunderung für Kepler geäussert. So viel Erfindungskraft und unermüdlich harte Arbeit sei nötig gewesen, um die drei Gesetze herauszufinden und mit grosser Präzision sicherzustellen. Verhielt es sich bei ihm nicht ähnlich? Verzweifelte er nicht immer wieder an den kaum zu bewältigenden mathematischen Problemen der Allgemeinen Realitivitätstheorie, seinem grössten Projekt? Hätte ihn 1912 nicht Marcel Grossmann unterstützt, mit einer neuen Geometrie für Aufgaben in vierdimensionalen Räumen eine Lösung zu finden, dieser Freund aus der Studienzeit, der stets ein nächster Freund blieb, so wichtige Erkenntnisprozesse wären möglicherweise auf halbem Weg vor übermächtigen Hürden zusammengebrochen. Immer wieder stand ihm Grossmann bei, auch im Entwurf einer verallgemeinerten Relativitätstheorie und einer Theorie der Gravitation von 1913, in welchem Einstein für den physikalischen und Grossmann für den mathematischen Teil zeichnete. Max Planck dagegen riet ihm als alter Freund ab, auf seinen Plänen zu beharren, weil er einerseits damit nicht durchkommen werde, und, falls er durchkomme, damit niemanden überzeugen könne. Möglicherweise ist es tatsächlich „heroisch und ziemlich hoffnungslos, einer Art Weltformel nachzujagen, doch Fachkollegen überzeugen zu wollen, dass diese Formel richtig ist, erweist sich als noch hoffnungsloser und heroischer. Warum soll man eine neuen mathematische Sprache wie die Kepler’schen Ellipsen oder Einsteins Tensoren60 in die Physik aufnehmen? Nur weil sich damit die Bewegungen der Himmelskörper in einer kompakteren Form darstellen lassen?61 Doch trotz aller Erwartungen wurde Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie in Fachkreisen mit grossen Interesse aufgenommen, nicht zuletzt weil 1919, kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs, Arthur Eddington, ebenfalls Astrophysiker und ungefähr gleich alt wie Einstein, zwei Forschungsexpeditionen zusammenstellte, um eine Sonnenfinsternis zu beobachten und diese so umfassend wie möglich zu dokumentieren. Mit den Ergebnissen, die er vorlegen konnte, liess sich beweisen, dass Lichtstrahlen in der Nähe der Sonne tatsächlich gemäss Einsteins Berechnungen auf gekrümmten Bahnen laufen. In der Wissenschaftspresse wurde von einer revolutionären Entdeckung gesprochen.
Mit jeder Erkenntnis und jeder Entdeckung stellten sich neue Fragen und neue Aufgaben. Deren Klärung und Umsetzung waren stets beeinflusst durch die grossen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, die die Forschenden stärkten oder hinderten. Stets ergänzten sich Wahrnehmungen und Denken. So war es auch im 20. Jahrhundert. In der Zwischenkriegszeit gelang es Karl Jansky, einem sechsundzwanzig-jährigen Ingenieur, das rätselhafte, stete, leise, zugleich ungleich starke Rauschen erklären können, das sich Tag für Tag entlang dem Horizont zu bewegen schien, ein anderes Geräusch als das Knistern von Stürmen oder das Knacken der Erdatmosphäre. Die Bell Telephone Laboratories, die eine Fernsprechanlage über den Atlantik hinweg eingerichtet hatten und durch dieses Rauschen Störungen feststellten, hatten ihm den Auftrag gegeben, die Ursachen zu klären. Erst vermutete er, es seien elektrische Anlagen, dann möglicherweise die Sonne, doch selbst während der teilweisen Sonnenfinsternis vom 31. August 1932 hielt das Rauschen an, doch es erfolgte in einem bestimmten Zyklus, der durch eine Bewegung gesteuert schien. Jansky mass den Zyklus aufs genaueste und kam auf jenen von 23 Stunden und 56 Minuten, den Zyklus des Sternentags, nicht des Sonnentags. Auch war das Rauschen am stärksten unter dem Sternbild des Schützen, in der Mitte der Milchstrasse zu hören. Das Rätsel war gelöst, es war das Rauschen der Sterne! Die Radioquelle war im Kosmos.
Jansky veröffentlichte seine Entdeckung in zwei Zeitschriften62 und führte ab 1934 seine Untersuchungen weiter. Doch das Interesse war damals noch gering. Der Funke sprang auf einen einzelnen gleichaltrigen Radioingenieur aus Chicago über, Grate Reber, der im Hinterhof des Hauses, in dem er wohnte, eine kippbare Parabolantenne baute und Nacht für Nacht während sechs Jahren die kosmischen Geräusche aufnahm und schliesslich die erste Radiokarte der Milchstrasse zustande brachte. Im Yerkes Observatorium fand er Interesse, auch nach George Ellery Hale’s Tod im Februar 1938. Im Astro-physical Journal konnte er drei sich folgende Artikel unter dem Titel Cosmic Static veröffentlichen. Die Entdeckung von Jansky und Reber wurden in den Jahren des zweiten Weltkriegs mehr und mehr genutzt, um Funkstörungen zu klären, sie gingen auf Grossbritannien über, wo Bernard Lovell, auch er ein Ingenieur, das Jodrell Bank Radio-Observatory überzeugen konnte, sich damit zu befassen. Im August 1950 konnten von der Spiralgalaxie M 31 im Andromeda-Nebel Radiosignale aufgenommen werden, aus einer zwei Millionen Lichtjahre entfernten Galaxie.
Zusätzlich zu den Radiosignalen wurde in Fortsetzung von Newton, Herschel und vielen weiteren Forschern bis zu Haie das Licht mehr und mehr untersucht, insbesondere die elektromagnetische Strahlung. Licht und Wärme sind die gleiche Energie, wie schon Herschel erkannt hatte, als er feststellte, dass verschiedenfarbige Filter unterschiedliche Wärme erzeugten. Er leitete damals weisses Licht durch ein Prisma, stellte auf dem Farbenspektrum von Violett bis Rot Thermometer auf und konnte am Ende von Violett die niedrigste und am Ende von Rot die höchste Temperatur erkennen. Der um dreissig Jahre jüngere Schlesier Johann Wilhelm Ritter, der im Milieu der deutschen Frühromantik zum autodidaktischen Physiker wurde, ergänzte Herschels Erkenntnis, indem er mittels chemischer Reaktionen das Wirken von Strahlung nachweisen konnte. So wurde gemeinsam die Infrarot- (IR) und die Ultraviolettstrahlung (UV) entdeckt. Und wenig später, 1802, konnte der etwa gleichaltrige englische Augenarzt Thomas Young feststellen, dass durch unterschiedliche Strahlungen des „sichtbaren Lichts” die unterschiedlichen Farbeindrücke im menschlichen Auge verursacht werden, das empfänglich ist für Wellenlängen zwischen 400 bis 760 Nanometern. Dass das Licht auch elektromagnetische Strahlung bewirkt, dass noch viel kleinere und grössere Wellenlängen entdeckt würden, erkannte gute sechzig Jahre später der schottische Physiker James Clerc Maxwell. Und so war es. Entdeckungen und Erkenntnisse folgten sich, millionenfach grössere Radiowellen und tausend- bis millionenfach kleinere Wellenlängen, bewirkt durch Röntgen- und Gammastrahlung, konnten erkannt und, was nicht selbstverständlich war, registriert werden. Doch da die meiste elektromagnetische Strahlung aus dem Weltall – ausser Radiowellen und durch sichtbares Licht verursachte Strahlung – die Erdatmosphäre nicht durchdringt, mussten Forscher diese verlassen, um Messungen vornehmen zu können. 1946 konnten die Amerikaner zu diesem Zweck die 25 deutschen V2 Raketen (Vergeltungswaffe 2) einsetzen, die aus dem KZ Mittelbau Dora63 nach dessen Einnahme durch die US-Armee am 11. April 1945 – zusätzlich zu Flugbomben Vl, insgesamt etwa 100 Exemplare – abtransportiert worden waren und nun, ausgerüstet mit Filmen, mit Geigerzähler und anderen Messgeräten, über der Wüste von New Mexico zu Forschungszwecken gebraucht wurden. So wurden 1948 von der Sonne ausgehende Röntgenstrahlen getestet, doch es brauchte zusätzliche Zeit, um mit den Möglichkeiten der Raumfahrt Röntgenstrahlquellen auch ausserhalb des Sonnensystems nachweisen zu können. 1962 kehrte eine amerikanische Rakete mit Resultaten auf dem Geigerzähler zurück, die 10 Milliarden mal so stark waren wie jene der Sonne.
Die Forschung drängte voran und die Forschungsergebnisse waren erregend. In den 1960er Jahren wurden im Bereich der Radiowellen Objekte mit grössten Wellenlängen und kleinster Energie entdeckt, die “Pulsare” genannt wurden, ausgebrannte, kollabierte Sterne, die sich Dutzende oder Hunderte mal um ihre eigene Achse drehten. Es konnten Tausende von kälteren, älteren Sternen entdeckt werden ohne sichtbares Licht, ferner heissere, jüngere, sogar erst entstehende Sterne mit Ultra-Violett-Licht (UV-Licht). Es konnte festgestellt werden, dass Röntgenstrahlen erst bei sehr hohen Temperaturen von einigen Millionen Grad entstehen, dass Gammastrahlen, die energiereichsten Strahlen, nur durch Kernreaktionen entstehen.
In diesem Zusammenhang auf den Wettbewerb zwischen der ehemaligen Sowjetunion und den USA um die Herstellung von Raketen und Satelliten zu Forschungszwecken einzugehen, würde zusätzliche Zeit beanspruchen, doch während mehr wie zehn Jahren waren die UdSSR ohne Zweifel im Vorsprung. Eine erste Zusammenarbeit ergab sich auf wissenschaftlicher Ebene trotz des Kalten Kriegs schon 1975, als eine amerikanische Apollo-Rakete an die sowjetische Sojus-Kapsel andockte, später, etwa 1995, als ein Space-Shuttler die Mir besuchte. Doch der Wettbewerb, der immer auch eine starke politisch-militärische Komponente hatte, hielt immer an und dehnte sich weiter aus, auch auf China und weitere Staaten.
Seit Hubble 1930 für die durch elektromagnetische Wellen verursachte Rotverschiebung die vorläufigen Ergebnisse seiner Untersuchungen mit der Erklärung veröffentlichte, dass eine Galaxis sich umso schneller zu entfernen scheint, je weiter sie entfernt ist, wurde klar, wenngleich rätselhaft klar, dass das Universum in Bewegung ist und sich ausdehnt. Daraus ergab sich mit analoger rätselhafter Klarheit, dass etwas, das sich ausdehnt, aus etwas hervorgegangen sein muss. So begannen sich Forscher zunehmend sowohl mit der Ausdehnung wie mit der Entstehung des Universums zu befassen. In den 1950er Jahren kamen drei amerikanische Physiker – George Gamow, Ralph Alpher und Robert Herman – durch mathematische Berechnungen im Zurückverfolgen des Ausdehnungsvorgangs des Universums schliesslich auf eine kleine Zusammenballung der Energien in der Grösse einer Grapefruit. In Gamow’s Vorstellung handelte es sich in der Folge nicht um eine Explosion, sondern um eine luftballonähnliche Vergrösserung. Es war ein Konkurrent Gamow’s, Fred Hoyle, der diesen Ansatz lächerlich machen wollte oder ihn missverstand, auf jeden Fall bezeichnete er ihn als „Big-Bang-Modell”, als „Urknall”. Dieser Begriff setzte sich fest und bewegte zahlreiche Mathematiker und Forscher, die Hypothese näher zu klären.
Wieder waren es zwei Radioingenieure des Bell Laboratoriums in New Jersey, Arno Penzias und Robert Wilson, die im Abhören von Satellitenaufnahmen ein merkwürdiges Hintergrundrauschen wahrnahmen. In Zusammenarbeit mit Robert Dicke von der Universität von Princeton, der sich mit der Hintergrundstrahlung des Urknalls befasste, wurde festgestellt, dass die Resultate der Untersuchung von Frequenz und Intensität des Hintergrundrauschens mit der Temperatur von 3 Kelvin übereinstimmten, die der isotopen Mikrowellenhintergrundstrahlung entsprachen. Damit konnte die „Urknall”-Theorie experimentell bestätigt werden. Die Radioastronomie wurde in ihrer Bedeutung bestärkt.
Gleichzeitig bemühten sich die Astronomen um bessere Untersuchungsgeräte im Bereich des sichtbaren Lichts, um Geräte mit höherem Auflösungsvermögen und grösserer Lichtstärke. Die Bemühung deckte sich in den 1970er Jahren mit der Entwicklung des Computers. Die Glasplatten und Filme wurden durch elektronische Bauteile ersetzt, durch lichtempfindliche Halbleiterdetektoren, die die Informationen gleich in digitaler Form abspeicherten und deren Empfindlichkeit und Effizienz im Registrieren um das Vielfache steigerten. Alle Methoden der Verarbeitung und Verbesserung der kompliziertesten Satellitenaufnahmen wurden möglich, zum Beispiel die Überprüfung der Aufnahme von mehreren tausend Galaxien, die Verschärfung der Bilder der Nebel etc. Ebenso konnten kosmologische Modelle hergestellt werden, zum Beispiel das Modell des Big Bang, die Teleskope konnten über den Computerbildschirm, bedient werden, die gesammelten Daten einfach abgerufen werden und vieles mehr.
Die Daten häuften sich, erstaunlichste Daten, zum Beispiel über Lichtteleskope von zwei neuen Uranosmonden, über Radiowellen von Planeten in anderen Sonnensystemen und von einer Vielzahl von Super-Nova-Explosionen, bei welchen unendlich mehr Energie freigesetzt wird als durch die Sonne, über Röntgenstrahl-Teleskopie von Schwarzen Löchern in der Milchstrasse, eventuell in jeder Galaxie, über ein Schwarzes Loch in voller Tätigkeit, über Gamma- und Röntgenstrahlen Belege aus den tiefsten Tiefen des Universums und mehr und mehr. ,,Was für Galilei die Gebirge des Mondes, die Mediceischen Planeten und Phasen der Venus waren, bedeuteten Pulsare, Schwarze Löcher und Ausbrüche von Gammastrahlen den Astronomen der 1950er bis 1970er Jahre. Daran schloss sich in beiden Fällen eine etwas schwierigere quantitative Phase an, und ebenso wie die Astronomen der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Entfernungen und Dimensionen des Sonnensystems bestimmt hatten, begannen ihre Nachfolger des 20. Jahrhunderts ihr neuentdecktes Universum zu vermessen. “64
Das Vermessen wurde Aufgabe der Satelliten, doch deren computergesteuerte Überprüfung blieb Aufgabe der Astronomen. Dank der Vermessung durch den Satelliten Hipparchos zwischen 1989 und 1997 wurde etwas möglich, was als unerreichbar gegolten hatte, nämlich „die Parallaxe für 118’218 Sterne und die Position von 1’058’332 Sternen, dem Dreifachen jedes vorangegangenen Atlas der Milchstrasse. Untersuchungen der Rotverschiebungen ermittelten Entfernungen zu zunächst Hundertausenden, dann Hunderten von Millionen einzelner Galaxien, und schliesslich versahen die Forscher das Universum nicht nur mit der Dritten Dimension, wie es Herschel für unsere Milchstrasse getan hatte, sondern entdeckten auch, dass die Galaxien selbst zu sogenannten Superhaufen mit fast einer Milliarde Lichtjahren Durchmesser gehören, und dass diese Superhaufen sich sogar selbst wieder zu noch grösseren faden- und mauerartigen zwei- oder dreidimensionalen Strukturen zusammenlagern, die die Vermutung nahelegen, das Universum selbst könnte vielleicht ähnlich aufgebaut sein wie ein Molekül. Und ein Jahr nachdem das Hubble-Teleskop sein Guckloch ins All gebohrt und die Astronomen die Zahl der Galaxien auf 50 Milliarden geschätzt hatten, schauten sie sich ihr Material genauer an und beschlossen in aller Ruhe, dieses Ergebnis eben noch einmal zu verdoppeln. ( … )Was diese riesige Menge neuer quantitativer Daten gegen Ende des 20. Jahrhunderts auszeichnete ( … ) war die neue Betrachtungsweise des Kosmos in einer völlig neuen, weiteren Dimension: Aus all den Entfernungen, Temperaturen und Geschwindigkeiten entstand ein furioses Panorama von unablässigem Werden und Vergehen, Geburt und Tod von kosmischem Ausmass, gar vom Anfang und möglichen Ende des Weltalls selbst: das Universum begann zu leben. “65
In Richard Paneks Darstellung der unendlich vielen Erkenntnisprozesse in Zusammenhang der Himmelskunde , die – scheinbar – in jüngster Zeit bis an die äussersten Grenzen des Erkennbaren stiessen, sind Staunen und Bewunderung spürbar, gleichzeitig eine grosse Sorgfalt im Auswählen, Abwägen und Beurteilen der Berge von Büchern und Dokumenten, die sich über die Jahrhunderte hinweg aufgebaut haben. Noch immer ist im Universum unmessbar vieles unbekannt, eine unsichtbare Mehrheit – 90%, wenn nicht sogar 99% – wird als „Dunkle Materie” (dark matter) bezeichnet und es werden sich Generationen und Generationen mit dem Unbekannten befassen. Möglicherweise werden sich nicht nur weit zurückliegende, sondern selbst neueste Erkenntnisse als falsch erweisen und der Klärung bedürfen.
Neben der breiten, eingehenden Lektüre der Bücher aus meiner Bibliothek und den mit Notizen und Fragezeichen ausgefüllten Denkheften auf meinem Pult, auch neben den vielen Bänden wissenschaftlicher Arbeit von Sir James Jeans mit den Fotografien der Galaxien und Nebel aus dem Mount Wilson Observatorium waren Richard Panek und Thomas de Padova mit ihren Büchern für mich während Monaten wie stete Gesprächspartner, die ihren Anteil zum Entstehen meiner Arbeit beitrugen. Immer wieder liess ich sie reden, wenn ich ihre Meinung als wichtig erachtete und freute mich festzustellen, dass sie meine besondere Bewunderung für einzelne unter den leidenschaftlichen Erkenntnishungrigen – etwa für Johannes Kepler oder für William Herschel – teilten.
Es war für mich ein faszinierendes Abenteuer, mit dem Blick auf Sonne, Mond und Sterne, auf den endlos erscheinenden ,weiten Himmel – so nah, so fern – die Erkenntniswege der frühen Beobachter und Denker wie der späteren Forscher/Forscherinnen und ihrer Interpreten kennen zu lernen, mich in die Prozesse der Vermutungen und Erklärungen des grossen Ordnungssystems hinein zu versetzen, die Ergebnisse zu vergleichen, möglicherweise bestätigt zu finden oder in der Mangelhaftigkeit zu verstehen und die Weiterentwicklung zu verfolgen, ein fortgesetztes Hinterfragen und Aufnehmen, Staunen, ein neues Hinterfragen und Suchen nach Antwort. Und es sind Momente des Glücks, mit einem anderen Blick nun den Wandel von Licht und Dunkelheit über der sich unentwegt um sich und um die Sonne drehenden Erde zu erleben, mit einer anderen Kenntnis die Energie der Sonnenstrahlen aufzunehmen, nachts die Milchstrasse zu suchen wie einen Schlafteppich und das stete, leise Rauschen in mir zu verstehen wie die Bestätigung einer feinen, auditiv vermittelten Verwandtschaft mit dem Kosmos. Irgendwie gehen Kindheitsträume in Erfüllung.
Mitte September 2014 / Literaturliste in der Beilage
1 Rose Ausländer. Hinter allen Worten. Mittelpunkt!. Gedichte. 1992 / 2005, Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag. S. 156
2 Publius Ovidius Naso (48 v. u. Z. – 17)
3 in der griechischen Mythologie einer der Titanen, Sohn der Gaia und des Uranos. Später wurde einer der
Monde des Planeten Saturn, der drittgrösste, Iapetus benannt.
4 Publius Ovidius Naso. Metamorphosen. Lateinisch/ Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Michael von
Albrecht. 1994 / 2010 Stuttgart, Verlag Philipp Reclamjun. GmbH. S. 7-13
5 Ovid. Metamorphosen. 1994 / 2010 Stuttgart, Verlag Philipp Reclam jun. S. 15 – 17.
6 Kurt Schubert. Jesus a la lumiere du judaisme du premier siecle. Traduit de l’allemand par A. Liefooghe. 1974 Paris, Les Editions du Cerf.
7 Dante Alighieri. Die göttliche Komödie. Übersetzt von Hermann Gmelin. Anmerkungen von RudolfBaehr. Nachwort von Manfred Hardt. 1951 / 2001 Stuttgart, Verlag Philipp Reclamjun. GmbH
8 Dante. Die göttliche Komödie. Inferno I Die Hölle. Erster Gesang, S. 7
9 Dante. Die göttliche Komödie. Das Paradies. Siebter Gesang, S. 294-295
10 Giordano Bruno. Della causa, principio ed uno / Von der Ursache, dem Prinzip und dem Einen. Mit einer Einleitung von Prof. Dr. Georg Mende. 1955 Leipzig, Verlag Philipp Reclam jun.
11 Nuccio Ordine. Le seuil de l’ombre. titterature, philosophie et peinture chez Giordano Bruno. 2003 Paris, Edition Les Belles Lettres.
12 Giordano Bruno. 1955 Leipzig, Verlag Philipp Reclam jun., S. 123.
13 Giordano Bruno. 1955 Leipzig, Verlag Philipp Reclam jun., S. 135-136
14 Giordano Bruno, 1955 Leipzig. S. 137
15 Es handelt sich um Bemard Wapowski (1450 – 1535), einem damals bedeutenden Kartographen, der zusätzlich auch die Karte von Skandinavien erstellt hat.
16 Friedrich Hölderlin. Das Nächste Beste. Gedichte. 2003. Stuttgart, Philipp Reclamjun., S. 107
17 Michael Weichenhan. ,,Ergo perit coelum “. Die Supernova des Jahres 1572 und die Überwindung der aristotelischen Kosmologie. 2004 Stuttgart, Franz Steiner Verlag
18 Richard Panek. Das Auge Gottes. Das Teleskop und die lange Entdeckung der Unendlichkeit. 2001 Stuttgart, Verlag Klett-Cotta . Aus dem Amerikanischen übersetzt von Dieter Zimmer. S. 53 (Richard Panek. Seeing and Believing. How the Telescop opened our Eyes and Minds to the Heavens. 1998 Penguin Books)
19 Franz Grillparzer (1791 – 1872). Ein Bruderzwist in Habsburg. Ein Trauerspiel. Zwischen 1825 und 1848 entstanden, 1872 Uraufführung in Wien.
20 Die Verbindungen zwischen den weltgeschichtlichen und wissenschaftlich-astronomischen Entwicklungen zur Zeit der Renaissance finden sich sorgfältig erarbeitet bei Thomas de Padova. Das Weltgeheimnis. Kepler, Galilei und die Vermessung des Himmels. 2010 München, Piper Verlag
21 Berthold Sutter. Der Hexenprozess gegen Katharina Kepler. Herausgegeben von der Kepler-Gesellschaft, Weil der Stadt. 1979 E. Scharpf, Weil der Stadt
22 Johannes Kepler. Der Traum, oder: Mond Astronomie. Somnium sive astronomia lunaris. Mit einem Leitfaden für Mondreisende von Beatrix Langner. 2011 Berlin, Verlag Matthes & Seitz
23 Der Lagrange-Punkt ist ein Gleichgewichtspunkt resp. eine Nullstelle für einen Körper mit kleiner Masse in einem rotierenden Bezugssystem von drei Körpern auf der Verbindungslinie der zwei schweren Körper, die der kleine Körper kreuzt.
24 Thomas de Padova. Das Weltgeheimnis. 2010 München, Piper Verlag. S. 49
25 Thomas de Padova. Das Weltgeheimnis. 2010 München, Piper Verlag. S. 291
26 Thomas de Padova. Das Weltgeheimnis. 2010 München, Piper Verlag. S. 292
27 Thomas de Padova. Das Weltgeheimnis. 2010 München, Piper Verlag. S. 298 – 301
28 Golo Mann. Wallenstein. Sein Leben. 1971 Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag. – Peter Milger. Der Dreissigjährige Krieg. Gegen Land und Leute. 2001 München, Orbis Verlag.
29 Die von Vincenzo Viviani verfasste Biographie findet sich bei: Klaus Fischer. Galileo Galilei. 1983 München, C.H. Beck’sche Buchhandlung. S.15 – 33. Das Original ist: Vincenzo Viviani, nach einer alten deutschen Übersetzung (1723 / 26), in: Galileo Galilei. Opere, Bd. XX, 597 – 633, zitiert bei Ernst Brüche (Hrsg.). Sonne/ steh still. 400 Jahre Galileo Galilei, 1964 Mosbach, Physik Verlag, S. 12.
30 Kurz vor seinem Tod hatte Galilei die Umsetzung des Pendelgesetzes, das 90 Jahre später durch Christiaan Huygens bestätigt wurde, für eine Pendeluhr entworfen, die dann durch seinen Sohn Vincenzio Galilei gebaut wurde.
31 Vincent llardi. Renaissance Vision from Spectacles to Telescopes. 2007 Philadelphia, American Philosophical Society. S. 211-212
32 Arthur Koestler. Die Nachwandler. Das Bild des Universums im Wandelt der Zeit. 1959, Bern/Stuttgart/Wien, Scherz Verlag. S. 372 – Zu Thomas Harriot (1560 -1621) findet sich ein Hinweis bei Thomas de Padova. Das Weltgeheimnis. 2010 München, Piper Verlag. S. 22
33 Klaus Fischer. Galileo Galilei. 1983 München, Verlag V. H. Beck. S. 101
34 Galileo Galilei. Sidereus Nuntius. Nachricht von neuen Sternen. Hrsg. und eingeleitet von Hans Blumenberg. 2002 Frankfurt am Main, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 337
35 Klaus Fischer. Galileo Galilei. 1983 München, C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung. S. 22
36 Klaus Fischer. Galileo Galilei. 1983 München, C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung. S. 119
37 Klaus Fischer. Galileo Galilei. 1983 München, C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung. 5. 124
38 Klaus Fischer. Galileo Galilei. 1983 München, C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung. S. 136
39 Giorgio de Santillana. The Crime of Galileo. 1955 Chicago, Chicago University Press. S. 217
40 Pierre Gassendi konnte zum Beispiel am 7. November 1631 den von Kepler vorausberechneten Durchgang des Planeten Merkur vor der Sonne beobachten, einen kleinen schwarzen Punkt, der sich von Ost nach West bewegte.
41 Klaus Fischer. Galileo Galilei. 1983 München, C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, S. 154 – 155
42 Klaus Fischer. Galileo Galilei, 1983 München, C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, S. 156
43 Klaus Fischer. Galileo Galilei. 1983 München, C. H. Beck’sche Verlagsanstalt. S. 169 – 170
44 Klaus Fischer. Galileo Galilei. 1983 München
45 Richard Panek. Das Auge Gottes. Das Teleskop und die lange Entdeckung der Unendlichkeit. 2001 Stuttgart, J. G. Cotta’sche Buchhandlung. S. 75
46 Mit Rene Descartes befasste ich mich näher in Erbschaften ohne Testament. 2014, Zürich, edition 8. S. 15 – 30
47 ebenso mit Baruch de Spinoza in der gleichen Publikation S. 30 – 44
48 Die meisten Informationen zu Biographie und Werk beruhen auf Johannes Wickert. Isaac Newton. 2001 Reinbek bei Hamburg, rororo Verlag, ferner auf Richard Panek. Das Auge Gottes. Das Teleskop und die lange Entdeckung der Unendlichkeit. 2001 Stuttgart, Verlag Klett Cotta.
49 A Letter of Mr. Isaac Newton, Professor of the Mathematicks in the University of Cambridqe; Containing His New Theory about Light and Calors: Sent by the Author to the Publisher from Cambridge, Febr. 6. 1671/72; In Order tobe Communicated to the R. Society. In: Philosophical Transactions. Band 6, Nummer 80, 19. Februar 1672, S.3075-3087
50 Richard Panek. Das Auge Gottes. 2001 Stuttgart, Verlag Klett-Cotta. S. 102
51 Richard Panek. Das Auge Gottes. 2001Stuttgart, Verlag Klett und Cotta.. S. 103
52 Richard Panek. Das Auge Gottes. 2001 Stuttgart, Verlag Klett und Cotta. S. 105
53 Richard Panek. Das Auge Gottes. 2001 Stuttgart, Verlag Klett und Cotta. S. 105
54 Richard Panek. Das Auge Gottes. 2001 Stuttgart, Verlag Klett und Cotta. S. 105 – 106
55 Richard Panek. Das Auge Gottes. 2001 Stuttgart, Verlag Klett und Cotta. S. 113
56 Richard Panek. Das Auge Gottes. 2001 Stuttgart, Verlag Klett und Cotta. S. 113
57 Richard Panek. Das Auge Gottes. 2001 Stuttgart, Verlag Klett und Cotta. S. 115
58 Richard Panek. Das Auge Gottes. 200 l · Stuttgart, Verlag Klett und Cotta. S. 119
59 Richard Ranek. Das Auge Gottes. 2001 Stuttgart Verlag Klett und Cotta. S. 139
60 ein Begriff für ein mathematisches Objekt aus der linearen Algebra und der Differentialgeometrie, der ursprünglich vor allem in der Physik gebraucht wurde
61 Thomas de Padova. Kepler, Galilei und die Vermessung des Himmels. 2010 München, Piper Verlag. S. 251
62 in Popular Astronomy und in Proceedings of the Institute of Radio Engineers
63 Das Konzentrationslager Mittelbau-Dora war ab dem 28 August 1943 ein Aussenlager des KZ Buchenwald, dann ab Januar 1944 bis 11. April 1945 ein separates SS-Konzentrationslager mit zusätzlichen Aussenlagern am Südhang des Kohnsteins (nahe von Nordhausen in Thüringen). In den 18 Monaten des Bestehens dieses Lagers wurden 60’000 Häftlinge aus 21 Ländern sowohl für den Bau von zwei 1,8 km langen Stollen mit Eisenbahnschienen und 46 Nebenstollen benutzt wie für die Herstellung der Rakete V2 {Vergeltungswaffe 2) und der Flugbombe Vl. Für die Herstellung der Raketen und Bomber in den Stollen waren die staatliche Mittelwerk GmbH zuständig, ferner die zwei Rüstungsfirmen Heinkel und Junkers. – Von den 60’000 Häftlingen starben 20’000 während der Haft, Abertausende während der Todesmärsche in die KZ von Bergen-Belsen, Sachsenhausen oder in die Lübecker Bucht ins alte Flaggschiff Arcona, wo 4’600 Häftlinge durch den allierten Bombenangriff getötet wurden. Zusätzlich wurden 1’016 Häftlinge in der lsenschnibber Felscheune nahe der Hansestadt Gardelegen lebendig verbrannt. Als die US-Armee das Lager „befreite”, fanden sich dort nur noch Sterbende und Tote. Lagerkommandant war Otto Förscher, der nach der Evakuierung des KZ Auschwitz am 21. Januar 1945 durch die Rote Armee von Richard Baer, dem Lagerkommandanten von Ausschwitz abgelöst wurde. Von den überlebenden möchte ich diejenigen erwähnen, die ich kenne: Jean Améry, Stephane Hessel und Heinz Galinski.
64 Richard Panek. Das Auge Gottes. 2001 Stuttgart, Verlag Klett und Cotta. S. 170
65 Richard Panek. Das Auge Gottes. 2001 Stuttgart, Verlag Klett und Cotta. S. 170