“Macht kann zwischen gut und böse alles sein, es liegt am Menschen, sie als heilbringende Kraft einzusetzen” – Überlegungen zu Macht und Moral: Kritik am Artikel von Vittorio Hösle

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“Macht kann zwischen gut und böse alles sein, es liegt am Menschen, sie als

heilbringende Kraft einzusetzen”

Überlegungen zu Macht und Moral: Kritik am Artikel von Vittorio Hösle

 

Der Aufbau von Vittorio Hösles Aufsatz über “Macht und Moral” macht es nicht einfach, in den Diskurs einzusteigen.. Ich werde meine Kritik, die umfangmässig etwa die Hälfte von V. Hösles Aufsatz einnehmen darf, auf einige wenige Aspekte begrenzen, die mir besonders wichtig erscheinen. Diese betreffen ((I)) die Notwendigkeit der Unterscheidung von Gesellschaft und Politik sowie der daraus sich ergebenden Relationen zwischen Individuen. Gesellschaft und Staat; ((II)) ein – wie mir scheint – gründlicher zu reflektierender moralischer Universalimus und ((III)) die Notwendigkeit der Unterscheidung von Macht, Gewalt und Herrschaft und deren moralischer Begründung.

((I)) Vittorio Hösle situiert in ((1)) die Reflexion über Macht und Moral einerseits in die Individualethik, andererseits in den Bereich der Politischen Philosophie, die er als “ambivalent” bezeichnet. “Ambivalenz” ist ein Begriff aus der Psychologie, der Unschlüssigkeit und Unklarheit in der Wertung von Gefühlen bedeutet und der hier Verwirrung schafft. Gegenstand der Politischen Philosophie ist die vielfache komplexe Interdependenz von Macht und Moral, wie sie sich einerseits im Politischen, andererseits im Gesellschaftlichen zeigt. Die beiden Bereiche mit ihren vielfältigen Subbereichen sind in der Theorie wie in der Praxis nicht zu verwechseln.

Das Politische versteht sich als die staatliche, über Verfassung und Gesetze rechtlich geregelte Organisation des Zusammenlebens einer Vielzahl von Menschen, die einerseits Rechtssubjekte (Staatsbürger und -bürgerinnen) sind, andererseits als Rechtsobjekte (Fremde, Asylsuchende, Immigranten) gelten. Die – noch zu problematisierende – Unterscheidung erfolgt durch den Staat, der selbst Rechtssubjekt ist. Der Zweck der staatlichen Organisation ist – zumindest – doppelt: Er besteht einerseits im Herstellen und Schützen von Freiheit – Freiheit sowohl des Ganzen (Staat, Nation, Staatenbund, ev. neuer überstaaatlicher Organisationsformen) wie der einzelnen Individuen im Staat (wiederum mit Einschränkung bezüglich jener Menschen, die im Staat als Fremde gelten), andererseits in der rechtlichen Sicherung der materiellen und kulturellen Organisation des Zusammenlebens, der körperlichen und geistigen Subsistenz und Entwicklung der einzelnen Menschen wie der Gruppen, in denen sie sich organisieren, sodann in der rechtlichen Sicherung der Subsistenz der Gesamtorganisation. Die zwei übergeordneten Zwecke sind schwer miteinander vereinbar; sie entsprechen der Unterscheidung zwischen oikos und polis, wie auch Hannah Arendt sie macht[i]. Die Spannung, die aus den antagonistischen Zwecken entsteht, ist Ursache und ständiger Motor der politischen Dynamik, wie sie sich in der Veränderung der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit, im Wechsel der Systeme und in der Entwicklung neuer Theorien zeigt. Simone Weil dagegen bezeichnete als Hauptzweck der politischen und sozialen Organisation die Verhinderung von Unterdrückung[ii]. Doch auch in dieser Zweckbestimmung bleiben Spannung und Dynamik bestehen; diese haben auf zentrale Weise mit der Definition von Macht, mit der Begründung deren Legitimität sowie mit deren Verteilung und Ausübung zu tun.

Unter “Politische Philosophie” subsumiere ich daher einerseits die Politische Theorie (Staatstheorien, Machttheorien, Freiheits- und Partizipationstheorien für Staatsbürgerlnnen und Fremde, Friedens- und Kriegstheorien etc.und deren Auslegung), sodann die kritische Einmischung in die je aktuelle, konkrete Politik sowie Entwürfe neuer, staatenübergreifender Formen politischer Organisation; andererseits die Gesellschaftstheorie (inklusive Kulturtheorie), welche die komplexe Vielschichtigkeit der zwischenmenschlichen Verhältnisse sowie der Bedingungen ihrer Veränderung zum Gegenstand hat, etwa der Geschlechter- und Produktionsverhältnisse, der Verteilungs- und Partizipationsverhältnisse (Armut und Reichtum, Arbeitgeber- / Arbeitnehmerlnnenverhältnisse, Gerechtigkeitsstrukturen), der Standes- und Bildungsbedingungen, der Familienstrukturen, der Gesundheits-, Fürsorge- und Altersvorsorgebedingungen., des Einflusses der Religionen oder der öffentlichen Meinung, der Massenmedien auf dieses Verhältnisse, der symbolischen Gestaltwerdung und Deutung von Welthaftigkeit in Sprache und Kunst.

Beide Theoriebereiche können nur dann dem Anspruch, Philosophie zu sein, genügen. wenn sie sich von ihrem Ursprung und der Zweckbestimmung ihres Gegenstandes nicht entfernen, d.h. wenn sie den Erfahrungsrekurs wahren. Der Ursprung der politischen Philosophie ist die Grundbedürftigkeit das daraus erwachsende Leiden der gedemütigten, geknechteten, hungrigen Menschheit, ist die Erlösungssehnsucht[iii], die in ihrer profanen Ausformung die Sehnsucht nach einer staatlichen und gesellschaftlichen Organisation ist, welche Freiheit und Subsistenz angstfrei garantieren[iv]. Rosa Luxemburg hielt in ihrer Schrift über die Russische Revolution fest[v], dass allein Erfahrung imstande ist zu korrigieren und neue Wege zu öffnen. Wir wissen seit Kant., dass Theorien – auch linke, herrschaftskritische -, die den konkreten Rückbezug auf die Menschheitserfahrung vermissen lassen, zu Dogmen gerinnen.

Wie wichtig die Unterscheidung von Politischem und Sozialem ist, zeigt sich gerade hinsichtlich der moralischen Rechtfertigung von Macht, wenn in der konkreten Wirklichkeit Handlungsbegründung und Folgen auseinanderklaffen. Als Beispiel erwähne ich etwa die Entscheidpraxis der neo-liberalen Regierung von Margareth Thatcher, die mit der politischen Begründung von mehr Freiheit die sozialen Netze, die Bildungs-, Fürsorge- und Vorsorgestrukturen, letztlich die Subsistenzgarantie des Staates für die in ihm lebenden Menschen abbaute und dadurch die Verarmung, ja Verelendung grosser Bevölkerungsanteile bewirkte, die wiederum zu zunehmender Verwahrlosung, Delinquenz und Gewalt vor allem unter der betroffenen Jugend führte. Ein Staat aber, der für seine Jugend Gefängnisse statt Schulen und Arbeitsplätze baut, entscheidet gegen seine zugleich politisch und sozial definierte Zweckbstimmung. Indem er die soziale Basis schwächt, schwächt er zugleich die politische, ist doch die Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Staates (wobei ich unter “Staat” den demokratischen Rechtsstaat verstehe) abhängig vom politischen Partizipationspotential der Menschen, die in ihm leben, das wiederum von ihrer Selbstwahrnehmung als Rechtssubjekte, als Menschen, deren Würde durch das Rechtssubjekt Staat als etwas Unverfügbares respektiert wird, abhängt. Die Übereinstimmung von politischer Partizipation und von gesicherter sozialer und kultureller Wirklichkeit lässt entstehen, was als “Zivilgesellschaft” eine vorweg sich erneuernde Garantie des demokratischen Staates bedeuten kann. Unterlässt ein Staat den Aufbau einer Zivilgesellschaft, wie dies etwa im Bereich der ehemaligen staatssozialistischen Staatsbürokratien der Fall war, so ist die Bevölkerung nicht oder schlecht vorbereitet, politische Partizipation zum Zweck der Sicherung von Freiheit auszuüben. Gegen den Machtmissbrauch derjenigen, die Macht ausüben, haben sie keine Korrektivinstrumente entwickelt, auch wenn in formaler Hinsicht eventuell demokratische Strukturen geschaffen wurden. Soll eine Demokratie freiheits- und damit friedenssichernd sein, bedarf sie des demokratischen Trainings. Als eine der Ursachen für den mörderischen, nun schon Jahre dauernden Krieg im ehemaligen Jugoslawien bezeichnet Gvozden Flego den Mangel einer politisch wachen, urteilsfähigen und damit verführungsresistenten Zivilgesellschaft[vi]. Allerdings kann auch die massive Vernachlässigung der materiellen und kulturellen Subsistenzbedürfnisse der Menschen in einer bestehenden und “trainierten” Demokratie diese auf bedrohliche Weise gefährden. Massenarbeitslosigkeit und Verelendung lösen jede Zivilgesellschaft auf, sie sind Nährboden für Machtmissbrauch, für Gewalt, für Totalitarismus und Krieg, wie dies etwa in Deutschland in den dreissiger Jahren der Fall war. Dass Hitlers Machtübernahme und die darauf folgende Gewaltherrschaft durch eine allmähliche Praxis der Abstumpfung und der Aufhetzung zustandekam, die politisch zweckgerichtete, trügerische Ersatzbefriedigung für die ungestillten Bedürfnisse von Millionen von Menschen nach Freiheit und geistigen Inhalten bedeutete, bedarf keiner zusätzlichen Erläuterung.. Trotzdem scheint es mir dringend, angesichts einer zunehmenden Schwächung der Zivilgesellschaft und damit einer wachsenden populistischen Folgebereitschaft grosser Teile der Bevölkerung in den meisten europäischen Staaten, der italienischen etwa, der französischen, aber auch der schweizerischen, auf diese Tatsache  hinzuweisen[vii]. So etwa erkläre ich, dass es in der Schweiz zum Volksentscheid vom 4. Dezember 1994 über die Einführung von Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht kommen konnte. Die Regierung und die Befürworter des Gesetzes gaben vor, dieses sei mit einem hohen politischen Zweck, nämlich mit der Wahrung einer humanitären Asyltradition zu rechtfertigen. Dass hinter dieser Rechtfertigung massive Überfremdungsängste und rassistische Clichés stehen, wurde von der offiziellen Propaganda zwar bestritten, war aber unmissverständlich deutlich und hat auch bewirkt, dass nun ein Gesetz vorliegt, mit welchem offiziellerweise Unrechthandeln von Vollzugsbeamten legitimiert wird, so etwa die Verhaftung von Ausländerlnnen auf blossen Verdacht hin, die Verunmöglichung der Asylgesuchstellung bei sogenannt “illegalem” Grenzübertritt und vieles mehr.

Da die Realität menschlichen Zusammenlebens ausser durch die machtbestimmte Interdependenz von Politischem und Gesellschaftlichem auch durch die nicht weniger machtbestimmte Interdependenz zwischen einzelnen Individuen bestimmt ist, müssen für die vorliegende Untersuchung auch die unterschiedlichen individualethischen Theorien herangezogen werden. Auch im Bereich der Individualethik geht es um schwer vereinbare Modelle der Maximierung von Freiheit und Selbstnutzen oder von Freiheit und Nächstennutzen, Fremdnutzen und Gemeinnutzen. Mit Vittorio Hösle bin ich einig, dass das zum moralisch begründbaren Handlungsentscheid befähigende Instrument, gestützt auf Kant, das mündige Urteilsvermögen ist, das sich unter Abwägen von Erfahrung einerseits und von bestimmten normativen Vorgaben (Sollensvorschriften, Geboten oder Verboten) andererseits entwickelt und vorweg bestätigt. Gestützt auf Freud liesse sich sagen, dass es die (aus dem Unbewussten und Vorbewussten) auf die Stufe des Bewusstseins gelangte Kenntnis der Antriebs- und Abwehrkräfte ist, des Abwägens zwischen (hemmendem) Über-Ich und eigenen Wünschen sowie zwischen Ängsten, Enttäuschungen und positiven Phantasien, die den mündigen Menschen zum Entscheiden befähigt. Ob für die Erklärung der Befähigung zum moralischen Handeln philosophische oder psychoanalytische Kriterien herangezogen werden, immer geht es um Kriterien, welche Mündigkeit voraussetzen. Mündigkeit jedoch ist mehr als ein Rechtstitel, der die persönliche Verantwortlichkeit für das Handeln und für die Handlungsfolgen sowie die Berechtigung für die Ausübung bestimmter Rechte erklärt (auch diesbezüglich wieder in unterschiedlicher Weise für StaatsbürgerInnen und AusländerInnen). Mündigkeit ist zugleich ein in starkem Mass von Sozialisationsbedingungen, epistemologischen Fähigkeiten, Persönlichkeitsstrukturen und mehr Bedingungen abhängiger, eventuell unabschliessbarer  geistiger Prozess, der sich in der Art und Weise, respektive in der moralischen Qualität des Urteilens und Handelns vorweg erweist.

((II)) Wenn Vittorio Hösle also in ((2)) schreibt, “menschliches Handeln und Unterlassen müsse moralisch bewertet werden”, so ist klar, dass damit noch keineswegs die moralische Qualität des Handelns feststeht. Noch viel weniger steht fest, nach welchen Normen die moralische Bewertung sich ausrichtet und wie diese Normen begründet sind. Ich vertrete die Meinung, dass Ethiken als oberste Wert- und Normengehäuse Resultat zeit- und kulturbestimmter Prozesse sind, Resultat erfahrungsbestimmter Sozialisationsprozesse. Es ist denkbar, dass selbst die in der Thora festgehaltenen obersten Normen aus der – zeitspezifischen – Notwendigkeit heraus formuliert wurde, das in der Wüste von Auflösung  bedrohte jüdische Volk zu disziplinieren und damit in eine politische und gesellschaftliche Ordnung zu lenken. Jede Ethik wurde und wird in Hinblick auf genau definierte, zumeist politische Zwecke formuliert, nicht nur in ältester, sondern auch in jüngster Vergangenheit. Wer sie zu formulieren vermag, übt unbestrittenerweise Macht aus. Da die ethischen Normen oberste Handlungsanweisungen sind, gilt Handeln, das sich nach diesen Normen ausrichtet, als tugendhaft. Doch für die Begründung der Richtigkeit der Normen gibt es weder einen gesicherten Rekurs auf einen irrtumsfreien “Comrnon-sense”, der – quasi selbstverständlicherweise – das Gemeinwohl im Blick hätte, noch kann die Berufung auf die Vernunft oder den Diskurs die letzthinnige Richtigkeit garantieren. So hege ich Skepsis sowohl bezüglich der Richtigkeit von  Hermann Lübbes Theorie wie gegenüber dem Vernunftoptimismus von Karl-Otto Apels transzendentaler und universaler Sprachpragmatik[viii], auch wenn gerade diese Theorie einer – auch in mir wachen – philosophischen Sehnsucht entspricht. Vernunft und Diskurs sind jedoch die einzig universal valablen und daher notwendigen Voraussetzungen und Instrumente für die Korrigierbarkeit von Entscheiden der Machtausübenden, sie ermöglichen Einsicht in eine falsche Praxis und Realisierung einer besseren Praxis. Was feststeht ist, dass Gesetze und deren Befolgung keine Garantie für richtiges Handeln sind, dient doch die Erklärung der Richtigkeit von Normen etwa durch deren Verankerung in Gesetzen häufig allein den partikulären Zwecken der Machtausübenden. So etwa wurde gemäss der nationalsozialistischen Ethik “Rassereinheit” als ein oberster Wert und diesem entsprechend die Ermordung der Juden und der Zigeuner als ein Sollen deklariert. Diejenigen, die in gesetzesblinder ethischer Pflichterfüllung Beihilfe leisteten oder sich an den Quälereien, Erschiessungen und Vergasungen beteiligten, fühlten sich – zumindest in vielen Fällen – im Recht und damit moralisch entlastet, da ihre persönlichen Handlungsnormen – ihre Moral – mit jenen einer als übergeordnet deklarierten Ethik übereinstimmten. Hannah Arendts Bericht über den Eichmann-Prozess von 1961[ix] ist ein erschütterndes Beispiel für das, was sie die “Banalität des Bösen” genannt hat: die Rechtfertigung verbrecherischen Handelns durch eine verbrecherische Ethik und die Abstumpfung und Entmündigung des Urteilsvermögens (resp. des Gewissens) durch eine Moral des Gehorsams und der blinden Autoritätsunterwerfung. Dass sich heute, wiederum mitten in Europa, mit der Rechtfertigung “ethnischer Säuberung” die gleiche verbrecherische Praxis wiederholt, wenngleich auf weniger systematische Weise, ist schlichtweg unannehmbar, und ebenso unannehmbar die implizite Komplizität der übrigen machtausübenden Zeitgenossenschaft – auch dies eine Parallele zu den dreissiger und vierziger Jahren. Es ist offensichtlich, dass auch für das richtige Handelns des Individuums die Moral als Begründungs- und Rechtfertigungsinstrument irrtums- und täuschungsanfällig ist. Die Tatsache jedoch, dass gegen eine für richtig deklarierte verbrecherische Ethik Widerstand erfolgt, bestätigt auch, dass das Individuum mit dem – wachen, mündigen – Urteilsvermögen – über ein Instrument verfügt, das befähigt, die machtfunktionale Rechtfertigung von Unrechthandeln als Täuschung zu erkennen und nicht zu befolgen, resp. die eigene, auf kein Gesetz und keine Autorität delegierbare moralische Handlungsverantwortung wahrzunehmen. Die gesinnungsethische Rechtfertigung von Handeln genügt nicht; es bedarf eines starken verantwortungsethischen Rekurses. Das Handeln selbst zeigt sich, erweist sich in den Folgen, die es bewirkt, als gut oder schlecht, als richtig oder falsch, je nachdem, ob es die Grundnorm der reziproken Subjekthaftigkeit respektiert oder verletzt.

Ich möchte daher als Beitrag zur Normenbegründungsdiskussion die reziproke Subjekthaftigkeit mit der daraus abgeleiteten Komplementarität von Grundbedürfnissen und Grundverpflichtungen als dialogische Universalpragmatik vorschlagen. Im Ansatz findet sie sich bei Simone Weil in “L’Enracinement” von 1943. Sie geht darin vom Grundsatz aus “La notion d’obligation prime celle de droit qui lui est subordonnée et relative”[x]. Rechte haben gemäss Simone Weil zwar eine faktisch eminente Bedeutung, jedoch ist dies Bedeutung konditional. Das heisst, Rechte können erst wirksam werden, wenn sie anerkannt werden, nur in Funktion der zugrundeliegenden Verbindlichkeit, aus der sich konkrete Pflichten ergeben. Der einzelne Mensch ist immer zugleich Subjekt und Zweck dieser Grundverbindlichkeit, unabhängig davon, ob er diese anerkenne oder nicht[xi]. Unverkennbar ist der Rekurs auf das Kant’sche Axiom in der “Metaphysik der Sitten” (AB 43,44 bis AB 48). Auch Simone Weil leitet die Verbindlichkeit aus der Tatsache des subjekthaften Menschseins ab, das immer zugleich Mitmenschsein ist, eine Verbindlichkeit, die unaufhebbar ist und unabhängig von Gesetzgebungen gilt. Die konkreten Pflichten, die aus ihr folgen, sind doppelt begründet: Einerseits durch die Tatsache der je gleichen “destinée éternelle” der Menschen, der je gleichen Bezogenheit auf Transzendenz, andererseits durch die je gleiche Grundbedürftigkeit. Damit ist mehr gemeint und existentiell Umfassenderes als das, was Hannah Arendt in “Vita activa” als die “identisch bleibenden Bedürfnisse und Notdürfte” bezeichnet. In dem, was Simone Weil als Bedürftigkeit versteht, ist die ganze “condition d’existence” und damit die ethische Begründung des geforderten zwischenmenschlichen Handelns auf der Basis der Subjektanerkennung  eingeschlossen,, sowohl die wechselseitige, gegenseitige Erfüllung der physischen wie der geistigen Bedürfnisse, die Stillung des körperlichen wie des geistigen Hungers. In der Bedürftigkeit drückt sich eine Haltung der Erwartung aus. Deren Entsprechung, auf der aktiven Seite, ist der Respekt, der selbst wiederum in Freiheit gründet.

Es ist hier nicht der Platz für eine eingehende Darstellung dieser Theorie[xii], doch ich wage die Behauptung, dass die daraus abgeleitete Normativität für die individuelle wie für die politische Rechtfertigung von Handeln genügen kann und als pragmatisches Konfliktregelungsmodell sowohl für politische wie für soziale Verhältnisse, selbst für zwischenstaatliche und staatenübergreifende Friedensprojekte dienen könnte, inklusive in ökologischer Hinsicht bezüglich der besseren Regelung und Praxis des Verhältnisses zwischen Menschheit und Natur. Voraussetzung ist allerdings die Anerkennung der reziproken Subjekthaftigkeit sowie der reziproken Angewiesenheit auf deren Anerkennung.

((III)) Aus dem Prinzip der reziproken Subjekthaftigkeit ergibt sich auch die Notwendigkeit einer klaren Unterscheidung von Macht, Gewalt und Herrschaft. Vittorio Hösles Ausführungen in ((9)) ff sind daher zu ergänzen. Seiner Feststellung, dass Macht ein mehrstelliges soziales Prädikat sei, ist nichts entgegenzuhalten. Allerdings scheint mir der Verweis auf die Verwandtschaft mit dem Kraftbegriff höchstens im Rekurs auf den Hobbes’schen Begriff von Macht im Sinn von “potentia”, von Befähigung, etwas zu bewirken, angemessen. Als falsch erachte ich ein Begriffsverständnis, das, in einseitigem Verweis auf Max Weber, Macht mit Einschüchterung und der Fähigkeit, Zwang auszuüben, gleichsetzt. Die Ausübung von Zwang, die Unterwerfung von Menschen unter den Willen von machtausübenden Individuen oder Institutionen, verstehe ich als Gewalt, in Übereinstimmung mit Hannah Arendt Unterscheidung [xiii]. Ich kann daher der V.Hösles Meinung, dass sich “Gewaltanwendungen aus der Logik der Macht zwingend ergeben” nicht zustimmen. Gewaltanwendungen erachte ich als Abbruch der Logik der Macht; denn während die Logik der Macht eine Verstärkung der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit bewirkt, tendiert die Logik der Gewalt auf deren Zerstörung. Ebenso möchte ich der Definition von Herrschaft als “langfristig anerkannter, auf Grund ihrer Autorität als legitim empfundener Macht” widersprechen. Ich verstehe Herrschaft als – eventuell institutionelle – Fixierung von Machtmissbrauch. Als fragwürdig erachte ich auch V.Hösles dezisionistische, Carl Schmitt nahestehende Legitimation des “Machtmenschen”, wie sie von ((18) an, insbesondere in ((21)) entwickelt wird.

Statt mit Einzelbeanstandungen fortzufahren, ziehe ich es vor, meine weitgehende Nichtübereinstimmung mit Vittorio Hösles Ausführungen über Macht und Machtausübung deutlich zu machen. Dies folgt aus meinem in ((II)) erklärten theoretischen Ansatz, der in politischer Hinsicht dem Modell der direkten (und eingeschränktermassen der repräsentativen) Demokratie entspricht. Nun aber fehlt bei V. Hösle eine demokratietheoretische Ausleuchtung von Macht. Es fehlt daher die Erörterung zwangsfreier Legitimation von Machtausübung im Sinn der korrigierbaren, demokratischen Partizipation an Entscheiden, welche die Allgemeinheit betreffen, sowie an der Ausführung dieser Entscheide. Zwar räumt V. Hösle in ((22)) ein, von allen Mitteln der Einflussnahme sei “das Überzeugen die moralisch unbedenklichste Form”. Ich meine, dass sie einzig unbedenkliche ist, ist sie doch Ausdruck dessen, was meiner Ansicht nach Macht definiert: ein besonderes Können (im Sinn von “potentia”), das als Kompetenz zu verstehen ist und das zumeist mit einer – zustimmungsabhängigen, zeitlich befristeten – Funktion verbunden ist. Diese Kompetenz ist moralisch definiert; sie betrifft sowohl das Urteilen und Verantworten wie das Entscheiden und Handeln, d.h. sie rechtfertigt die Ausübung von Macht. Wem diese Kompetenz zugebilligt wird, ob im politischen Zusammenhang über demokratische Wahlverfahren, ob in zwischenmenschlichen und sozialen Verhältnissen eventuell ebenfalls über Wahl, in jedem Fall über  Anerkennung, verfügt zweifellos über Autorität. Wird der machtausübenden Person oder Institution die Zustimmung entzogen, ohne dass sie damit ihre Funktion aufgibt, pervertiert Macht in Gewalt. Gewalt bedeutet immer Machtmissbrauch und ist ein Indiz für Machtdefizienz. Sie impliziert die Verachtung der Subjekthaftigkeit anderer Menschen und die Verachtung der Reziprozität. Am krassesten ist dies zu exemplifizieren beim Missbrauch von Menschen in Kriegen, bei deren Instrumentalisierung zu Zwecken, die immer ausserhalb ihrer selbst sind, so dass jeder Krieg per definitionem verbrecherisch ist. Macht dagegen kann, gemäss der im Titel zitierten Aussage Carl J.Burckhardts, “zwischen gut und böse alles sein, es liegt am Menschen, sie als heilbringende Kraft einzusetzen”.  Zwar weist V. Hösle in ((22)) und ((23)) auf die Gefahren des Machtmissbrauchs hin, indem er die Forderung nach einem starken Staat erhebt, dessen “Gewaltmonopol” unbestritten sein müsse. Ich stimme mithin überein, betone jedoch nochmals, übrigens nicht zuletzt im Rekurs auf John Stuart Mill[xiv], dass der Staat, auch der demokratische Rechtsstaat, kein untrügliches moralisches Subjekt ist, sondern dass er nur stark ist, solange eine kritische, mündige Zivilgesellschaft seine Machtausübung kontrolliert, gerade hinsichtlich der Ausübung des “Gewaltmonopols”[xv], das sich tatsächlich nicht gegen die Subjektwürde der einzelnen Individuen im Staat richten darf. Gerade diesbezüglich bedarf es in allen demokratischen Rechtsstaaten, insbesondere was die Subjektwürde der Fremden, der Kinder, der sogenannten “Aussenseiter”, ja selbst der Kriminellen betrifft, bedeutender gesetzgeberischer  Korrekturen und einer nachhaltigen Korrektur der politischen und sozialen Praxis. Dass Gesetzgebungen sowie staatliche und persönliche Praxis so weit davon entfernt sind, diesbezüglich dem Prinzip reziproker Subjekthaftigkeit und Subjektwürde zu begnügen, hängt nicht zuletzt mit der eingefleischten und ungenügend reflektierten Auffassung zusammen, Machtsicherung hänge von definierten Feindbildern ab. Solange diese dichotomische Trennung in Rechtssubjekte und -objekte, in “Gute” und Böse” nicht nachhaltig korrigiert wird, bleibt die Interdependenz von Macht und Moral ungleichgewicht und unbefriedigend, und sowohl die staatlichen wie die gesellschaftlichen Kräfte werden in ihrer auf die Zukunft gerichteten Entscheidpraxis durch gewaltbestimmte Fixierungen gehemmt

[i] Hannah Arendt. Vita activa oder Vom tätigen Leben. München 1967

[ii] Simone Weil. L’Enracinement. Paris 1949

[iii] Walter Benjamin. Über den Begriff der Geschichte. Theologisch-politisches Fragment. Gesammelte Schriften. Frankfurt a.M. 1977

[iv] Baruch de Spinoza. Theologisch-Politischer Traktat. Hamburg 1976

[v] Rosa Luxemburg. Politische Schriften. Hg. Ossip K. Flechtheim. Frankfurt a.M. 1987

[vi] Gvozden Flego. Die gesellschaftlose Gemeinschaft. Zur politischen Transformation des real existierenden Sozialismus. In: Bosnien und Europa. Die Ethnisierung der Gesellschaft. Hg. Nenad Stefanov / Michael Werz. Frankfurt a.M. 1994

[vii] s. auch Helmut Dubiel. Ihre Zeit in Gedanken gefasst. Entwicklungsstufen kritischer Theorie. In: Mitteilungen des Instituts für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Heft 4. Frankfurt a.M. 1994.

[viii] Hermann Lübbe. Theorie und Entscheidung. Studien zum Primat der praktischen Vernunft. Freiburg 1971. – Politischer Moralismus. Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft. Berlin 1987.

Willi Oelmüller (Hg), Normenbegründung – Normendurchsetzung. Paderborn 1978. Transzendental-philosophische Normenbegründungen. Paderborn

 

Karl-Otto Apel (Hg). Sprachpragmatik und Philosophie. Frankfurt a.M. 1976

[ix] Hannah Arendt. Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München 1964

[x] Simone Weil. a.a.O.

[xi] “Il y a obligation envers tout être humain, du seul fait qu’il est un être humain, sans qu’aucune autre condition ait à intervenir, et quand même lui n’en reconnaîtrait aucune”. Simone Weil. a.a.O.

[xii] Ich verweise auf meine weiteren Arbeiten zu Simone Weils politischer Theorie in M.W.-V. Simone Weil. Eine Logik des Absurden. Bern / Stuttgart 1983. Ebenso in Willi Goetschel (Hg). Perspektiven der Dialogik. Zürcher Kolloquium zum 80. Geburtstag von Hermann Levin Goldschmidt. Wien 1994.

[xiii] Hannah  Arendt. Macht und Gewalt. München 1969. – Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie. München 1985. – Was ist Politik? Hg. aus dem Nachlass von Ursula Ludz. München 1993.

[xiv] John Stuart Mill. Über Freiheit. Frankfurt a.M. 1969

[xv] Interessanterweise wird der Begriff “Gewalt” in den Komposita wie “Gewaltentrennung”, “elterliche Gewalt”, “richterliche Gewalt” etc. in den romanischen Sprachen und im Angelsächsischen nicht verwendet, sondern der jeweilige Ausdruck für “Macht”. Die gesinnungsethische Rechtfertigung von Handeln genügt nicht; es bedarf eines starken verantwortungsethischen Rekurses.

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