Grenze. Grenzen

                                      Salongespräche ZUW Uni  Bern  –  Herbstsemester 2015

Grenze. Grenzen

 Vorspann

Wie werden die ersten Erfahrungen von Grenzen gemacht, von Trennungslinien  und Schranken? Sind es Erfahrungen des Anprallens, des Verlustes?  Wie verändern sie sich  im Lauf der persönlichen  Entwicklung? Wann bedeuten Grenzen Schutz und wann Ausschluss, wann Willkür und Verhängnis?  Sind sie unüberwindbar oder lassen sie sich erweitern  und öffnen? Und wenn von „Grenzgängern” und „Grenzgängerinnen” die Rede ist,  um wen handelt es sich? Um  Heimatlose oder um Menschen mit besonderen  Kräften? Und was bedeutet das Entgrenzte, das Grenzenlose? Die Macht des Unbewussten  und der Triebe, die Phantasie, das Nichts, die mystische Transzendenz, sind es Ideologien  und Herrschaftsansprüche, ist es die aktuelle Diktatur des Marktes oder die Allmacht der digitalisierten Technik und der Virtualität?

Grenze ist eine strikte Linie und ein Mass. Sie betrifft das menschliche Innenleben  und  die äusseren  Bedingungen des Zusammenlebens. Sie kann Absperrung oder  Sicherheit bedeuten.  Möglicherweise ist sie ein Scheideweg oder eine Schwelle, die sich überschreiten lässt, so dass sich neue Räume öffnen.  Immer verbindet sich mit „Grenze” ein Drinnen  und Draussen, ein Vorher und  Nachher, ein Dazugehören oder ein Ausgeschlossensein. Das Wort ist voller Doppelbedeutungen, die sich dem Menschen als Individuum wie als Teil eines Kollektivs als Erfahrung anbieten, sich  ihm entgegenstellen,  ihn schützen oder empören.  Die Grenzziehungen während und nach dem 1.  und dem  II. Weltkrieg, die Grenzen der Schweiz, die aktuellen Grenzen  Europas im  Mittelmeer und  die Grenzmauern  im  Nahen Osten, die Grenzen des Ertragbaren  – es sind Geschichten über Grenzen, die zum Staunen anregen oder die erschüttern.

  1. Vorlesung

Die Grenzen im  Innenleben des einzelnen Menschen

Im Vorspann wurde festgehalten, dass Grenzen immer ein Diesseits und ein Jenseits bewirken, ob sie fliessend seien, wie hier in  Europa die Dämmerung, der Übergang zwischen Tag und  Nacht, oder ob sie Abbruchkanten seien, eine Linie vor dem Abgrund.  Wir kennen  im Alltäglichen eine Vielzahl von Grenzen und Grenzerfahrungen, etwa Grenzen der Leistungsfähigkeit, die sich durch  Müdigkeit oder gar durch  Erschöpfung anzeigen, oder Grenzen  der Selbstachtung, des Duldens und  Leidens, psychische oder körperliche Schmerzgrenzen, deren  Überschreitung Kontrollverlust und Ohnmacht bewirken, oder Grenzen  der Toleranz, die möglicherweise im täglichen Alltag erlebt werden, wenn Fremde durch Rassismus oder andere Formen des Angriffs auf die menschliche Würde und  Integrität verletzt werden, sei es auf der Strasse oder in den Medien oder durch richterliche Entscheide, durch Gesetzesentwürfe oder polizeiliches Verhalten. Oder Grenzen der Erkenntnismöglichkeiten  und des Verstehens, wie wir sie durch das philosophische Vordringen in die Bereiche der Astrophysik erleben, auch Grenzen der Sprache, oft des Mitteilenkönnens dessen, was sich der Sprache entzieht, was jenseits der Worte, auch jenseits des unmittelbaren Ausdrucks ist.

Seit vielen Jahren  habe ich  mich mit dem Thema der Grenzen  und der Grenzerfahrungen befasst. Zum Teil werden daher in den Vorlesungen dieses Semesters Arbeiten wieder aufgenommen  und  neu  überarbeitet, die ich schon  publiziert habe oder an denen Sie mitgearbeitet haben, zum Teil sind es völlig neue Aspekte der thematischen Aufarbeitung, die Ihnen vorgelegt werden und die Sie zum  Denken  und  Diskutieren anregen.  Ich werde mich freuen, wenn es gelingt, erkenntnismässig Schritt für Schritt voran zu  kommen.

Zwei  Dichter, die wenig bekannt sind, erleichtern den Einstieg:

“Das Leben,  so  meint  er,  beginne  mit einem  Aufschrei,  einem Weinen,  und  ende mit  einem Seufzer. Zwischen diesen Grenzen, wie viele Tage, um ans Ende zu kommen”(1)

Der Übergang  aus dem  Dunkel ins Licht am Anfang des menschlichen Lebens und ebenso der Übergang vom Licht ins Dunkel am  Ende des Lebens sind für den Tessiner Schriftsteller und  Dichter Ugo Canonico entscheidende Grenzerfahrungen, die weder austauschbar noch wiederholbar sind.  Herkunft und Geburtsort waren für ihn, der als Emigrantenkind in Willisau zur Welt kam und  aufwuchs, durch Sprachgrenzen zwischen dem  privaten  und dem öffentlichen  Raum getrennt,  bis er als Lehrer in seine ursprüngliche Sprachheimat zurückkehrte, dort zu schreiben begann und  mit „La voce del Padre” sowie mit weiteren frühen Erinnerungen die Quellen seiner eigenen  Entwicklungswege darstellen  konnte.

,,An Grenzen, die uns selbst durchziehen, stossen wir”(2).

Zwischen  den existentiellen Grenzerfahrungen von Lebensanfang und  -ende sind die „vielen Tage” mit den verborgenen „Grenzen”, die Alfred Wolfenstein’s Innenleben „durchziehen”, als Barrieren gegen Sehnsüchte und  Hoffnungen, als Stolpersteine mit scharfen Kanten, unter denen jene der Angst – der Todesangst – die radikalsten sind. So hatte sich der Dichter aus dem ostdeutschen Sachsen-Anhalt, in  Halle geboren,  in  Dessau aufgewachsen, mit einem Jura-Studium  in Berlin,  Freiburg,  München  und Halle, im  Kreis anderer Schriftsteller und  Dichter für die Münchner Räterepublik engagiert,  mit diesen  durch seine expressionistische Klarheit und durch grosse Übersetzungswerke aus dem Französischen und  Englischen die Hoffnungen  und  Enttäuschungen der Weimarer Zeit geteilt, jedoch  ab 1930 wegen seiner jüdischen Wurzeln nur noch ein prekäres überleben gekannt,  1933  mit der Übersiedlung nach Prag und  1938 nach  Paris, wo er zwei Jahre später vom Einmarsch von Hitlers Wehrmacht und Gestapo überrascht wurde und sich fortan  bis zu seinem Tod 1945 ständig auf der Flucht befand, mit anderem  Namen versteckt lebte, ohne dass die Visa aus den USA rechtzeitig eintrafen, die ihm die erhoffte Ausreise aus dem  besetzten Frankreich ermöglicht hätten, schliesslich anlässlich eines Klinikaufenthalts, krank und erschöpft, beschloss, selber das Leben zu  beenden.  Die Flucht vor dem Tod war für ihn an die Grenze des Sinnhaften  und  Umsetzbaren gelangt, er stimmte ihm zu und gab ihm die Hand.

Sprachanalytische Annäherung

In  der deutschen Sprache ist die Bedeutung von „Grenze” beinah unbegrenzt vielschichtig. Während  im  Französischen wie in anderen Sprachen  mit stärkerem  lateinischem  Einfluss aus der römischen  Besatzungszeit klar zwischen  “Limite” und „fin”, ,,borne”, ,,terme”, ,,cadre” und “frontière” unterschieden wird, werden diese Worte im  Deutschen wohl auch verwendet, doch „Grenze” mit seiner slawischen  Herkunft hat in den unterschiedlichsten Zusammenhängen den häufigsten Gebrauch. Sprachgeschichtlich  nachweisbar ist, wie die Brüder Grimm in den Wörterbüchern der deutschen Sprache belegen”, dass sich „grenize” erstmals  im  14. Jahrhundert in Schriften der Deutschordensgemeinschaft findet, dass sich jedoch  erst im  16. Jahrhundert mit Luthers Bibelübersetzung der Gebrauch des Wortes allmählich  in vielen Bereichen durchsetzte. Vorher wurde eher das fränkische Wort „Mark” oder das oberdeutsche „ Anewand” – ,,wo der Pflug wendet” gebraucht.  Erklärungen für „Grenze” finden sich  in Synonyma: ,,Linie, die zwei Grundstücke, Staaten,  Länder oder Bereiche voneinander trennt”, oder „Schranke, Einschränkung, Beschränkung und Rahmen”, auch „Termin” und „Ende”.  In einer weiteren  Erklärung wird „Grenze” als „Punkt” bezeichnet, ,,an dem zwei verschiedene Sachen, Zustände voneinander zu  unterscheiden, zu trennen sind”, so wie tatsächlich in der Schriftsprache mit dem Punkt eine Abgrenzung zwischen dem einen  und dem nächsten Satz geschaffen wird.

„Grenze” hat somit in  erster Linie die Bedeutung örtlicher und sachlicher Trennung. Jede kleinste Sache, jedes Ding ist vom nächsten anderen getrennt, somit abgegrenzt, jedes Sandkorn vom Sandkorn, jedes Stäubchen vom Stäubchen  neben  ihm. Auch jede Zelle ist abgegrenzt,  ist eine Einheit an sich, die sich in einer bestimmten Ordnung zur nächsten befindet, auch jedes Atom ist eine Einheit an sich. Verbindungen kommen zustande, doch jede Verbindung geschieht aus unterschiedlichen Teilen, deren Abgrenzung von einander gemäss einer bestimmten Ordnung aufgehoben wird.

In ähnlicher Bedeutung findet sich das aus „grenize” abgeleitete Wort „Grenze” in mehreren slawischen Sprachen  und  in zahlreichen Verbindungen als Ortsbezeichnung (4),  am deutlichsten das polnische Wort „granica”(5). Etymologisch(6) wiederum leitet sich granica von grani, grana oder grand ab, das die Bedeutung von „Zweig”, ,,Ecke” oder „Kante” hat und aus den indo-europäischen Wurzeln ghre /ghro – ,,grünen” resp. ,,wachsen” stammt. Die Bedeutung von granica – grenize -Grenze steht somit mit „pflanzlich” und „spitz” oder „scharf” in Verbindung,  in diesem Sinn auch  im deutschen Wort „Grat”.  Kulturhistorisch erinnert das Wort an die von Wäldern überwachsenen Weiten  Europas, in welche von den ursprünglichen  Bewohnern Schneisen  und Querwege zur Abgrenzung von Eigentum  und Besitz gezogen wurden. Auch Bäume mit ungewöhnlichem Wuchs dienten zur Markierung von Grenzen, allmählich auch  Holzpfähle oder Grenzsteine, mit der Zeit – bis in die Gegenwart – Steinmauern, Grenzwälle und Wachtürme.  Ebenso wurden  Flüsse7  und deren Ufer (lat. ripa – .Ja rive”),  Hügel- und  Bergketten oder Felsblöcke zur Markierung von Landbesitz und Macht gebraucht. Auch als Ortsbezeichnung wurde das Wort verwendet(8). Das lateinische Wort limes (abgeleitet vom Adjektiv limus – “quer” auch vom Substantiv limen – “Türschwelle”) diente als Abgrenzung für alle Merkmale von Besitz,  Herrschaft und Macht, von Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit. Als definitiv abschliessende Grenze wurde finis – “Grenze”  im Sinn von ,,Abschluss” und “Ende” verwendet.  Und was im öffentlichen  Raum die Eingrenzungen von Herrschaft und  Macht bewirkte, wurde auch für den privaten  Besitz benutzt. So sind die Wände und Türe eines Zimmers ebenso Grenzlinien wie die Mauern oder Wände eines Hauses, deren  Ecken  und Kanten, oder jene eines Hages oder Zauns. Wo ein Raum von einem anderen abgegrenzt wird, wird er gleichzeitig eingegrenzt, ob mit Pappkarton, mit Blech,  mit Holz oder mit Mauern aus Stein, da bilden sich  Räume mit Ecken, die auch ausgrenzen.  Besitz, Zuteilung oder Zugehörigkeit besteht somit innerhalb von Grenzen und  ist nicht grenzenlos.

Und die zeitlichen Grenzen  und Grenzerfahrungen? Geburt und Tod wie alle Abläufe im menschlichen Werden, im Lernen und  Heranwachsen, im  Erreichen von Zielen,  im Genesen nach Erkrankungen oder nach Unfällen und anderem  Unglück, alle sind  mit Einschränkungen, somit mit Grenzen verknüpft, die mit komplexen Voraussetzungen, Bedingungen  und Begleitumständen einhergehen.  Je nachdem  lassen sich Grenzen erweitern  und öffnen, ja nachdem nicht.  Hier blieb auch in der deutschen Sprache mit “final” und “definitiv” sowie mit “Termin” das lateinische finis und terminus erhalten, terminus,  das ebenfalls die Bedeutung von “Grenz- oder Markstein”, von “Schranke”, von “Ende” und “Abschluss” wie von “Ziel” hat.

Im  kindlichen  Empfinden  besteht ausser im  Hell- und  Dunkelwerden von Tag und  Nacht keine zeitliche Eingrenzung, die Zeit ist ein unbegrenzter Raum.  Umso schwieriger ist es zu akzeptieren, dass fürs Getragenwerden  und fürs Spielen, für Trinken und  Essen, für alles, was von Mutter und Vater anhängig ist, zeitliche Einschränkungen  und dadurch Grenzen bestehen. Schon früh wird dem Kind das Ordnungssystem  beigebracht, das im menschlichen Zusammenleben  hier in Europa mit dem römischen  Imperium  und den damit verbundenen gesellschaftlichen  Klassen  begann und das sich  mit der Einführung des 11calendarium” zum Zweck des Eintreibens von Schulden durch Geldverleiher verfestigte, auch zur geregelten Einteilung des Jahres in Arbeitstage und  Ruhetage oder religiöse Festtage.  Termine jeder Art sind somit zeitliche Marksteine, die auf unterschiedliche Weise einschränken  und  belasten vermitteln.

Die psychoanalytische Annäherung

a)  Zeitliche Grenzerfahrungen

( … )  ,,Niemals  eine Atempause  wie in  Ur / Da  ein Kindervolk  an  den weissen Bändern  zog/ Mit dem  Mond Schlafball zu spielen – ( … )”(9)

Wir wollen  noch genauer auf das frühkindliche Empfinden eingehen, auf die Anfänge jeder Art von Grenzerfahrung. Tastend gehen wir einen weiten Weg zurück, bis in die Vorzeit der Erinnerung und der Sprache, in die Vorzeit des Wissens. Aus welchem  Urgefilde wächst die Besonderheit jedes menschlichen Lebens? Was bedeutet die pränatale Zeit?

Sie ist ein transgenerationelles Geflecht des individuellen Werdens, eine Gleichzeitigkeit der dem neuen  Leben übertragenen Ahnengeschichte und dessen Entwicklung innerhalb weniger Monate im verschlossenen  Raum des Mutterbauchs, in deren Wärme, im Summen der warmen  Blutkanäle,  in deren pulsierendem  Plätschern und Sausen, im Zeitrhythmus des pochenden  Herzens der Mutter, pausenlos geschaukelt vom Atem der Mutter, genährt mit der Wärme ihres Körpers, angeheizt manchmal schier bis zum Verbrennen von glühender Lust am  Rand des kleinen  Innenraums, in anderen  Fächern, oder fast erstickend, fast verhungernd, wenn mit Unwillen  und Schmerz getragen, oder eingeengt von Atemknappheit und Angst, sich selber überlassen, im Dunkel gefangen  unter der klemmenden  Not der Mutter, ihrer Ungewissheit vor der der bevorstehenden Zeit, doch so oder so im ständigen Wiegen der Mutter getragen, im  Gespräch  mit der Sprache ihrer Seele.  Dann, wenn zu  klein der mütterliche Innenraum wird, freigelassen, losgestossen aus Atem- und Blutsymbiose ins vielfach  hilfebedürftige, geheimnisvoll unbekannte, nicht wählbar gestaltete, besondere, eigene Ich-Leben in der eigenen  Haut, die nun abgrenzender und schützender, zugleich verletzbarer Halt wird, dieses feine persönliche Hauthaus, aus der Genesis geschaffen (sowohl im Sinn von „gennan” / erzeugen, hervorbringen  und ,,gignesthai” / entstehen, geboren werden), diese feine Umgrenzung des Ich nach Aussen, wie vor der Geburt unter der Mutterhaut, unverwechselbar, einzigartig, das zarte Geflecht der sinnlichen Wahrnehmung über dem – nun – eigenen pulsierenden Herzen und dem Ateminstrument der Lungen, mit dem Zeichen des eigenen Geschlechts, das dem Ausstossen  des Verdauten wie der sinnlichen  Hungerstillung im Ablauf sich folgender Stunden, Tage und Nächte dienen wird, mit den sich öffnenden  Fenstern  und Türen  der Sinne – der Haut selber von den Zehenspitzen  über jedes Fleckchen, der Augen und der Nase, der Zunge und des Gaumens, und der Ohren -, mit deren je eigenen,  langsam erwachenden  Fähigkeit der Vermittlung von Wärme und  Kälte, von Helligkeit,  Farben  und Dunkelheit, von Gerüchen  und Geschmack, von Klängen und Tönen, von Hunger, von Freude und von Angst, dieser präzisen  Übersetzung der Empfindungen der Seele – auf andere Weise bezeichnet: der cerebralen  Funktionen – über den dialogischen  Kontakt durch das Berührtwerden, durch den Blick, durch die  Bewegung der Hände, durch das Betasten  und Fühlen  und allmählich, zusätzlich zur spürbaren Sprache von Haut und Atem  über die hörbare Sprache mit dem wunderbaren Tonregister, das über Bronchien  und  Mund den Dialog mit der Mutter fortsetzt, nicht mehr in  ihrem  Inneren, sondern nun aus dem von ihr getrennten, eigenen  Körper. Allmählich  dann der Austausch  mit anderen  Menschen auf unterschiedliche Weise, mit dem Vater,  mit weiteren Gesichtern  und Gestalten, die allmählich nebeneinander oder gegen einander das Kind  umringen – all dies auf unverwechselbare, eigene, persönliche Weise, die das Kind als Individuum  kennzeichnet,  als das Unteilbare und  Ungeteilte, jedoch in der sich fortsetzenden  Entwicklung verwandt mit Völkern von Ahnen auf Mutter- und Vaterseite – vierhundertvierzigtausend – bis zurück zum Anfang des Menschseins aus der Verwandtschaft mit Pflanzenwesen  und einfachsten Tieren zu  Beginn der zählbaren Zeit, gleichzeitig in allem vernetzt und geleitet durch die eigene Zeit, Atemzeit, Tag- und  Nachtzeit, Existenzzeit im  Dasein  und  Hiersein, durch die eingegrenzte, persönliche Raumzeit und Lebenszeit, die stets im  Entgleiten  und im Werden ist, voller Grenzerfahrungen  im Zusammenleben  mit den Nächsten  und den vielen Anderen.

So ist die erste Zeit des persönlichen  Ich im geschenkten,  nicht wählbaren, zwar genetisch und anthropologisch vielfach erklärbaren, zugleich aber geheimnisvollen innersten Teil des In-der-Welt-Seins zu finden, im  Innenraum des Entstehens der Lebenszeit,  im  abgegrenzten Raum des Mutterbauchs.  Hier ist der Beginn der seelischen  und körperlichen Entwicklungsgeschichte jedes Menschen, der  inneren Zeit des Ich, dann die sich fortsetzende Lebensgeschichte, die mit der räumlichen Ausgrenzung durch  die Geburt beginnt, wenn die nach den äusseren Zeitmassstäben  berechnete Zeit mit dem eigenen Atem eine Sekunde zählt, dann einen Tag, der einen  Namen trägt – Geburtstag-, auf den die Kindheitsjahre folgen, Geburtstag Jahr für Jahr – die lange Geschichte, die zur Lern-, Beziehungs- und  Handlungsaufgabe wird, voller Grenzen, Abgrenzungen  und Eingrenzungen, als Teil der zuerst zählbaren und nah bekannten anderen  Menschen, dann der unzählbar vielen, die je eine eigene Geschichte haben.

„Einmal verschlossen/ in der Geburtenbüchse der Verheissungen / seit Adam/ die Frage schläft zugedeckt/ mit unserem  Blut”(10).

  1. b) Erfahrungen der Ausgrenzung des Ichs, der  Eingrenzung, der Abgrenzung

Der Handlungsspielraum und der Erfahrungsbereich, der sowohl aktiv wie passiv dem einzelnen  Menschen verfügbar ist, bis die Grenzen des Ertragens und des Tuns erreicht sind, ist nicht nur unterschiedlich weit, sondern gerade im innerpsychischen  Raum auch unterschiedlich  begehbar. Wenn die Grenzen  nicht klar sind, oder wenn sie durchbrochen oder verletzt wurden,  benutzt das Unbewusste alle möglichen Abwehrdispositive, um die „Ansicht” der Verletzungen zu verwehren. Oft sind diese Abwehrvorkehrungen untauglich und schaffen  neues Leiden. Traumatherapien  können als sorgfältig begleitete seelische Annäherung an den Ort des Schmerzes ermöglichen, die vom Unbewussten zum Schutzzweck aufgebauten  Barrikaden abzubauen. Es mag aufwühlend sein, doch allmählich auch stärkend und  befreiend. Ohne nah an die Verletzung heranzukommen,  lässt sich das, was jenseits der eingebrochenen oder mangelnden Grenze ist, nicht erkennen. Unterstützend sind lebenszustimmende Ressourcen, die trotz  der schweren, leidvollen Erfahrungen erhalten bleiben  konnten. Traumata lassen sich dadurch  nicht ungeschehen machen, aber sie können durch den therapeutischen Heilungsprozess ihre Dominanz verlieren  und ins gelebte Leben integriert werden, so wie eine offene körperliche Wunde vernarben kann.

Als eine junge  Frau,  die in  ein Strafverfahren  verwickelt  war,  mich anrief und  mich  um ein erstes Therapiegespräch  bat, nannte  sie  ihren  Namen  und  fügte  bei:  ,,So  heisse ich,  obwohl ich  nicht  weiss, was der  Name  mit  mir  zu  tun  hat. Zwischen  mir  und  meinem  Namen  ist etwas Unüberwindbares

Sie war in einem osteuropäischen  Land in  mehreren Waisenhäusern aufgewachsen, ohne Kenntnis ihrer Mutter, die sie nach der Geburt in einem öffentlichen  Park zur staatlichen Adoption  ausgesetzt hatte.  Keine Erinnerung war ihr an die ersten sechs Lebensjahre geblieben. Vom zwölften Altersjahr an wurde sie durch einen kaum älteren  Mitbewohner missbraucht, gebar mit sechzehn Jahren ein erstes Kind, ein Mädchen, das auch sie zur Adoption freigab. Als sie nach wenigen Wochen erfuhr, dass es im „Durchgangsheim” gestorben war,  hat sie ihr Land verlassen. Sie zog in ein nordeuropäisches Land, lebte von Schwarzarbeit in  Fabriken, gebar infolge flüchtiger Beziehungen zwei weitere Töchter, für die sie nicht zu sorgen vermochte und sie wieder weitergab, schliesslich einen Sohn, den sie bei sich  behielt und alleine aufzuziehen  beschloss. Mehrmals sagte sie, ,,den  Mädchen, die ich geboren  habe, soll es besser gehen als mir, sie sollen  in Sicherheit offener leben können und weniger durch  Unwissen eingegrenzt werden. Das Waisenhaus war ein Gefängnis. Eine bessere Mutter sollen  sie haben.” Da in  ihrem  Land  Krieg zwischen  Ethnien  mit Verfolgungen und ständig wechselnden  Grenzen  herrschte, versuchte sie,  mit dem kleinen Knaben in der Schweiz Unterschlupf zu finden, mit dem Wissen um ihre Verantwortung und zugleich ohne Erfahrung einer stärkenden  Beziehung, täglich von Angst besetzt, dass ihr dieses Kind entzogen würde, wenn sie nicht als „gute Mutter” Anerkennung finden könne.

Die Therapie, der sie anfänglich  blass 11auf Befehl der Behörden” zustimmte, wurde nach kurzer Zeit zu einem Weg in die vielen Schichten ihres seelischen  Leidens.  Dabei gelang es ihr,  mit der Stimme der Verzweiflung ihre Wut auszuschreien, auch zu wimmern und zu schluchzen, aber nach und nach über die Lebenskraft ihres eigenen  Ichs zu staunen, allmählich dieses Staunen in ein Gefühl stärkender Fürsorge für sich selber und ihr Kind zu verändern. Als sie nach 36 Therapiestunden die Schweiz verlassen  musste, war ihr bewusst, dass sich  durch die Aufarbeitung ihrer Geschichte innere Grenzen geöffnet hatten, dass sie die unbekannte Herkunftsinsel .Mutter”, in welcher sie ihre Wurzeln  hatte, akzeptieren konnte. Zugleich wünschte sie, dass ihre zwei Töchter, für die zu sorgen sie nach deren Geburt keine Möglichkeit hatte finden können, von wirklich guten  Ersatzmüttern  begleitet waren  und dass sie sich eines Tages auf den Weg machen würden,  um sie als deren wirkliche Mutter zu finden.

Die individuelle Besonderheit menschlichen  Lebens, die mit der Geburt eines Kindes sichtbar und spürbar wird, ist mit der mütterlichen Zustimmung zum  Leben des noch ungeborenen  Kindes während der Schwangerschaft verknüpft, wird jedoch durch quälenden Schmerz geprägt, wenn die Mutter das Neugeborene preisgibt und fremder Sorge überlässt. “Freiheit”, die Hannah Arendt mit der “Gebürtlichkeit” verbindet, wird als ständiger seelischer Hunger spürbar sein, ja die ganze Kindheit kann wie ein Weltteil der Kolonisation empfunden werden, in welcher das Sich-selber-Fremdsein zum gefährdenden Leiden anwachsen kann.

Zwar sind die unterschiedlichen, häufig dunkeln  Herkunftsgeschichten von Mutter und Vater sowie deren  Eltern auf verborgene Weise in jedem Menschen spürbar wie ein fremder Teil des Ich, der häufig in der Pubertät schwer wird wie eine hemmende und lähmende Barrikade in einem verschlossen wirkenden Tunnel. Bei jungen  Menschen, denen nach der Geburt keine stärkende Beziehung zur Mutter ermöglicht wurde,  bedarf der Übergang von der Kindheit ins Erwachsenwerden einer zusätzlichen Sorgfalt.  Immer wieder geschieht es, dass anstelle eines konstruktiven Aufruhrs suchtartige Fluchtversuche und Ersatzerfahrungen genutzt werden, ein aus Unwissen destruktiver Widerstand gegen das eigene Ich, oder dass sich aus der Macht der Angst eine gefährdende Depressivität entwickelt, als Folge früher Trauer und in der Kindheit nicht zugelassener Wut.  Um den Wert des eigenen  Lebens aus dem destruktiven Zweifel zu lösen, braucht es Mut und Beharrlichkeit, auch  Erfahrungen des Glücks.

Kindheit ist ein dunkler Kontinent voller Grenzen. Was in  der frühesten  Phase des seelischen und  körperlichen  Erlebens geschieht, ohne dass es anders als durch Weinen  und zunehmende Stummheit, durch  angstbesetzte Unterwerfung und Gehorsam oder durch trotzigen Widerstand  mitgeteilt werden  kann, nistet sich ein und setzt sich lange fort, manchmal lebenslang.

Die erste Abgrenzung, die das Kind erlebt, ist der Körper, ist die Haut, die ihn  umspannt. Sie erlaubt die Wahrnehmung des umgrenzten eigenen, vom nicht-eigenen, anderen getrennten  Lebens.  Der Blick der Mutter und ihre aufmerksame,  umfangende Berührung gibt dem  Kind das Wissen um die eigenen Grenzen als „holding  security”, als Halt und Sicherheit, gibt ihm die Anerkennung seiner eigenen Individualität seiner in sich geschlossenen „Unteilbarkeit”.  Und der Name, mit dem sie das Kind empfängt,  bestärkt seine Erkennbarkeit in der Welt.  Fehlt der Name, so fehlt ein Teil der Identität.

Gleichzeitig mit der Anerkennung der Zugehörigkeit des Kindes durch die Namengebung geht die erste traumatische Erfahrung des Verlusts primärer Sicherheit einher, des Verlusts der symbiotischen Geborgenheit im ebenfalls abgegrenzten Innenraum der Mutter.  Das unabtrennbare Zugleich von angstvollem Schrecken  und von lndividualitätsgewinn, das bei der Geburt den Freiheitsimpuls des lebensfähigen  Kindes nicht nur zur eigenen Körperhaftigkeit, sondern zur eigenen Geschichte kennzeichnet, beeinflusst im innerpsychischen  Raum zutiefst dessen lchwerdung, je nachdem, wie sehr das Kind sich dabei „gehalten” oder alleingelassen fühlt.  Diese erste Erfahrung prägt sein sicheres oder sein  unsicheres inneres Wissen um sein  Ich  und sein Selbst, um die Qualität seines unaustauschbaren Selbstwerts.  Und es ist diese im Unbewussten gespeicherte Erfahrung einer guten  und stärkenden Abgrenzung oder einer nur schmerzlichen  und vielfach mangelhaften, die aus den frühesten  Beziehungen zur Mutter oder zu einem Mutterersatzobjekt erwächst, die gewissermassen alle nachfolgenden  Beziehungen konditioniert, insbesondere jene zum Vater oder zu einem väterlichen Ersatzobjekt.  Und ganz früh schon entstehen daraus die bestimmenden Grundgefühle von Sicherheit und Vertrauen, oder von Angst, Verlassenheit und Selbstablehnung, die später als psychische Grundstimmung spürbar sein werden.

Psyche und Körper,  Innen  und Aussen, bieten dem Kind nicht nur die ersten Grenzen  und Grenzerfahrungen, sondern prägen als nicht wählbare Voraussetzung das ganze Leben, sowohl die genetisch codierten  und vererbten  Eigenschaften – etwa Körpergrösse und Körpergestalt, Augenfarbe,  Haar- und  Hautfarbe, praktisch alle Körpereigenschaften – wie das im Unbewussten gespeicherte relationale Selbstbild.  Doch ein Teil dieser Grenzen  ist nicht starr und unverrückbar, sondern ist unterschiedlich veränderbar.  Dies gilt insbesondere im innerpsychischen  Raum, zu welchem nicht nur die emotionalen, sondern auch die rationalen und  intellektuellen  Fähigkeiten zählen. Sie sind veränderbar durch Lernen, durch  neue Erfahrungen, sowohl im  Beziehungsgeschehen wie im Weltbezug, etwa durch  realitätsschaffenden Widerstand wie durch unterstützendes und stärkendes Verstehen, vor allem durch die Erfahrung des Angenommenseins,  andererseits durch Enttäuschung und  Entmutigung, durch  Beziehungsverluste und andere lebensbedrohende Traumatisierungen.  Dass nicht nur im  psychischen, sondern  auch  im  körperlichen  Prozess Grenzveränderungen stattfinden, durch Wachsen, durch Älter- und Stärkerwerden, umgekehrt durch  Krankheiten, durch den Verlust oder die Einbusse körperlicher Fähigkeiten, durch Abbau und Schwäche, aber auch durch  korrigierende medizinische und andere Hilfe, all dies kann durch  Erfahrung bewusst werden.

Die körperlichen und  psychischen Grenzen haben  in erster Linie Schutzfunktionen. Sie schützen – de-finieren  (lat.  ,,finis” – die Grenze) – das, was die persönliche Norm, das persönliche Mass (lat. “norma” – das  Mass, das Winkelmass, die Richtschnur) des einzelnen Menschen ist, seine individuelle .Normalität”.  Dass der Begriff 11Normalitätu sowohl im wissenschaftlichen wie im alltäglichen Gebrauch sich nicht auf die individuelle Norm des Menschen bezieht, sondern ein statistisches Durchschnittsmass der Unauffälligkeit bezeichnet, erweist sich als verhängnisvoll.  Es leistet jener Gleichschaltung von Menschen mit Industrieprodukten Vorschub, die mit den neuen  mikrobiologischen und medizinischen Technologien  zunehmend  bedrohlicher wird.

Dass unsere Grenzen in erster Linie Schutzfunktionen haben, spüren wir selber deutlich, von der frühen  Kindheit an, als warnende innere Stimme, als Gefühl der Scham, der Angst, der Vorsicht und des Misstrauen, kurz des Widerstandes, oder da, wo sie ausgeweitet werden dürfen, als Lust und Neugier, als Tatendrang und als Mut, vor allem als Bewusstsein um unsere Fähigkeiten. Wie wichtig der Respekt der Grenzen ist, zeigt sich  bei deren Verletzung und  Überschreitung.  Denn was wir als Leiden erfahren, ist die von Aussen oder von Innen zugefügte Verletzung oder die mutwillige,  rücksichtslose, schlecht vorbereitete oder gar unbefugte Nichtbeachtung oder Überschreitung der Grenzen, jede Form von Missbrauch.

Zusätzliche Beispiele aus Lebensgeschichten können einen  Einblick vermitteln, allerdings immer blass bis zur zeitlichen Grenze, die mit dem Aufzeichnen oder Erzählen gesetzt  wird.

Ein schmales Buch(11)  widerspiegelt die Vielschichtigkeit der Zusammenhänge.  Die 1939 geborene Autorin hielt als “Behinderte”, wie sie sich selber bezeichnete, den Rückblick auf Kindheit, Jugend und  Erwachsenwerden  mit dem Erkämpfen und  Durchstehen ihres immer wieder in  Frage gestellten  Lebens fest, mit den Erschwernissen einer beruflichen Ausbildung und  mit den herabsetzenden Vorurteilen  bei deren  Umsetzung, spürbar mit Klage und Auflehnung, weniger gegen sich selber und ihren  Körper, als gegen die von Familie und Gesellschaft  geschaffene Entwertung ihrer Besonderheit. Gehörlos aufzuwachsen, gleichzeitig lernhungrig und vielseitig begabt, mit zwei geschickten  Händen, jedoch  beide ohne Daumen, in der Familie stets dem Vergleich  mit den Geschwistern  und  in der Schule mit den Gleichaltrigen ausgesetzt, als “mangelhaft”, als “Last” oder gar als “Strafe Gottes” bewertet zu werden, sich  nicht geliebt, sondern abgelehnt oder knapp geduldet und  mit hochmütigem  Blick “bemitleidet”  zu fühlen, sich der unberechenbaren  Macht der Erwachsenen, der Ärzte, Chirurgen  und  Krankenschwestern  ausgesetzt zu wissen, ständig für sich selber kämpfen zu  müssen, um sich  nicht an der Grenze des Selbstwertes und  der psychischen  Erschöpfung gegen sich selber zu entscheiden – es ist ein aufwühlender Bericht, der aktuell bleibt.  In der abschliessend anklingenden Versöhnung mit den Webmustern,  mit den Knoten  und  Mängeln der genetischen  Disposition  und des schmerzlichen  Daseins  wird mit Klarheit verdeutlicht, dass sich für sie die Grenzen des ertragbaren  Leidens im  Lauf der Erfahrungen verschoben  haben, insbesondere dass die früheren Leiden  hartnäckiger weiterwirkten, als sie im  Moment des Erlebens bewusst waren. Auch dass über das spätere Verstehen des Leidens eine Erkenntnis möglich werden konnte, durch welche die  Kraft und der Wert des Überlebens lichtvoll wurde.

Eines Tages meldete sich eine  junge Frau aus dem Ausland zu einer Abklärung an, dreiundzwanzig  Jahre alt,  kurz vor dem Abschluss ihrer Ausbildung als Heilpädagogin, die zweite und jüngste Tochter eines Ehepaars, das seit der Geburt der Kinder an vielen Orten in der Welt gelebt hatte. Was sofort auffiel, war die körperliche Gestalt der jungen Frau, eine mit Kleidern  kaum eingrenzbare Körperfülle und eine nach vorn geneigte, sich  beschämt ein krümmende Körperhaltung, ein fast konturenloses Gesicht mit wachen und zugleich ängstlichen Augen hinter einer eng anliegenden, nickelgefassten  Brille sowie ein kindlich wirkender Mund  mit einem schnell bereiten scheuen  Lächeln. Als ich sie auf ihren – eher seltenen – Namen ansprach, antwortete sie sofort, der Name sei für sie ein Problem, sie habe ihn  nie gemocht, aber sie habe sich nun ein Buch gekauft,  in welchem die Bedeutung aller Namen aufgezeichnet sei. Zu ihrer Überraschung habe sie festgestellt, dass viele Eigenschaften, die ihrem  Namen zugesprochen würden,  mit ihren  Eigenschaften übereinstimmen würden.  Darauf sagte ich vorsichtig, dass sie also auf dem Weg sei, ihren Namen zu akzeptieren? Ob sie mit dem Namen vielleicht auch einen Weg sehe, sich selber zu akzeptieren? Sie errötete, die Augen hinter Brillengläsern füllten sich  mit Tränen, und nicht nur der Blick, die ganze Gestalt schien sich aufzulösen,  und sie sagte leise, das sei noch weit entfernt.

Allmählich  erfuhr ich, dass der Vater der jungen Frau sein ganzes Erwachsenenleben als Ingenieur und  Bauführer auf Risikobaustellen – Kraftwerkbau,  Erdgasförderanlagen  und ähnliches – in verschiedenen  Ländern Afrikas und Asiens gearbeitet hatte, er stehe heute kurz vor der Pensionierung.  Die Mutter sei vor acht Jahren gestorben, als C. vierzehn Jahre alt gewesen sei, an  Krebs, nach einer – ebenfalls – achtjährigen  Krankheitsdauer.  Bei ihrer Geburt, die von beiden Elternteilen sehr herbeigewünscht worden sei, habe sich allerdings gezeigt, dass das Kind  als Knabe und  nicht als Mädchen erwartet worden sei, und zwar so zweifelsfrei, dass ihre  Eltern für sie keinen  Namen vorbereitet gehabt hätten. So sei sie als Neugeborene während mehreren Tagen ohne Namen gewesen. Schliesslich  habe eine Nonne, die im Spital als Säuglingsschwester gearbeitet habe, der Mutter einen  Kalender gegeben und sie angehalten, für das Kind einen  Namen zu wählen.

Das Grundleiden der jungen  Frau  ist,  in den Anfängen  ihrer eigenen  Persönlichkeit nicht benannt,  nicht „definiert” worden zu sein, wie ein Niemandsland  mit ungesicherten Grenzen  und dadurch mit völlig unsicherem  Eigenmass, mit einer ungesicherten eigenen Norm, mit einer dadurch gefährdeten  und  prekären eigenen „Normalität”.  Ihr Grundleiden ist ein Hungerleiden,  psychisch  und körperlich, eine unstillbar entgrenzte Sehnsucht danach, komplett zu sein: ausgefüllt und dadurch abgegrenzt, in dieser Abgrenzung spürbar in sich sicher zu sein. All dies sei ihr verwehrt geblieben, obwohl ihre Eltern, wie sie selber sagte, sie sehr geliebt hätten, obwohl auch  nach dem Tod der Mutter ihr Vater sie nie im Stichgelassen habe. Täglich rufe sie ihn an,  und alles, was sie brauche, erhalte sie von ihm, ob Rat oder Geld oder praktische Unterstützung.

Die Frage, die erst im  Lauf einer sorgfältigen Therapie geklärt werden  könnte, ist, ob das Übermass an Zuwendung und Fürsorge, das der Vater ihr entgegenbringt, nicht aus der Hilflosigkeit des Mitleids erwächst, das wiederum bewirkt, dass ihr jene Nahrung,  nach der sie hungert, vorenthalten bleibt: die Möglichkeit der Eigendefinition, die, weil sie Abgrenzung bedeutet, auch die Trennung von der elterlichen  Fürsorge akzeptieren  können müsste, sodann den Widerstand als Realitätserfahrung, weil sonst die entgrenzte,  nie stillbare leere – die persönliche Undefiniertheit – anhält und immer bedrohlicher wird, wenn sie auf untaugliche Weise mit zu grossen Mengen von Speisen zu füllen gesucht wird.

Eine Kinderstimme am Telefon,  Knabenstimme: ,,Meine Mutter ist krank. Sie ist heute im Park gefallen, mit dem kleinen Bruder an der Hand.  Eine Frau gab mir Ihre Telefon-Nummer. Wann kann die Mutter zu Ihnen  kommen? Heute Abend? Nicht ich komme mit ihr, der grössere Bruder wird die Mutter begleiten. Wo kann er Sie finden? Bitte sagen Sie mir die Adresse,  ich schreibe,  langsam bitte,  Buchstaben bitte.”  Der Knabe, der um  Hilfe für seine Mutter angerufen  hatte, war acht Jahre alt, der „grössere Bruder” zählte zwölf Jahre, die Augen überweit geöffnet, kein Lächeln, nichts kindhaft leichtes, die Stimme klar und trotzdem fast tonlos.  Die Mutter mit bitterem, dumpfem Gesicht, auch sie ohne Lächeln, kaum grösser, aber zehn mal schwerer und wie verloren  neben dem  Knaben, der ihre Seele zu tragen schien wie einen  Berg.  Er war Kind und gleichzeitig hatte er sich nie als Kind abgrenzen dürfen.

Wie er im Sesselsass, getrennt von der Mutter, doch  untrennbar von ihr als ihr Sohn, der ihr als Begleiter und  Übersetzer diente, wurde langsam seine Stimmer vor Weinen  erstickt.  Er schluchzte und weinte, weinte voller Erschrecken, weil er das Weinen  nicht anhalten konnte.  Und die Mutter? Sie blickte ihn an, selber hilflos klein und  herrisch alt, vielleicht zum ersten Mal bewusst der Grenze zwischen ihr und  ihrem  Kind.  Er konnte nun weinen, was sie sich selber nie zugestanden  hatte, und eigentlich  ebenso wenig ihrem  Kind. Mehrmals während des Gesprächs betonte sie, dass das schwere Hautleiden, das sie plage, unmittelbar nach der Geburt des ersten Sohnes begonnen  habe, dass damals die Armut überschwer auf ihr lastete,  nach dem ersten  Knaben  noch zwei weitere Knaben plus Ehemann und sie, zusammengepfercht in einem einzigen  kleinen Zimmer im niedrigen  Haus der Schwiegereltern,  in welchem zusätzlich zwei  Brüder ihres Mannes mit Frau  und  Kindern in je einem Zimmer gelebt hätten, ohne Einkommen, täglich kaum zu essen,  und gleichzeitig die stete Präsenz der Besatzungspolizei mit Schlagstöcken  und Geldforderungen.  In der Schweiz sei sie angelangt mit der Hoffnung, besser leben zu können, doch wieder sei sie ohne Sicherheit gewesen, dann der Ausschaffungstermin  und die von den Behörden geforderte Rückkehr in die Heimat, aus der sie geflohen war – all die Angst, die den Sohn und die Mutter besetzt hielten. Wie und wo leben, wenn kein Leben möglich erscheint?

Ein neues Asylverfahren  konnte eingeleitet und die Ausschaffung durch ein sorgfältiges Gutachten verhindert werden.  Es brauchte viele Jahre,  bis in der Mutter ein genügendes Selbstvertrauen anwachsen  konnte, so dass auch der älteste Sohn sich freischaufeln durfte, wie die jüngeren  Brüder  es sich  unter seinem Schutz ermöglicht hatten.

Auch damals stellte sich  mir die Frage, die sich immer wieder stellt: Welche Art von Grenzerfahrung geschieht bei einem Kind, wenn der Lebensimpuls, der sich in der pränatalen Zeit entwickeln  konnte, den Lebensbedingungen der Erwachsenen, deren Angst und  Noterfahrungen ausgesetzt ist, so dass eine sorgsame Wachheit zur Notwendigkeit des Überlebens wird  und  ein allzu frühes Pflichtgefühl das spielerisch erkundende, innere Wachstum  überdeckt? Geht eine lnfragestellung des lebenswertes, damit des Ich-Wertes des Kindes damit einher? – oder eine Verstärkung? Was bewirken unter diesen  Bedingungen früheste  Erfahrungen dessen, was .Beziehung” heisst – mit der Mutter, dem Vater,  mit Grossmutter,  Ersatzmutter, Geschwistern  usw. – im  Empfinden des Kindes? Kann es sich selber innere Grenzen setzen, um sich zu schützen? Wie und was können spätere Erfahrungen – Veränderungen, Trennungen, Verluste,  Ersatzheimat u.a.m. – dazu beitragen? Was heisst Ersatz? Bleibt das Ich  intakt, für dessen Seinswert es keinerlei Ersatz gibt? Oder sind Verlust- und  Ersatzerfahrungen gar nicht heilbar, höchstens erkennbar und dann – eventuell – akzeptierbar als zeitbegrenzte Geschehnisse? Können sie durch das Erkennen korrigierbar werden, da die innere Zeit im  Moment des Erkennens das, was war, in ein neues Licht der Gegenwart versetzt und damit in ein – möglicherweise – helleres, besseres Lebensumfeld, das den Blick auf die Zukunft stärkt?

Hinter allen  Fragen, die sich zu den Geschehnissen  und  Entwicklungen der Kindheit stellen, steht immer die Zeit und das Verhältnis zur Zeit, zur auferlegten  und erlebten Zeit wie zur berechneten Zeit, das sich  hinsichtlich der kommenden, unbekannten Zeit in Angst oder in Neugier und Zuversicht verdichten  kann.  Die Frage stellt sich, wo die Grenzen des Ertragbaren  und jene des Nichtwissens sind.

*

Ich will im Zusammenhang dieser Frage auf Sarah  Kofman  eingehen, eine der grossen, tragischen Denkerinnen der  Nachkriegszeit, eine Psychoanalytikerin, deren  innere Zeit an der äusseren Zeitgeschichte zerbrach, die in ihrem  Empfinden  nicht Vergangenheit werden konnte, sondern als belastende Dauer ihre Lebenskraft verzehrte.  Ihre autobiographischen Notizen(12) mit den Fragen nach den überlebensbedingten  Belastungen  ihres Ich und den damit verknüpften  Emotionen vermochte sie erst nach langen Jahren der intellektuellen Flucht in theoretisch-philosophische und zeitanalytische Denkübungen, dann in die mitfühlende Aufarbeitung'” des Berichts von Robert Antelme14  über dessen Erfahrungen sowie nach einer sich  über zehn Jahre erstreckenden  Psychoanalyse zu formulieren. Die Notizen sind  knapp, präzise, aufwühlend, als habe sie bei deren  Niederschrift stets die Grenzen des Ertragbaren gespürt.

Mit dem Zeitpunkt von 1942 setzen Sarah  Kofman’s Erinnerungen ein. Sie war somit acht Jahre alt gewesen, als ihr Vater Bereck Kofman, von Beruf Rabbiner aus dem  polnischen Sobin, in  Paris von der französischen  Polizei gefangengenommen, der Gestapo übergeben und über Drancy nach Auschwitz abtransportiert worden war, während ihre Mutter, sie und ihre fünf Geschwister auf kaum zählbaren Fluchtwegen  in  Frankreich  hin- und hergeschoben wurden und voneinander getrennt, versteckt,  mit anderen  Namen versehen  knapp überleben konnten. Sarah tauchte zusammen mit der Mutter bei einer Gastgeberin aus dem französischen Widerstand  unter, einer Art Ersatzmutter für sie, die sie bewunderte.  Es entstand  in  ihr eine verstörende Spaltung der Mutter-Beziehung wie der Ich-Beziehung, die sich  bis ins Erwachsenenalter fortsetzte.  Die Erinnerungen an den religiös geordneten,  und emotional reichen Jahresablauf vor der nazideutschen  Besetzung Frankreichs mit der Erfahrung fester Rollen von Vater und  Mutter wurden abgelöst vom plötzlichen Abbruch der festen Zugehörigkeit, von völliger Verunsicherung und vom Gefühl der Fremdheit,  von Hunger nach Zugehörigkeit und  nach Sicherheit, ohne dass Sicherheit zugelassen worden wäre.  Mitten in der Kindheit war es zu einem Abbruch im  inneren Zeitgefüge der Kindheit gekommen,  ohne dass diese einen anderen  Namen gehabt hätte, doch der Name und das, was der Name bedeutete, stimmten  nicht überein.  Die seelische Spaltung, die dadurch bewirkt wurde, wurde für sie zum grenzenlosen,  nicht mehr heilbaren  Leiden.

Die beiden Bücher – ,,Paroles suffoquées” und „Rue Ordener, Rue Labat” – schrieb Sarah Kofman  mit dem Bedürfnis, das eigene Wissen festzuhalten.  Nachdem sie sich eingehend mit Freud  und  mit Nietzsche befasst hatte,  mit der Aussagekraft der Bilder und der Bedeutung von Kunst, ging sie auf knappem zeitlichem  Raum  auf die Abfolge ihrer eigenen Erinnerungen  ein, durch welche die gelebte Zeit der Spaltung und  Entfremdung für sie etwas Unauslöschbares und Andauerndes darzustellen begann.  Das Gefühl von Dauer wurde durch die kleine Anzahl an Jahren umso bedeutender und gewichtiger.  Die Entwurzelung wurde zur entgrenzten  Macht der Zukunftsverweigerung.

Ist dies die Erklärung, warum Sarah  Kofman kurz nach Erscheinen von „Rue Ordener, rue Labat” aus dem  Leben schied? Es war eine rätselhafte Tatsache.  Warum war sie so gnadenlos gegenüber der eigenen Lebenszeit? Warum gestand sie sich  keinen eigenen inneren  Halt zu, warum  nicht eine Öffnung aus der aussichtslos eingegrenzten seelischen Erfahrung? Warum  brach sie selber den Lebenslauf ab? Hatte sie sich zu sehr in die Theorie des Schreibens versetzt, die sie zehn Jahre vorher mit ihrer Arbeit über E. T.  A. Hoffmanns Kater Murr(15)  auf das Schreiben der Autobiographie konzentriert hatte, durch welche ein Selbst konstruiert werde, wie sie festhielt, jedoch das Ich verloren gehe? War bei ihr mit dem definitiven, schriftlichen  Festhalten der erlebten Zeit ein Abbruch und Abschluss der weiteren, noch möglichen  eigenen Existenzzeit geschehen?

Es ist beklemmend, ohne Antwort zu bleiben auf die Frage, warum in ihr die Kraft der kindlichen  Neugier auf das Unbekannte der noch nicht gelebten Zeit nicht wieder geweckt werden konnte, warum sie sich selber diese nicht zugestand, sondern an der eigenen seelischen  Eingrenzung zerbrach.

*

Kinder und junge Menschen, die in jüngster Zeit auf irgend eine Weise Kriege oder Verfolgung und  Flucht durchstehen mussten,  in Tschetschenien, im ehemaligen Jugoslawien und in  Kosovo,  in  Irak,  in Afghanistan, in Syrien, im Libanon, in Gaza, in der Ukraine, im Kongo, in  Mali und in weiteren afrikanischen oder nordafrikanischen  Ländern, die sich von Diktaturen zu befreien suchten, oder die die nationalistisch oder ethnisch und religiös begründete Gewalt, Vertreibung oder Verfolgung in  Kurdistan, in  Dagestan, in Somalia, Eritrea in vielen weiteren  Ländern, in den palästinensischen Gebieten der Westbank, in Burma und  in  Iran,  in so vielen Ländern der Erde überlebt haben  und auf Fluchtwegen  in andere Länder gelangt sind, auch hierher in die Schweiz, alle weisen individuelle psychische Verletzungen  und Spaltungen auf, zum Teil Leiden wie sie Sarah  Kofman  in  ihrer Kindheit erlebt hatte.

Ein  anderes Beispiel mag dieses Leiden zusätzlich veranschaulichen: A. war elf Jahre alt, als er durch  eine Sozialarbeiterin an  mich  überwiesen wurde.  Es war einige Jahre nach dem Bosnienkrieg und  nach dem Abkommen  von Dayton.  Der Vater war von wohlhabender Herkunft gewesen, und die Ehe zwischen ihm  und seiner Mutter, die aus einer armen  Roma- Familie stammte, war aus wirklicher Liebe gegen den Widerstand der väterlichen  Familie abgeschlossen worden. Von 1992 bis Februar 1996, das heisst während des ganzen Bosnienkriegs und über diesen hinaus, war A’s Vater in serbischen Konzentrationslagern gefangen gehalten worden und hatte schwerste Folter erlebt. Seine Mutter, die selber vom zwölften Altersjahr an vaterlos aufgewachsen war, durch  die gesellschaftlichen  Bedingungen und die Armut oft erniedrigt und stets hungrig, ohne Schulbildung, hatte auf ihn stark und furchtlos gewirkt. Während des Kriegs war sie mit dem Kind durch Bosnien geirrt, schliesslich dank eines Hilfswerks nach Deutschland gelangt, ohne dass ihr dort Bleiberecht zugestanden worden wäre.  Nach Kriegsende, als sich mit Hilfe des IKRK das Paar in  Bosnien wieder fand, jedoch  keinen Ort zLeben finden  konnte, gelangte es mit dem  Kind  in die Schweiz und bat um Asyl, doch vergeblich.  Der Krieg sei längst zu  Ende, war die Begründung der Behörden, im  Herkunftsland zu leben sei zumutbar. Schlaflos,  unruhig und kraftlos vor Angst erlebten A’s Eltern die Nächte und Tage. Der Negativentscheid des Bundesamtes konnte auch durch ein  letztes Rekursverfahren  nicht aufgehoben werden, er war definitiv. Wie sich die Ungewissheit und  Hilflosigkeit auf das Kind auswirkte, beschäftigte Mutter und Vater nicht.

A. blickte mich durch seine Brille gross an. Er übergab mir eine Zeichnung, die er gemacht hatte: ein von Geschossen durchlöchertes Haus ohne Tür und Fenster, von dem aus ein Weg beginnt und abbricht, mit einem Soldaten an der Seite des Hauses, der ein Gewehr vor sich hält, irgendwo ein Apfelbaum  mit breitem Stamm. Was für A. grossen Wert und Sicherheit bedeutete, hatte er nicht mit einem  Bild festgehalten, sondern  mit Zahlen  in  kleinen Vierecken. ,,Alles wurde getötet”, sagte er leise,  Boby, mein Hund,  1; meine Hasen, 4; mein Sandkasten,  Hühner und  Kücken  und  Hahn,  120; Vögel 150, Tauben  meine; meine Rinder, 250″ – eine ganze Welt, die getötet wurde, von welcher nur noch Zahlen  und Worte übrig blieben,  Bezeichnung und Anzahl. Senkrecht neben dem Apfelbaum  und  neben dem durchlöcherten  Haus hatte A. einen Wunsch festgehalten, wie ein Ausrufezeichen.  Neben dem  Baum stand )eh  habe mir einen Terrier gewünscht”, und  neben dem  Bild des Hauses “ich  habe mir noch ein Land gewünscht”.

Mit der Erinnerung an die Wünsche, die unerfüllt blieben, verwies der Knabe auf die Zukunft der Vergangenheit, die zerstört worden war, die er jedoch wach halten wollte.  Er wirkte in seiner Ernsthaftigkeit älter als ein elfjähriger Knabe, und zugleich sehr kindlich, hilfesuchend, geprägt durch eine verwirrende Gleichzeitigkeit von grosser Traurigkeit ob der Verluste und ob der Unerfüllbarkeit irgendwie vorstellbarer Wünsche, ob der Verschmelzung von Tod und von Leben. ,,Alles wurde getötet”, sagte er, 11mit Gewehren,  mit Bomben.  Mein kleiner Hund  Boby, von Soldaten erschossen”. Seines Lebens war er in den Jahren des Kriegs sicher gewesen, die Mutter an seiner Seite hatte Sicherheit bedeutet, sie hatte ihn getragen  und hatte ihn geschützt. Auch in  der Schweiz bedurfte er ihrer Nähe, nicht tagsüber, aber in der Nacht, wenn Albträume ihn aufschreckten  und er sich  bei ihr einzunisten suchte.

Dass seine Mutter nicht unbegrenzt stark war, dass sie ihm  keine Sicherheit und  keine Hoffnung mehr vermitteln  konnte, verwirrte und belastete ihn zutiefst.  Ebenso belastete ihn, dass sein Vater, den er während Jahren nicht gesehen hatte und den er sich vorgestellt hatte wie einen starken  Fürsten, ein  kranker überlebender war, so krank, dass zwischen den nächtlichen Angstträumen  des Vaters und dessen täglicher Angst vor einer erzwungenen Rückschaffung nach Bosnien nicht unterschieden werden konnte.  Die Altersdifferenz zwischen Kind und  Erwachsenen  hob sich ob der sich  überkreuzenden Tag- und Nachtangst auf, es gab keine Differenz mehr zwischen A’s Wunschtraum  nach Sicherheit und der fehlenden Lebenssicherheit der Eltern.  Durch den Entscheid der Behörden, dass sie die Schweiz verlassen  mussten, waren sie in ihren Entscheidungsmöglichkeiten wie gelähmt.  In deren inneren  Bildern gab es kein Zurück und  kein Voran, kein Bild einer möglichen Zukunft, nachdem ihnen diese auch  in der Schweiz nicht zugestanden wurde. ,,überall baut die Erde an  ihren  Heimwehkolonien”16 hatte Nelly Sachs geschrieben.

In therapeutischer Hinsicht erschien  es mir damals dringlich, das Zeitgefühl des Kindes wie jenes seiner Eltern aus der Angstblockierung zu  lösen, die sich auf die Zukunft ausrichtet, diese verdüstert oder unzugänglich macht.  Ich versuchte zuerst auf der Menschenrechtsebene eine Korrektur des Asylentscheids zu erreichen. Als auch diese verwehrt wurde und die Zeit vor dem Ausschaffungstermin auf wenige Tage geschmolzen war,  blieb nur noch die Möglichkeit, Geld zu beschaffen und eine neue Flucht zu organisieren.  Damals war Dänemark ein aufnahmebereites Land.  Eine Fahrt durch die Nacht, Telefongespräche mit der Menschenrechtskommission in  Kopenhagen, später während Jahren eine – wenigstens telefonische – Fortsetzung des  Kontakts.  In  Dänemark wurde der Familie schliesslich der Flüchtlingsstatus gewährt.  Die durchgestandene angstbesetzte Zeit konnte Vergangenheit werden, die Gegenwart wurde erträglich, allmählich öffnete sich der Blick auf die Zukunft.

A. ist inzwischen ein junger Mann, er machte Abitur, spricht Dänisch und Englisch, hat auch seine Deutschkenntnisse aus der Zeit in  der Schweiz nicht verloren. Wir hatten  immer wieder Telefongespräche, wenn er diese brauchte.  Für A. wurde es, anders als für seine Eltern, im  Lauf der Jahre spürbar, dass die aktuelle Zeit und die noch  bevorstehende Zeit von den belastenden  Erfahrungen  der Kindheit nicht besetzt werden müssen, ohne dass deren Verdrängung nötig ist.  Die noch offene Zeit lässt sich erneut, wie es in der frühesten Kindheit möglich war, in ein Licht versetzen  und zugleich in einen Raum, der wieder weit und sicher erscheint.  Es ist der Raum der Zuversicht, dass das, was auf unbekannte Weise auf uns zukommt und was Zukunft genannt wird, uns selber zusteht,  unserem Denken, unseren  Beziehungsmöglichkeiten, unserem  Entscheiden  und  Handeln, dass wir uns weder bedrohlichen  Ideologien noch  negativen  Prognosen der Weltentwicklung mit Ängsten zu unterwerfen  haben.

c) Lebensgrenzen

„Der  wahre Weg geht über ein Seil, das nicht in der Höhe gespannt ist, sondern knapp über dem Boden.  Es scheint mehr bestimmt stolpern zu machen, als begangen zu werden.”(17)

Franz Kafka war 34 Jahre alt, als er im August 1917 einen  Blutsturz erlebte und  nach der Konsultation  mehrerer Ärzte wusste, dass er an  einem „Lungenspitzenkatharr” erkrankt war und dass die Gefahr einer Tuberkulose bestand.  Dass sich diese zur tödlichen Kehlkopftuberkulose entwickeln würde, war damals nicht vorhersehbar, doch zur Eingrenzung der Gefahr wurde dringlich eine Kur auf dem Land empfohlen.  Diese wurde Kafka vom Vorgesetzten  bei der Arbeiter-Versicherungsanstalt ohne Zögern zugestanden, und so schrieb er seiner Schwester Ottla, die in Zürau, einem  Dorf im nordwestlichen Böhmen, einen kleinen  landwirtschaftlichen  Betrieb unter sich  hatte.  Er bat sie,  ihn aufzunehmen.  Die acht Monate, die er vom September 1917 bis April  1918 bei ihr verbrachte,  bezeichnete er als die glücklichsten seines Lebens, weit weg von den aufwühlenden  Kriegsgeschehnissen  und von beruflichen  Rechenschaftsberichten  über Kriegs- und  Unfallversehrte oder von anderem  Leistungsdruck, weit weg von der Prager Gesellschaft und von den Eltern. Täglich trank er frische Milch und betätigte sich bei ländlichen Arbeiten, etwa beim  Holzhacken, wie er mit Genugtuung und Stolz auf einem Zettel notierte.

Das Seil, das er auf seinem  Lebensweg knapp über dem Boden gespannt vor sich sah  und das er, mit der Gefahr zu stolpern, zu übergehen hatte, wie er zu  Beginn seines Aufenthalts in Zürau schrieb, war vermutlich die stets gegenwärtige Grenze der Lebenskräfte, die er in sich spürte, damit die knappe Überlebenschance, die er sich selber zugestand.  Drei Jahre zuvor,  im Juli 2014, hatte er gegenüber Felice Bauer, in Gegenwart von zwei Zeugen, seine Verlobung endgültig aufgehoben und sich dabei wie in einem aussichtslosen Gerichtsverfahren als schuldig erklärt empfunden.  Unmittelbar nachher begann er, das Romanfragment Der Prozess zu schreiben, in welchem  er die undurchschaubare und aussichtslose Geschichte des dreissigjährigen   Bankangestellten Josef K., dessen undurchschaubare Verhaftung und Verurteilung zum Tod schilderte, die sich  über ein Jahr erstreckte (auch  Kafka war einunddreissig Jahre alt, als er nach Auflösung der Verlobung den Roman zu schreiben  begann) und die mit dessen Tötung mit einem Fleischermesser

ausserhalb der Stadt,  bei Mondlicht in einem Steinbruch, durch zwei als Beamte agierende, dem schuldlos Verurteilten  aber als Schauspieler erscheinende Unbekannte abschloss:

Unklar war für Kafka  in der albtraumhaften Vorstellungskraft, die sein  Leben  begleitete und die in seinem Werk – wie in diesem Roman – Ausdruck fand, wie die Grenze zwischen Unschuld und Schuld, zwischen Gerechtigkeit und  Ungerechtigkeit, zwischen  Lebensrecht und aussichtsloser Entrechtung zu erkennen war.  Die Grenze war vermutlich die Stolperlinie.  Klar war lediglich die Hilflosigkeit des einzelnen  machtlosen  Menschen, des Josef K. wie seiner selbst, der sich der Prüfung und dem Urteil durch eine unbenennbare, unbegrenzt über ihn entscheidende  Macht ausgesetzt fühlte.

Wie viel widerspiegelt Kafkas Werk von der Innenwelt zahlreicher Menschen? Geht diese zurück in die Erfahrungen der Hilfslosigkeit des kleinen  Kindes, das weder verstehen noch durchschauen  kann, weshalb es nicht geliebt, gehegt und gefördert, sondern  bestraft wird? Immer wieder bestätigt sich, wie sehr die frühen  Erfahrungen die Entwicklung des einzelnen Menschen bestimmen, wie unlösbar nah  Körper und Seele vernetzt sind, wie geheimnisvoll sich die Grenzen der Erfahrungen einnisten  und wie viel Beharrlichkeit im Wunsch zu verstehen erfordert ist, um  diese von den Ängsten zu lösen  und mit einem zuversichtlichen Blick zu öffnen, selbst zum Älter- und Altwerden, zum Verlust der körperlichen  Kräfte  und zur finalen Grenze des nicht mehr abwendbaren Todes hin.

*

„Licht / – über allem  und allen  .   / Auch das kleinste Insekt/ wirft seinen Schatten.” (18)

Durch den  Schatten  mag dem  Menschen auf symbolische Weise bewusst werden, dass die körperlich-seelische Lebensgrenze ihm von den Anfängen  an  inne ist und seine zeitliche Begrenztheit Tag für Tag widerspiegelt.  Stets begleitet er seinen  Körper, ändert sich  beim feinsten  Lichteinfluss und bei jeder Bewegung, neben ihm  mal links oder rechts, unsichtbar hinter ihm oder vor ihm  her, so dass er ihn  mit den eigenen  Füssen voranschieben muss. Ob für Peter Schlemihl(19)  weniger die Versuchung grenzenlosen Reichtums als grenzenloser Lebenszeit ausschlaggebend gewesen ist, seinen Schatten zu verkaufen, bleibt eine offene Frage.  Erst durch den endgültigen  Entscheid, auf alle vorgegebene “Sichereit” zu verzichten und seinen Schatten wieder zurückzugewinnen, gelang es ihm, angstfrei zu sich selber zu finden und sich  mit dem vielfach begrenzten  Leben auf dieser Erde zu versöhnen.

Und der psychische Schatten, der ein Leben  lang der stumme, dunkle Begleiter eines Menschen sein kann? Ein  Beispiel bietet der Einblick in die Geschichte einer knapp sechzigjährigen  Frau, die im  Rahmen einer Gruppentherapie schildern konnte, wie schwer es für sie gewesen sei, zu ihrem eigenen Wert zu finden, obwohl  sie es geschafft habe, beruflich  und einkommensmässig erfolgreich zu sein. Sie habe sich stets von einem schwarzen Schatten  begleitet gefühlt, gegen den sie sich  nicht habe auflehnen dürfen. Zwar habe sie ein erfolgreiches Forschungsinstitut aufgebaut und verfüge über einen Stab von Mitarbeitern, doch trotzdem habe sie stets an  Unsicherheit und Selbstzweifeln gelitten.  Mit dem Älterwerden  habe sich das seelische Leiden  noch verstärkt. Schliesslich  habe eine Krebsdiagnose sie  völlig “an die Wand” gestellt.

Ihre Kindheitsgeschichte? Sie habe sich wenig merken  können.  Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs sei sie sechs Jahre alt gewesen, in einer Kleinstadt mit vier Geschwistern als Zweitjüngste unter streng geregelten Verhältnissen aufgewachsen, mit einer überbelasteten Mutter, die auch die Hemden für ihren  Mann und die Kleider für die Kinder selber genäht habe, und einem Vater, der manchmal da und  manchmal nicht da gewesen sei, dem die Mutter und die Kinder hätten “dienen” müssen, der bald nach Kriegsbeginn  Besitzer einer Transportfirma  und nach dem Krieg sogar sehr reich gewesen sei,  vor dem sie sich gefürchtet und dem sie zu gefallen gewünscht habe. So habe sie “zu seiner Ehre” Wirtschaftswissenschaft studiert, wobei sie noch während des Studiums geheiratet habe und in eine grössere Stadt gezogen sei.  Nach einigen Jahren sei eine erste, dann eine zweite Tochter zur Welt gekommen,  gleichzeitig habe sie in der Gesellschaft als “ungewöhnliche Frau” gegolten. Tatsächlich  habe sie angestrebt, eine besondere Bedeutung zu erfahren  und habe solche leicht erreicht, doch nirgendwo, wo sie als Erwachsene gelebt habe, habe sie sich wirklich wohl fühlen oder gar sich “einwurzeln” können. Ihre Töchter seien  nach Übersee gezogen und  lebten dort in verschiedenen Städten, von ihrem  Ehemann  habe sie sich scheiden  lassen.  Es sei eine Zweckehe gewesen, die irgendwann  keinen Sinn  mehr gehabt habe.  Die Geschwister hätten sich wegen des elterlichen  Erbes zerstritten, sie habe sich nicht darum gekümmert.  Ihre frühe Geschichte habe sie stets vergessen wollen, insbesondere ihre Vatergeschichte.  Nach dem Tod der Mutter habe der Vater noch mehrere Beziehungen gehabt und sei sehr alt geworden, sie habe ihn vor seinem Tod kaum mehr besucht.

Erst die Krebsdiagnose habe sie bewogen, den Weg zu sich selber finden zu wollen.  Es sei eine ganz andere Art Forschungsarbeit gewesen als die ihr vertraute, die Frage nach den Ursachen  der Angst vor den dunkeln  Kellern des Heranwachsens, vor der Geschichte des Vaters und vor ihrer Geschichte als dessen Tochter.  Die Arbeit habe sich über Jahre hingezogen,  mit Gefühlen der Scham, des Schmerzes und der Wut, allmählich der Befreiung. Die innere Grenze des Ertragbaren sei  nicht die körperliche Krankheit gewesen, auch nicht die Operationen  und die Chemotherapie mit allen Folgen, sondern die Verzweiflung über die Macht der Schattenwelt, diese jahrzehntelange Verschleierung ihres wirklichen Leidens und  ihrer Einsamkeit.  Noch  immer fühle sie sich innerlich schwankend, doch die körperliche und gleichzeitig die seelische Genesungsgeschichte sei vorangegangen, seit sich die Grenzen zur Kindheit und gleichzeitig jene nach vorn  ins Unbekannte geöffnet hätten. Allmählich lerne sie,  sich  und ihren  Körper in den „Jahreszeiten des Lebens”, selbst mit der dunklen Epoche der Anfänge, als Stationen des Überlebens und  Lernens zu akzeptieren. Vielleicht werde sie auch  lernen, sich  nicht mehr vor dem Eindämmern des Lebenslichts zu fürchten? Für sie habe letztlich das dunkle Tabu vor dem Vergangenen den furchterregenden Schatten bedeutet,  nicht der Tod.

*

Im Sonett 119 fasste William  Shakespeare zusammen, was die geheimnisvollen  Abläufe vom Kindsein zum Altwerden prägt, die „manch  ein Schatten fällt und unterbricht”, mit den Grenzerfahrungen des Aufbäumens und des Zerrinnens der Kräfte: ,,So wie die Wogen roll’n zum  kiesbedeckten Strand/ so eilen  unsre Stunden an ihr Ziel./ Wetteifernd überdeckt ein jedes Wellenband/  Das vor ihm eilende in stetem Wechselspiel. / Geboren wirst du in ein strahlend  Licht,/ erklimmst die Reife dann als dein gekröntes Ziel. / Doch manch ein Schatten fällt und unterbricht/ der Zeit so hoffnungsreiches Gabenspiel. / Die Zeit durchbohrt der Jugend Schwingen,/ schürft, deine Stirn mit Furchen zu durchziehn, / weiss ihre herbe Wahrheit aufzuzwingen./ Kein  Halm, der wuchs, kann ihrem Schnitt entfliehn. / Und doch:  In  Hoffnung habe dies mein Lied  Bestand,/ dass es dich preist trotz ihrer grausam harten  Hand”(20)

Jedes Lebewesen, selbst jedes pflanzliche,  ist dem „Gabenspiel” der Zeit ausgesetzt, das irgendwann endet. So geschah es mit der hochgewachsenen, zweiarmigen Platane auf der kleinen Wiese am See. Sie war meine treue Baumgefährtin, seit ich vor vielen Jahren ins alte Miethaus wohnen  kam, wo ich  nach wechselnden  Unterkünften  in der Stadt ein Zuhause finden konnte.  In  ihrem Schatten am  Ufer des Wassers hatte ich  ungezählte Male geruht.

Dieses Jahr, zu  Beginn des Frühlings, als sich  ringsum die anderen  Bäume mit neuem Blattwerk zu schmücken  begannen, stellte ich fest, wie sehr die Platane gealtert hatte.  Noch hoffte ich, dass die spärlichen  Blättchen an  den zahllosen Zweigen der ausgreifenden Äste grünen und wachsen würden, doch schnell waren sie vergilbt.  Beim  ersten, noch schwachen Gewittersturm im  Frühsommer flatterten sie zu  Boden.  Mir wurde bewusst, dass mit dem abklingenden Winter der Frühling bei ihr zu wirken versucht hatte, dass jedoch der Spätherbst schon  Einzug gehalten  und  keinen Neubeginn  mehr zulassen wollte.  Die Erneuerungs- und Wachstumskräfte waren von den Wurzeln  bis zu den Spitzen erschöpft, die Zellen ausgelaugt, brüchig und  matt.  Doch die grosse Platane fiel  nicht selber mit Beugen und  Brechen, wie Gottfried  Keller das Sterben der Eiche geschildert hatte,  nein.  Modernste Technik kam ihr entgegen.

Frühmorgens war auf einem  Lastwagen  mit langem Sattelzug ein grosser pinkfarbener Mobilkran  angefahren worden, der auf der Wiese vor der Platane abgestellt wurde,  hinter diesem ein kleinerer,  grüner Kran  mit einer Fassklammer.  Der pinkfarbene Mobilkran  führte seinen  Riesenarm mit einer sich öffnenden  Klammer wie eine mächtig zugreifende Hand erst zu den stärksten Ästen, ergriff diese, liess eine Säge vorrücken und führte Ast um Ast hoch aufgerichtet, wie ganze Bäume, in grosser Ruhe der grünen Kranklammer entgegen, die jeden ergriff und entweder in  einer offenen  Mulde auf dem Lastwagen sorgsam deponierte oder auf den Boden legte, wo er von einem jungen  Mann mit einer Handmotorsäge zerkleinert, anschliessend wieder hochgehoben  und in die Mulde gelegt wurde. So ging der Abbau voran,  Ast um Ast, dann von den zwei  Baumspitzen  her Teil um Teil der zum  Himmel ragenden Arme der Platane, dann der breite, mächtige Hauptstamm, aus welchem die zwei Arme auf gleicher Höhe herausgewachsen waren, der jedoch, während er vom Kran festgehalten wurde, mit der Handmotorsäge auf Erdhöhe durchsägt werden musste, in einem auf- und abschwellenden,  fordernden und klagenden, stöhnenden  Lied.  Es wollte nicht enden. Weisse Holzspäne bedeckten die Wiese wie einen Teppich. Dann wurde der letzte schwere Teil des Baumes, der Unterkörper mit dem verbleibenden  Rest der Arme,  langsam dem grünen Kran entgegengetragen  und vor diesem auf der Erde abgesetzt, durch den jungen  Mann mit der Handsäge in Teile zerkleinert, die von der grünen  Klammer wieder gefasst, hochgehoben und in der Mulde  deponiert wurden. Darauf war kein Laut mehr zu hören. Am darauf folgenden  Morgen sah ich, dass über dem breiten abgesägten Wurzelteil ein Erdhügel lag, wie ein zugedecktes Grab.

*

“Das Frühjahr ist wie ein Herbst,/ ein Abschiednehmen  / von allem, was kommt  ( … ) Keiner ausser dir kennt die kleine Linie,/ den Strich auf dem  Boden,/ den riesigen Strom,/ den du nie mehr/ überquerst.”(21)

So wie beim Baum vor meinem  Fenster sind  beim  menschlichen Älter- und Altwerden die Grenzen der körperlichen Kräfte sichtbar und spürbar. Der zunehmende Abbau und die nicht mehr aufschiebbare Todesnähe – “die kleine Linie, der Strich auf dem Boden” – können nicht vertuscht werden.  Es setzt ein  Leben im Gegenlicht ein, ein Leben von besonderem Wert, zugleich von besonderer Wertgefährdung, insbesondere angesichts der öffentlichen Klage über die .horrenden” Kosten der Pflege nutzloser, alter Menschen, die in den letzten zwei Jahrzehnten durch  die breite Markt- und  Mediendiktatur angewachsen  ist.  Ende Mai 2014 wurde im  Rahmen  der Generalversammlung von “Exlt” beschlossen, die Hilfe zum „Freitod” alter Menschen zu  legitimieren  und anzubieten.  Diese Tatsache bewirkte in den Alters- und Pflegeheimen, die mir nahe stehen, aufwühlende Auseinandersetzungen. Handelte es sich  bei diesem Angebot nicht um eine massive ethische Grenzüberschreitung?

Auf diese wichtige Frage werde ich bei einer anderen Gelegenheit eingehen(22). Heute erscheint mir wichtig, uns einfach auf das Bewusstsein  der letzen Lebensperiode zu konzentrieren, auf die Möglichkeiten  und Schranken deren  Erfahrung, auf Beobachtung und Wissen von Menschen, die uns nahe stehen, auf Ahnen und auf Nichtwissen  bei uns selber.

„Du sitzt am  Fenster/ und  es schneit – / dein  Haar ist weiss / und deine Hände – / aber in den beiden Spiegeln/ deines weissen Gesichts/ hat sich der Sommer erhalten:/ Land, für die ins Unsichtbare erhobenen Wiesen – / Tränke für Schattenrehe der Nacht”(23)

Es sind Gedichtzeilen von Nelly Sachs, der 1891 in  Berlin geborenen  und  1970 in Stockholm verstorbenen  Dichterin, die sie schrieb, als sie sich selber in ihrer Spätzeit empfand, weniger an gezählten Jahren, sondern  mit den nicht zählbar vielen Lebenszeiten, die sie in sich trug. Das Gedicht, aus welchem  ich die ersten Zeilen wählte, schrieb sie in der Zeit nach  dem Tod ihrer Mutter, im  Februar 1950,  beinah zehn Jahre nachdem sie mit ihr aus Berlin  hatte fliehen  und nach Schweden hatte gelangen können.

Das war am  16.  Mai 1940 gewesen, im letzten  Moment möglicher Rettung, als Nelly Sachs beinah 49 Jahre zählte.  Da ihr Werk aus der Zeit vor der Flucht verbrannt worden war – wie viele Bücher im damaligen  Deutschland -, nehme ich an, dass fast alle lyrischen  und szenischen  Dichtungen, die von ihr vorliegen und die auch mit zahlreichen  Literaturpreisen geehrt worden sind – 1966 gar mit dem  Nobelpreis-,  Mitteilungen aus der „Spätzeit” dieser Dichterin sind,  deren Sprache so feine Schwingungen  hat, als würde sie selber vor uns sitzen und  leise die Bilder schildern, die sie bewegen.

Mit den Zeilen aus einem ihrer Späten Gedichte, die wir vor uns haben, sprach  Nelly Sachs die Mutter an,  mit welcher sie die Wohnung  im Süden Stockholms, die ihnen zugeteilt worden war, bewohnt hat und die sie nach deren Tod weiter bewohnte, bis sie selber aus Krankheitsgründen den Spitalaufenthalt brauchte.  Dort starb sie am  12.  Mai 1970. Ich war damals dreissig Jahre alt,  noch ohne Studienabschluss, unterrichtete Sprachen und übersetzte Bücher, hatte Zwillinge geboren – Knabe und  Mädchen -, dann  ein  kleines Mädchen, das zur Welt kam und nicht leben  konnte, dann einen  Knaben, und war in Erwartung des fünften  Kindes, voller Hoffnung, es komme zur Welt ohne Beschwerden und trage in sich  eine starke eigene Kraft fürs Leben. Was meine Kräfte betraf, war ich für mich selber in schwindender Zuversicht, fühlte mich alt, da die erlebte Zeit in mir wie ein dunkles Gemenge wirkte, das, wie ich zunehmend spürte, sich zur “Ellipse” formte, für deren  Farben und  Klarheit ich die Verantwortung trug.

“Mutter”, hatte Nelly Sachs geschrieben  / 11( ••• )  umzogen von göttlicher Ellipse/ mit den beiden Schwellenbränden / Eingang/ und  / Ausgang / Dein Atemzug holt Zeiten heim/ Bausteine für Herzkammern/ Und das himmlische Echo der Augen … / Leise vollendet sich / die schlafende Sprache/ von Wasser und Wind im  Raum deines/ lerchenhaften Aufschreis. “(24)

Bedurfte die “Herzkammer” meiner Kinder, ja, bedurfte meine eigene nicht der “Baustelne”, die sicherer waren als diejenigen,  die ich bieten konnte? War die Wohnung, in welcher Nelly Sachs  “die  Zeiten  heimholen”  konnte,  ein Symbol von ähnlichem  Wert  wie die Sprache,  in die  sie  sich  flüchtete?  Was  heisst  .Alter”?  Welche  Jahre  sind  die “späten  Jahre”?  Was bedeutet “spät”?

Es war meine Grossmutter gewesen, die mir häufig gesagt hatte, ich solle mich “rechtzeitig auf den Weg machen, damit ich nicht zu spät komme”. Sie, die im  Elsass zur Welt gekommen und aufgewachsen war, in Armut und ständiger Unsicherheit, sowohl was den Alltag wie was die Zukunft betraf, die noch vor dem Ersten Weltkrieg in die Schweiz gelangen konnte, meinen Grossvater heiratete und  meinen Vater gebar, dann weitere sechs Kinder, während ihre männlichen Familienangehörigen  an der Front und die weiblichen,  mit Ausnahme einer Cousine, an den Folgen der Spanischen Grippe starben, sie wusste, dass es eine ständige, kaum erfüllbare Aufgabe ist, den Rhythmus der ungleichen Zeiten zu koordinieren und Zeitraster einzuhalten,  in denen die berechnete und vorgegebene Zeit mit der eigenen,  inneren Zeit in einem ständigen, nagenden  Konflikt stehen. Zu spät sein” hiess nach ihrer Erfahrung “zu kurz kommen”.  Es wurde als eigene Verantwortung bewertet, schon  dem  Kind gegenüber, wenn ein vorgegebener Zeitablauf nicht durchgeführt oder nicht eingehalten werden  konnte, vielleicht weil Hindernisse im Weg standen, vielleicht auch weil ein eigener Widerstand  mitwirkte oder weil das Zeitgefüge – das innere und  das äussere – einander blockierten. So geschah es immer wieder, dass ein Weg mir überflüssig erschien, als unnütz verbrauchte Zeit, dass ich einen anderen zu gehen wünschte, doch dass ein Streben spürbar wurde,  nochmals zur Wegkreuzung zu gelangen, vielleicht rückwärts zu gehen und anders zu gehen, doch ständig hiess dies in  meiner Empfindung, dass die Zeit schrecklich begrenzt war, da die Zukunft vorweg Vergangenheit wurde, so dass ich  mich in der Kindheit und Jugend wie atemlos fühlte.

“Zu spät sein” konnte heissen, dass eine Türe sich  nicht mehr öffnete, wenn ich an sie gelangte,  hiess vielleicht Selbsttäuschung wegen der Hoffnung, die ich  auf dem Weg zwischen Tagen und  Nächten  und Jahren wie einen  Motor in mir wach zu halten suchte, aber Hoffnung worauf? – auf eine zeitlose Zeit? Auf Glück? War Zukunft ein blasser Traum? Und das Ziel der Rechtzeitigkeit? Ein Altwerden? – ein Geborgensein? All dies war eine Warnung wegen des Übermasses an Zeithunger, der ungestillt blieb. Meine Mutter, die ihren erstgeborenen Sohn verloren  hatte,  bedurfte meiner steten Tätigkeit, als ich ein Kind war,  um die Trauer nicht zu vergessen. So empfand ich mein Leben  eingegrenzt von vielerlei Pflichten und  Dringlichkeiten, doch nicht ohne Sinn  und Zufriedenheit.

In der Kindheit konnte ich freie Zeit beanstanden, wenn ich  mich bei meiner Grossmutter befand,  und trotzdem kannte ich sie kaum. Um freie Zeit zu haben, bedurfte es der Flucht, wie mir schien.  Einmal, ich erinnere mich, lag ich  unter einem Baum,  ich wusste nicht wo, jenseits der Schweizer Grenzen, die Grillen zirpten, den Wind spürte ich  leicht durch die Blätter wehen.  Neben  mir lag im Gras der grosse Wächterhund, dessen Kette ich von der Hauswand gelöst und der mich durch die Wiesen mit sich gerissen hatte, ungehemmt atmend  und glücklich-erschöpft, da ihm nie zuvor Freiheit zugestanden worden war.  Ich war ein  Kind damals, noch vor der Schulzeit, ich spürte in mir weder Alter noch Angst.

Irgendwann tauchte einer der Grossonkel auf, packte mich hart an der Hand  und den Hund an der Kette. “Spät ist es, Abend”, brummte er “Seit Mittag musste ich den Hund und  dich suchen.” So wurde ich zurückgeführt ins Grosselternhaus und bekam an jenem Abend kein Abendbrot.  Der Hund wurde wieder mit der Kette an die  Mauer gefesselt. Wir hatten nicht nur die Grenze des Erlaubten, sondern auch die Grenze des Landes, in dem wir lebten, sorglos überschritten.  Es blieb eine Freundschaft zwischen dem Hund und mir, auch eine Art Übereinkunft mit  den Grosseltern. Obwohl sie mir wenig erklären konnten, schien  mir, dass sie spürten, was die Freiheit mir bedeutete, als seien wir ähnlich alt.  Eventuell war das Pflichtengehäuse gesellschaftlicher Kindheitsregeln  ihnen fremd geworden. Oder bedeutete sowohl ihnen wie mir das Leben das Nicht-Vorhersehbare, das Nicht-Absehbare, so dass ein Vertrauen in eine geheime, unbegrenzt wirkende Kraft uns trug, und die Abhängigkeit von anderen  Menschen – jene vom finsteren  Bruder-Schwager-Grossonkel – ähnlich empfunden wurde wie jene vom Wetter?

Was heisst alt werden  und alt sein? Obwohl ich an Jahren allmählich  alt bin  und mehrere Lebensgrenzen erlebt habe, will ich  nochmals eintauchen  in das Zeitempfinden, wie es in der Kindheit wach war. Als 1948, nach Kriegsende, meine Eltern erstmals wieder ins Ausland gefahren waren,  nach Mailand,  dann ans Meer und nach Rom, und ich sie vermisste, stieg ich eines  Morgens den Hügel hinunter, um  Besorgungen für den Haushalt zu erledigen.  Es war zu  Beginn des Sommers, die erste Ferienwoche in der ersten Schulklasse.  Da sah ich meine Mutter auf der anderen Seite der Strasse stehen, zurückgekehrt nach, wie mir schien, unendlich  langer Zeit.  Ich  lief über die Strasse hinweg ihr entgegen, ohne im geringsten zu achten, ob es nötig sei zu warten, wurde von einem Auto überfahren  und aufs schwerste verletzt, war in der Folge ohne Bewusstsein, dann  mit einem  Bein wie an einen Schragen gehängt,  bewegungslos, nur noch  beschäftigt mit meiner inneren Welt. Als ich  mich  nach Monaten  im Spital wieder zu Hause befand, fühlte ich mich alt wie die ältesten  Menschen, die ich  kannte.  Eine Zeitgrenze war hinter mir. Gehen  und  lachen lagen weit zurück oder standen mir nicht mehr zu.

Da baute mir ein Knabe aus Wien, der sich  bei uns von Krieg und  Hungersnot erholte, eine Seifenkiste, mit welcher er mich die steile und steinige Strasse neben dem  Haus hinunterfahren  liess, dann  mich lehrte, gestützt auf die Seifenkiste, Schritt für Schritt wieder gehen zu  lernen.  Irgendwann ging ich wieder und fand die Rückkehr ins Leben.

Für mich  als Kind hatten “spät” und “alt” besonderen Wert.  Unter der Bettdecke mit einer kleinen Taschenlampe zu lesen, bis von einem Turm, der nicht nahe stand, zwölf dunkle Klänge Mitternacht anzeigten, als gälte die Mahnung mir, dem Kind, das nicht schlief. Oder zu später Stunde zu  hören, dass Besuch ins Haus kam, ein Freund meines Vaters,  mit welchem  sich Gespräche stundenlang fortsetzten, hinter geschlossener Tür im  Raum nächst der Eingangstür, der Herrenzimmer hiess. Oder zu hören, dass die  Hebamme eintraf, die hinter der Wand, die mich vom Elternzimmer trennte, mit meiner Mutter sprach,  bis irgendwann ein leises Weinen ertönte und ich am  Morgen erfuhr, dass eine Schwester zur Welt gekommen war, einmal ein Bruder.

Ist es merkwürdig oder nicht, dass “spät” und “alt” in deren  Bedeutung auch vernetzt waren mit ,,früh”? Was im Gegenlicht wahrgenommen wird, ob in der Abenddämmerung, ob im Morgendunst,  ist Grenzerfahrung von flüchtigem Zauber. Schlaflosigkeit oder Fieberträume ermöglichten die Vernetzung, manchmal war es Angstverklammerung, häufig aber Eigenwilligkeit und Wissensdurst, immer die Ahnung, dass zwischen  Leben  und Tod ein schmaler Pfad  ist.  Leben bekommt so den Wert des Morgengeschenks.

Eine Erinnerung? Früh  morgens erwachen, die Gräser unter glitzerndem Tau erleben und  die ersten Vogelrufe hören, an der Hand des Grossvaters gehen, der selber kaum sprach, mich neben ihn auf eine Bank setzen, nachdem er mit der Sense das Gras geschnitten  hatte,  und warten, bis er mit langsamen Schritten wieder heimwärts ging. Oder am  Freitagmorgen vom Duft des Brotes erwachen, das die Grossmutter buk,  und am Tisch in  der Küche auf das knusprige kleine Brot warten, das sie auf besondere Weise für mich geformt hatte, dann zuschauen wie Laib für Laib, in Tücher gehüllt, in einer Nebenkammer im oberen Stockwerk in  eine Truhe gelegt wurden, um für die Woche zu  reichen.

Was ich damals empfand, blieb gespeichert bis heute, auch während  Lebensetappen, die in dunkeln Tunnels durchschritten werden mussten. Gespeichert blieb die Nähe von Kindsein und Altsein, die einem Strickwerk gleicht in  unterschiedlichen Farben,  mit Faden mustern hinauf und hinunter, ständig verstrickt.  Ist eines leichter, eines schwerer,  beide anders und gleich? Für die Lebensetappen gibt es weder im  Erleben  noch  im  Rückblick zeitliche Grenzen.  Im  Moment der Gegenwart werden sie gleichzeitig und zeitlos.

Und  heute? Wieder drängt sich  Erinnerung vor und  mischt sich unter die aktuellen Aufgaben und  Belastungen, die Erinnerung an Janka  K. Sie stand  mir nah, aus dem Warschauer Ghetto gerettet. Mit sechsundachtzig Jahren starb sie wie ein erschöpftes Vögelchen. Sie hatte weder Haus noch  Enkelkinder wie meine Grossmutter, aber ein Zimmer für sich, auch eine kleine Badeküche, ein  Bett mit einer Sommerdecke und einer Winterdecke, sie hatte einige wenige Fotos und Dokumente, drei  Lampen, Gläser und Teller, zwei wacklige Tischehen aus Metall und einen starken Tisch aus Holz, einen alten  Drehsessel, auf welchem sie sass und sitzend schlummerte, während die Zeit zerrann.  Ein  Fenster war vor ihr, mit dem Blick auf die Dächer von Zürich  und auf die Wolken, die am  Himmel vorüber glitten,  manchmal wie Herden von Schäfchen, manchmal wie wandelnde  Berge.

In Warschau hatte sie Jura studiert und Gedichte geschrieben, in der Schweiz als Übersetzerin gearbeitet, bei der Fremdenpolizei und  privat, immer bewegt vom Wunsch, Menschen aus Polen  beim Gesuch  um Asyl zu unterstützen, jahrzehntelang ohne Honorar, aber mit einem wachsenden  Netz von Frauen  und Männern, die ihr nahe blieben.  Daran dachte sie, wenn sie im Sesselsass,  Bilder wurden wach und bunt, in welchen sie sich selber sah,  intensiv und stolz, auch  Bilder von den Kindheitsjahren in Warschau, dann von Vorlesungen  im Ghetto in  Medizin, Biologie und  Psychologie.  Eng sassen die Menschen nebeneinander, lauschten  und lernten, sie, die überlebte, und viele, die nicht mehr lebten. Wissen galt als Gegenkraft gegen die Verzweiflung.  Doch glitten zugleich, wenn sie von ihrem Sessel in die Wolken blickte, aus anderen Bildern Wehmut und Trauer über sie herein. Sie sah die Eltern, die Freundin  Ejgha Jochelson,  Kinder aus dem nahen Umkreis und viele Menschen mehr, wie sie an die Sammelstelle gejagt, auf die Lastwagen gestossen und abgeführt worden waren, einige, die schon vorher irr geworden waren oder gestorben waren vor Hunger.

Als Janka  K.  in jeder Hinsicht sehr hilfebedürftig wurde, auch die kleinen haushälterischen Aufgaben  nicht mehr selber erledigen konnte, fragte ich sie, ob sie einverstanden wäre, in ein Pflegeheim umzuziehen und dort umsorgt zu werden. ,,Auf keinen Fall”, war ihre Antwort,  mit unmissverständlichem Ton. Seither kam dreimal täglich eine Betreuerin von Spitex zu ihr. Auch ihr Arzt, dessen Praxis im gleichen Haus war,  in welchem sie im Dachstock lebte, konnte stets gerufen werden, eine Nachbarin auf der gleichen Etage schaute oft vorbei, ein Paar aus dem polnischen Kreis besorgte ihre Buchhaltung, und täglich, wann immer möglich, besuchte ich sie und  brachte ihr mit, was sie brauchte und was sie freute,  manchmal Blumen, manchmal frisches Brot oder ein Fläschchen Wein, immer meine Zeit.  Ich setzte mich in ihre Nähe. ,,Hier ist mein Ort, mein Raum”, sagte Janka K. Was hiess „ihr” Raum?

Alles, was ihrem  persönlichen Lebensmassstab und ihren  Bedürfnissen entsprach, konnte Janka  K.  in diesem Raum geniessen, obwohl ihr Körper nur noch Schmerz war,  Knochen, Gelenke,  Lungen,  Herz und  Kopf, alles Schmerz, gebrochen, entzündet, vielfach  krank,  mit Wasser angefüllt, obwohl  auch das Zeitgefühl schwand  und oft, wenn ich abends zu  ihr ging, sie lächelnd fragte, ob ich schon gefrühstückt habe. Auch waren es die gleichen Geschichten, die sie nicht losliessen und die sie immer wieder erzählte, als sei es das erste Mal. Nelly Sachs hatte festgehalten in wenigen Zeilen, was Janka erlebte und  ich  mit ihr:

,,  …  im Alter ist alles ein grosses Verschwimmen/ die kleinen Dinge fliegen fort wie die Immen./ Alle Worte vergasst du und auch  den Gegenstand./ Und  reichtest deinem  Feind über Rosen  und  Nesseln die Hand.”(25)

Oft wollte sie weder Geschichten erzählen  noch klagen, nur Weisheit austauschen. ,,Angst ist ein schlechter Berater”, sagte sie fast täglich, erinnerte sich dabei an den Vater, der ihr dies vorgelebt hatte, und  blickte mich an mit Glanz in den Augen. Oft fasste sie leicht meine Hände dabei und  hielt sie fest. 11Wenn  nur keine Träume wären, die mag ich  nicht, keine Träume mag ich”, sagte sie.  Eines Tages aber erzählte sie erstmals einen guten Traum. Sie hatte  Ejgha gesehen, die Freundin, die Warschau nicht überlebt hatte, ganz nah, als lebte sie wieder.

Tage und Nächte waren für sie gleich wie ein langer Abend. Aufzeichnungen von Robert Walser fielen mir ein, als ich einmal von ihr wegging. Auch Erinnerungen an  meinen Vater, der, als er so alt war wie Janka  K., ebenfalls die Abendstimmungen liebte, das himmelvergoldende, langsam verblassende Licht. Walser hatte in einem  kleinen Text zum Abend festgehalten: ,,Einige Helligkeit war am Verschwinden, war noch da, hauchte und schwebte  noch da und dort herum. ( …. )  Alles war so still, lautlos, freundlich-nachbarlich, gut und gross.  Ich wünschte, dass die Zeit zwischen Tag und  Nacht, die schöne Zwischenzeit, die liebe, schöne Abendzeit ewig, ewig andauern könnte.  Eine Ewigkeit lang Abend. Weiter ging ich. ( … )  Da kam  ich  über die Brücke.”(26)

Über welche  Brücke? Die Brücke ist der Schlaf,  mit welchem  Robert Walser,  Nelly Sachs, meine Grosseltern, mein kleines Mädchen Josephine, mein Vater,  meine Mutter, Janka K., ich selber, jede und jeder von uns das andere Ufer – vielleicht den nächsten  Morgen, oft nur die nächste Stunde – in der Besonderheit der eigenen  Lebensdauer erreichen  konnten  oder können. Was „früh” und “spät” bedeuten, wird spürbar in  der Klarheit und  Intensität des Gegenlichts, das in flimmernden Dunst übergeht oder in  Dunkelheit.  Irgendwann  ist es der letzte Schlaf. Walter Vogt”, ein Arzt und Schriftsteller,  notierte in seinem Tagebuch, das unter dem Titel Später Sommer erschien:  ,,Alles altert, auch die Sonne, auch  der Wind. An einem Nebelmorgen  hocken die Möwen  auf dem Steg,  mit ihrem  novemberlichen Schrei. Selten genug zerreisst ein Reiher “das Porzellan  des Abends” mit seinem  krächzenden Ruf.

Vor wenigen Jahren waren die Reiher häufiger, sassen öfter nebenan, auf einem bestimmten  Bau: dort hatten einmal Milane ihren  Horst gebaut.  ( …. )   Alle altern, Möwen, Reiher,  Enten.  Es altert der Mensch, es altert die Natur. Von den kleinen Singvögeln sagt man: was im folgenden Jahr in denselben schier unendlichen Schwärmen  über dieselben Pässe zieht, ist, im Schnitt, immer schon die nächste Generation.  Kleinere Vögel altern rascher als grosse.  Junge Menschen altern schneller als ältere.  Erst Greise altern wieder mit atemberaubender Geschwindigkeit, so dass man es sieht.  ( …. )   – Vorgänge, die nicht rückgängig zu  machen sind”(28)

Zum wichtigsten gehört in den späten Jahren, dass nicht Angst die wachsende Hilfebedürftigkeit und Wehrlosigkeit beherrscht, dass der Mensch in  Räumen, zuletzt in einem  Raum leben kann, in welchem, gemäss dem Gedicht von Nelly Sachs, ,,die Zeiten heimgeholt” werden  können, welche die „Bausteine der Herzkammern” sind.  Dass der Raum selber gewählt werden kann, in welchem sich der Blick auf den Abend richtet und im Gegenlicht den nächsten Morgen ersehnt, so wie ein Vogel den Ast selber wählt, auf welchen  er sich setzt für die Nacht.

*

  1. Vorlesung

Grenzen im menschlichen Zusammenleben

„Alle  landmessenden Finger /  erheben sich  / von den Staubgrenzen” … (29)

Was im  Innenleben des Individuums von der frühen Kindheit bis ins hohe Alter auf vielfältige Weise als Grenzerfahrung erlebt wird, bestätigt sich auch  im öffentlichen  Raum  in allen Zusammenhängen  menschlichen Zusammenlebens.  Nichts, was mit „Grenze” zu tun hat, ist trivial.

Wenn wir uns selber sagen  hören, dass wir mit der zu  leistenden Arbeit oder mit körperlichen Schmerzen „an unsere Grenzen stossen”, betrifft es das psychische und körperliche Kräfteverhältnis, das durch das Zusammenleben mit anderen  Menschen, durch Existenz- und Arbeitsbedingungen geprägt wird. Oder wenn wir zu verstehen geben, dass wir uns „grenzenlos ärgern,    geht es um das emotionale und moralische Verhältnis zu Grundwerten und  Erfahrungen, die durch kulturelle und  rechtliche Bedingungen  und Regeln beeinflusst werden. Oder wenn wir klar vermitteln, dass wir uns „ausgegrenzt fühlen”, ist das gestörte oder verletzte Verhältnis gemeint zwischen dem individuellen  Bedürfnis nach Zugehörigkeit oder nach gerechter Partizipation, und dem Machtverhalten des Kollektivs.

Und wenn wir uns an  die Berliner Mauer erinnern, die Mitte August 1961 als unüberwindliche Grenze zwischen Osten  und Westen gebaut wurde, und an den Freudentaumel, als diese am 9. November 1989 gebrochen wurde, oder wenn wir an den über 3’144 km langen Grenzzaun zwischen den  USA und  Mexico denken, der 2006 unter George Bush mit dem Sicherheitszaungesetz noch  um  mehr als 1000 km verlängert wurde und der die Verzweiflung und den Tod Tausender von Menschen bewirkt hat, oder wenn wir uns der aktuellen Ausgrenzung der palästinensischen  Bevölkerung von ihrem  Land durch die 759 Kilometer lange Mauer sowie durch die Besetzung der Wohngebiete durch die Siedler im Westjordanland  bewusst werden, oder wenn wir lesen, dass Ungarn  nun seine Grenzen zu Serbien für Flüchtlinge zumauert so wie die Türkei ihre Grenzen zu  Bulgarien, oder dass im französischen Calais zur Verhinderung der Einwanderung von Flüchtlingen nach England ein vielfacher Hochsicherheitszaun errichtet wurde, so wie einer im marokkanischen Melilla besteht gegen die Überquerung der Meerenge von Gibraltar, oder dass ein Teil der Schweiz fordert, ihre Grenzen  mit Militär vor Flüchtlingen zu sichern, oder dass die Sprachgrenze – der „Röstigraben” zwischen der deutschsprachigen  und der französischsprachigen Schweiz die nicht übereinstimmenden  Resultate bei politisch wichtigen Volksabstimmungen  bewirkt, oder dass die neuen Gesetze im Asyl- und Ausländerrecht die Grenzen völkerrechtlicher und menschenrechtlicher Ethik sprengen, so wird immer mit Erschrecken das verletzbare Verhältnis zwischen dem eigenen  politischen  Denken  und der massiven politischen Entscheidungsmacht – oder moralischen Gegenmacht – bewusst, in welchem  die Bedeutung von Grenzen  mit dem Zwiespalt zwischen „Sicherheit” und Ausgrenzung, zwischen  Recht und  Unrecht einhergeht.  Die Begrenztheit der Demokratie infolge der medialen ideologischen  Betörbarkeit der Masse sowie der Macht von Kapital und Wirtschaft  ist für viele Menschen eine erschreckende Grenzerfahrung, der gegenüber sie sich  hilflos fühlen.

Ich möchte daher auf die Grenzen zu sprechen kommen, die das kollektive Leben im privaten  und im öffentlichen  Raum regeln.  Sie betreffen das Leben innerhalb von Familien, das Leben von Paaren, das Leben  innerhalb von Nachbarschaft, von religiöser oder politischer oder beruflicher, künstlerischer, sportlicher oder anderer Gruppenzugehörigkeit, sie betreffen die Schulen  und  Universitäten, die Arbeits- und Anstellungsbedingungen, das Verhältnis der Geschlechter und der Generationen unter einander, jenes zwischen Erwachsenen  und  Kindern und jenes zwischen „Einheimischen” und „Fremden”, die Volkszugehörigkeit und das Zusammenleben  innerhalb von Gemeinden,  Kantonen und Staaten, das Zusammenleben auf der Welt. Sie betreffen jedes soziale und  politische Verhältnis, jede Art von System  im  Bereich von Regeln, die für alle gleich gelten sollten, dies jedoch  nicht tun, von Gesetzgebung und von Umsetzung von Gesetzen, von Gerichts- und von Strafverfahren, von Krieg und  Frieden. Sie betreffen ebenso die Benutzung des Bodens und der Kräfte der Natur, der Luft und des Wassers, die Fragen von Besitz und Eigentum, von sozialer Verpflichtung gegenüber Armen, Heimatlosen und  Kranken.  Es geht dabei um Verhältnisse zwischen  menschlichen Grundbedürfnissen, Grundrechten  und sozialen  Regeln, um zugestandene oder nicht zugestandene politische und zivile Rechte und denen entsprechende Pflichten, um Gebote und Verbote, die für alle tragbar sein sollten, um Gesetze und um  übergeordnete ethische Normen. Jedes Verhältnis – schon das Verhältnis des Menschen zu sich selber – beruht auf einem  Ermessen und  Respektieren dessen, was zulässig und was nicht zulässig ist, was ertragbar und was nicht ertragbar, was lebensstärkend  ist oder was Schaden  und Leiden  bewirkt: dazwischen sind Grenzen.

a) Grundbedürfnisse, Regeln, Gebote und Verbote,  Rechte und Pflichten

„Aux yeux des hommes, rien n’ existe hors du cadre. Je te conseille de briser le cadre.”(30)

Möglicherweise sollte ebenso angeraten werden, den Rahmen zu achten? Wie unterscheiden sich „Rahmen” und „Grenze”?

Ohne Zweifel ist jede Empfehlung und jeder Rat durch subjektive Erfahrungen geprägt und richtet sich auf einen Zweck aus, der wiederum  Folgen  nach sich zieht. ,,Man  hüte sich,/ aus den Schranken/ und  Unzulänglichkeiten/ des eigenen Denkens/ Massstäbe zu schneiden/ für die Welt;/ aus den Massstäben / und  Unzulänglichkeiten/ der Wekt / Schranken zu zimmern/ fürs eigene Denken. “(31)

Um die Bedeutung der individuellen  und  kollektiven Grenzen und Grenzerfahrungen zu verstehen, ist es nützlich, deren Bedeutung mit anderen Grenzen zu vergleichen.  Die gebräuchlichste und – vordergründig –  unproblematischste Verwendung von Grenzen geschieht im  Bereich der Räume, ob es sich  um die Wände und die Schwelle zwischen dem Innern und dem Äusseren eines Zimmers, einer Wohnung oder eines Hauses handle, oder um die Abgrenzung privater Grundstücke durch einen Zaun oder um die Abgrenzung öffentlicher Territorien durch deren  Benennung, um Quartier-, Dorf- oder Stadtgrenzen,  um Gemeindegrenzen, um  Kantons- oder Landesgrenzen.  Diese Grenzen  machen  deutlich, dass die Menschen das unabgegrenzte kollektive Leben, das offene In-der-Welt-sein schwer ertragen, dass sie abgegrenzte Räume brauchen, nicht nur private Räume, sondern auch politisch definierte öffentliche Räume, die zu betreten oder zu bewohnen es eines besonderen  Rechts oder einer besonderen Genehmigung bedarf, die eine Zugehörigkeit voraussetzt oder die bewilligt, erworben oder erkauft werden muss, die mit einer besonderen  Identität einhergeht, die eventuell durch „Identitätspapiere”,  Pässe, Geburtsscheine, Strafregisterauszüge, Quittungen  und andere Dokumente bestätigt werden muss. Die Abgrenzung und  Eingrenzung sowohl des privaten wie des politischen  Raums, auch des nationalen, hat die Bedeutung eines Rahmens, der in erster Linie der Sicherheit und der Ausgrenzung dienen soll. ,,Sicherheit” wird beinah ausschliesslich durch  Bilder von Bedrohungsszenarien definiert, die sich aus der Angst vor dem Andern  und dem Anderssein, aus dem Vorbehalt und  Misstrauen gegenüber Differenz und  Differenzen  konstituieren.

Differenz wird  mithin in erster Linie benötigt und  benutzt, um Identität zu konstruieren. Derweil beruht die Differenz auf der Individualität jedes Menschen, das heisst auf dem nicht austauschbaren Wert seiner Besonderheit. Jede Besonderheit geht mit dem  Ich-sein  und dem Subjektsein einher, das in den Beziehungsstrukturen zum  Du wird, dadurch zum Objektsein, ohne den Wert des Subjektseins einzubüssen. Diese Tatsache ist für alle Menschen gleich. Sie beinhaltet die Würde des Menschseins.

Individualität kann daher wie ein fester „Besitz” von persönlichem Wert und von besonderen  Eigenschaften verstanden werden, als untrennbare Besonderheit des Menschen  in der Zugehörigkeit zu sich selbst, zu seinem  Ich, das gleichzeitig als Du angesprochen wird, ersehnt und liebenswert ist, weiblich  oder männlich,  und zu einem Wir gehört,  einen  Namen  und einen  unverwechselbaren  Körper hat, Schweizerin/Schweizer oder Schwedin/Schwede oder Somalierin/Somalier, Gärtner/Gärtnerin oder Arzt/Ärztin  oder Kellner/Kellnerin  und noch vieles mehr, wer immer ein Mensch  ist,  ist in seinem So- und Dasein von unverwechselbarer Einzigartigkeit,  Besonderheit und Bedeutung: ,,Qodlibet ens est unum, verum, bonum”, Was seit Augustinus über die Zeit der Scholastik bis zu  Kant(32) und seinen  philosophischen Zeitgenossen Anlass  zu Auseinandersetzungen  im  Bereich der transzendentalen Analytik  bot, wurde in  neuerer Zeit zunehmend  in den Bereich  der existenz- und sozialphilosophischen  Erkenntnislehre und Ethik einbezogen, letztlich  auch in  den politischen Bereich der Charta der Vereinten  Nationen vom  26. Juni  1945,  die die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 beinhaltet.

Die Individualität des Menschen, die sich von jeder anderen  Individualität abgrenzt und unterscheidet,  kennzeichnet sich jedoch  nicht nur durch  Besonderheit aus, sondern ebenso durch grundlegende Bedürfnisse, die kaum allein gestillt werden  können.  Jeder Mensch bedarf gleichzeitig der anderen  Menschen,  deren Zuwendung, der körperlichen  Fürsorge sowie der geistigen  und seelischen  Unterstützung. Jeder und jede  bedarf der Nähe und der Achtung, der Ordnung,  des Schutzes und der Sicherheit, der Möglichkeit von Bildung, von Arbeit und von gerechtem  Lohn, der Anerkennung von Freiheit und Würde.  Doch  ebenso  ist er/sie jedem  anderen  Menschen  gegenüber zu Wohlwollen, Anerkennung und Achtung,  in irgend einer Form  auch zu  Unterstützung verpflichtet, und sei es zu einem  Gruss oder einem Lächeln.  Die persönlichen Grundbedürfnisse jedes  Menschen  entsprechen den gleichen Grundbedürfnissen jedes  anderen  Menschen.  Deren Anerkennung geht den Grundrechten voraus, wie Simone Weil  in  ihrem  letzten Werk(34) ausführlich  begründet hat,  das sie im Auftrag der französischen  Exilregierung  in  England  kurz vor ihrem Tod, mit 34 Jahren, abschloss.

Wenn  nicht von Individualität, sondern von Identität die  Rede  ist,  die durch Identitätspapiere offiziell bestätigt wird, die zum  Beispiel berechtigen oder nicht berechtigen, eine staatliche Grenze zu  überschreiten, so müssen wir zu Recht fragen, um welche „Identität”,  resp. um welche „Gleichheit” es sich dabei  handle.  Gleichheit zwischen wem und wem, oder zwischen wem und was?

Es gibt eine Gleichheit der menschlichen Grundbedürfnisse, ebenso eine Gleichheit der Grundverpflichtung zu deren Anerkennung sowie eine Gleichheit der Grundrechte, unabhängig von Herkunft und Staatsbürgerschaft, von Alter und von gesellschaftlichem Rang, von Aussehen und Geschlecht, von Religion  und von Gesundheitszustand. Staaten, die die Grundbedürfnisse und Grundrechte von Menschen nicht beachten oder ungleich beachten, wie es in der aktuellen europäischen, zum Teil auch schweizerischen Asylpolitik geschieht, missachten die grundlegenden  Regeln der Erklärung der Menschenrechte. Gesetze, die die Missachtung der Menschenrechte, somit menschliche Ungleichbewertung und Entwertung legitimieren,  könnten von denjenigen,  die sie rechtfertigen  und  umsetzen, nicht ertragen werden, wenn sie ihnen gegenüber umgesetzt würden.

Identität bedeutet Eingrenzung und Ausgrenzung.  Bei der Staatsbürgerschaft etwa geht es um ein erwerbbares,  käufliches Recht, das während einer Lebenszeit mehrmals gewechselt werden kann. Es handelt sich somit um eine Variable von ausschliesslich funktionalem Wert, die keine Garantie für Lebenssicherheit ist, wie unzählbar viele Flüchtlingsschicksale belegen.  Dasselbe kann von der Zugehörigkeit zur gleichen Religion gesagt werden oder von der verhängnisvollen  und fragwürdigen  Begriffskonstruktion “Ethnie”, die jene von “Rasse” abgelöst hat.  Es gilt selbst für das Geschlecht. Jede dieser “Identitätskategorien” weist für das einzelne Individuum, das eine oder mehrere davon für sich  beansprucht oder das durch eine oder mehrere determiniert wird, eine Fülle von Differenzen auf,  nicht nur wenn das ganze Leben von der Geburt bis zum Tod betrachtet wird, sondern selbst wenn nur ein einzelner bestimmter Tag oder ein einzelner bestimmter Moment  in den Blick fällt.  Immer ist das, was als Identität erscheint, ein Zugleich vielfältiger,  sogar widersprüchlicher Differenzen  im einen  und gleichen Individuum. So kann Identität eigentlich nur als ständig sich verändernde Summe der Differenzen oder als Prozess verstanden werden, der im abgegrenzten Selbst besser oder schlechter integriert ist.  Identität ist  kaum als festen  Besitz und schon gar nicht als Garantie für Sicherheit zu betrachten.

Was allerdings “identisch”  ist bei allen  Menschen, unabhängig von ihrer je individuellen Besonderheit und von den unterschiedlichen  Identitätsausweisen,  ist das Menschsein, und mit dem Menschsein die existentielle Begrenztheit in der Zeitlichkeit, die Sterblichkeit, sowie die gegenseitige Abhängigkeit voneinander in der Stillung der wichtigen  Bedürfnisse, die “Grundbedürfnisse” heissen. Zu diesen gehört nicht zuletzt der Respekt vor der Freiheit, die eigenen  inneren Grenzen zu  benennen, die Grenzen des Erträglichen und Nicht- Erträglichen, des Zumutbaren und des Unzumutbaren.

Wenn ich sage, dass Zeitlichkeit unsere Existenz definiert, so wiederhole ich  in der Sprache der Philosophie, was eingangs in der Sprache der Psychoanalysegesagt wurde, dass zugleich Gebürtlichkeit (natalité) und Sterblichkeit (mortalité) den Zeitrahmen  der Existenz darstellen und diese in ihrem  individuellen  Rahmen  begrenzen. Dazu gehört das Anfangen können als Ich  und als Du,  in der Selbstbeziehung wie in der Beziehung zu anderen  Menschen, wobei gerade in diesem Anfangen können die Befähigung zur Freiheit liegt, wie Hannah Arendt in ihrem Werk mehrmals festhält.  Mit der existentiellen  Eingrenzung des Menschen in die Zeitlichkeit hängt seine „ Welthaftigkeit” zusammen.  Diese ist daher immer auch durch

räumliche Komponenten definiert, durch einen Platz in der Welt, der sich  nicht bloss durch die individuelle Geschichte kennzeichnet, sondern  im  Hintergrund dieser einen Geschichte gleichzeitig durch die vielfach gemischte Herkunfts- und Zeitgeschichte der Familie, durch die generationenübergreifende Geschichte, damit auch durch eine Sprache und eine Kultur oder oft durch  mehrere Sprachen  und Kulturen, durch einen Ort und ein Land oder durch viele Orte und mehrere Länder, doch stets durch eine abgegrenzte, allerdings manchmal wechselnde Zugehörigkeit innerhalb definierter Grenzen sowie Handlungsmöglichkeiten innerhalb bestimmter, meist genau definierter Einschränkungen, welche durch das individuelle Umfeld, durch die Lebensbedingungen sowie durch  die Gesetze eines Landes bewirkt werden.

Die Tatsache der zeitlichen  Eingrenzung des menschlichen  Lebens, die Tatsache der Sterblichkeit, blieb sich seit den Anfängen der Menschheit gleich, doch das subjektive Empfinden der Zeit und die gesellschaftliche Bewertung der Zeit haben sich verändert. Mit dem Aufkommen  der Kapitalbildung und der industriellen Nutzung menschlichen  Lebens zum Zweck der Mehrwertsteigerung wurde auch die Zeit zur Ressource, setzte sich deren Kosten-Nutzen-Wertung durch  und sie wurde zur wertvollen oder wertlosen  Ressource, je nach dem sozialen  Rang der Menschen, deren  Existenzzeit als Arbeitszeit gewertet wird, und je nach dem sozialen  Prestige der geleisteten Arbeit.  Diese ungleiche Wertdefinition der Zeit bedeutet eine folgenschwere gesellschaftliche und existentielle sowie innerpsychische Grenzziehung zwischen dem gleichen Menschsein innerhalb des sozialen  Rahmens. Sie impliziert den Skandal des Konstrukts ungleichen  menschlichen Existenzwerts, der dem sozialen  Klassensystem  und den damit verbundenen  Ideologien sozialer Ungerechtigkeit zugrundliegt, diesem seit den ältesten Machtstrukturen sich wiederholenden Skandal, der die Überordnung und  Unterordnung,  Herrschaft,  Dienerschaft und Sklaverei, damit die ungleichen  Lebensrechte der Menschen bis zur Rechtlosigkeit bewirkte und weiter bewirkt.

Diesen  Machtstrukturen Grenzen  zu setzen sollte im Sinn der gleichen menschlichen Grundrechte das Anliegen des politischen  Handelns sein.  Leider stellte/stellt sich dieses allzu oft in den Dienst individuellen  Machthungers von Herrschern, oder einseitig wirtschaftlicher Interessen gesellschaftlicher Klassen, oder ideologischer, zum Teil religiös begründeter Strukturen, die als nicht antastbar erklärt werden.  Doch  die Tatsache der nicht zu leugnenden gleichen Grundbedürfnisse der Menschen, die in den staatlichen Strukturen zusammenleben  und von denen ein jeder und eine jede einerseits mit der Befähigung zur Freiheit begabt ist, damit zur Sprache und zur möglichen Partizipation  an der Macht, und von denen andererseits jeder und jede wechselseitig von der Unterstützung durch andere abhängig ist, schafft die Notwendigkeit von Regeln des Zusammenlebens, von Gesetzen.

Gesetze sind Grenzziehungen im sozialen und  im politischen  Raum. Sie grenzen die Freiheit des einzelnen Menschen zu Gunsten der Freiheit jedes anderen  Menschen ein. Gleichzeitig sollten sie der geregelten  Erfüllung der Grundbedürfnisse aller dienen.  Die ursprüngliche Notwendigkeit für Regeln  im Zusammenleben, sowohl für die staatliche Verfassung wie für die Gesetzgebung, ergab sich aus der Erkenntnis, dass erstens die individuellen Existenzbedingungen  mit den Existenzbedingungen der vielen vereinbar gemacht werden sollten, damit auch die Grundbedürfnisse des schwächsten Individuums innerhalb der vielen auf gleiche Weise erfüllt werden. Zweitens  aus der Erkenntnis, dass die Menschen zum Missbrauch  ihrer Handlungsmöglichkeiten neigen. Sie neigen dazu, Grenzverletzungen zu begehen,  um ihren alleinigen Vorteil oder Gewinn zu erreichen,  bis zur Masslosigkeit.

Sowohl das gesellschaftliche System von ungeschriebenen  Regeln  und  Übereinkünften, die „Konventionen” genannt werden,  wie Verfassung und Gesetze bilden jene Grammatik des Zusammenlebens, welche die schwer vereinbaren Voraussetzungen von Freiheit im  Rahmen der Zeitlichkeit und von Sicherheit im  Rahmen der örtlichen und staatlichen Räumlichkeit in der Erfüllung der Grundbedürfnisse aller im Zusammenleben verbinden sollte, damit ein möglichst grosser individueller Nutzen  und  möglichst geringer individueller Schaden  mit dem möglichst grossen allgemeinen  Nutzen vereinbar sein  könnte.  Meines Erachtens ist es die Grammatik der Reziprozität, durch welche Grenzüberschreitungen am klarsten erkennbar wären und verhindert werden könnten.  Diese beruht auf dem  Kernsatz, dass keinem  Menschen etwas zugemutet oder angetan werde, das von denjenigen, die ein Tun beschliessen oder umsetzen, nicht ertragen werden könnte, wenn es ihnen angetan würde.

b) Eingrenzung der Machtverhältnisse, Staats- und Gesellschaftsverträge, Gesetze

Der einfache, einleuchtende Kernsatz mag das private Zusammenleben auf wirksame Weise beeinflussen und Grenzüberschreitungen verhindern. Doch wirkt er sich auch auf der öffentlichen, politischen  und sozialen  Ebene aus? Wie kann ein Nutzen, der allen dient, überhaupt erreicht werden? Worin besteht dieser Nutzen?

Die jahrtausendalte Kultur- und Machtgeschichte war vor allem durch trügerische und betrügerische Nutzendefinitionen gekennzeichnet, bis in die jüngste Zeit.  Es ist eine Geschichte des Misstrauens der einen gegenüber den anderen, des Neids und der Eifersucht, der Beraubung und  Unterdrückung, der Herrschaft weniger über viele, eine Geschichte der Gewalt, der Schuld  und des vielfachen  individuellen wie des kollektiven Leidens, das sich während Jahrtausenden fortsetzte.  Durch Historiographen  und Staatsdenker,  Philosophinnen und  Dichter wurde die leidvolle, grosse Geschichte festgehalten, auch jene der Sehnsucht nach Korrektur des Leidens und  nach friedlichem Zusammenleben,  ohne dass durch neue Theorien oder durch  neue Herrschaftsmethoden der menschlichen  Entrechtung und Verfolgung infolge religiöser,  herkunftsmässiger oder politischer Differenzen,  Besitz- und  Machtansprüche Grenzen gesetzt worden  wären, ohne dass militärische Eroberung und  Besetzung fremder Staatsgebiete, Kriege und Deportationen,  Folter und  Massaker bis zur Auslöschung ganzer Völker und Kulturen, ohne dass jede Form staatlich  legitimierter Gewalt abgebaut worden wäre.  Neue staatliche Grenzen  oder neue religiöse Gebote boten keinen Schutz.  Es gab wohl Intervalle zwischen Eroberungen  und  Kriegen, es gab Feuerpausen  und Verhandlungen zwischen Angreifern  und Angegriffenen, zahlreiche zwischen- und überstaatliche Waffenstillstandsabkommen, Nichtangriffspakte,  Friedensvereinbarungen  und -verträge, doch in der Regel wurden sie in kürzester Zeit missachtet,  und militärische Angriffe, rücksichtslose Plünderungen  und Zerstörungen von Dörfern  und Städten, von Feldern und  Ländern. Gewalt, qualvolles Leiden und Tötung unschuldiger Menschen setzten sich fort.

Es lohnt sich jedoch,  der Resignation Grenzen zu setzen.  Daher lohnt es sich,  die Geschichte der Friedensverhandlungen, der Staatsverträge sowie in deren Zusammenhang einige Theorien  politischer Denkerinnen und  Denker aufzugreifen. Vor allem lohnt es sich, selber zu denken  und die Erbschaften kritischen, kreativen  Denkens über eine Verbesserung des Zusammenlebens fortzusetzen.  Da wir uns zeitlich einschränken  müssen, beschränken wir uns auf eine kleine Auswahl wichtiger Werke und Ereignisse, die ungefähr seit der Mitte des 17. Jahrhunderts,  das heisst seit der Epoche der Aufklärung von Bedeutung waren.

Dieser Epoche gingen in  Europa nicht abbrechende, erbitterte Kriege voraus, insbesondere Religionskriege um  Herrschaft und  Landbesitz, die mit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 beendet werden sollten. Doch indem  mit cuius regio eius religio jedem  Herrscher zugestanden wurde, die Religion der Bewohner und  Bewohnerinnen seines  Landes zu bestimmen, wurden Ausgrenzungen, Vertreibungen  und  Flucht Andersgläubiger erneut legitimiert.  Es folgte ein gnadenloser Kampf zwischen  Kaiser und Königen, geistlichen und weltlichen  Kurfürsten  und  Reichsfürsten,  Rittern  und Grafen, freien Städten und aufständischen  Bauern und  Bürgern, zwischen dem  Heiligen  Reich  Deutscher Nation, den freien Reichsstädten, dem mächtigen  habsburgischen Österreich, der spanischen Grossmacht, dem französischen Königtum, dem dänischen  und dem schwedischen Königtum, den polnischen  und den litauischen Grafschaften  und weiteren adligen oder unabhängigen Territorien, auch den während 80 Jahren  um  Unabhängigkeit von Spanien kämpfenden  Niederlanden.  Es war ein gnadenloser Kampf um  Macht und  Besitz, der 1618 in Böhmen  einsetzte, zunehmend ganz Europa verwüstete und die Länder mit den Toten  der Schlachtfelder, der Hungersnöte und Seuchen bedeckte, bis er nach dreissig Jahren,  1648, mit dem Westfälischen Frieden endete.  Dass dieser Friedensvertrag mehr oder weniger über hundert Jahre anhielt,  bis zur Französischen  Revolution von 1791 und den damit beginnenden  neuen Kriegen, erklärt sich weniger durch  Einsicht und Verstand als durch die Erschöpfung und Ausblutung aller betroffenen Länder sowie durch den wichtigsten Vertragsinhalt: dass alle Vertragspartner gleichberechtigt seien, unabhängig von deren  Rang und  Macht, auch  unabhängig von der Grösse und vom Reichtum  der Staaten.

Gleichzeitig mit den Kriegen auf dem  Festland  tobten  in  England sowie zwischen  England, Schottland und  Irland ebenso erbitterte Macht- und  Religionskämpfe, einerseits zwischen dem absolutistischen  Königshaus und dem Parlament, andererseits zwischen den Anglikanern,  den Puritanern, den Presbyterianern und den Katholiken. Thomas Hobbes strebte mit seinem  Buch  Leviathan35  an, die Sinnhaftigkeit einer einheitlichen, auf einen Monarchen  konzentrierten  Macht und der von diesem allein geschaffenen Gesetze zu begründen.  Um Sicherheit und innerstaatlichen  Frieden zu erreichen, sollte das Machtstreben der Einzelnen im Staat gebändigt werden. Darin  bestand der Nutzen  und Zweck des Gesellschaftsvertrags, wie Hobbes sich diesen durch  Bezug auf die Vernunft vorstellte: durch Zustimmung der im Staat lebenden  Bürger zur alleinigen,  unbegrenzten Macht des Herrschers im  Bestimmen von Religion, von Rechten  und Gesetzen.

Es war in aller Klarheit ein einseitiger Gesellschaftsvertrag, durch welchen dem  Herrscher keine Einschränkungen auferlegt waren,  von den Bürgern aber verlangt wurde, auf ihre eigene Freiheit zu verzichten, auch auf das Recht auf Widerstand resp. auf Revolution, all dies zu Gunsten der innerstaatlichen Sicherheit. Territorium  und Volk zusammen bildeten somit den Staat,  über welchen ein Einzelner herrschte und dem dadurch die unbegrenzte Macht zustand,  über Recht und Unrecht zu  bestimmen.  Das Verhältnis der Staaten untereinander erachtete Hobbes als vergleichbar mit dem Verhältnis der Menschen untereinander, so dass er Misstrauen  und  Kriege zum Schutz oder zur Stärkung der je einzelnen staatlichen Macht als berechtigt erklärte, entsprechend dem Entscheid des Machthabers zum Zweck der Selbstverteidigung.

Was von Hobbes im  17. Jahrhundert als bestmögliche Methode zur Aufhebung des „Kriegs aller gegen alle” verstanden wurde, hat sich  lange fortgesetzt.  Ein  Beispiel im  19. Jahrhundert ist die „Realpolitik”, die von Bismarck(36)  einerseits zum Zweck der Verhinderung von revolutionären Aufständen  und andererseits zum Zweck der territorialen  Erweiterung der preussischen  Macht umgesetzt wurde, und sie hat sich in  konservativen Staatssystemen bis in die Gegenwart fortgesetzt, eine defensiv-aggressive Grundhaltung, auf welcher jede Diktatur aufgebaut wurde und durch welche die Unterdrückung innerstaatlichen Widerstandes wie die Feindseligkeit gegen Nachbarstaaten  und die Umsetzung von Kriegen mit dem Anspruch auf realpolitische Notwendigkeit und  Legitimation legitimiert wurde und immer noch legitimiert wird. Aktuelle Beispiele sind zum  Beispiel Chinas Machtanspruch auf Tibet sowie neuestens auf Bereiche im Südchinesischen  Meer, die zum Staatsbereich der Philippinen gehören, gleichzeitig die massive innerstaatliche, lebensbedrohliche Kontrolle, Unterdrückung und Einkerkerung politischen Widerstandes. Oder Russlands Kriege gegen aufständische .Nebenstaaten” wie Tschetschenien  und Georgien, der Machtanspruch  auf die Halbinsel  Krim sowie auf die Ostukraine,  möglicherweise auch auf die baltischen Staaten, zugleich die Bespitzelung und Verfolgung, Gefangennahme und/oder Tötung kritischer Journalisten, Denkerinnen  und  Denker. Oder Serbiens territoriale Besitzansprüche, die zusammen  mit nationalistischer  Aufhetzung, auch von Seiten  Kroatien,  1991 mitten in Europa den ex-Jugoslawienkrieg auslösten  und mit dem Kosovokrieg fortsetzten. Oder Israels territoriale Erweiterungen  im Sechs-Tage-Krieg von 1967 durch die Annexion der syrischen und  libanesischen Teile der Golanhöhen, des ägyptisch  kontrollierten Gaza- Streifens und der Sinai-Halbinsel, des zu Jordanien gehörenden Westjordanlands und Ostjerusalems,  überhaupt des palästinensischen Territoriums bis in die jüngste Zeit.  Es gibt zahllose  Beispiele mehr in der jüngsten Zeitgeschichte, im Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert, während des 20. Jahrhunderts und  nun zu  Beginn des 21., durch welche Hobbes’ Leviathan  bestätigt wurde und wird.  Ist nicht die ganze europäische Kolonialgeschichte, sind nicht der Erste und der Zweite Weltkrieg von Monarchen, von machthungrigen Staatsoberhäuptern  und  absolutistischen  Diktatoren mit der Zustimmung der grossen  Masse ihrer Staatsbürger und der Unterdrückung jeglichen  politischen Widerstandes gewissermassen als Umsetzungen von Hobbes’ Staatstheorie gerechtfertigt worden?

Hobbes war allerdings im  17. Jahrhundert mit den damals in  England wie in den übrigen europäischen  Ländern gnadenlosen  Kriegen zwischen  Fürsten und  Religionen nicht der einzige staatspolitische Denker.  1656, fünf Jahre nach Erscheinen des Leviathan, veröffentlichte James Harrington(37)  mit The Commonwealth of Oceana  den utopischen Entwurf einer Republik, nach dem Vorbild der damals mächtigen  Republik Venedig, die er einige Jahre zuvor bereist hatte, wobei er mit Oceana klar erkennbar das damalige England meinte und daher das Buch Oliver Crornwell'” widmete.  Dieser hatte als Sieger der puritanischen Armee des aufständischen  Parlaments gegen König Charles I   und dessen royalistische Armee die Bürgerkriege beendet sowie die Königtümer Schottland  und Irland mit England vereinigt.  Er hatte König Charles I   hinrichten  lassen  und sich selber zum “Lordprotector” erklärt, mit Vererblichkeit des Titels auf seinen Sohn, doch zunehmend baute er anstelle einer massvollen Republik eine Militärdiktatur auf,  mit politischer Zensur und  massiver Unterdrückung der Forderungen nach politischer Gleichstellung durch die Kleinbürger und  Handwerker, so dass 1660, zwei Jahre nach seinem  natürlichen Tod, mit der Ernennung Charles II durch das Parlament die Monarchie wieder an die Macht gelangte. Damit wurde der Entwurf einer 11vollkommenen” Republik, wie James Harrington ihn der

Öffentlichkeit zur Verfügung stellte und wie dieser in den zwei Jahren zwischen Cromwell’s Tod und dem Beginn von Charles’ II Herrschaft in öffentlichen lntellektuellenkreisen heftig diskutiert wurde, schnell beendet.

The Commonwealth of Oceana gleicht auf erstaunliche Weise dem breit angelegten Kommentar einer Verfassung, mit welcher Harrington das römische „Ackergesetz” wieder aufgreifen wollte(39). Es erschien  ihm angemessen, auch  im englischen Commonwealth die durch  Kriegsgewinn angeeigneten staatlichen Ländereien, die an die Reichen und  Mächtigen als Grossgrundbesitz aufgeteilt worden waren,  neu zu Gunsten der armen und  besitzlosen Bauern zu ordnen.  Über die sorgsame, gerechte Verteilung der Besitzverhältnisse sollten Rätekammern entscheiden, die durch freie Wahl in absehbarer Rotation stets neu zusammengesetzt werden sollten,  um auf diese Weise die Häufung von Ämtern sowie jede Art von Bestechlichkeit und  Missbrauch von Macht zu verhindern.  Daher sollten auch Inhaber wichtiger religiöser Funktionen keine anderen Ämter übernehmen dürfen.  Und die Vertreter des Adels? Menschen sollten auf keinen Fall infolge von Reichtum  und Überheblichkeit zu einer Art Elite gehören, sondern  höchstens oder ausschliesslich durch Tugendhaftigkeit. Wenn sich Reichtum  und  Macht auf eine Minderheit zusammenballen, entarte jede Demokratie zur Oligarchie.  Diese warnende Erkenntnis bestätigte sich.  Kaum hatte Ende  1661 Charles II seine Macht gestärkt, wurde Harrington der Aufwiegelung angeklagt, gefangen genommen  und  in der Tower eingekerkert.  Ungefähr ein Jahr später vermochten seine zwei Schwestern zu erreichen, dass er frei kam, doch er war körperlich und geistig so gebrochen  und krank, dass er nicht mehr gesund wurde und die restlichen 15 Jahre seines Lebens zunehmend verkümmerte.

In derselben Zeit vertrat in  Holland auch Spinoza(40) im  Tractatus theologicopoliticus von 1670 die Notwendigkeit einer starken staatlichen  Macht, gleichzeitig die Ablehnung jeder willkürlich und grenzenlos waltenden  Herrschaft eines alleinigen  Machthabers. Spinoza erachtete die menschliche Natur nicht wie Hobbes als grundlegend  böse. In  Fortsetzung von Descartes’ Erkenntnis verstand  er den Menschen als denkendes und entscheidungsfähiges Wesen, das im Zusammenleben aus Vernunftgründen, zur Bändigung der Affekte und zur  Verhinderung von Feindseligkeit, von Hass und Hinterlist genauer Richtlinien  bedurfte, die von allen gleichermassen zu befolgen waren, ohne hierarchischen  Unterschied von Rang und  Funktion.  Eine Anzahl gewählter Patrizier und sowie gewählter Männer aus dem Volk sollten sich zusammensetzen,  um die Gesetze zu erarbeiten und zu erlassen.  Diese  sollten nicht Furcht und  Unterwerfung bewirken, sondern  in erster Linie zu Gunsten der Gerechtigkeit genutzt werden und die  Freiheit der Menschen im Zusammenleben unterstützen. Gemäss Spinoza dürfen Gesetze auf keinen  Fall die Denk- und Meinungsfreiheit einschränken  Diese soll in politischer Hinsicht unantastbar sein. Gemäss Spinoza gibt es kein grösseres Unglück für einen Staat als das Verbot, dass Menschen sich kritisch zu Gesetzen äussern, dass sie des Landes verwiesen oder eingekerkert oder gar zum Tod verurteilt werden, wenn sie es trotzdem tun.

Keine zwanzig Jahre später,  1689,  erschien in  England John  Locke’s(41)  Two Treatises of Government.  Ob John  Locke Spinoza’s Tractatus kannte, ist ungewiss, jedoch denkbar. Auf jeden  Fall lag nun ein Gesellschaftsvertrag vor, der der Machtwillkür klare Grenzen setzte. Gemäss locke sollte dem Monarchen  nur so viel Macht zustehen, wie die Mitglieder des Staates ihm zubilligten. Wenn er die Grenzen seiner Machtbefugnisse missbrauchte oder diese zu  Ungunsten des Volkes umsetzte, bestand für dieses das Recht, sich gegen ihn zu erheben  und ihm die  Macht abzusprechen.  Leben,  Freiheit und Besitz resp. das, was nach Locke’s Erachten das menschliche Eigentum  bedeutet, bedarf des Schutzes durch den Staat und steht ohne Unterschied allen  Menschen zu. Gesetze, die John  locke als dringlich erachtete,  um die individuelle Rücksichtslosigkeit im Streben nach Besitz und  Reichtum zu mässigen und  um Schaden zu verringern, sollten von den Mächtigen wie von den Machtlosen auf gleiche Weise befolgt werden.  Er erachtete daher als sinnvoll,  ähnlich wie Spinoza, dass nicht ein einzelner Herrscher die Gesetze erlasse, sondern dass diese durch eine gesetzgebende Körperschaft erarbeitet und festgehalten werden – die Legislative-, die aus klugen Staatsbürgern zusammengestellt werden sollte und deren  Macht zu Gunsten des Wohls der Allgemeinheit begrenzt war. So wurde mit John  locke durch die Trennung von Legislative und Exekutive eine wichtige Eingrenzung der staatlich-königlichen Machtstrukturen geschaffen, eine Gewaltentrennung, die von Montesquieu(42)  in der Defense de l’Esprit des Lois von 1748 durch die zusätzliche Abtrennung der Judikative gestärkt wurde, zum  Unwillen von Ludwig XIV wie von den mächtigen Vertretern der kirchlichen Macht.

In  Frankreich wie in  England brodelte der revolutionäre Geist.  Im  Frühjahr 1762 erschien  in Amsterdam Jean-Jacques Rousseau’s Contrat social ou Principes du Droit politique(43) der alle vorangegangenen  Modelle eines Gesellschaftsvertrags sprengte und der unmittelbar nach dem  Erscheinen auf den Index gesetzt wurde, überall in Europa während Jahrzehnten verboten  blieb und vielerorts, darunter in Genf, öffentlich verbrannt wurde. Gleichzeitig erging gegen den damals fünfzigjährigen   Denker ein Haftbefehl, der bewirkte, dass er ständig auf der Flucht war, zuerst nach Yverdon, ins preussische Neuchatei und nach Mötier gelangte, weiter nach Strassburg,  1766 nach England, wohin David  Hume ihn  mit der Zusicherung von Schutz eingeladen hatte, ohne dass Rousseau sich sicher fühlte, so dass er wieder nach Frankreich zurückkehrte und die restlichen Jahre seines Lebens versteckt lebte, zum Teil unter einem anderen  Namen oder unter fremdem Schutz.  Politisch aufwühlend, ja revolutionär war in seinem Contrat social,   dass es seiner Ansicht nach keines Monarchen mehr fürs menschliche Zusammenleben  (l’etat civil) bedurfte, dass sich dieses unter gleichgestellten  Bürgern als Gemeinschaft (l’etat social) auf Grund eines gemeinsamen Willens (la volonte generale) mit Hilfe eines allgemeingültigen, daher unfehlbaren Gesellschaftsvertrags (le contrat social) einigte, der die gleiche Gerechtigkeit für alle anstrebte. Keine Stimme sollte die anderen Stimmen  übertönen, kein einzelner Bürger sollte über mehr Macht verfügen als ein anderer, weder in  politischer noch  in  rechtlicher noch  in wirtschaftlicher Hinsicht.  Daher durfte keiner den anderen  unterwerfen oder ausbeuten. Der Staat war somit das – vor allem  in  emotionaler Hinsicht – über die gleichen Anliegen einheitlich zusammengeschlossene Volk, es vereinte in sich die staatliche Macht und teilte diese auf in  eine durch „bon  sens” und möglichst einfache Sitten wirkende Legislative, Exekutive und Judikative, immer auf der Basis der Zustimmung aller.

Gute hundert Jahre nach Rousseau’s Contrat socia/ setzte John Stuart Mill44 mit seinem Werk On Uberty von 1859  – die erste deutsche Übersetzung erschien schon  186945  – eine massgebliche Verfeinerung und  Erweiterung auch der englischen Entwürfe eines Gesellschaftsvertrags durch.  Die Ausgrenzung der Frauen vom  Bildungs-und Wahlrecht wurde als nicht länger tragbar erklärt, ebenso wurde die Ungleichheit von Reichtum  und Lebensform  angeprangert. John Stuart Mill war ohne Zweifel massgeblich beeinflusst durch Harriet Taylor, seine Freundin  und spätere Ehefrau(46), die als Nachfolgerin von Mary Wollstonecraft, von Flora Tristan  und Olympe de Gouges(47)  zu den frühen, bedeutenden Verfechterinnen der Frauenrechte zählt.  In ihrem Sinn erschien  1863 von John Stuart  Mill das Buch The Subjection of Women  (Die Hörigkeit der Frau)(48) und zwei Jahre später wurde er als Vertreter der „Gesellschaft für das Frauenwahlrecht” ins Parlament gewählt.   Er war der festen  Überzeugung, dass die gleiche Freiheit, die allen  Menschen zusteht,  nicht durch Geschlecht und  Herkunft gemindert werden darf, dass daher jede Form von Sklaverei aufgehoben werden  muss, auch jene der Ehe, dass auch  Frauen das Recht auf freie Scheidung zugestanden sein soll (nach zweijähriger Bedenkzeit), dass das gleiche Schulsystem ohne Bedingung und  Einschränkung für alle zugänglich sein soll, dass Arbeitsverhältnisse auch in  Fabriken und  in der Landwirtschaft mit gerechtem  Lohn, mit genügend Erholung und Aufstiegsmöglichkeit gesichert werden sollen, dass auch die Meinungsfreiheit, die Diskussions- und  Pressefreiheit allen zustehen soll. Allerdings soll eine persönliche Überzeugung, die möglicherweise einen Wahrheitsanspruch  beansprucht, nie zu einem  Dogma erklärt werden.  Fortschritt im Zusammenleben  ist nur denkbar, wenn der Dialog und  die Diskussion sowohl auf der alltäglichen  Ebene der Gewohnheiten wie auf der wissenschaftlichen  Ebene der Erkenntnisse das Denken anregen.

Auch soziale Gerechtigkeit begründet sich bei Harriet und John Stuart Mill durch den Grundwert der Freiheit. Anstelle des einseitigen Strebens nach Steigerung von Gewinn und Besitz rät John Stuart Mill an, die anderen Fähigkeiten, die jedem  Menschen eigen sind, zu berücksichtigen, nicht in gedankenloser Fortsetzung von Gewohnheiten, auch  nicht in blinder Nachahmung anderer Leben, sondern in der klugen, selbstkritischen Wahl des Bestmöglichen, so dass weder persönliches Missbehagen noch Schaden gegenüber anderen Menschen bewirkt werde.  Hierin  bestehe der Wert des Individuums in seiner Freiheit und im Zusammenleben, hierin  bestehe auch der Schutz vor jeder  Form von Tyrannei: es ist der Wert des persönlichen Wohlbehagens und des Wohlbehagens  der anderen  Menschen, die von den Folgen tangiert werden, somit die Frage nach dem Wert des Nutzens im Entscheiden von Tun und Lassen.

Diese  Frage drängt sich als Grenze der Freiheit auf.  Entsteht durch das Handeln Schaden, so ist zu  beachten, ob dieser mit Absicht bewirkt wurde oder auf Grund von Nichtwissen, doch auf jeden  Fall gilt es, Schaden zu verhindern.  Die gleiche Grenze betrifft die Gesetze der regierenden politischen  Mehrheit, die sich  in  irgend einer Form auf die Allgemeinheit auswirken, d.h. auf alle, die zusammen leben, insbesondere auf die hilflosen und kraftlosen Teile der Gesellschaft, die Kinder, die kranken und die alten  Menschen, oder auf Anhänger und Anhängerinnen anderer Religionen, deren Sitten und Gebräuche ebenfalls des Respekts bedürfen. Auch Demokratie ist keine Garantie für gute Gesetze, auch  Demokratie kann zur Tyrannei werden, wenn das kritische Denken innerhalb einer Mehrheit abhanden  kommt und  Minderheiten unterdrückt oder diskriminiert werden.

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In  allen staats- und gesellschaftstheoretischen  Entwürfen, die wir thematisiert haben, finden sich Annäherungen an ein politisches und soziales System  menschlichen Zusammenlebens, das zugleich die ursprünglich  liberalen  und die frühsozialistischen  Ideen vereint, jene der Umsetzung von Freiheit und jene der Umsetzung von Gerechtigkeit. Sie beinhalten Grenzsetzungen gegenüber Machtwillkür und gegenüber Machtmissbrauch, um die Voraussetzungen für ein optimales Zusammenleben auf allen  Ebenen  und in  allen Bereichen zu schaffen.  Die Komplexität der dafür erforderten Institutionen  und Strukturen beruht auf Vertragsverhältnissen, die der Notwendigkeit gerecht werden, die gleichen Grundbedürfnisse und Grundrechte der in ihrer Besonderheit so unterschiedlichen Menschen gemäss gesetzlicher Massstäbe zu erfüllen, die sich der Macht- und  Profitwillkür entgegen stellen.  Den Schwächsten  in der Gesellschaft sollte gemäss der Regeln  der „fairness”, die John  Rawls in seiner Theory of Justice49  von 1971 erarbeitet hatte, die grösste Beachtung zukommen.  Diese betreffen die gesellschaftlichen Voraussetzungen für gleiche Bildungs- und Ausbildungschancen für alle Kinder und Jugendlichen, unabhängig von materiellen  und kulturellen Herkunftsbedingungen, für gesundheitsfördernde, lebensgerechte Ernährung und Wohnmöglichkeit für alle Menschen, für ein Leben  in Sicherheit und Würde unabhängig von Einkommen und Alter, es betrifft gerechte Löhne für jede Art von Arbeit, gerechte Besteuerung, eine optimale Förderung von Gesundheit, von Pflege bei Krankheit und von Hilfe in  Not, ein gerechtes Strafverfahren  bei der Verursachung von Schaden, unabhängig von gesellschaftlichem Status und  Rang.  Alle diese Voraussetzungen beruhen  letztlich auf den Grundlagen einer Grammatik der Reziprozität, auf welche mehrmals hingewiesen wurde und die abschliessend erläutert werden soll.

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Die Grammatik der Reziprozität wurde von Denkern und  Denkerinnen erkannt, aber von den Machthabenden nicht umgesetzt. ,,Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.  Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozess der Überlieferung nicht,  in der es von der einen an  den anderen gefallen ist”(50), schrieb Walter Benjamin  1940 im  Exil in  Paris, wenige Monate, bevor er sich  nach einem gescheiterten  Versuch, vor den  Nazis über die Pyrenäengrenze von Frankreich nach Spanien zu flüchten, das Leben  nahm.  Die Grenze war auf trügerische Weise für Flüchtlinge manchmal für einige Stunden offen, dann wurde sie wieder unüberschreitbar verbarrikadiert.

Skepsis ist gegenüber jedem .Dokurnent der Kultur”, das heisst auch gegenüber jeder Geschichtsschreibung angezeigt, da sie stets einen bestimmten Zweck der Rechtfertigung zu erfüllen sucht.  Die Unterdrückten sind  kaum oder selten in der Lage, ihre eigene Geschichte zu schildern  und zu dokumentieren.  Darin  ist Walter Benjamin zuzustimmen. Allerdings gibt es Dokumente, die von verpflichtender Bedeutung sind, gerade weil sie aus der Barbarei herausgewachsen sind und die Verletzbarkeit der Kultur zu schützen trachten.  Das heisst, dass sie auf  Grund der Kenntnis der durch  Barbarei verursachten  untragbaren  Leiden gegen einen  Rückfall  in  die Barbarei Grenzen setzen.  Der hohe Wert der “Pflege” (lat. “cultura”) menschlichen Zusammenlebens soll staatlichen Gesetzgebungen  übergeordnet sein,  durch welche auch in Demokratien  Machtwillkür Ausdruck finden kann, um so die Umsetzung jeder Form  und Art von Unrecht zu legitimieren. Als Beispiel gilt die Al/gemeine Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948, welcher die Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni  1945, unmittelbar nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs, vorausgegangen ist, diese im Namen der Völker der sich verpflichtenden Nationen festgehaltenen  Urkunde,

  • “die kommenden  Generationen von der Geissel  des Kriegs zu  bewahren,  die zweimal  zu unseren  Lebzeiten  unsägliches Leid über die Menschheit gebracht hat, und
  • den Glauben an grundlegende Menschenrechte, an Würde und Wert der menschlichen Person und an die Gleichberechtigung von Mann und Frau und von grossen und kleinen Nationen erneut zu bekräftigen  und
  • Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und Achtung der Verpflichtungen, die auf Verträgen oder anderen Quellen des Völkerrechts beruhen, gewährleistet werden kann und
  • sozialen  Fortschritt und bessere Lebensbedingungen bei grösserer Freiheit zu fördern und für diese Zwecke
  • Toleranz (in anderer Übersetzung:  Duldsamkeit) zu üben und als gute Nachbarn  in Frieden  miteinander zu leben  und
  • durch die Annahme von Grundsätzen  und die Schaffung entsprechender Methoden sicherzustellen, dass Waffengewalt nicht zur Anwendung  komme, es sei denn im Interesse des Gemeinwohls, und
  • internationale Organisationen  heranzuziehen, um den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Völker zu fördern, haben beschlossen,  unsere Anstrengungen zu vereinen,  um diese Absichten zu erreichen.
  • Dementsprechend haben sich  unsere Regierungen durch  ihre in San  Francisco versammelten Vertreter, die ihre in guter und gehöriger Form  befundenen Vollmachten vorgewiesen  haben, auf die vorliegende Satzung der Vereinten  Nationen geeinigt und errichten  hiermit eine internationale Organisation, die den Namen  Vereinte Nationen tragen soll.”(51)

Ist die Ernsthaftigkeit dieser Erklärung anzuzweifeln? Das Ausmass der durch den Ersten  und den Zweiten Weltkrieg verursachten Toten und schwer leidenden  überlebenden sowie der Zerstörung kultureller Werte macht die Dringlichkeit des Wunschs nach  Frieden glaubwürdig.  Doch manifestiert die Einschränkung des Verzichts auf Waffengewalt aus Gründen der „Interessen des Gemeinwohls” nicht schon Zweifel an der Ernsthaftigkeit? Sind Waffenproduktionen  und Feinderklärungen nicht stets zu  wirtschaftlichen  und zu  religiös- oder politisch  motivierten ideologischen Zwecken erfolgt, somit gewissermassen „im Interesse des Gemeinwohls”? Hat nicht praktisch gleichzeitig mit der Unterzeichnung der Charta der Vereinten Nationen der Kalte Krieg zwischen den um die Weltmacht rivalisierenden Siegermächten  USA und UdSSR begonnen, und  mit dem  Kalten  Krieg über Jahre dauernde und sich steigernde, grausame Stellvertreterkriege, unter anderen der Koreakrieg zwischen Südkorea und  Nordkorea von 1950 bis 1953, der gewissermassen  bis heute andauert, dann ab  1955  der amerikanische Indochina-Krieg im Anschluss an den französischen  Indochina-Krieg, der 1946, sofort nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begonnen  und  bis 1954 gedauert hatte, das heisst der Krieg zwischen Südvietnam  und  dem von Sowjetrussland unterstützten  Nordvietam, der ab  1964 sich auf Laos und dann auf Kambodscha ausgedehnt wurde und  bis 1975 dauerte, ferner die einerseits von den USA, andererseits von der UdSSR unterstützten Kriege in Angola sowie zwischen Somalia und Äthiopien, die Kriege in Afghanistan, deren  Folgen weiter andauern, auch der Jom  Kippur- Krieg von 1973 zwischen Ägypten  (von Russland und weiteren arabischen Staaten unterstützt) und Syrien gegen Israel, das mit amerikanischer Unterstützung siegte und seine militärische wie seine räumlich-nationale Stellung gegen die arabische, insbesondere gegen die von Israel besetzte palästinensische Bevölkerung und deren Land verstärkte.

Doch während sich Waffenproduktion,  Feinderklärungen  und  Kriege fortsetzten  und die Organisation der Vereinten Nationen, die UNO, sich zu einer hilflosen, rein formalen internationalen Staatenorganisation entwickelte, die keinen  Krieg verhindern konnte, geschah mit der Allgemeinen  Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 etwas Erstaunliches: für alle Unterzeichnerstaaten, für deren Verfassung und für deren Gesetze wurden ethische Normen gesetzt, die jede Art von menschlicher Entrechtung,  Entwertung und  Diskriminierung auf Grund von Herkunft, Stand und Religion, von Aussehen oder Sprache, von Geschlecht und Alter, von Gesundheitszustand und  Leistungsfähigkeit als Unrecht erklärte.  Zwei Jahre später, am 4. November 1950, wurde in  Rom von den Europäischen Staaten die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten  (EMRK) bestätigt, gleichzeitig auch die Errichtung eines Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte beschlossen. Von der Schweizerischen Bundesversammlung wurde der Beitritt zur EMRK erst am  3. Oktober 1974 genehmigt,  und am  28. November 1974 trat der Beitritt in  Kraft. Vorher musste den Frauen das seit Jahrzehnten immer wieder geforderte und verweigerte politische Stimm- und Wahlrecht zugestanden werden, was nach archaischem Widerstand, vor allem von Seiten der ländlichen  Kantone, am 7. Februar 1971 endlich geschah. Die Hürden  und Schwierigkeiten in der Umsetzung der gleichen Rechte, der politischen wie der zivilen Rechte, auch des Rechts auf gleiche Löhne kennen wir bis heute. Auch die rechtliche Ungleichstellung der Kinder dauerte lange an, dauert eigentlich weiter an, obwohl  1989 die Internationale Kinderrechtskonvention zustande kam. Die Schweiz hat sie erst 1997 ratifiziert, und die seit der Ratifikation erforderten  Berichte über deren  Umsetzung erfolgen mit regelmässigen Verspätungen.

Den geringsten Schutz ihrer Rechte erleben  Kinder von saisonalen Arbeitern und von Asylsuchenden sowie diese selber, obwohl gemäss Art.  1, 2 und 3 der Menschenrechtskonvention die gleichen Rechte auf Freiheit, Würde und Sicherheit für alle Menschen ohne den geringsten Unterschied gelten sollten.  Das in Art. 7 festgehaltene gleiche Recht für alle  Menschen vor dem Gesetz eines Landes und durch das Gesetz das Recht auf gleichen Schutz gegen jede unterschiedliche Behandlung und gegen jede Aufreizung zu einer unterschiedlichen  Behandlung wird in  keiner Weise weder in der Schweiz noch in anderen westeuropäischen Ländern  beachtet, ebenso wenig das in Art.  14 zugesprochene menschliche Recht,  in anderen Ländern vor Verfolgungen Asyl zu suchen und zu geniessen. Seit der mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 zunehmenden Aufhebung des Kalten  Kriegs zwischen Westen und Osten wuchs der Abwehrkrieg der Reichen gegen die Armen  und die Entrechteten an, woher immer diese an die Grenzen der europäischen Länder gelangen.  Fremdenfeindliche, rassistische und ausbeuterische Kräfte beherrschen zunehmend die innereuropäischen Staaten.  Die Grammatik der Reziprozität mit dem Grundsatz,  niemandem zuzumuten, was selber nicht ertragen werden könnte, scheint utopisch zu sein. Zusätzlich zur erschütternden Asylpolitk zeigt sich die Missachtung der Menschenrechtserklärung auch  in der Tatsache, dass die am  18. Dezember 1990 von der UNO  erklärte Internationale Konvention zum Schutz aller saisonaler Arbeiterinnen und Arbeiter, der  “Wanderarbeiter”, die am  1. Juli 2003 in  Kraft trat, noch von keinem westeuropäischen Staat ratifiziert wurde, auch nicht von der Schweiz.

Wie brüchig die Grenzen gegen innerstaatliche Machtwillkür auch  in  Demokratien sind, ist eine bittere Erkenntnis. Sie weichen vor jeder politischen  Ideologie und vor jeder Aufwiegelung zu  Hass und  Fremdenfeindlichkeit, deren Vertreter infolge der Betörbarkeit der breiten  Bevölkerung bei Volksabstimmungen die angestrebten  Resultate erreichen  und an die Macht gelangen.

Doch Gesetze, deren  Inhalt und Vollzug dem eigenen Gewissen widersprechen, müssen nicht befolgt werden, sie fordern zum  poliltischen Widerstand  heraus.  Das Grundrecht auf Entscheidungsfreiheit darf nie vergessen gehen.  Möglicherweise braucht es für diesen Widerstand  besonderen  Mut, doch diejenigen, die ihn  nicht scheuen, vereinen sich untereinander auf der Basis der Allgemeinen  Erklärung der Menschenrechte, deren  Inhalt sie selber beanspruchen  und um den sie zu Gunsten der Entrechteten  kämpfen.  Diese Wechselwirkung wächst aus der Grammatik der Reziprozität. Sie ist die Kraftquelle der kreativen Vernunft.

Brüchig waren stets auch die Staats- und  Landesgrenzen.  Die Geschichte ist voller erschütternder Beispiele.   Diesen gilt die nächste Vorlesung.

  1. Vorlesung

Landesgrenzen, Staatsgrenzen,  Sprachgrenzen  – Grenzen  erzählen Geschichte  52

,,Was zum Teufel soll  ich  mit diesem Land anfangen?  Es breitet sich, zwei Schritte in die  / Länge und drei in die  Breite,  / wie der Garten eines Fabrikanten zu  meinen  / Füssen aus,  / der in  undurchsichtigen Geschäften  / verreist ist.  (  … )

Der Himmel ist wirklich sonst überall  unendlich  / und die Erde  / breitet sich überall ohne Grenzen  aus.  / Ins Meer tauchend  erhebt sie sich wieder / anderswo zu  Kontinenten.  / Reisende haben  mir das versichert.

Wenn man jedoch in diesem Land  Eisenbahnzug  / fährt,  / ist man in vier – fünf Stunden von einer  / Grenze zur andern gekommen  / und stochert sich im Speisewagen  beim  / Anblick des Bodensees  / die letzten  Reste des Menüs aus den  / Zähnen,  / das man in Genf begonnen  hat.

Und dabei hätte man die Distanzen so furchtbar nötig.  (  ..  .)”(53)

Ist Unzufriedenheit über die Grenzen  des Landes, in welchem  ein Mensch lebt, üblich? Welche „Distanzen” werden als fehlend erachtet? Sind die auf der Landkarte eingezogenen nationalen Grenzen einander zu nah? Oder ist die Zugehörigkeit zur Nation, die innerhalb dieser Grenzen  lebt, die „Stammeszugehörigkeit” bedrückend?

Generell  lässt sich sagen, dass durch  die Festlegung nationaler Grenzen die Rechte, die Bewegungs-, Wohn- und Tätigkeitsmöglichkeit von vielen auf einschränkende Weise bestimmt, aber zugleich geschützt werden, indem andere Menschen dadurch ausgeschlossen werden.  Die nationalen Grenzen  kamen meist als Resultat von Kriegen zustande, deren Gegenstand sie unter anderen waren,  in  einzelnen  Fällen auch als Resultat von Verhandlungen zwischen  Machtträgern, welche die Bedürfnisse der vielen einzelnen Menschen kaum berücksichtigten, sondern  in erster Linie den eigenen Gewinn suchten. Auch die schweizerischen  Kantons- und Staatsgrenzen, die wir heute ohne besondere Probleme passieren, und von denen  letztere – abgesehen von den Kontrollposten  an der Strasse oder von Zollbeamten in den Zügen  – von Auge nur selten ersichtlich sind, sind Grenzen,  um welche Kriege geführt wurden. Wir sind uns bewusst, dass die schweizerischen Grenzen vor noch  nicht langer Zeit, vor wenig mehr als sieben Jahrzehnten, Grenzen zwischen  Leben  und Tod waren.  Die „passeurs”  und „passeuses”, welche es wagten, unter eigener Lebensgefahr verfolgte, gehetzte und gejagte Menschen aus einer Situation der tödlichen  Bedrohung über die Grenze zu führen, wussten, wie real diese war.  Heute sind  es „Schlepper”, die möglicherweise noch immer aus politischer Überzeugung, meist jedoch  in Hinblick auf finanziellen Gewinn flüchtende Menschen über Grenzen  begleiten.  Die Geschichte von A. und seiner Familie ist ein Beispiel.

Die lange politische Geschichte, aus welcher territoriale und  kulturelle sowie staatliche Grenzen entstanden sind, war zugleich geprägt durch  Neubeginn, d.h. durch ein Neubesinnen  auf die Chancen der Freiheit für ein besseres Zusammenleben, damit der Neudefinition von Regeln. Wir stehen  heute in  Europa einmal mehr in einer unruhigen Gleichzeitigkeit sowohl der erneuten Ausgrenzungen wie des transnationalen Zusammenschlusses, erneut in  Kriegen, in denen es um  Identität und  Differenzen geht.   Die Machthaber an den Schreibtischen wie jene in den Dörfern  und Städten nutzen die eine wie die andere Erklärung, um „ethnische Säuberungen” vordergründig zu legitimieren.

Als optimale Übereinstimmung von möglichst grossem individuellem Nutzen  und möglichst grossem allgemeinem  Nutzen erscheint heute ein Wert alle anderen in den Schatten zu stellen.  Es ist jener der Sicherheit. Auch Sicherheit beruht auf einem zentralen Grundbedürfnis.  In der kollektiven  Bedeutung lässt sich Sicherheit jedoch  nur negativ definieren, nur durch Aufzählung der Verunsicherungen, ja der Bedrohungen, die es auszuschalten gilt: wirtschaftliche, politische, militärische, ökologische, letztlich existentielle Verunsicherungen. Was auf existentieller Ebene einerseits durch kommerzielle Angebote von Versicherungen (gegen  Einbruch,  Diebstahl,  Unfall, Todesfall etc.) angeboten wird, andererseits durch solidarische, gesamtgesellschaftliche Vertragswerke (zum  Beispiel die Alters- und Invalidenversicherung) erkämpft wurde, soll eine Begrenzung der Leidensfolgen der „condition  humaine” bewirken, wenigstens der mit der Zeitlichkeit verbundenen Unvorhersehbarkeit des Verlusts von Sicherheit.

Auf nationaler Ebene gewährleisten einerseits, wie erwähnt wurde, Verfassung und Gesetze die Rechtssicherheit der Bürgerinnen  und  Bürger, andererseits soll gleichzeitig durch institutionelle Massnahmen, etwa durch  Polizei, durch Grenzbeamte und durch Armeen, Sicherheit durch Abschreckung oder Ausschaltung von „Feinden”, von irgendwie definierten Feinden garantiert werden.  Dass heute erneut Flüchtlinge zu  Feinden deklariert werden, indem durch die Regierung zu deren „Abschreckung” mittels immer wieder neuer Gesetze und Erlasse Notrecht proklamiert wird, ist ein verhängnisvoller Widerspruch zur Allgemeinen  Erklärung der Menschenrechte, die von der Schweiz ratifiziert wurde.  Dieser Widerspruch geht einher mit einer verhängnisvollen  Entwicklung der Demokratie.  Eine Angst bewirkende Konstruktion von Feindbildern vermag mittels medialer Macht grosse Bevölkerungsteile zu manipulieren.  Damit wird deutlich, in welchem  Mass eine verlässliche, transnationale völkerrechtliche und menschenrechtliche Garantie für die Sicherheit der personalen und politischen  Rechte aller Menschen fehlt,  unabhängig von deren Status, insbesondere jener Menschen, die auf Grund von Flucht und Staatenlosigkeit als rechtlos gelten. Allein in  Europa  leben  Millionen von Kindern,  Frauen  und Männern – Flüchtlinge, Migrantinnen  und  Migranten, gesellschaftlich  Marginalisierte, Obdachlose, Langzeitarbeitslose und sogenannte „drop outs”, zum Teil auch  körperlich  behinderte Menschen –  in einer Situation der höchst prekären existentiellen  Unsicherheit, zum Teil der rechtlichen Ausgrenzung.  Deren  Bedürfnis und  Recht auf Sicherheit wird als Anmassung erklärt und übergangen.

Doch  darf die Forderung nach Sicherheit zum  reaktionären  Diskurs um die Ängste und Rechte Privilegierter verkommen? Gehen  mit deren  Forderungen nicht Begehrlichkeiten klassen- oder statusdefinierter Eigentums- und  Privilegiensicherung einher? Tritt nicht gerade dadurch die Notwendigkeit zutage, existentielle Verunsicherung infolge prekärer Lebensbedingungen zu beheben, eine Notwendigkeit, bei der es um den Schutz der menschlichen Würde geht? Die Forderung politisch rechtsextremer Kreise, dass die Schweiz die Mitgliedschaft bei der Europäischen Menschenrechtskonvention aufkündige, überschreitet die Grenze politischer Freiheit. Sie beinhaltet deren Verlust.  Letztlich halten sich die Grundbedürfnisse und Grundrechte von Freiheit und Sicherheit die Waage.

Das zutiefst Erschreckende ist, dass gerade die Forderung nach Sicherheit vor sozialer und politischer Ausgrenzung nicht nur in der Schweiz, sondern  in den meisten europäischen Ländern von deren  Regierungen  und  Parlamenten in  ihrer Bedeutung nicht erkannt wird, sondern  als Bedrohung definiert wird. Die bis heute vorliegenden europäischen Vertragswerke Sehengen-Dublin  und Folgeverträge, welche die Modalitäten transnationaler Sicherheit festhalten,  richten sich ja nicht gegen fremde Staaten  und fremde Armeen, sondern  allein gegen Menschen. Es sind Menschen, die zu „Feinden” deklariert werden, weil sie die Erfüllung ihrer Rechte und Grundbedürfnisse ausserhalb der Grenzen ihrer eng definierten  Herkunftsidentität, ihrer Herkunftsländer oder der nächst anliegenden  Länder einfordern, weil ihre Existenz und ihre Arbeitszeit innerhalb ihrer eigenen Gesellschaft nichts gilt. Es sind  Migrierende, Arbeitssuchende, Arme, Flüchtlinge vor Verfolgung und Gewalt,  vor Hunger und  Krieg.  Da, wo sie ankommen, werden sie erneut ausgegrenzt.  Die Grenzen einer transnationalen Vertragsgemeinschaft werden gleichsam als Grenzen privaten Wohnraums definiert, in den die Fremden  nicht „eindringen” dürfen.  Es geht um eine massive menschliche Ausgrenzung, die auf verhängnisvolle Weise durch die Hintertür von nationalen  und  multinationalen Vereinbarungen „legitimiert” wird, ein Klassenkampf von Oben, der neue „faits accomplis”   unhaltbarer Ungerechtigkeit schafft.

Noch ein anderer Aspekt von individueller und kollektiver Sicherheit verdient Aufmerksamkeit: Dieser betrifft die Sicherheit vor Schadenfolgen aus militärischen, technologischen  und ökologischen  Risiken. Auch bei dieser Sicherheit geht es um den Respekt vor der Integrität des menschlichen Lebens, der immer und  unbedingt gefordert werden muss,  im privaten wie im öffentlichen  Bereich.  Es geht um die Sicherheit vor psychischer und  körperlicher Gewalt, die ebenfalls einem Grundbedürfnis entspricht.  Da, wo sie als kollektives Postulat aller Menschen kollektive Räume und  Nutzungen betrifft, ist deren Garantie auch durch  politische Instanzen zu leisten.  Dies betrifft unter anderem  die Sicherheit am Arbeitsplatz,  in  Fabriken, auf Baustellen und anderswo, Sicherheit auf der Strasse oder in der Luft, Sicherheit vor krankmachender Nahrung, Sicherheit vor Anwendung von Waffen  und  menschenverachtenden Technologien, Sicherheit vor atomarer Verstrahlung  und  mehr.   Die Aufzählung könnte weitergehen.  Hier müssen nicht nur Gesetze dem Missbrauch Grenzen setzen, sondern die Täter wie der Missbrauch selber müssen eingeklagt und geahndet werden können, damit alle Menschen im sozialen  Raum ohne willkürliche Begrenzung ihrer physischen  und psychischen  Integrität geschützt seien.

Die Tatsache ist allgemein  bekannt: Seit dem Beginn der industriellen Ausbeutung und der bedenkenlosen  Entsorgung der Erdgüter sowie gleichzeitig der masslos und grenzenlos anwachsenden  industriellen  Herstellung von Konsumgütern, technologischen  Produkten und jeder Art von tödlichen Waffen sind die Schadensfolgen  in der Luft, im Wasser und in den Böden, das heisst im gesamten existentiellen  Umweltbereiche der Menschen, der Tiere und der Pflanzen  unermesslich  hoch. Sie sind es seit Beginn des 20. Jahrhunderts, seit den bedenkenlosen Vorbereitungen und  Umsetzungen des Ersten  und des Zweiten Weltkriegs und der nachfolgenden  Kriege,   lange vor den atomaren oder anderen  neuesten wirtschaftsbedingten  Katastrophen wie jenen von Tschernobyl vom 26. April  1986 oder von Fukushima vom 11. März 2011 oder jenen, die durch die Explosion giftiger Chemikalien in der chinesischen Stadt Tianjin geschaffen wurden  und unzählbar vielen mehr.  Es sind Entgrenzungen der exponentiellen Steigerung des Gewinnstrebens, die seit Jahrhundertenfortgesetzt wurde/wird.  Unzählbar viele Tote und transgenerationelles Leiden hat sie bewirkt und bewirkt sie weiter.  Erst seit jüngster Zeit werden  in einigen westlichen Ländern, auch  hier in der Schweiz, dank sozialen  und ökologischen Widerstandbewegungen von staatlicher Seite her Kontrollen  und schadenbegrenzende Einschränkungen gefordert. Ob sich diese auf nachhaltige Weise umsetzen  lassen, steht in mancher Hinsicht offen.

Doch gehen wir nochmals zu den Landes- und Staatsgrenzen. Sie finden sich auf geographischen  und politischen  Karten eingetragen,  entsprechend der Jahresdaten  immer wieder wechselnd und anders,  manchmal entlang grosser oder kleiner Flüsse und Ströme – Rhein,  Mosel, Loire, Donau, Save,  Elbe, Moldau,  Pruth,  Dnjestr,  Bug,  Dnjeper und viele mehr-, manchmal quer durch  Länder hindurch oder durch Wüsten und  Meere wie mit dem Lineal gezogen, manchmal Gebirgen entlang oder über Gebirge hinweg – und immer erzählen sie Geschichten, in  die sich zu versenken  aufwühlend  ist.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, dies zu tun: wir öffnen den Atlas der Weltgeschichte und folgen Seite für Seite seit der frühen Antike den  Eroberungen  und Kriegen, den Unterwerfungen, Ausdehnungen  und Verschmelzungen oder Trennungen  und Auflösungen von Dynastien,  Kaiser-,  König- und  Fürstentümern, Stadtstaaten,  Demokratien,  Republiken und  Diktaturen. Oder wir lesen die grossen historischen Werke, ob jene des Thukydides über den Peloponnesischen  Krieg, oder jene des Quintus Curtius Rufus über die Eroberungen Alexanders des Grossen, oder von Leo Tolstoi Krieg und Frieden über die napoleonischen Kriege und gesellschaftlichen Auswirkungen  in  Russland. Oder wir vertiefen  uns in  Briefe und Tagebücher aus der Zeit vor und während der grossen Kriege, die unsere nächsten Vorfahren oder möglicherweise am  Rande wir selber erlebt haben.

*

Beim Vorbereiten des heutigen Abends wählte ich aus meiner Bibliothek eine Anzahl Bücher,  die mich im  Lauf der Jahre immer wieder begleitet haben.  Einige wurden schon erwähnt.  Ich entschied, einer posthum erschienen  Dokumentation der Auflösung jeder Art von schützender Grenze im Vorfeld  und während des Zweiten Weltkriegs, der staatlichen, rechtlichen  und anderen vertraglichen Grenzen, der Grenzen  im Zusammenleben und der Grenzen  im  Ertragen von Entrechtung und Angst einen besonderen Raum zuzugestehen.  Es geht um die Tagebücher 1935 194454  von Mihail Sebastian,  die unter dem Titel  Voller Entsetzen,  aber nicht verzweifelt  erstmals 1996 im  rumänischen Original und  1998 in deutscher Übersetzung erschienenen sind.

Der 1907 im  rumänischen   Braila,  einer historischen Stadt an der Donau  im Südosten der Grossen Walachei, geborene losif Hechter wählte 1929, mit 22 Jahren,  nach Abschluss seines Jurastudiums und seiner Anwaltslizenz, für seine Publikationen das Pseudonym Mihail Sebastian.  Mit dem neuen, nicht-jüdisch  klingenden  Namen trat er in die Redaktion der Tageszeitung Cuväntu! (Das  Wort) in  Bukarest ein, die von Nae lonescu geleitet wurde, der als existentialistischer Philosophieprofessor, zunehmend aber auch als faschistischer und antisemitischer Ideologe die Studentenschaft um sich scharte, auch  als diese sich  1927 unter der Führung von Corneliu Zeah Condreanu(55)  mit gleich motivierten jungen Bauern zur Eisernen Garde zusammenschlossen, die als parteiähnliche Bewegung unter dem Namen „Nationale Revolution” und „Alles für das Vaterland” auftrat und bald als paramilitärische Legionärstruppe mit schwerster Gewalt gegen die jüdische Bevölkerung vorging. Ab September 1940, als General Ion Antonescu, ein Verbündeter Adolf Hitlers, zum „Staatsführer” und  Marschall Rumäniens ernannt wurde,  übernahmen  Legionäre Ministerposten in dessen Regierung, auch  beim  Betritt Rumäniens zum  nationalsozialistisch- faschistischen  Dreimächtepakt am  23 November 1940.

losif Hechter alias Mihail Sebastian  hatte als Literaturkritiker und als hervorragender Kenner der französischen  und englischen  Literatur früh Erfolg, auch als Journalist und Schriftsteller, als eigenwilliger Denker, der lange den wachsenden Antisemitismus im  Kreis von Nae lonescu, von Mircea  Eliade und von weiteren  Freunden zu verdrängen versuchte. Als er 1934 Nae lonescu  um ein Vorwort für seinen  Roman Seit zweitausend Jahren(56)  bat und als dieser ihn darin  mit einer übelsten  antisemitischen Tirade lächerlich  machte, distanzierte sich  Hechter von ihm, doch er liess die Publikation des Buchs trotzdem zu. Sie wurde zum Desaster.  Fortan wurde die politische Realität in  Rumänien für losif Hechter zunehmend schwieriger,  und die widerliche, unverständliche Anpassung von Intellektuellen, die er als seine Freunde erachtet hatte, an einen rumänisch-orthodoxen, Hitler konformen Faschismus und Antisemitismus wurde zunehmend  unerträglicher.  Es war die gleiche nationalsozialistische Anpassung, die sich seit Anfang 1933 zunehmend durch die Presse auf die breite  Masse auswirkte, die Hechter nicht nur an der Universität und in den lntellektuellencafes, sondern selbst in der Anwaltskammer feststellte. Verblüfft notierte er am  18. Februar 1935 im  Tagebuch,  dass auch ein befreundeter Anwalt(57)  sich  der antisemitischen „Nationalen  Revolution” angeschlossen  habe, der früher „über die Freiheit” gesprochen  habe, ,,über den Widerstand des Einzelnen gegen den Staat, über die Dummheit der Idee vom ,kollektiven Weg’, einer Idee, die in  Diktaturen ausgenützt werde”.  Deutlich sei die Hand  Nae lonescu’s am Werk. So wolle der Professor dazu beitragen, ein „neues Rumänien” zu schaffen.

Das „neue  Rumänien” kam tatsächlich auf verhängnisvolle Weise zustande. Seit sich  in Deutschland der Nationalsozialismus mit der am 30. Januar 1933 erfolgten Wahl Hitlers zum Reichskanzler als Macht bestätigt hatte, wirkte sich dieser wie ein Virus auf die umliegenden Staaten aus. losif Hechter stellte am 24. September 1938 mit Bangen fest, dass es keine staatliche Sicherheit mehr gebe, dass von Stunde zu Stunde das Schlimmste zu befürchten sei. ,,Die Tschechoslowakei hat gestern die Mobilmachung ausgerufen.  Frankreich scheint das Gleiche getan zu haben, ohne ausdrücklich den Begriff ,Allgemeine Mobilmachung’ zu benutzen.  Heute Nacht stand der Krieg unmittelbar bevor.  In der Stadt war gegen drei  Uhr nachts Panikstimmung zu spüren.  ( … ) Wir befinden  uns in einer Synkope. Chamberlain  ist mit den neuen  Forderungen  Hitlers nach London zurückgekehrt. Werden sie akzeptiert werden? Werden wir einen ,deutschen  Frieden’ haben, der die Freiheit in  Europa abschafft, für wer weiss wie lange? Vielleicht für eine ganze historische Epoche?- Und wenn die Forderungen  nicht akzeptiert werden? Dann  haben wir Krieg. Alles ist nur eine Frage von Tagen, vielleicht von noch weniger, von Stunden, von Minuten.”(58)

“Wir befinden  uns in  einer Synkope”, hielt losif Hechter mit Entsetzen fest.  Ein “Kreislaufkollaps” lässt in der Regel kein überleben zu. Das Münchner Abkommen,  das am 20. September 1938 zwischen Hitler mit Grossbritannien, Frankreich, Polen, den USA und der Sowjetunion abgeschlossen wurde, betraf die Annexion des tschechoslowakischen Sudentengebietes durch das Deutsche Reich.  Doch die Grenzverschiebung sollte nicht bei diesem deutschsprachigen Gebiet bleiben, das durch den Versailler Vertrag der Tschechoslowakei zugeschrieben worden war.  Hitler plante, die ganze Tschechoslowakei dem deutschen Grossreich  einzuverleiben  und er wies am 21. November 1938 die Wehrmacht an, sich für die  Eroberung und  Besetzung bereit zu  halten. Am 14. März 1939 erklärte sich die Slowakei als 11unabhängiger” Staat, das heisst als Satellitenstaat des Deutschen  Reichs, und am selben Tag kam es zum  .Protektoratsvertrag” zwischen  Hitler und dem tschechischen Staatspräsidenten.  Es gab keine schützenden Grenzen  mehr, die deutsche Armee und  die Gestapo besetzten das Land, das nun .Relchsprotektorat Böhmen und  Mähren” hiess.  Unzählige Gefangennahmen, Abtransporte in Konzentrationslager und Tötungen folgten.

losif Hechter hatte im September 1938 diese bedrohliche Entwicklung geahnt.  Er bangte damals um seinen  Bruder Poldy, der in  Paris lebte und der die Mutter als Gast bei sich hatte, die keine andere Sprache als Rumänisch sprach  und deren  Rückreise nach Bukarest unter der sich zuspitzenden  antisemitischen Gefährdung nicht vorstellbar war. Gewiss  bangte er auch  um sein eigenes überleben und um das Schicksal Rumäniens.  Trotzdem schlug er jede Möglichkeit von Flucht aus. Als er am  17. Oktober 1938 notierte, seine Mutter sei zurückgekehrt, doch während vier Stunden sei sie in Jimbolia an der serbisch-rumänischen Grenze festgehalten worden, bis er durch ein Telegramm ans Innenministerium  ihre Weiterreise habe bewirken  können. 11Es scheint, dass nicht nur Jimbolia, sondern sämtliche Grenzstationen voller Juden sind, die weder in die Länder, aus denen sie kommen, zurückkehren noch nach Rumänien einreisen dürfen, obwohl sie alle Inhaber rumänischer Pässe sind.  Keine Erklärung für diese Barbarei, keine Rechtfertigung. ( … )  0 Herr, was kommt jetzt noch auf uns zu?”(59)  Die Ungewissheit verstärkte sich, als bekannt wurde, dass am 30. November der Gründer und „Führer” der „Eisernen Garde”, Corneliu Codreanu, ermordet worden sei,  nicht allein er, sondern gleichzeitig die Mörder von dessen rechtsextremen Rivalen. ,,Es läge in der Logik der Dinge”, schrieb Hechter am 2. Dezember 1938, dass dieser dumpfe Schock zu einem  antisemitischen Ausbruch führt.  Das wäre ein Sicherheitsventil, und es ist nicht ausgeschlossen, dass die Regierung es selbst eröffnet. Auch diesmal  können wir es sein, die für alles bezahlen müssen.”

Anfang 1939,  am 5. Januar, erfuhr Hechter, dass seine Bewerbung um Aufnahme in den “Schriftstellerverband zur Nationalen  Front” als “heikler Name” gestrichen worden sei. Seit König Carol  II im  Februar 1938 seine Diktatur und gleichzeitig die Neutralität Rumäniens ausgerufen  hatte, war die “Front zur nationalen Wiedergeburt” die einzige zugelassene Partei, die am 22. Juni  1940 durch die “Partei der Nation” ersetzt wurde. “Jch  muss bekennen, dass mir meine Manuskripte nicht besonders wichtig sind. Wichtiger sind  mir vielleicht die Bücher, die ich vielleicht nicht mehr schreiben kann. Und vor allem  ist mir das Leben wichtig – dieses Leben, aus dem ich  bis heute so gut wie nichts gemacht habe”(60) notierte er am 20. März  1939. Am gleichen Tag erfuhr er “die Vernichtung der Tschechoslowakei” wie ein persönliches Drama.  “Jch las die Zeitung noch auf der Strasse, die Einzelheiten über den  Einmarsch  Hitlers in  Prag.  Ich  hatte Tränen in den Augen. Das ist etwas so Demütigendes und Erbärmliches, dass es alles erschüttert, was ich  einmal von den Menschen zu wissen meinte.” Dazu gehörte die Tatsache, dass Grossbritannien  und Frankreich durch ihre Aussenminister wohl Protestreden veröffentlichten, ohne dass gegen Hitlers Grenzüberschreitung und  militärische Besetzung das Geringste unternommen worden wäre.  Hechter führte weiter aus,  dass offenbar auch seinem  Land ein Ultimatum gestellt worden sei, trotz der in den Zeitungen erschienenen  Dementis.  Dass Hitler von Rumänien den Verzicht auf jegliche industrielle Produktion und den Aufbau einer reinen Agrarwirtschaft fordere, deren  Produkte ausschliesslich an  Deutschland zu liefern wären. Am nächstfolgenden Tag erfuhr er, dass das ganze  II. Armee-Korps seines Landes mobilisiert wurde und dass auch er sich beim  Regiment melden musste.  Er tat dies, wurde fürs erste jedoch wieder freigestellt. “Die beiden im  Regen im Hof der Kaserne verbrachten Tage liessen  mein Leben als Zivilist auf einmal wertvoll erscheinen,  und  ich hatte den Eindruck, dass ich, wenn ich zu diesem Leben zurückkehrte, es besser nutzen und  mehr lieben würde.”

Am 16. Mai 1939 wurde  losif Hechter tatsächlich einberufen, und am  18. Mai musste er die militärische Ausrüstung in Empfang nehmen, 11ein paar ekelhafte Lumpen, die man nicht in der Wohnung  aufbewahren  kann, ohne sämtliche Fenster offen stehen zu lassen.  ( … )  Ich bemühte mich, eine saubere Uniform zusammenzuklauben:  meinen alten Uniformrock von 1933, die Wickelgamaschen gleichfalls von damals, meine Sommerstiefel.  ( … )  Ich sehe so erbärmlich aus, als wäre ich verprügelt und verunstaltet worden.  Ich  bin nicht mehr ich selbst, ich  bin nichts, nichts, absolut nichts.  Etwas, das ohne Aufhebens gemeinsam mit anderen getötet, durch den Dreck gezerrt, in Scheunen geworfen, auf dem Feld  liegen gelassen werden kann, etwas ohne Namen, ohne Identität, ohne Antlitz. Ohne Willen,  ohne Stimme, ohne Leben – ein rumänischer Soldat. “(61)

Am 23. August 1939 kam es zwischen  Hitler und Stalin zum  Deutsch-Russischen Nichtangriffspakt, mit der heimlichen Vereinbarung  der Aufteilung Polens.  Hechter griff sich an  den  Kopf. 11Die ganze Weltpolitik hat sich  um  180 Grad gedreht. ( … )  Wäre die europäische Partie, die jetzt gespielt wird, ein Theaterstück, so wäre die Intrige perfekt gelungen. (…)  Im September 1938 haben sich  England und  Frankreich  mit Hitler geeinigt, gegen Russland und  über dessen Kopf hinweg.  Im August 1939 verständigt sich  Russland nun  mit Hitler über die Köpfe von Frankreich und  England  hinweg – und gegen diese.  Im September 1938 war das Preisgeld, das Hitler kassierte, die Tschechoslowakei. Jetzt ist es Danzig.  Der zweite Akt sieht aus wie der erste, nur umgekehrt.  Doch es fällt mir schwer, die Dinge bloss vom Gesichtspunkt des dramatischen Aufbaus her zu betrachten.  { … )  Was wird also geschehen ?”(62)

Die Frage spitzte sich von Tag zu Tag zu. Am 1. September 1939 erfuhr losif Hechter von seinem  Bruder Poldy, dass dieser sich in  Frankreich als Freiwilliger gemeldet habe. Am gleichen Tag wurde Danzig annektiert und die deutsche Wehrmacht überschritt auf breiter Front die polnische Grenze.  Die Nachrichten gelangten aufs spärlichste nach Bukarest. Am 2. September hiess es, Warschau sei  bombardiert worden, doch wenige Stunden später wurde die Nachricht wieder dementiert.  Am 4. September erklärten  England  und  Frankreich, die mit Polen liiert waren,  Deutschland den Krieg. Wie wird  Russland  reagieren, was war für Rumänien zu befürchten? Stand der unmittelbare Kriegseintritt an der Seite Frankreichs bevor? Oder an wessen Seite? Am 5. September hielt Hechter fest: ,,Es kursieren die schlimmsten Gerüchte und Voraussagen.  Deutschland verlange sämtlichen Weizen und  alles Erdöl  Rumäniens.  Frankreich  und  England würden  in Constanza Truppen  an Land setzen. Rumänien akzeptiere weder das eine noch das andere.  Krieg,  Krieg und  nochmals Krieg. “(63)

Das Gefühl der Machtlosigkeit angesichts der in  Polen voran rückenden deutschen Armeen wurde durch die Sorge um  das Schicksal der polnischen Juden vervielfacht.   Die politische Situation wurde immer aussichtsloser. Am 17. September 1939 erfuhr Hechter, dass die Russen ein Abkommen  mit Japan abgeschlossen  hatten  und dass sie gleichzeitig die Nordgrenze Polens überschritten  hatten,  um die von den Deutschen  noch  nicht besetzten Gebiete zu erobern.  In  Rumänien verschlimmerte sich die Lage durch die am 21. September 1939 von Legionären vorgenommenen  Ermordung des noch vom König eingesetzten Premierministers Armand Calinescu, der sich gegen die Kommunistische Partei wie gegen die Eiserne Garde eingesetzt hatte und der sich zu den Franzosen  und  Engländern bekannte, um der polnischen Armee einen Rückhalt zu bieten.  Hechter befürchtete, dass das in Rumänien entstandene Chaos für Hitler wie für Stalin Anlass sein könnte, deren Truppen einmarschieren zu  lassen „um ,wieder Ordnung herzustellen’ und ,die Blutsbrüder zu schützen'( … ). Wie leben nun  in  einer Stadt, die mit Dynamit ausgelegt ist und die in fünf Minuten  in die Luft fliegen wird  ( … ) Es  scheint, dass das Attentat zu einem Zeitpunkt geplant war, als die Deutschen sich  rasch auf die polnisch-rumänische Grenze zu bewegten.  Hätten sie sich dort oben, im  Norden der Bukowina, befunden, dann wäre nichts einfacher gewesen, als im  Moment der Ermordung von Armand in  unser Land einzudringen  ( … ) Alles hätte in Absicht und Ausführung perfekt der Ermordung von Dollfuss geglichen. Was diese Pläne aber durcheinander brachte, war der unerwartete Einmarsch  der Russen  in  Polen  und vor allem  ihr unerwarteter Vormarsch auf die polnisch-rumänische Grenze zu, wodurch  nun eine gemeinsame  Grenze Rumäniens mit den Deutschen ausgeschlossen  ist.  Es ist das Einzige, was uns einstweilen vor der totalen  Katastrophe bewahrt. “(64)

Mit der wachsenden Bedrohung von Aussen verschlimmerte sich im  Innern  Rumäniens die Macht der Eisernen Garde und die antisemitische Aufhetzung.  losif Hechter stellte mit Erschrecken fest, dass nicht nur Nae lonescu,  sondern auch  Mircea  Eliade, den er zu seinen Freunden gezählt hatte, eine prodeutsche Regierung als Rettung Rumäniens erklärten, dass Eliade die menschliche Tragödie, die an der Grenze zur Bukowina geschah, als lästigen Skandal bezeichnete, ,,da immer weitere Wogen von Juden eindringen würden.  Lieber ein deutsches Protektorat als ein wieder einmal von Saujuden überranntes Rumänien. “(65)  In seinem Gefühl der Hilflosigkeit las Hechter Die Geschichte der Juden von Simon  Dubnow(66) und vertiefte sich in die Pogrome des 16. Jahrhunderts in Venedig, Padua,  Prag, Wien und Frankfurt. ,,Ich fühlte, wie ich mich beim Lesen  in der Zeit entfernte.  Es ist gut zu wissen, dass man einem Volk angehört, das im  Lauf der Jahrhunderte viel durchgemacht hat, wobei einiges davon noch schlimmer war als das, was sich  heute zuträgt. “(67)  Das „heute” war noch nicht das morgen. er konnte nicht ahnen, was noch kommen würde.

Mitte Dezember 1939 wurde losif aufgeboten, sich bei seinem  Regiment zu melden. ,,Das Furchtbare am  Übergang vom Zivil- zum  Kasernenleben ist die Abruptheit,  mit der das geschieht. Wenn ich vorgewarnt wäre, wenn ich jetzt wüsste, dass ich  beispielweise  am  15. Januar einberufen werde, dann würde die Tatsache erträglich werden,  nicht nur, weil sie noch  in weiter Ferne läge (qui doit a terme, ne doit rien), sondern auch, weil ich wirklich Zeit hätte,  mich vorzubereiten  und den Schlag “abzufedern.”(68)  Am 9. Januar 1940 erfuhr er von einem  Bekannten, der eine  Funktion  bei der Regierung hatte, dass tatsächlich auf den 15. Januar eine Einberufung vorgesehen war, die ausschliesslich Juden betraf,  1500 Juden  und keinen einzigen Christen. ,,Alles ist erträglich bis zu dem Augenblick, in dem man sich  nicht mehr als  Soldat oder als Bürger betroffen fühlt, sondern als Jude. Tausende, Zehntausende Juden werden einberufen,  um in  Bessarabien und der Dobrudscha Steine zu schleppen  und Schützengräben auszuheben.” (69) Wann immer möglich, hörte er über verschiedenste Radiosender (zum  Beispiel  Paris-Mondial,  Paris-Colonial} Musik,  Kompositionen von Mozart, von Haydn, von Beethoven, von Bach, von Ravel, von Max Bruch, sinfonische Dichtungen von Cesar Franck.  Er vertiefte sich in jedes Werk und versuchte zu vergessen „was jetzt in Polen  mit den von Hitlers Horden umzingelten Juden geschieht, es übertrifft jedes uns bekannte Grauen.”(70)

Die Kriegssituation veränderte sich. Am 10. April  1940 hielt Hechter fest, dass am Tag zuvor „die Deutschen ohne den geringsten Widerstand  Dänemark besetzt haben  und an mehreren Punkten  in  Norwegen gelandet sind, wo sie auf einen seltsamen, fast nur formalen Widerstand treffen.”(71)  Als er am  16. April  1940 erfuhr, dass britische Truppen an der norwegischen  Küste gelandet seien  und dass in  Narvik  ein britischer Sieg verzeichnet werden  konnte, spürte er etwas wie Hoffnung in der zunehmend düsteren Vorstellung einer von Hitler beherrschten Welt.  Doch ab dem  10. Mai 1940 bestätigte sich diese panikartig. „Heute früh  im  Morgengrauen  haben die Deutschen  Luxemburg besetzt, die belgischen und holländischen Grenzen überschritten  und den Flughafen von Brüssel bombardiert.” Am 14. Mai: ,,Lüttich  ist gefallen. Zumindest besagt dies das deutsche Kornmunique.  Das französische behauptet, dass viele Befestigungen  noch Widerstand leisten, aber es dementiert nicht eindeutig die Besetzung der Stadt.  In  Holland findet noch Schlimmeres statt.  Der Fall von Rotterdam steht, wie es selbst im französischen Kornrnunique heisst, kurz bevor.  Der deutsche Angriff ist vernichtend.  Die Telegramme der Allierten  können  ihre Verwirrung, ja Verzweiflung kaum noch verbergen.  Italien bereitet sich darauf vor,  ebenfalls in den Krieg einzutreten.  ( … }  Über uns lässt sich  noch  nichts sagen. Werden die Russen uns angreifen? Werden  uns die Deutschen besetzen?” Dann einen Tag später, am  15 Mai: ,,Sehr ernste Lage an der französisch-belgischen  Front.  Die Deutschen haben  an verschiedenen Stellen die Meuse überschritten. Vor allen in Sedan scheint es einen sehr mächtigen Militärschlag gegeben zu  haben.  ( … }  Holland  hat gestern  Abend kapituliert.  Es ist erschreckend  – nach vier Tagen Krieg!  Die deutsche Streitkraft scheint dämonisch, absolut zerstörerisch zu sein.  Ich fühle alles, was geschieht,  bis ins Innerste des Herzens.  Ich wünschte, ich hätte mehr Mut, könnte um  mich herum mehr Mut verbreiten.( … }  Mama ist voller Entsetzen,  Benu  (der jüngere Bruder – maw} hoffnungslos (mit seinen 24 Jahren schon hoffnungslos, warum  nur, warum?}( … }.  Im  Regiment ein Durcheinander, das mich  in Schrecken versetzt. “(72)

Einerseits war losif Hechter irrtümlicherweise als Deserteur gemeldet worden, gleichzeitig jedoch  einer neuen Kompanie zugeteilt worden, was ihn ängstigte. Andererseits wusste er um die verzweifelte Lage an der westlichen  Front, wusste aber nicht, wo sich sein  Bruder Poldy befand  und wie es ihm ging. Am 18. Mai 1940 notierte er: ,,In  Belgien fallen die Städte eine nach der anderen:  Louvain, Brüssel, Antwerpen.  In Sedan  haben die Deutschen verkündet, dass sie die Verteidigungslinien der Franzosen auf einer Länge von hundert Kilometern durchbrochen  haben.  ( … )  Was mich besonders deprimiert, sind die Anzeichen von  Panik.  Keinem  ist es mehr erlaubt,  Paris zu verlassen  (was bedeutet, dass sich alle danach drängen zu fliehen),  niemand  mehr darf die Grenze zu Spanien  überschreiten  (was vielleicht bedeutet, dass die Grenze von Flüchtlingen  bestürmt wird), ( … ) Zu  Hause will und kann ich  nicht mehr über den Krieg reden. Wir sind  uns in allem einig, ohne weiter darüber sprechen zu  müssen. Wir wissen genau, dass unser ganzes Leben von den Ereignissen dort, von der Front, anhängt.  Der einzige Ort, an den man den Krieg nicht sieht, nicht fühlt, wo er nicht existiert,  ist die Kaserne. Vom Oberst bis zum  Unteroffizier vom Dienst sind  alle damit beschäftigt zu fluchen, zu schlagen, zu brüllen, zu toben. Was für eine furchtbare Fabrik für Zeitverschwendung, welche Vergeudung von Energie und Arbeit. Alles in den Wind geschrieben, alles vergeblich.  Ich  bin bedrückt, angewidert, ständig angespannt.” Dann einen Tag später, am  19. Mai: ,,Die Deutschen sind in Laon. Sie kämpfen zehn  Kilometer vor Reims.  Der Weg nach Paris ist schon zur Hälfte zurückgelegt.  Das deutsche Kornmunique spricht von über 100’000 Kriegsgefangenen.  ( … )  Das Destaster lässt sich  nicht überblicken. Die Nachrichten von der Front sind vage. Die einzigen  präzisen  Informationen sind die Namen der von den Deutschen eroberten Ortschaften.” Später erfuhr Sebastian, dass die Franzosen schon 400’000 Mann verloren hätten. ,,Alles ist wie in einem entsetzlichen Albtraum, aus dem man erwachen  möchte. Gott, erbarme dich !”(73)

Der „entsetzliche Albtraum” war keine Nachtmär, sondern die undurchschbare Realität. Dessen war sich  losif Hechter schonungslos bewusst. Als am 28. Mai 1940 König Leopold von Belgien kapitulierte,  bedeutete dies für ihn einen nicht zu verstehenden Verrat, wie er mit Bestürzung, Trauer und tiefer Bitterkeit notierte. Seine Furcht, dass der Vormarsch von Wehrmacht und Gestapo Richtung Paris nicht mehr zu stoppen war, dass die Somme diesen ebenso wenig verhindern werde wir die Meuse dies tun konnte, bestätigte sich  bald. Er bangte um den Eintritt von Italien  in  den Krieg.  Die sogenannte „Objektivität” zahlreicher rumänischer, nicht-jüdischer Intellektueller, die eine Bewunderung und Sympathie für die Allmacht der Deutschen  bekundeten, war für ihn  unverständlich.  Unverständlich war, dass sie sich über die Tatsache keine Rechenschaft geben wollten, dass der deutsche Triumph  mit ihrer eigenen Versklavung einherging.  Für die einen sei es die Versklavung, jedoch für ihn und seine nächsten und weit entfernten jüdischen Angehörigen  bedeute es den Tod, schrieb Hechter.

Der Antisemitismus wuchs in Rumänien täglich an. Hechter fragte sich, ob dieser unter jedem  Defätismus brüte und darauf harre, sich zu entfalten.  Er erlebte ihn  nicht blass auf der Strasse und in den Cafes, sondern auch  auf militärischer, administrativer und diplomatischer Ebene.  Ein deutliches Zeichen war, dass der rumänische Aussenminister Grigore Gavencu, der seit Beginn des Kriegs die rumänischen  Neutralität zu wahren versucht hatte, abgesetzt und  durch  Ion Gigurtu ersetzt wurde, der den Nazis und insbesondere Göring nahe stand, der sich auf die Nürnberger Gesetze berief und der Eisernen Garde Ministerposten zubilligte.

Am 10. Juni  1940 vernahm  losif Hechter über Rundfunk von der Kriegserklärung Italiens an Frankreich  und  England, auch dass die Deutsche Armee die Seine überschritten  hatte.  Er verbrachte den Abend im  Institut Francais unter französischen  Freunden, in der vagen Hoffnung, dass nicht alles verloren sei.  Doch am  nächsten Tag wusste er, dass Paris von drei Seiten umzingelt war und dass die Regierung „in die Provinz” abgereist war. ,,Die Provinz” bedeutete Verhandlungen  mit der deutschen  Besatzungsmacht in  Bordeaux, welche die Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens in Compiegne resp. die von Hitler geforderte bedingungslose Kapitulation  Frankreichs beinhaltete.  In der Nacht vom 14. Juni, hörte er am  Radio den französischen Ministerpräsidenten  Paul Reynaud, der die britische Appeasement-Politik abgelehnt und gegenüber Hitler eine klare Gegenhaltung bekundet hatte, der trotz der militärischen  Niederlage auf keinen  Fall kapitulieren wollte, ,,ein Lebewohl von grösster Verzweiflung” aussprechen. ,,Es scheint ein allerletztes Wort zu sein, das der Kapitulation vorausgeht'<“, ahnte Hechter.  Reynaud trat von seinem  Posten zurück und wurde durch  Marschall Philippe  Petain  ersetzt, der diese am 22. Juni  1940 unterzeichnete. ,,Alles gleicht dem Tod eines geliebten Wesens. Du verstehst nicht, wie es geschehen konnte, du  kannst es nicht glauben. Der Verstand setzt aus, das Herz fühlt nichts mehr.( … )  Ich möchte weinen  können.”(75)

losif Hechter konnte nach diesen Zeilen sein Tagebuch während Monaten  nicht fortsetzen. Die Geschehnisse und die Grenzverschiebungen  in  Europa konnte er nicht festhalten, nicht die Besetzung von Paris durch die deutschen Truppen, nicht die Besetzung der baltischen Staaten  Estland,  Lettland  und Litauen durch die sowjetischen Truppen,  nicht das Schicksal Rumäniens. Am 28. Juni geschah der Einmarsch  russischer Truppen und die ultimative Forderung nach Rückgabe der Nordbukowina und Bessarabiens an  die Sowjetunion, die diese Gebiete nach dem  Ersten Weltkrieg an Rumänien  hatte abtreten müssen. Ebenso forderte Ungarn die Rückgabe des nördlichen Teils von Siebenbürgen  und Bulgarien die Rückgabe des südlichen Teils der Dobrudscha.  Die rumänische Bevölkerung war über diese schweren territorialen Verluste aufgebracht und verlangte deutschen Schutz, bis sich  König Carol  II duckte und  den der Eisernen Garde nahestehenden  Ion Antonescu zum Ministerpräsidenten  resp. zum Staatsführer mit uneingeschränkten Vollmachten erklärte. Deutsche Truppen  marschierten ein, und im Streit um Siebenbürgen entschied das von Hitler unterzeichnete Wiener Schiedsgericht am 30. August 1940, dass diese Gebietsrückgabe an das ebenfalls  mit Deutschland  liierte  Ungarn  umzusetzen sei. Am 6. September zwang Antonescu den König zur Abdankung, ersetzte ihn  durch  seinen Sohn Mihail I   und baute durch  die Koalition  mit Horis Sima, dem Führer der Legionäre,   eine faschistische  Diktatur auf,  die er als „Nationallegionären-Staat” bezeichnete. Am 27. September unterzeichnete er den Beitritt Rumäniens zum  Dreimächteabkommen zwischen dem  Deutschen  Reich,  Italien  und Japan.

Als am  1. Januar 1941 Hechter die Aufzeichnungen  in seinem Tagebuch  wieder aufnahm, fasste er aufs knappeste zusammen, wie er die vergangenen  Monate unter schwierigsten Bedingungen  im  Militärdienst überlebt hatte.  Die Tatsache, dass er infolge der antisemitischen Gesetze sowohl seine Mitgliedschaft bei der Anwaltskammer wie seine Anstellung bei der Stiftung für Literatur verloren  hatte, erschien  ihm wie etwas Beiläufiges, ebenso,  dass er, seit Antonescu im September 1940 die  Herrschaft übernommen  hatte, wie alle Juden anstelle von Militärdienst “Zwangsarbelt mit der Schaufel” leisten  musste, die ebenfalls vom  Militär überwacht wurde.  Er fühlte sich  krank und kraftlos, schrieb von Fieber und vom  Gefühl lähmender Angst. Am 21. Januar 1941 beobachtete er von seiner kleinen Wohnung im Zentrum von Bukarest aus den Aufstand der Legionäre, die gegen Antonescu rebellierten. Anstelle einzelner Plätze in  der faschistischen Regierung des “Nationallegionären Staats” wollten  sie die ganze Macht an sich  reissen.

In diesem Zusammenhang kam es in  Bukarest zu einem  der schlimmsten  Pogrome. Innerhalb von drei Tagen wurden nach offiziellen Angaben  über hundert, tatsächlich  aber mehrere tausend jüdische Bewohner massakriert,  auf der Strasse oder im  nahe gelegenen  Wald von  Baneasa   und von Jilava, oder sie wurden  im Schlachthaus von Straulesti erschossen, aufs schrecklichste zugerichtet und nackt liegen gelassen. Zusätzlich wurden Tausende  aus ihren Wohnungen gejagt, zusammenschlagen   und gequält,  deren Wohn-  und Geschäftshäuser wie die  Lehrhäuser und selbst die Synagogen wurden ausgeraubt und in Flammen vernichtet. Josif Hechter notierte, dass noch am  23. Januar das Getöse von Maschinengewehren  und schreienden Stimmen weiterging, dann  am  nächsten Tag, dass er motorisierte Kolonnen der deutschen Wehrmacht beobachtete, die  mit Maschinengewehren  im Anschlag durch die Hauptstrassen von  Bukarest defilierten.  Er war in grosser Sorge um seine Eltern  und den jüngeren  Bruder Benu, die  im  alten Antim-Quartier lebten,  und der hoffte, dass dieses möglicherweise mit dem christlich orthodoxen  Kloster im Zentrum weniger gefährdet war als die jüdischen Viertel Vacaresti  und  Dudesti, doch es gab nirgendwo mehr Sicherheit. Am 24. Januar holte ihn  eine nicht-jüdische  Freundin  in seiner Wohnung ab  und fuhr ihn  in  ihrem Auto durch  die Stadt zu seinen  Eltern,  begleitet von einem  aufgelöst wirkenden  Legionär. Sie wollte diese überzeugen,  aus Antim wegzuziehen, doch Hechters  Familie beharrte darauf,  in der Wohnung zu  bleiben  und sich zu verbarrikadieren.

Das Regime von Antonescu wurde zu  einer reinen  Militärdiktatur, die das Bündnis mit  Hitler- Deutschland  noch  enger bekundete und dieses gegenüber der jüdischen Bevölkerung wie gegenüber den Roma gnadenlos umsetzte.  Einzelne Bekannte und  Freunde Hechters verliessen  Rumänien  und zogen  nach  Kairo oder nach Paris oder nach London, obwohl sich auch  diese Städte im  Kriegszustand  befanden.  Er entschied auszuharren  und zu beobachten. Auf keinen Fall wollte er resignieren. Am 27. März 1941 erfuhr er spät nachts über einen Radiosender, dass Jugoslawien, das am Tag zuvor in Wien den Dreimächtepakt unterschrieben  hatte, auf völlig überraschende Weise einen antideutschen Staatsstreich gewagt hatte: dass Prinzregent Paul abgedankt und sich ins Ausland abgesetzt hatte, dass König Peter im Alter von 17 Jahren die Macht übernommen hatte, mit einer neuen Regierung, zu der drei serbische Minister gehörten, die gegen den Betritt zum Dreimächtepakt protestiert hatten. Was würde diese Tatsache bewirken? Sie änderte nichts an der anderen Tatsache, die am selben Abend über Radio Bukarest bekannt gegeben wurde, dass alle jüdischen  Immobilien ab sofort enteignet seien  und an rumänische Lehrer, Offiziere, Staatsbeamte etc. vergeben würden. Schon seit Tagen war ihm  bewusst, dass auch er die Wohnung, die er bewohnte, aufgeben  musste, da der Eigentümer den Mietzins ins Unzahlbare gesteigert hatte, dass er sich vermutlich  in Antim mit einem  Bett in der kleinen Wohnung  seiner Eltern begnügen musste.

Hechter hielt fest, wie der Krieg voranschritt, in  Nordafrika bis nach Eritrea und Abessinien sowie im  Mittelmeer südlich von Kreta zu Gunsten der Engländer, in Mitteleuropa zu Gunsten  der Deutschen. Grenzen wurden wertlos. Besitzerklärungen  über Länder und Menschen veränderten sich von Woche zu Woche. Am März  1941 notierte er, dass die Wehrmacht die Donau überschritten  habe und seit drei Tagen Bulgarien  besetze, am 6. April, dass Deutschland Jugoslawien den Krieg erklärt und  Belgrad bombardiert habe.  Im Norden  und Süden Jugoslawiens habe es Tausende von Gefangenen gegeben, Ljubljana sei von den Italienern besetzt, Zagreb von den Deutschen, in deren 11Schutz” sich  Kroatien zum unabhängigen Staat erklärt habe.  Die mit Deutschland liierte ungarische Armee sei über die serbische Nordgrenze marschiert, um die ungarische Bevölkerung zu 11schützen”, die rumänische  Armee sei mit der gleichen Erklärung ins Banat vorgedrungen.  Die Ereignisse überstürzten sich. Als Hechter am  13. April  1941 vom Neutralitätsabkommen zwischen Moskau und Tokio erfuhr, ahnte er, dass der Ausbruch eines russisch-deutschen  Kriegs  zu befürchten war. Gleichzeitig sah er voraus, dass innerhalb weniger Wochen nicht nur ganz Jugoslawien, sondern auch Griechenland – inklusive Kreta – und Albanien von der Wehrmacht und der Gestapo besetzt sein würden. All dies trat ein, ebenso die Rückeroberung durch die Deutschen der von England erkämpften Gebiete Libyens.

Gleichzeitig wurden in  Bukarest die Lebensbedingungen für die jüdische Bevölkerung zunehmend enger: die Radiogeräte wurden  beschlagnahmt, die jüdischen  Namen aus der Geschichte der rumänischen  Literatur entfernt, vor den geschlossenen Bäckereien  kam es zu Warteschlangen, die Telefonverbindungen wurden durchschnitten.  Hechter hatte seine eigene  kleine Wohnung  aufgeben  müssen. Auf der Strasse beobachtete er die Verhaftung jüdischer Bewohner Bukarests, eine lange Kolonne von Menschen, die meisten gepflegt bekleidet, von Soldaten  umzingelt.  Er schilderte, wie Eugen  lonescu, der Schriftsteller und Maler,  ihn  besucht und  mit blankem  Entsetzen  in  den Augen mitgeteilt habe, der Krieg gegen die Russen sei eine definitive Tatsache.  Und so war es. Am 22. Juni  1941 gab der Staatschef über Radio bekannt, dass “Rumänien  an der Seite Deutschlands in den heiligen Krieg zur Befreiung Bessarabiens und der Bukowina  und zur Vernichtung des Bolschewismus zieht.”(76)

Tag für Tag notierte Hechter, was er erfahren  konnte: das Vordringen der deutschen Truppen  in die Region von Vilna, dann  Richtung Minsk und weiter, fortgesetzte Fliegeralarme in  Bukarest und in anderen rumänischen Städten, erste Bombardierungen  und Tote, zunehmend weniger Überblick über den Frontverlauf.  Er hielt auch fest, was ihn ängstigte: die wachsende antisemitische Aufhetzung auf Plakaten, in der Presse und am Radio, dann, dass die jüdische Bevölkerung aus den moldauischen  Dörfern deportiert worden sei und dass sich die Massnahme auf andere Regionen ausdehne, dass am 29. und 30. Juni  1941  in  Iasi fünfhundert “jüdische  Freimaurer” von rumänischen und deutschen Polizei- und Militäreinheiten hingerichtet worden seien, doch tatsächlich wurden  13’000 jüdische  Bewohner und  Bewohnerinnen massakriert.  In  Buzau,  Ploiesti  und  Rimnic wurden alle jüdischen  Männer zwischen zehn und sechzig Jahren in improvisierte Lager interniert, ganze Züge voller Juden wurden  nach  Calarasi deportiert. Auch in  Bukarest sollten die männlichen  Juden  registriert und abtransportiert werden.  Ein von der Front zurückgekehrter Offizier berichtete Hechter, dass die Armee den Befehl erhalten habe,  in  Bessarabien und  in der Bukowina alle Juden, die erfasst werden konnten, zu erschiessen.

Während die neue Offensive der Deutschen  in der Ukraine voranging und die Umzingelungsaktion zwischen  Dnjstr, Dnjepr und Schwarzem  Meer im offiziellen deutschen Cornmunique als erfolgreich bekannt gegeben wurde, notierte Hechter, zum Glück könne er noch Anderes lesen, unter anderem mit grosser Intensität das sechste Buch von Thukydides über den Krieg Athens gegen Syrakus, über die griechische Militärexpedition  nach Sizilien und über Verhandlungen mit den Kolonien.  Es gebe packende Analogien zwischen  dem Peloponnesischen  Krieg und den Kriegen von 1914 und  1939. Die griechischen Stadtstaaten hätten  lediglich  die antisemitische Ablenkung  nicht gekannt, möglicherweise aber eine andere Ablenkung, gewiss jene mit den Sklaven  und Sklavinnen.  Er könne kaum mehr über die aktuelle Stunde hinausschauen, es seien Tage endloser Angst, die anstelle von Denken bleierne Apathie bewirkten.  Er habe von der Verhaftung von Freunden  und  Freundinnen erfahren, ohne zu wissen, aus welchen Gründen, er frage sich, wann er abtransportiert würde.

Am 2. August 1941 mussten  losif Hechter und sein jüngerer Bruder Benu sich  mit Proviant und Wäsche für drei Tage auf der Präfektur melden. Es handelte sich, wie er schrieb,  um eine „wahre Massenrekrutierung” von jüdischen  Männern zwischen zwanzig und fünfzig Jahren.  Die meisten seien aus dem Bukarester Vacaresti-Viertel, ,,elende Gruppen von ausgehungerten, gespenstisch aussehenden Juden  mit jämmerlichen  Reisesäcken, ( … ) von denen zahlreiche in  Kolonnen umgebildet und in  Marsch gesetzt wurden. “(77)  Sebastian und seinem  Bruder wurde eine kleine Verschnaufpause gewährt, doch es stand fest, dass sie zur Zwangsarbeit beordert würden, und tatsächlich wurde Benu am 29. August als erster „in die Provinz” abgefahren.  Ebenso stand fest, dass sie wie die jüdischen Menschen von Czernowitz und von Jasr bald den Davidstern würden tragen müssen. Die Antonescu- Regierung verlangte gleichzeitig von der jüdischen Bevölkerung die sofortige Zahlung von zehn  Milliarden  Lei, und drei Tage später zusätzlich  die persönliche Ablieferung von 4000 Betten mit der gleichen Anzahl Kissen,  Decken, Betttüchern  und  Kissenbezügen, innerhalb von zwei Tagen, ansonsten  die Polizei oder Armeeeinheiten diese beschaffen werde, ferner von 5000  Stiefeln, Hüten und  Kleidungen. ,,Ein jämmerliches Schauspiel im Hof der Grossen Synagoge ( … }. Ständig kommen geplagte Menschen an, die Sachen auf dem Rücken schleppen, schicksalsergeben, traurig, ohne Widerstand oder Irritation.  Nichts wundert uns mehr. “(78)  Das persönliche Leben wurde zunehmend  enger.  Der Eigentümer des Hauses in Antim, in welchem  er mit seinen  Eltern  und  Benu lebte, verlangte die Unsumme von 93’000 Lei, um den  Mietvertrag zu erneuern.  Einen  Umzug ins Auge zu fassen war nicht möglich, gleichzeitig blieb fürs praktische überleben praktisch nichts mehr, zumal sich auch die Lebensmittelpreise fast täglich verdoppelten. Sebastian fühlte sich seiner Mutter gegenüber hilflos und in grösster Verzweiflung.  Er nahm sich vor, sich  um jede Art von Arbeit zu bemühen, um irgendwie Geld verdienen zu können.

Es wurde Oktober und die deutsche Wehrmacht liess in der Presse wissen, sie sei für die Winteroffensive gerüstet, die gesamte sowjetische Front sei kollabiert, die Offensive auf Moskau sei in vollem Gang.  Hechter war skeptisch, doch gleichzeitig wusste er, dass eine Hoffnung auf baldigen Frieden illusorisch war.  Mitte Oktober setzte Nieselregen und schneidende Kälte ein, gleichzeitig drangen  Informationen durch, dass die Juden aus den Städten  und Dörfern der Bukowina auf lange Märsche geschickt würden, das Ziel sei Transnistrien.  Eine andere Mitteilung ergänzte, dass die Wege nach  Bessarabien und in die Bukowina übersät seien von Leichen von Menschen, die, aus ihren  Häusern gejagt, auf der Flucht in  die Ukraine gewesen seien, Greise,  Kinder,  Frauen,  Kranke. ,,Ein antisemitischer Irrsinn, den nichts aufhalten kann. Es gibt keine Zurückhaltung, kein Mass, ( … }  Es  handelt sich um  pure Bestialität, eine entfesselte, schamlose, gewissenlose, zwecklose, sinnlose Bestialität.  ( … )  Von Juni bis jetzt sind über 100’000 Juden ermordet worden. Wie viele von uns sind  noch übrig? Wie lange noch, bis wir alle ermordet sind? Mein  Herz ist schwer und traurig. Wohin soll ich mich wenden, was ist noch zu erwarten?”(7)

Hechter konnte nicht wissen, dass unter Antonescu’s Herrschaft zwischen 280’000 und 380’000 jüdische Frauen, Kinder und Männer in Transnistrien ermordet würden, ferner gegen 250’000 Roma, eine unvorstellbare Anzahl von Toten, die in Anpassung an  Hitlers Forderungen das damalige Rumänien zu einem  Land der Toten  machte.  Er war in täglicher Geldnot, musste immer wieder Geld von jemandem  aus dem Bekanntenkreis borgen, damit er seiner Mutter das Nötigste für den Haushalt bieten und gleichzeitig die Darlehen wieder zurückzahlen konnte.  Er nahm  im  Hachette-Verlag, der noch einen Vertreter im  Bukarest hatte, den Übersetzungsauftrag von Kinderbüchern an, obwohl er wusste, dass er einen sehr geringen  Lohn dafür erhalten würde. Auch versuchte er, ein Theaterstück zu schreiben oder in juristischer Hinsicht einen Auftrag zu finden.

Der Krieg auf der Weltbühne veränderte sich.  In  Bukarest wurde bekannt, dass Hitler am  21. Dezember 1941 Generalfeldmarschall von Brauchitsch abgesetzt und selber das Oberkommando über das deutsche Heer in  Russland übernommen  hatte.  Ebenso wurde bekannt, dass die russische Armee die Deutschen zum  Rückzug drängte.  Im Januar und Februar 1942 häuften sich ständig widersprüchliche Meldungen,  auch was die Kriegssituation in  Nordafrika,  im Pazifik und in Ostasien  betraf.

In  Bukarest  wurde am 20. Januar ein 11neues Kornrnunique über die Juden” veröffentlicht, in welchem  hiess, dass 11alle Juden, ohne irgendeine Ausnahme, verpflichtet seien, fünf Tage lang Schnee zu  räumen”, ansonsten sie der jüdischen Arbeitstruppe zugewiesen  und nach Transnistrien versetzt würden. Aus den fünf Tagen wurden zehn Tage. Die Forderung dauerte bis Anfang März an. Auch losif Hechter und sein  Bruder Benu blieb nicht anderes übrig, als von Morgen  um halb sechs bis abends um acht Uhr Schnee zu räumen, ständig unter Kontrolle der Polizei.  Doch er sagte sich, dass es in den Kriegsgefangenen- und Konzentrationslagern  noch viel härter zuging als in  Bukarest, dass die Schikane, die er erlebte, nicht zu vergleichen war.  Die erneute Steigerung der Monatsmiete versetzte ihn  in grössere Verzweiflung als die Schneeräumungsarbeit, auch die Nachricht, die Anfang April eintraf, dass sich  in  Dorohoi, in der nördlichen  Bukowina, die Deportationen  der Juden fortsetzten, ferner dass in  Kertsch auf der Halbinsel Krim, wo die jüdische  Bevölkerung schon  Ende November-Anfang Dezember 1941 aufs grausamste  zusammengetrieben  und in einem  Panzergraben vernichtet worden war, wieder neue Kämpfe der Sowjets gegen die Deutschen stattfanden.  Hechter selber wurde Ende Mai gezwungen, 5000 Lei für fünf Tage Schneeräumen zu  bezahlen, obwohl  er zehn Tage gratis gearbeitet hatte. Trost suchte er im Übersetzen von Shakespeare’s Sonnetten ins Rumänische, auch  in  der Hoffnung, sich  noch gründlicher mit Shakespeare zu  befassen  und  irgendwann ein Buch  über ihn zu schreiben.

„Die absurde Unwirklichkeit unseres Lebens. Wir lesen  noch  Bücher, vermögen  noch zu lachen  ( … )  Manchmal habe ich den Eindruck, dass der Juden  Fluch nichts mehr mit dem Krieg zu tun hat.  Der Krieg ist irgendwo anders, auf einer anderen  Ebene, in  einer anderen Dimension ( ….)”(80)

Für losif Hechter wiederholten  und steigerten sich die Grenzerfahrungen, die sich ihm eingeprägt hatten  und die er neu erlebte: am  17. Juni  1942 waren es zwei Jahre her seit der Verzweiflung ob der französischen  Kapitulation, am  22. Juni 1942 ein Jahr seit Beginn  des Kriegs gegen Russland, in welchen  Rumänien durch das verhängnisvolle Bündnis mit Hitler- Deutschland einbezogen war.  Die deutsche Offensive unter Feldmarschall Friedrich  Paulus und unter der Oberbefehlsmacht Hitlers  nahm im Juli  1942 mit der 6. Deutschen Armee, der 4. Panzerarmee und der 4. Rumänischen Armee riesige Ausmasse an. An einzelnen Stellen hatten die deutschen Truppen  den Don überschritten  und drangen Richtung Wolga vor, während an anderen Stellen das russische Heer Widerstand  leistete.  Dass mit der Offensive die Schlacht um Stalingrad einsetzte, die mit einer russischen Gegenoffensive ab dem  19. November 1942 eine Einkesselung der deutschen Truppen  und eine Kehrtwende im Krieg bewirken wird, mit Hunderttausenden von Toten  und Gefangenen, das konnte Hechter noch nicht wissen, obwohl  die Mutmassungen um die Entwicklung des Kriegs ihn und seine Freunde zutiefst bewegten.

Gleichzeitig verfinsterte sich im Sommer 1942 der Überlebensraum der Juden. Am 8. August erschien  in der Tageszeitung der deutschen  Botschaft, im Bukarester Tagblatt, ein langer Artikel über die Pläne, wie Rumänien  bis in einem Jahr judenfrei sein werde. ,,Eine bedrückende Atmosphäre, voller dunkler Vorahnungen,  Befürchtungen und Ängste, die man nicht zu  Ende zu denken wagt.  Und Poldy? ( … )  Man erzählt von massiven Abtransporten von Juden aus Frankreich  nach Polen.  Ein  immer finsterer, irrwitzigerer Albtraum. Werden wir jemals aus ihm erwachen?”(81)  Am nächsten Tag fanden grosse Razzien  in  Bukarest statt, überall Absperrketten  und  Patrouillen, ein paar Tage später das Gesetz, dass alle Fahrräder abgegeben werden  mussten  und dass Juden für Brot den doppelten  Preis zahlen  mussten wie Christen, wenig später, dass sie jeden fünften Tag kein Recht auf Brot haben, wieder etwas später, dass die Bücher jüdischer Autorinnen und Autoren  aus den Buchhandlungen und  Bibliotheken entfernt werden mussten.  Die Männer,  Frauen  und  Kinder, die während der Razzien  aus ihren Wohnungen  gejagt worden waren, wurden in einem Sammellager gefangen gehalten, am 7. und 9. September 1942 in  Lastwagen abtransportiert, einen Tag später in Zügen zusammengepfercht und  nach Transnistrien deportiert. Ab dann gingen Abtransporte und  Deportationen  nach Transnistiren fast täglich weiter.

Das Jahr ging allmählich dem Ende zu.  In  Frankreich  hatten Wehrmacht und Gestapo ab dem 11. November auch die unbesetzten Gebiete eingenommen, in Nordafrika hatten sich  die USA in die Kämpfe eingemischt.  Die Grenzen zwischen den deutsch  besetzten  und den von den Allierten zurückeroberten Gebieten änderten vorweg.  In  Russland  im Grenzbiet der Wolga und des Kaukasus war die Lage für die Bevölkerung wie für die in den Krieg einbezogenen Soldaten  katastrophal. ,,Der Krieg ist nun in einer Phase, in der die Deutschen nicht mehr tun  können  als bisher,  und die Allierten noch  nicht so viel tun können, wie sie vermögen. ( … )  Das wird ein langer Abnutzungskrieg,  bis das Kräfteverhältnis sich entscheidend verändert. “(82)

Mit dem neuen Jahr setzte sich das alte Jahr fort, es gab keine Zeitgrenze, die einen Neuanfang bewirkt hätte, im Gegenteil. Die Tagesrationen für Brot wurden  nochmals verdoppelt, der Geldmangel wurde immer drückender, die deutschen Cornmuniques über den  Krieg waren verlogen  und undurchsichtig. Gegen  Ende Januar sagten sie praktisch täglich aus, dass “die grosse Winterschlacht an der Ostfront ungebrochen weitergeht und auf andere Gebiete übergreift”.  Doch am  1. Februar 1943 erfuhr Hechter, dass der Kampf um Stalingrad vorbei war, dass Generalmarschall  Paulus aufgegeben  hatte, dass er selber und mit ihm über hunderttausend deutsche und  rumänische Soldaten  in  russischer Kriegsgefangenschaft waren, etwas später, dass zusätzlich auch in den Regionen von Charkow und  Kursk, die die Deutschen seit dem Herbst 1941 besetzt hielten, die sowjetische Gegenoffensive Erfolg hatte. .Nlernand  hätte im September (1942) gewagt, sich diesen Ausgang auch  nur vorzustellen, erst recht nicht vorauszusagen. “83   Die deutschen Cornmuniques meldeten jedoch Widerstand, Gegenangriffe,  Initiativen,  Erfolge und Angriffe aus allen  Rohren.   Hechter stellte sich vor, einen  Essay über Die physische Realität der Lüge zu schreiben, wie “die Lüge, sei sie auch  noch so sehr an  den Haaren  herbeigezogen, sich entwickelt und entfaltet, Gestalt annimmt, Wurzeln schlägt, zum System wird, und wie sie ab einem  bestimmten  Punkt die Tatsachen ersetzt, selbst zur Tatsache wird  und einen unerbittlichen  Druck ausübt, nicht auf die Welt, sondern auch auf den Lügner selbst.”(84)

Der Monat März wie der Monat April  1943 begannen  und gingen vorüber mit ständig wechselnden  Kämpfen auf Seiten der Deutschen wie auf Seiten der Sowjets an mehreren russischen Fronten, ebenso auf Seiten der Deutschen wie auf Seiten  der Allierten an der nordafrikanischen  Front, bis am 8. Mai 1943 die Meldung  nach Bukarest gelangte, dass Tunis und  Bizerte gefallen seien, dann am  13. Mai, dass die Achsenmächte die Kapitulation erklärt hätten.  Der Afrika-Krieg war damit zu Ende.  Die Frage stellte sich für Hechter, ob die Allierten nun planten, in  Europa zu landen, oder ob sie noch zu wenig darauf vorbereitet waren  und dies erst ein Jahr später wagen würden.  Mitte Juni wurden die Inseln  Pantelleria und Lampedusa von den Allierten besetzt, so dass die Strasse von Messina völlig frei war, dann Mitte Juli Sizilien. Gleichzeitig verstärkten sich die nicht nur auf Italien, sondern  auch auf Deutschland gerichteten  Fliegerangriffe. Trotzdem wagten die Deutschen auf der Linie zwischen Orel, Belgorod  und  Kursk nochmals einen  mächtigen Angriff, um die Ukraine zurückzugewinnen.  In  Prochorow kam zu einer Panzerschlacht mit enormen Verlusten, bis Hitler am  13. Juli  1943 befahl, von weiteren Angriffen abzusehen. Die sowjetische Armee war im deutsch  besetzten Gebiet überall im Vormarsch.

Was Rumänien  innenpolitisch  betraf, da waren die Vorahnungen  und Ängste wegen neuer antisemitischer Gesetze, Deportationen und  Internierungen in  Lager bedrückend. Am 13. Mai 1943, am Tag der deutschen Kapitulation  in  Nordafrika, notierte Hechter, es seien 250 junge Juden aus den “mobilen Einsatztruppen” in  Marschkolonnen eingeteilt und zu Zwangsarbeit nach Transnistrien weggeschickt worden. Zusätzlich wiederholten sich die erstickenden Geldnöte, die Rückzahlungen von geliehenem  Geld  und die Dringlichkeit von neuen Geldquellen.  Er übersetzte unter anderem Jane Auster’s Pride and Prejudice und andere englische Texte ins Rumänische, in der Hoffnung, dafür ein genügendes Honorar zu erhalten, doch was er einnehmen  konnte, ging gleich wieder weg.  Er hatte das Glück,  ein paar Wochen als Gast beim  Fürsten Antoine Bibescu und dessen Frau  Elizabeth  in Corcova seine Kräfte auftanken zu können. Als er am 8. September 1943 wieder in  Bukarest war, erfuhr er, dass Italien  kapituliert hatte und ein grosses Chaos herrsche, dass die Deutschen noch  Rom und  Norditalien besetzt hielten, während die Engländer andere Teile erobert hätten, dass Mussolini von deutschen  Fallschirmjägern  und SS-Leuten  befreit worden sei.

Mitte September war der Krieg an allen  Frontlinien wieder voll im Gang, jedoch anders.  Es wurde bekannt, dass allein vor Odessa 18’000 rumänische Soldaten gefallen seien.  Hechters grosse Befürchtung war, dass die Deutschen, wenn sie im Herbst oder Winter ihre eigenen Grenzen gefährdet sähen, Rumänien  besetzen würden, um sich den Rücken frei zu  halten. Berlin wurde heftig bombardiert, auch im Oktober und November, doch die offiziellen Mitteilungen der Deutschen gaben in erster Linie Erfolg vor, obwohl sie Kiew räumen mussten.  Die Kämpfe um die Ukraine gingen jedoch  unentwegt weiter, um Schytomyr, um Korosten, um Gomel und um weiter Orte. “Keine der propagandistischen Floskeln zeigt mehr Wirkung, keine apologetische Erklärung macht mehr Sinn.  Die Russen gewinnen immer mehr Boden zurück.  ( … ).   Doch der Krieg wird noch dauern. Sein  Rhythmus beschleunigt sich  nicht, im Gegenteil.”( … ). Am 8. Dezember 1943: “Ein besorgniserregender Brief von Poldy.  Er ist sehr krank und  musste sich zwei Operationen  unterziehen.  1941 war er drei Monate in einem  Konzentrationslager,  und seine Gesundheit nahm dort Schaden. ,,J’ai eu faim, horriblement faim”, schreibt er mir.  Und ich wusste überhaupt nichts, weiss immer noch  nichts.  Der Krieg wird wieder zu dem grauenvollen Albtraum, den ich  in  letzter Zeit aus schierer Gedankenlosigkeit verdrängt habe.”( … )  Dann am  11. Dezember 1943:

„Schlagzeile in  den Abendausgaben:  12’000  Verhaftungen  in  Frankreich. Sofort denke ich an Poldy ( … )  immer denke ich an  ihn.”(85)  So ging das Jahr zu  Ende. ,,Habe in  letzter Zeit nichts mehr über den Krieg notiert. ( … )  Seit der Konferenz von Kairo und Teheran(86)  scheinen sich die Ereignisse zu überstürzen.  Berlin  ist Ziel unablässiger heftiger Fliegerangriffe.  Im Nordatlantik wurde vor drei Tagen das deutsche Schlachtschiff Scharnhorst versenkt. überall (selbst im deutschen  Lager) rechnet man jeden Moment mit der Landung der Allierten. ( … )  Dennoch glaube ich  persönlich  nicht, dass es im Westen  mitten  im Winter zu einer Offensive kommt.  ( … )  Doch der Krieg ist weiterhin  hier,  mit uns, neben  uns, in  uns. Er nähert sich dem  Ende, doch gerade deswegen ist alles viel dramatischer. Jede persönliche Bilanz verliert sich  im Windschatten des Kriegs. An erster Stelle ist er selbst, seine schreckliche Präsenz.  Irgendwo weit dahinter stehen wir mit unserem geschrumpften, faden, lethargischen  Leben  und warten selbstvergessen  auf unser Erwachen, auf unsere Auferstehung.”(87)

1944 setzten die Aufzeichnungen von Josif Hechter erst am 8. April wieder ein, nach dem ersten schweren  Bombenangriff der Allierten auf Bukarest.  Die  Bombenangriffe folgten sich. Viele Wohnquartiere und Strassen wurden zerstört, unzählige Wohnhäuser, offizielle Gebäude und  Fabriken gingen in Flammen auf,  Hunderte oder Tausende von Menschen starben.  Es gab keine genauen Mitteilungen. Hechter notierte, was er erfahren  konnte und was er erlebte. Offiziellen  Mitteilungen gegenüber war er skeptisch, er ging selber ins Grivita-Viertel, das neben anderen völlig zerstört worden war. ,,Vom  Bahnhof bis zum Boulevard  Basarab blieb kein Haus verschont. Der Anblick ist erschütternd.  Noch  immer werden  Leichen ausgegraben.  Man hört noch jammernde Laute unter den Ruinen.  ( … ).  Am Morgen hatte es geregnet,  und  über dem ganzen Viertel hing ein Geruch  nach Schlamm, Russ und verbranntem  Holz.  ( … )  Ich konnte nicht viel weiter gehen und kehrte um,  mit einem Gefühl von Ekel, Grauen  und Ohnrnacht.T” Die Bombenangriffe wiederholten sich. Tagsüber und nachts gab es Fliegeralarme.  Immer wieder gingen ganze Quartiere in Flammen auf.  Hechter bemühte sich,  nach Möglichkeit seine Mutter zu schützen. Gleichzeitig vertiefte er sich in die  Lektüre von Balzac’s Werken und stellte sich vor, ein  Buch über Balzac zu schreiben.  Er wollte keiner persönlichen Verzweiflung Raum  lassen.  Ein Gerücht ging um, dass am  10.  Mai ganz Bukarest zerstört würde,  und Tausende von Menschen hatten deshalb die Stadt verlassen.  Hechter und seine Familie wollten  nicht fliehen, obwohl die Schutzräume, die fast alle zwei Stunden aufgesucht werden mussten, nicht wirklichen Schutz bieten konnten.

Gleichzeitig setzten sich die Angriffe der Allierten gegen Italien fort, wie Hechter aus den Nachrichten erfuhr. Am 5. Juni 1944,  neun  Monate nach der Kapitulation  Italiens, wurde Rom  besetzt.  Und einen Tag später, am 6. Juni  1944, konnte er erfahren, dass die Invasion  in der Normandie begonnen  hatte. ,,Eisenhower richtet eine Ansprache an die Völker Europas. Churchill erklärt, dass 4’000 grosse Schiffe und  11’000 Flugzeuge an der Operation teilnehmen.”89  Einige Tag später notierte Hechter, dass sich alles nicht mehr „so schockartig” weiter entwickle wie nach der ersten Angriffswelle, doch das Wichtigste sei, dass die Truppen der Allierten  nun auf dem Kontinent seien.  Der „Atlantikwall” sei kein unüberwindliches Hindernis gewesen, ebenso wenig die von den Deutschen angedrohte „Geheimwaffe”. Zehn Tage später wurde diese gegen jede Erwartung „enthüllt”: eine führerlos gelenkte Rakete, die auf London abgefeuert wurde. ,,London  in  Flammen. Millionen von Engländern auf der Flucht.  London zerstört.  London evakuiert.”(90)  Hechter war in  einem  Cafe und hörte, wie am  Nebentisch eine Gruppe legionärshöriger Intellektueller, die er kannte, vor Begeisterung ausriefen,  nach  London müsse noch Washington getroffen werden.  Er wurde sich bewusst, dass Menschen letztlich nur das sehen  und aufnehmen wollen, was von ihrem Standpunkt aus Bedeutung hat. ,,Eine fixe Idee ist ein hermetisch abgeschlossenes Universum. “(91)

Hechter lebte nicht in  einem „hermetisch abgeschlossenen  Universum”.  Er informierte sich und nahm wahr, soweit sein Kräfte es zuliessen: die Befreiung von Cherbourg konnte nicht in zwei Tage gelingen, wie die Allierten geplant hatten, sondern brauchte zwanzig Tage und liess eine völlig zerstörte Stadt zurück.  In  Finnland war die russische Armee in zwei getrennten  Routen von grossem Ausmass auf dem Vormarsch.  In  Bukarest kam es ab dem 28. Juni wieder zu Fliegerangriffen, die sich bis Ende Juli fortsetzten  und  auch das Stadtviertel von Atim trafen. ,,Wie seltsam das Entwarnungssignal danach klang! Entwarnung für wen? Für uns, die überlebenden? Und für die anderen? Ein Tag wie jeder andere folgt, trotz Leichen und  brennenden  Häusern.”92  Eines Nachts seien die Erschütterungen stark wie die eines Erdbebens gewesen, die Wände hätten gewankt, eine Staubwolke habe die Tür des Kellerraums aufgerissen  und Brandgeruch  hereingeweht. Als er hinausgegangen sei, hätten  überall gewaltige weissgelbe Flammen gezüngelt.  Hechter fragte sich, was die Bombenangriffe bezweckten, ob sie Rumänien unter Druck setzten, aus dem Achsenbündnis auszutreten?

Seiner Ansicht nach veränderte das Attentat auf Hitler vom 20. Juli  1944 nichts an der Kriegssituation, doch er deutete es als Zeichen eines Auflösungsprozesses, der sich wie ein Krebsgeschwür ausbreitete.  Er hielt fest, es gebe ohne Zweifel Spannungen  innerhalb der deutschen  Führung. Tatsächlich  breche in  Polen  und  in den baltischen Staaten die deutsche Front unter dem Anmarsch  der sowjetischen Truppen zusammen: in  Lettland sei  Dvinsk gefallen,  in  Estland  Narva,  in Polen  Bialystock und weitere kleinere und grössere Städte.  Die nächsten Ziele seien ohne Zweifel  Riga, Memel, Warschau, Krakau.(93)   Die Situation in Frankreich erscheine ihm von der nördlichen  Invasion her undurchschaubar, der deutsche Widerstand  in Caen halte noch  immer an, doch in Südfrankreich gehe die Mitte August erfolgte Landung allierter Truppen schnell voran.  Bedeutungsvoll sei der Abbruch der diplomatischen  Beziehungen der Türkei mit Nazideutschland. Gegenüber Rumänien stünden den Allierten  dadurch viel nähere Luftbasen zur Verfügung.

Am 21. August 1944 notierte Hechter, die russischen Truppen seien schon gegen die Moldau und  Bessarabien vorgedrungen, last sei von ihnen erobert worden.  Es sei  nicht zu erwarten, dass sich die Deutschen  bald und aus freien Stücken zurückziehen würden.  Eine Kapitulation Rumäniens würde ohne Zweifel Repressionen  nach sich ziehen, wie dies in  Norditalien der Fall gewesen sei.  Es müsse mit einem  Pogrom gerechnet werden.

Am Dienstag, 29. August hielt er kurz fest: ,, Wo soll ich anfangen? Wie soll ich es sagen? Die Russen sind  in  Bukarest. Paris ist befreit.  Unser  Haus in Antim von Bomben zerstört.”(94) Etwas ausführlicher fasste er anschliessend zusammen: Am Mittwoch, 30. August, habe der Staatsstreich stattgefunden.  Innerhalb von fünf Minuten sei Staatschef Antonescu entmachtet gewesen, die Kapitulation sei eingereicht und akzeptiert sowie eine neue Regierung ausgerufen worden.  In der Nacht auf Donnerstag hätten überall in der Stadt Menschen vor Freude gebrüllt.  Er habe für die Zeitung Romtinio Libera, die erste kommunistische Zeitung in  Rumänien, ununterbrochen  über die Ereignisse geschrieben, glücklich über die Möglichkeit, in dieser Nacht als Journalist tätig sein zu  können. Als er sich gegen Morgen auf den Weg nach  Hause gemacht habe, hätten die Sirenen zu  heulen begonnen  und gleichzeitig hätten  Bombardierungen eingesetzt, wie sie in Bukarest noch  nie erlebt worden seien.  Pausenlos habe er 60 Stunden  im Schutzkeller verbracht.  Mit einem der letzten Angriffe sei auch das Haus in Atim getroffen  und zerstört worden, doch wie durch ein Wunder hätten er und seine Angehörige überlebt.

Hechter und seine Familie fanden eine Notunterkunft in einem  leer stehenden  Haus, doch nach wenigen Wochen brauchten sie eine andere Unterkunft.  Das Leben zwischen Obdachlosigkeit und „provisorischem  Dasein” setzte sich  bis zum Jahresende fort, ,,wie einer, der in einem  Provinzbahnhof auf seine Verbindung wartet.  Habe keine Bücher,  keinen Arbeitsplan. Weiss nicht, wo ich die Menschen treffen soll, die mich interessieren, und sie wissen erst recht nicht, wo sie mich finden können.  Entkräftet und arbeitslos. “(95)

Das Glücksgefühl  neu gewonnener Freiheit war schnell verblasst, in jeder Hinsicht.  Bei der Romania Libero trat er von der Mitarbeit zurück, als er feststellte, wie stalinistisch gleichgeschaltet die Redaktion war. Seine Dankbarkeit und Bewunderung für die russischen Soldaten wichen der Verwirrung und Angst, als er von vergewaltigten  Frauen  und ausgeraubten Geschäfte erfuhr, auch als das Anhalten fahrender Autos und  Kleinbusse durch Soldaten erlebte und deren selbstverständliche Aneignung nach dem Herauszerren von Chauffeur und  Mitfahrern. Ab dem  1. September 1944 galt das Verbot, sich  nach neun Uhr abends auf der Strasse aufzuhalten.  Dazu kam das Gebot der Zwangsabgabe von Radiogeräten. Am meisten  befremdet und angewidert fühlte sich  Hechter jedoch  durch  das anpasserische Lecken  nach einem Platz an der Spitze und  neuem  Erfolg sowohl seitens seiner jüdischen  wie der nicht-jüdisch  rumänischen  Kollegen, auch durch die skrupellose Reinwäscherei und das Vorgeben politischen Widerstandes durch  Mitläufer und  aktive Vertreter der Legionäre und des ganzen faschistischen Systems.

Zusammen  mit Benu sah er einen  Film über den Krieg in der Ukraine. ,,Alle Vorstellung übersteigendes Grauen. Worte, Gesten versagen  hier samt und sonders”,  an einem anderen Abend in  einer Tagesschau die endlosen  Kolonnen deutscher Gefangener, die durch  Moskau marschierten, das Gegenteil der sportlichen, eleganten Nazimenschen, die durch  Bukarest defiliert waren,  mit Gesichtern, die nun  den jüdischen  und bolschewistischen „Untermenschen” in den Schlammmassen und  Blutlachen  Polens und Transnistriens ähnlich waren, die mit Triumph  in den Zeitungen des Dritten  Reichs gezeigt worden waren. Trotzdem wusste er, dass die Freiheit, das Einzige, wonach er sich  in den Jahren des Terrors gesehnt hatte, durch das russische Regime, das nun Rumänien  besetzte, nicht erreichbar war. Auch war spürbar, dass sich der Antisemitismus fortsetzte.

„Die Geschichte macht keine Geschenke” hatte Hechter selber vor Jahren  In einem von ihm verfassten  Manifest des national-Demokratischen  Blocks geschrieben.  Plötzlich  hörte er, dass dieser Satz auf Radio London wiederholt wurde, ohne dass sein  Name genannt worden wäre.   Die Entwicklung der europäischen und der anderen  Kriegsfronten zu verfolgen war ihm  nicht mehr möglich. Er konnte erfahren, dass Frankreich ganz befreit war, Belgien zur Hälfte,  Luxemburg und Holland ganz, dass die deutsche Westfront, die „Siegfriedlinie”, an vielen Stellen durchbrochen war, dass Aachen unter dem  Feuer der Allierten stand.

losif Hechter’s letzte Aufzeichnung ins Tagebuch geschah am 31. Dezember 1944.  Er hatte sechs Tage in den Bucegi-Bergen am  Rand der Südkarpaten verbringen können, die er von früheren Aufenthalten  kannte, ,,einen Tag in Predeal  und  sechs Tage in einer Hütte am Diham-Berg.  Kein Schnee zum Skifahren, aber dennoch ein schöner Urlaub.  Ergriffen von den Bucegi-Bergen, die ich  nach einer so langen Zeit wieder gesehen habe.  Ein weisses Licht, das der Winterlandschaft eine gewisse Plastizität gab. In den letzten zwei Tagen war alles vom  Nebel verschluckt.  Ich vermag kaum etwas zu sagen oder zu schreiben.  Die Sprache versagt hier.  Manchmal  blieb ich einfach stehen, um die Landschaft genauer zu betrachten und sie in  meinem Gedächtnis einzubrennen. Alles war vielfältiger, komplexer, mysteriöser, als ich es hier wiedergeben  kann. ( … )  Schleppe mit mir meine alte Erschöpfung und Einsamkeit.  Der letzte Tag des Jahres.  Ich schäme mich, so traurig zu sein.  ( … )  Ich  muss an Poldy denken.  Es schmerzt mich, ihn so weit weg zu wissen, doch ich  hoffe,  ihn wiederzusehen. Alles andere geht in Wehmut und  Hoffnung unter.”

*

Zurück in  Bukarest widmete sich  losif Hechter unter dem Namen  Mihail Sebastian erneut dem Verfassen von Theaterstücken. Auch nahm er nach einigem Widerstand ein Angebot des Aussenministeriums als Presseberater an, in der Hoffnung, eines Tages als Delegierter ins Ausland gelangen zu  können.  Ebenso stimmte er einem Lehrauftrag an der Fakultät für Literatur an  der Universität von Bukarest zu. Als er am 29. Mai 1945 auf dem Weg zur Universität war, um seine Antrittsvorlesung über Balzac zu  halten, wurde er beim Überqueren der Strasse von einem  Lastwagen  überfahren und getötet.

Poldy und Benu  Hechter überlebten  ihren  Bruder.  Poldy, der nach der Besetzung Frankreichs von der Gestapo gefangengenommen und  nach  Drancy abgeführt worden war, konnte fliehen  und  untertauchen,  bevor er nach Auschwitz deportiert worden wäre.  Benu gelang 1961 die Flucht aus Rumänien. Er nahm das Manuskript des Tagebuchs seines so tragisch verstorbenen  Bruders mit nach  Frankreich, wo er seinen  ältesten  Bruder Poldy (in Frankreiche hiess er Pierre), dessen Ehefrau  Bea und dessen zwei Töchter finden konnte.  Die beiden Brüder waren sich  uneinig, ob die Publikation zu wagen war.  Benu war dagegen, Poldy dafür.  Doch als er sich  in  Frankreich um einen Verleger bemühte, begegnete er nur bedauerlicher Ablehnung, vermutlich weil die Anhängerschaft an die Eiserne Garde von Mircea  Eliade und von Emil  M. Cioran geheim gehalten werden sollte. Auch Eugene lonescu, der sich ebenfalls in  Frankreich  aufhielt, leistete keine Unterstützung. Als jedoch  nach dem Tod von Benu  im Jahr 1991 das Manuskript in die Hände von Poldy’s Töchtern gelangte, und als ein Freund von Leon Volovici(96) sich für die Publikation  einsetzte und zu diesem Zweck von New York nach Paris kam, konnte das Tagebuch unter dem Pseudonym  Mihail Sebastian 1996 erstmals in  Rumänien im Verlag Humanitas als Buch  erscheinen, darauf 1998 im Claassen Verlag,  Berlin, in der Übersetzung von Edward  Kanterian.

Am 20. November 2006 erhielt losif Hechter alias  Mihail Sebastian für seine Tagebücher 1935 1944  in  München  die posthume Ehrung durch den Geschwister-Scholl-Preis(97).

*

Damit schliesse ich die Vorlesung zu den Grenzerfahrungen  individueller und kollektiver Identität und  Differenz ab, die uns zuletzt dank der Auszeichnungen losif Hechters in die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts hinein geführt hat. Sie setzt sich in der Aktualität fort.  Der jüngste Krieg in der Ukraine,  in Syrien und Jemen, in Gaza und im Westjordanland(98), die Diktaturen  in  Eritrea und in weiteren afrikanischen, asiatischen  und osteuropäischen  Ländern, so wie die Tragik der grossen Flüchtlingsströme, die gegen die Grenzen  und Abwehrzäune Europas und der europäischen Länder stossen, sind Tatsachen, die an die Mitverantwortung aller pochen, die davon  Kenntnis haben.  Freiheit und Sicherheit sind die gleichen Grundbedürfnisse aller Menschen, deren  Erfüllung und Umsetzung nicht von staatlicher Herkunft oder Ethnie und  Religion,  nicht von Hautfarbe und beruflichen oder gesundheitlichen Fähigkeiten abhängig gemacht werden dürfen. Wer darüber verfügt, ist verpflichtet, die Notleidenden daran teilnehmen zu lassen, entsprechend der Grammatik der Reziprozität. Was für diejenigen, die über Rechte, Sicherheit und  Entscheidungsmacht verfügen, an Entrechtung und Entbehrung, an  Not und Angst nicht tragbar wäre zu  erdulden,  kann niemandem zugemutet werden.

Möglicherweise konnte im  Lauf der vergangenen Stunden verständlich werden, dass sich die Reflexion  über die immanenten Grenzen von Zeitlichkeit und Weltzugehörigkeit auf keinen Fall auf wissenschaftliche Theorie beschränken kann, sondern  in jeder Form des Zusammenlebens bei allen  individuellen wie bei allen kollektiven – politischen, sozialen und ökonomischen – Beschlüssen und deren  Umsetzung Beachtung braucht.  Es wäre ein  grosser Gewinn im menschlichen Zusammenleben, könnte dadurch die Fragilität der Grenzen in Hinblick auf die Prävention von Gewalt und Kriegen wie die Möglichkeit des prozesshaften Aufbaus respektvollen Zusammenlebens besser verstanden, angestrebt und umgesetzt werden.

  1. Vorlesung

Braucht es die Begrenzung des Grenzenlosen?

“Entfemt sich die Erde/ Oder nähert sich der Horizont?/ Niemals vermöchte man in diesen grossen Entfernungen / das Gleichgewicht zu halten,/ dessen was man verliert oder gewinnt.” –  (“Est-ce la terre qui s’éloigne / ou l’horizon qui s’approche? / On ne saurait jamais dans ces grandes distances / tenir la  mesure / de se qu’on perd ou ce qu’on gagne. “(99)

Vergangenes Jahr haben wir uns im gleichen Rahmen mit den Gesetzmässigkeiten des Kosmos befasst, das grenzenlos erscheint, jedoch zeitliche und  räumliche  Grenzen  hat, die vorvergangenen Jahre mit den Fragen der Zeit sowie der menschlichen Tugenden und Laster im Verhältnis zum eigenen  Ich wie im Verhältnis zu anderen  Menschen. Wir haben die Auseinandersetzung zwischen  philosophischen, naturwissenschaftlichen  und religiösen Erkenntnissen verfolgt und  kamen zur Erkenntnis, dass trotz aller wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritte im  Bereich der Philosophie, der Psychologie und Psychoanalyse, der Sozialwissenschaften  und der menschlichen Sprache, der Mathematik und Astrophysik, generell der Physik und der Chemie, der Biologie, der Geologie und Ökologie, der Medizin, der alltagspraktischen  Erkenntnis-, Entscheidungs- und Verhaltensmöglichkeiten, des zwischenmenschlichen Vertragsrechts sowie des Staats- und Völkerrechts, trotz der Verbreitung von Bildung sowie allgemein gültiger ethischer und moralischer Grundsätze, religiöser Erklärungen oder rechtlicher Forderungen, dass sich trotz der Erweiterung und Vertiefung in allen Wissensbereichen die Tatsachen des feindseligen, destruktiven Verhaltens im menschlichen Zusammenleben in keiner Weise verringert haben, dass sich diese nicht zu Gunsten des kreativen, wechselseitig wohlwollenden Verhaltens geändert haben. Zahllose Fragen nach dem “Warum” und nach dem “Wie weiter” bleiben unbeantwortet, vielleicht unbeantwortbar.  Dies ist ein wichtiger Grund, weshalb wir dieses Jahr die Auseinandersetzung mit der Frage nach der Bedeutung der Grenze – der Grenzen – fortgesetzt haben  und weiter fortsetzen.

Gibt es Grenzenloses im  Bereich von Erfahrung und Erkenntnis? Ist das Grenzenlose das, was in  religiöser Hinsicht das Göttliche ist, im  religionswissenschaftlichen  und philosophischen Zusammenhang das Transzendente? Kann das, was das sinnenmässig Erkennbare und  Denkbare überschreitet – transzendiert-, überhaupt gedacht oder erkannt werden? Gibt es hierfür taugliche Worte? Franz Kafka hatte auf seinen Zürauer Zetteln festgehalten: ,,Die Sprache kann für alles ausserhalb der sinnlichen Welt nur andeutungsweise, aber niemals auch  nur annähernd vergleichsweise gebraucht werden, da sie entsprechend der sinnlichen Welt nur vom Besitz und seinen  Beziehungen  handelt. “(100)

Gemäss  Kafka  kann somit die Art der Beziehung zum Transzendenten  heschildert weden, das Transzendente selber nicht. Wir können annehmen, dass er das intuitive Erkennen meinte,  eher ein sich  dem Erkennen annäherndes Ahnen, das seit Platons Ideenlehre nicht nur die Philosophie, sondern auch  Dichter und  Dichtrinnen angeregt hat.  In den Religionen gehört es zum  Bereich des Glaubens.  Doch  liess nicht die sinnliche Entgrenzung der Ideenlehre, die sich dem kritischen Überprüfen  und dem praktischen  Nachforschen entzieht, die Ideologien entstehen, die im  Bereich der Religionen mit dem Alleinrichtigkeits- und Wahrheitsanspruch  über Jahrhunderte zum grenzenlos rivalisierenden  Kampf führten? Ging mit dem damit verbundenen  Besitz- und  Machtanspruch  über Menschen und ganze Völker nicht das Transzendente verloren? Simone Weil(101) schrieb im  Frühling 1941, als sie sich  in Marseille in einer geheimen Widerstandsbewegung gegen die deutsche Besetzung und die Vichy-Regierung engagierte, man dürfe Gott nicht soweit herabwürdigen, dass man aus ihm einen  Parteigänger in einem Krieg mache. Ungezählte sinnlose Verfolgungen  und  Kriege, die Rechtfertigung von Folter und Tötung, damit verbunden grenzenloses menschliches Leiden entstand aus dem Missbrauch religiöser Lehren.   Das Grauen vergangener Geschichte wiederholt sich  bis in die heutige Zeit.

Jede Art von Gewalt bedeutet Nichtbeachten  und  übergehen von Grenzen  im Verhältnis des Menschen zu sich selbst und zu anderen Menschen.

Doch  beruht nicht auch jede Form von Rauschzustand auf dem  Bedürfnis nach Aufhebung von Grenzen? Ist nicht Masslosigkeit überhaupt verbunden mit dem Verlust schützender Grenzen? Die völlig entgrenzte Entwicklung der Hochtechnologie sowohl in der digitalisierten  Kommunikation wie in gigantischen  Kontrollmassnahmen  und Rechenleistungen, in der Molekularbiologie wie in den übrigen  Naturwissenschaften  und deren  Umsetzung in digital gelenkte, chemische und atomare Waffensysteme, in der Gentechnologie und deren  Eingriff ins Erbgut der Menschen, der Pflanzen und Tiere,  in der Finanzwirtschaft mit den täglichen virtuellen Geldtransaktionen von Billionen, die die praktische Weltwirtschaft beherrschen und  lenken, die ganze exponentielle Entwicklung dessen, was zu  Beginn der industriellen Entwicklung als „Fortschritt” bezeichnet wurde, hat eine Steigerung der Virtualität geschaffen, die die menschliche Lebensrealität erstickt und zerdrückt. Sie wurde zur grenzenlosen, nicht mehr einzudämmenden  Diktatur, unter deren Versklavung ein grosser Teil der Menschheit vielfach darbt. Orientierungslosigkeit durch den Verlust realer Arbeit und verlässlicher Beziehungen,  Angst und Misstrauen  besetzen deren Alltag, virtuelle Beziehungen ersetzen  diejenigen echter Begegnung und Verantwortung, blinde Gefolgschaft unter per Internet verkündete Ideologien  bewirkt die Umsetzung von Feinderklärungen  und von Gewalt in  neuen ausserstaatlichen  Kriegen.

Die Masslosigkeit in jedem  Bereich  ist verhängnisvoll. Selbst wenn Virtualität zur Realität wurde, sind die destruktiven Folgen dieser Entwicklung nicht virtuell, sondern aufs leidvollste real, voller Unglück und Leiden.  Lässt sie sich anhalten? Ist eine Korrektur möglich?(102)

Ich  nehme an, dass auch die harten Erziehungsmethoden, die über Jahrhunderte das Verhältnis zwischen  Erwachsenen und  Kindern prägten  und die sich  in den militärischen Strukturen wie zum grossen Teil in den Anstellungsverhältnissen von Firmen  und Verwaltungen durch statusmässige Überordnung und  Unterordnung von Befehlenden  und Gehorchenden fortsetzen, dass auch diese auf ungleichen Grenzsetzungen  im  menschlichen Werteverhältnis beruhen, auf funktionaler Abgehobenheit oder Überheblichkeit und auf abhängigkeitsbedingter Unfreiheit.  Das heisst, jede Art menschlicher Erniedrigung und menschlichen Grössenwahns wird  letztlich durch  Nichtbeachtung von Grenzen  bewirkt, möglicherweise jede Art von menschlich verursachtem  Unglück. Glück könnte somit auf einem optimalen Ausgleich von Erfüllung der wichtigen Grundbedürfnisse und von Erfahrung schützender Grenzen  beruhen, auf einem Wertempfinden, das in jeder Art und Form von Verhältnis frei von besitz- und  macht- oder marktbedingter Bewertung ist, frei von jeglicher  Angst vor Verlust, somit auf Gleichwertigkeit.

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Dies mag der Bedeutung von “Grenze” in Zusammenhang von “Kunst” nahe kommen, wie Alfred Wolfenstein sie verstand, als er schrieb: “Rings  kreischt es von Ohren  und Seele zerreissender Halbheit … Manches verwandte Können ist gesucht – aber mit der Kunst beginnt die Grenze.  Nach  ihr fragt man immer weniger nach, und die bessere Wahrheit lautet: es ist der Kunst nicht einmal gestattet, darauf zu  rechnen … Sie ist der Archimedespunkt ausserhalb der Geldwelt, um die Erde zu  bewegen.”(103)

„Mit der Kunst beginnt die Grenze”. Gemeint ist Kunst im Sinn  der vielschichtigen Ausdrucksmöglichkeit der individuellen Sprache menschlicher Lebenserfahrung, die sich abgrenzt von jeder anderen. Sie bedarf „mehrerer Lesarten gleichzeitig, übereinander gelagerter Lesarten”, wie nicht Alfred Wolfenstein, sondern – in  ähnlichem Sinn – Simone Weil(104)  in einem ihrer Cahiers von Frühling 1941 schrieb, auch sie in allen Lebenserfahrungen fern von der „Geldwelt”, erfüllt vom Bestreben des Aufbaus, der Gestaltung und der Erfahrung eines ausgewogenen Ordnungssystems angstfreien Zusammenlebens.  Ein solches sollte jedem Menschen in dessen Abhängigkeit von anderen Menschen die Erfüllung seiner Bedürftigkeit und die Entfaltung seiner persönlichen kreativen  Fähigkeiten  ermöglichen, wie immer sich diese äussern, ob im Werden  und Wachsen, im  Fragen  und  Lernen,  im Tun, Herstellen  und Gestalten,  im handwerklichen oder landwirtschaftlichen oder wissenschaftlichen oder administrativen  oder künstlerischen Wirken, im  Bebauen oder im  Erkunden und  Forschen, im Ernähren und Schützen, im Vermitteln von Wissen und im  Heilen von Leiden.  Dieses Ordnungssystem  basiert auf der Grammatik der Reziprozität resp. der Wechselverpflichtung und Wechselwirkung im  Erfüllen der menschlichen Grundbedürfnisse, die Simone Weil 1943  in  ihrem letzten Werk L’Enracinement’t” eingehend  begründet hat.  Es wächst aus jenem  der Grundrechte, die jedem  Menschen von seinem ersten  bis zum  letzten Atemzug zustehen, den Kranken wie den Gesunden  und den Geschwächten wie den Starken im gleichen Mass. Simone Weil sprach von der „Gleichwertigkeit verschiedener und sogar entgegengesetzter Dinge, die aber auf einer Ebene bleiben und die gleichen Notwendigkeiten nur anders ausdrücken. Tausend Beispiele im  Leben eines Menschen. In der Komposition eines dichterischen Werkes.  In den Gesellschaften.  ( … ).”(106)

Wie Alfred Wolfenstein bezog auch Simone Weil sich dabei auf das von Archimedes um das Jahr 287 vor unserer Zeit erkannte Hebelgesetz.  Mehrmals berief sie sich in ihren  Notizen darauf. Es beruht auf dem Gleichgewicht, das entsteht, wenn die Summe aller an einem Hebel anliegenden  Drehmomente gleich null ist, das heisst, wenn  Kraft mal Kraftarm gleich Last mal Lastarm ist, so dass ein an  Länge und Stärke dem richtigen  Mass entsprechender Körper oder Arm – ein  Hebel – von seinem Angelpunkt aus, das heisst vom Punkt der Verankerung aus schwerste Gewichte heben  kann.  Sie fragte sich, ob das Gesetz, das für den  Einsatz von physikalischer Energie gilt, damit dank dem Hebel eine vielfache Steigerung der Wirkung zustande kommt, ohne dass der Aufwand vergrössert werden  muss, ob dieses Gesetz auch im  Bereich  der geistigen  Energie gelte.  Für sie war klar, dass solange blass Wissen an Wissen addiert wird, das heisst, solange „kein  Hebel da ist”, Veränderungen höchstens linear, auf der gleichen Ebene geschehen, als Summierung oder quantitative Anhäufung von Wissen, ohne dass ein Mehrwert und durch diesen eine qualitative, exponentielle Veränderung, dadurch etwas Neues entstände.  Sie kam zum Schluss, dass die verblüffende Bedeutung von „Handlungen,  die wie Hebel  hin zu  mehr Wirklichkeit sind”(107) für jede Form von Aufmerksamkeit gilt, selbst im  Unbedeutendsten, das vom einzelnen Menschen mit oder für andere Menschen getan wird.

Simone Weil überlegte sich,  welche Form der Energie diese Hebelwirkung auslösen  könnte. Ob es jene „zusätzliche, unstete Energie” sei, fragte sie sich, die den „Schlüssel zum menschlichen  l.eben” darstellt, die somit auch die „sexuelle  Energie” betrifft? Ob es zutiefst die Kraft des Verlangens sei, die Kraft des „eros{{ in der Bedeutung von Sokrates’ Symposion, die sich auf einen Gegenstand und auf die grösstmögliche Nähe zum Gegenstand des Verlangens ausrichtet? Simone Weil war sich bewusst, dass sich das Verlangen ändern  kann, dass anstelle einer Verschmelzung zum Zweck der biologischen, körperlichen Fortpflanzung eine andere Art von Neuschöpfung – une procreatlon – angestrebt werden kann, im Sinn dessen, was „Sublimation” in der Thermodynamik bedeutet resp.  der Veränderung des festen in einen gasförmigen Stoff, oder eher der 11Sublimierung{{, wie Sigmund  Freud sie verstand: als Verlagerung der Kraft des Verlangens auf eine andere Ebene, in einen anderen Bereich, ohne dass sie ihre eigentümlich, auf Erfüllung ausgerichtete Zielstrebigkeit verlöre. Was dadurch erreicht werden kann, ist ein Werk der Innerlichkeit, das zugleich  nach Aussen wirkt, ob es eine Erkenntnis sei, ein künstlerisches Werk, oder ein politisches oder soziales Engagement. Was es auch sei, es bedarf, damit die Hebelwirkung „hin  zu mehr Wlrklichkeit” gelingt, immer der qualitativen Veränderung, das heisst der Verlagerung des ursprünglichen Verlangens auf eine andere Ebene: auf jene des Wissensdurstes, des schöpferischen Willens, des Mitfühlens fremden Leidens, der sozialen oder politischen Verantwortung.

Diese Verlagerung bedeutet, gemäss Simone Weil, Verzicht auf unmittelbare, schnelle Befriedigung.  In der Psychoanalyse besteht hierin die Aufmerksamkeit und Geduld, die den Schritt vom Unbewussten  ins Bewusstsein ermöglicht. Simone Weil gelang damit eine wichtige Erkenntnis. Sie stellte „Handlungen, die wie Hebel zu  mehr Wirklichkeit sind” jenen entgegen, die „einen  Schirm  (einen weiteren Schirm) zwischen sich  und  der Wirklichkeit schaffen.(108)  Das Unbewusste hat tatsächlich eine Schirmfunktion, die manchmal in mehreren Schichten  eine verdunkelnde Eingrenzung der Erkenntnismöglichkeit und des Wissens bewirkt.  Indem es schützt, stimuliert es zu Gefühlen  und  Handlungsentscheiden, die möglicherweise einen hemmenden und abwehrenden oder kompensatorischen  Effekt haben, möglicherweise aber auch einen rettenden.  Falls jedoch der „Schirm(/ auf Grund von Angst vervielfacht wird,  kann der Schutz so dicht und undurchdringlich werden, dass er zur Kapsel wird und eine Abkapselung bewirkt. Simone Weil fragte sich, wie sich diese lösen lässt. Auf den „Schirm” zu verzichten, mag zuerst ängstigen, doch sie war überzeugt, dass letztlich nur schirmlos die Wirklichkeit erfahren werden kann. Selbst wenn diese hart ist, kann deren Kenntnis mehr innere Sicherheit und  Klarheit bewirken, möglicherweise sogar ein Gefühl der Freude ob der Befreiung von Selbsttäuschung und  Unklarheit, entsprechend dem Resultat der Hebelwirkung resp. der Verlagerung von Energie.  Die Hebelwirkung beruht auf Mut und  bewirkt auf einer anderen  Ebene eine Stärkung des Wertgefühls.  Damit erklärt sich Simone Weils Erwähnung des „Blindenstocks”, den sie mit dem Hebel in Verbindung setzte: Hebel und  Blindenstock.

Wozu dient der Blindenstock den Blinden? Wofür steht er als Metapher?

Den Blinden dient der Stock als Mittel,  um  Distanz und Nähe abzuschätzen,  um einen Gegenstand, der dem voranschreitenden  Menschen als Hindernis entgegensteht,  rechtzeitig wahrzunehmen sowie  dessen Grösse und Konsistenz zu erahnen.  Der Blindenstock findet sich  bei Simone Weil in all ihren Cahiers als erkenntnistheoretische Metapher. Vermutlich übernahm sie diese aus Descartes Meditationes. Auch Descartes war der Meinung,  dass der Mensch auf dem Weg der Erkenntnis zur Unterscheidung von Wahrem  und  Falschem einen Blindenstock – une canne – brauche.

Gemäss Simone Weil übernimmt die Vorstellungkraft – l’imagination – diese Funktion. Die Vorstellungskraft ist dem Einfühlungsvermögen – l’intuition – nah, sie lässt das „blinde” Erkennen „sehend” werden und ermöglicht so eine nahe, unbegriffliche, intuitive Erkenntnis, die das Verstehen  bewirkt, ein Verstehen  über die Kraft der Gefühle, über Mitempfinden,  Mitfühlen und  Mitleiden – Sympathie und  Empathie -, das die Begrenztheit der wahrnehmungsmässigen, sinnlichen wie der begrifflichen  Erkenntnis öffnet. Simone Weils  persönliches Entscheidungsvermögen wurde davon beeinflusst.  Ihr kritischer Geist bezog sich auf jede Art von Macht,  auf theoretische,  begriffliche Wahrheits- oder Richtigkeitserklärungen  wie auf politische, gesellschaftliche und  religiöse Ideologien. Gegenüber menschlichem  Leiden wie gegenüber ihrem eigenen Wissenshunger war sie jedoch „schirmlosu,  letztlich grenzenlos in  ihrem Verlangen, Unklares klarer zu erkennen und das Leiden der Leidenden zu  lindern.  In der Kriegszeit nach der Besetzung Frankreichs durch Wehrmacht und Gestapo, insbesondere ab  1942-1943 galt ihre Aufmerksamkeit vor allem dem  Leiden der Verwundeten und Sterbenden an der Front. Als die französische Exilregierung in London  ihr diese Hilfeleistung nicht zugestand, sondern von ihr verlangte, einen sozialethischen  Entwurf für Frankreich-nach-dem-Krieg zu schreiben  und sie diesen mit L’Enracinement erfüllt hatte, gönnte sie sich  keine lebensstärkende Nahrung mehr. War ihre Geduld erschöpft? Franz Kafka hatte zu  Beginn seiner Zeit in Zürau festgehalten, möglicherweise als Warnung an sich selbst; ,,Alle menschlichen Fehler sind  Ungeduld,  ein vorzeitiges Abbrechen des Methodischen, ein scheinbares Einpfählen der scheinbaren Sache.”(109)  So starb sie mit vierunddreissig Jahren an Entkräftung sowie an Tuberkulose und Herzinsuffizienz, an einer Summierung tödlicher Ursachen, die möglicherweise aus dem grenzenlos vielschichtig gewordenen Verlust ihrer Verwurzelung ins Leben gewachsen sind und ihren oft erprobten  Mut, schwierigen Aufgaben die Stirn zu  bieten, erstickt haben.

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Grundlegende Gedanken  über die Pflichten dem Menschen gegenüber, die Simone Weil in Enracinement  festgehalten hat, wurden durch  kritische,  politische Bewegungen  und profitfreie Nichregierungsorganisationen aufgegriffen, die sich zu Gunsten der Umsetzung der Menschenrechtserklärung von 1948 aktiv einsetzten  und dies weiter tun. Sie überzeugen  Menschen durch die Dringlichkeit ihrer Anliegen und Zielsetzungen zu Unterstützung und freiwilligem  Einsatz.

Ein  Beispiel  ist das 1970 das BarilocheModell(110),  das anlässlich einer Tagung in  Rio de Janeiro entstand, zu welcher der Club of Rome einberufen  hatte und in welcher eine grosse Anzahl von Wissenschaftlern die Einschränkung der Zukunftsforschung auf die Frage der begrenzten  Ressourcenvorräte beanstandete. Sie beschlossen,  mit Unterstützung durch  die Stiftung von Bariloche111  ein anderes Projekt- und  Forschungsteam zusammenzustellen  und dabei nicht vom theoretischen Ansatz klassischer Ökonometrie auszugehen, bei welchem das Kapital der bedeutendste Produktionsfaktor ist und Normen sich als Ergebnis der Arbeit am  Modell  ergeben, sondern Arbeit und Kapital als gleichbedeutende Produktionsfaktoren zu  berücksichtigen  und mit dem theoretischen Ansatz von sozialethischen  Normen eine konstruktive Zukunftsforschung zu  realisieren.  Dass der geschundene Planet dringlich  des Schutzes und des Wiederaufbaus bedarf, der Rückgewinnung von Wäldern, von pestizidfreiem  Boden, von gesundem Trinkwasser, von unverseuchten  Meeren  und unverschmutzter Luft, das wurde in keiner Weise in  Frage gestellt, im Gegenteil.  Doch das Ziel des Bariloche-Modells sollte sich nicht auf die ökologische Krisenvermeidung beschränken, sondern eine Stufenplanung sozialer und politischer Entwicklungspolitik anstreben, um aufzuzeigen, was die absoluten Grenzen zumutbaren  Elends sind und  um die Bekämpfung von Armut und  Elend,  Hunger und  Unterernährung, von Bildung und einem sicheren  Dach über dem Kopf, letztlich von Verweigerung einfachster Menschenrechte bei zwei  Dritteln der Erdbevölkerung so realisieren zu  können, dass gute Lebensbedingungen für alle geschaffen werden können.

Das Modell beruht auf lateinamerikanischen  Erfahrungen, richtet sich jedoch auf die Korrektur menschlich entwürdigender,  nicht tragbarer Mangelbedingungen im Zusammenleben in allen Teilen der Welt aus, ,,angesichts vorhandener gewaltiger Hilfsquellen an  Bodenschätzen,  Energie sowie des intellektuellen  Potentials der Menschheit. Lösungswege sollen abgesteckt, nicht nur Analysen gegeben werden.  ( … )  Die Bariloche- Gruppe hält ,Einkommen’ für ein überbewertetes Konzept.  Erst wenn die im  Modell beschriebenen Grundbedürfnisse befriedigt sind, kann gerechte, erwünschte, wachstumsbetontere oder befriedigendere Einkommensverteilung angestrebt werden.  { … ) Von Mimima, nicht von Maxima wird gesprochen, vom unbedingt Notwendigen, vom zentral Wünschbaren.  Das Bariloche-Weltmodell ist ein Entscheidungsmodell. “(112)  Es sollte ein Ja zur Aufhebung des durch grenzenlosen  Besitz- und Bereicherungshunger einzelner Menschen geschaffenen  Elends von Millionen  und Millionen  von Menschen bewirken.

War das Bariloche-Modell eine Utopie? Oder entstanden  in  der Folge praktische Umsetzungen? Tatsächlich wurde zum Beispiel  1988 im  brasilianischen  Porto Alegre, als die Arbeiterpartei die Wahlen gewann, ein neues System des gerechten Zusammenlebens ausprobiert, das sich partizipative Haushaltpolitik(113)  nannte und  in welches alle Bürgerinnen und Bürger eingeschlossen waren.  In erster Linie ging es darum, der Korruption und der einseitigen  Bereicherung entgegen zu wirken, gleichzeitig den Bedürfnissen der armen Bevölkerung gerecht zu werden, deren Arbeits- und  Lebensqualität zu verbessern  und dadurch einem System der Gerechtigkeit, letztlich der Reziprozität näher zu  kommen.  In Brasilien gab es in der Folge gegen 200 weitere Gemeinden, die dasselbe Modell umzusetzen suchten,  in ganz Lateinamerika  an die  1000 Gemeinden.  Möglicherweise gibt es auch einzelne in  Nordamerika,  in  Europa oder in asiatischen  und afrikanischen Ländern.

Auf jeden  Fall entstanden Anfang der Sechziger- und Siebzigerjahre eine grosse Anzahl von internationalen  Bewegungen und Organisationen – z.  B. Amnesty International,  Medecins sans frontieres, All Together for Dignity – ATD Vierte Welt, Greenpeace und viele mehr-, die sich für die Umsetzung der Menschenrechtserklärung sowie für eine  Korrektur der menschlichen Entrechtung, des Elends und  Leidens sowie der misssbrauchten, geschädigten Elemente der Natur einsetzten und dies weiter tun. Ebenfalls entstanden zahlreiche ähnliche politische und soziale Bewegungen, die im  Bereich einzelner Nationen wirksam sind. Sie alle stellen eine kreative Gegenmacht dar, die unverzichtbar ist.

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Zum Abschluss scheint mir wichtig, nochmals auf die Kernbedeutung einer Grammatik des Zusammenlebens einzugehen, die jedem einzelnen  Individuum den gleichen Wert als Subjekt wie als Objekt im  Beziehungssystem einer privaten oder öffentlichen Gemeinschaft zuteilt.  Das Ziel ist, jeder Form von Destruktivität Grenzen zu setzen, jeder Form von Gewalt, von Betrug und von Missbrauch, von Entwertung und  Erniedrigung, die für diejenigen, die diese propagieren, rechtfertigen oder umsetzen, nicht ertragbar wäre, wenn sie ihnen angetan würde und sie diese ertragen  müssten.  Es geht um  die Grammatik der Reziprozität, die mehrmals erwähnt wurde, ohne dass deren  Bedeutung geklärt werden konnte.

Von der Wortbedeutung her handelt es sich  bei Reziprozität in erster Linie um  einen Zeitbegriff.  Es geht um  den schmalen Übergang im Augenblick des Entscheidens und Tuns zwischen “recus” – was eben war” – und “procus” – was eben sein wird”. Was eben war” beeinflusst die Emotionen und das Denken, die das Entscheiden  und  Handeln  bestimmen. Was eben sein wird” betrifft die unmittelbaren  Folgen des Tuns. Der Zeitbegriff ist zugleich ein  Beziehungsbegriff, weil das, was vom einzelnen  Menschen als Subjekt getan wird, sich sowohl auf ihn selbst auswirkt wie auf den  und die Nächsten als Objekt, die auch wieder als Subjekte in  Bezug zu sich selbst und in  Bezug auf Andere agieren  und reagieren. Ob es um Blicke oder um Worte gehe, um die Bewegung der Hand oder generell um  den Entscheid, etwas oder nichts zu tun, alles hat Folgen in  der Wechselwirkung.  Das Wohlbefinden jedes Menschen, unabhängig von Namen, von Alter und Geschlecht, auch  unabhängig von gesellschaftlicher Stellung, beruht auf der Wechselwirkung von Subjekt- und Objektsein  im schmalen  Übergang zwischen “recus” und “procus”.

Reziprozität gilt auf gleiche Weise für Menschen, die stark und gesund sind wie für Menschen, deren  Kräfte geschwächt sind.  Damit im Zusammenleben  keiner Art von Besonderheit oder von Zugehörigkeit etwas Erniedrigendes anhaftet, sondern dem Bedürfnis nach  Freiheit ebenso entspricht wie jenem  nach Wert, ist jene Achtsamkeit erfordert, die auch dem Wachstum  und dem Aufblühen von Pflanzen entgegengebracht wird, jene besondere “cura” – “Pflege”, die in ältesten Zeiten dem Bebauen des Bodens galt und die, ganz analog, der “Kultur” menschlichen Zusammenlebens im gemeinsamen gesellschaftlichen  Raum gelten sollte.

Selbst wenn Verschiedenheit und  Besonderheit das individuelle Menschsein kennzeichnen, die menschlichen Grundbedürfnisse sind stets die gleichen. Es geht um  Nahrung und Bildung, um die Anerkennung und Achtung von lebenswert,  um die Entfaltung der persönlichen  Begabungen,  um  Freiheit,  insbesondere um  Denkfreiheit und Religionsfreiheit, um gleiche politische  und soziale Rechte, um Wohn- und Lebenssicherheit im Alltag, auch im  Fall von Krankheit und von Versagen der Kräfte. Zutiefst geht es um das Bedürfnis nach Angstfreiheit und nach Glück. Was dieses Bedürfnis bedeutet, wissen alle, auch wie ungleich dessen Erfüllung erlebt wird.  Der Hunger danach lässt sich nicht stillen durch die Anhäufung und Vermehrung von Haben.  Die Erfüllung geht einher mit dem Erleben von Achtsamkeit, von Respekt und Wohlwollen im Verhältnis des Menschen zu sich selber und zu anderen Menschen, das heißt mit der Reziprozität von Achtsamkeit,  Respekt und Wohlwollen, zutiefst von menschlicher Würde.  Es ist diese Grundregel des Zusammenlebens, die das Individuum weder einengt noch  beklemmt, da sie nicht auf Misstrauen  beruht, sondern auf der Korrektur von Misstrauen. Sie beruht auf dem Wissen um den Wert jedes Lebens im Zusammenleben, in der wechselseitigen Abhängigkeit der Individuen von einander, wenn diese nicht gegen einander umgesetzt wird, sondern  im Sinn der Reziprozität beachtet und genutzt wird wie die Grammatik der Sprache.

Als Maßstab in allen  Belangen der Reziprozität, in denen ein Ungleichgewicht der Kräfte im Entscheiden  und Handeln vorliegt, mag die Frage der Zumutbarkeit gelten. Sie richtet sich an das Subjekt, das im Zusammenleben  über mehr Macht verfügt als diejenigen, die von ihm abhängig sind.  Dadurch werden  dem  Unzumutbaren Grenzen gesetzt. Selbst wenn ein Entscheid als belanglos erscheinen  mag, drängt sich dem einzelnen  Menschen als Subjekt auf zu fragen:  Könnte ich es ertragen, wenn jemand Anderer tun würde, was ich beschließe zu tun? Wären die Folgen dieses Entscheids für mich zumutbar? Macht ist immer ungleich verteilt, doch wer auf Grund von Funktion  und Stellung Macht ausübt, trägt in erster Linie die Verantwortung, jede Art von Unrecht zu verhindern.  Die Unterwerfung des eigenen Denkens und  Entscheidens unter eine stärkere Macht, zum  Beispiel unter eine Majorität von Stimmen, durch welche ein Gesetz geschaffen wird, durch welches Unrecht zu  Recht erklärt wird, bedeutet den Verlust von Freiheit.  Die innere Freiheit, ohne Zwang die eigenen Gefühle zu beachten, zu denken und danach zu handeln,  rechtfertigt die Nichtbefolgung eines solchen Gesetzes.  Die innere Freiheit ist ein so unbestreitbarer Wert, dass jeder andere Wert auf diesem beruht, selbst der im Zusammenleben höchste: jener der Freundschaft.

Freundschaft ist vermutlich die kostbarste Bezeichnung für eine Beziehung zwischen Individuen.  Immer geht eine verlässliche Übereinstimmung in der Zustimmung zur je persönlichen  Besonderheit damit einher, auch wechselseitig ein Absehen von jeder Art von Besitzanspruch, damit das Zugeständnis von Freiheit und von wechselseitigem  Respekt, von Vertrauen. Dieses beinhaltet in erster Linie, dass keinerlei Leiden wiederholt wird, das direkt oder indirekt erlebt wurde.  Es geht um die gelebte Reziprozität, die aus den nicht wählbaren Herkunftsbedingungen  herausführt,  möglicherweise mit diesen versöhnt und die Einsamkeit aufhebt.  Freundschaft ermöglicht die wechselseitige Erfüllung aller wichtigen Grundbedürfnisse wie die Anerkennung und  Umsetzung der gleichen grundlegenden Rechte.  Die  Achtung vor Grenzen gehört dazu, Grenzen, die nicht auf Angst oder Misstrauen  beruhen  und einengen, sondern auf Respekt vor der kreativen, stärkenden  Kraft des wechselseitigen Vertrauens.

Literaturliste

David Albahari. Kontrollpunkte. Roman. 2013 Frankfurt am Main, Verlag Schöffling & Co

Robert  Antelme.   Das  Menschengeschlecht.   Als   Deportierter   in  Deutschland.   Aus  dem Französischen  von Eugen Helmle.   1990 München, Deutscher Taschenbuch Verlag

Walter Benjamin.  Illuminationen.  1977 Frankfurt am Main,  Suhrkamp Verlag

Johannes  Bühler.  Am Fuss  der Festung.  Begegnungen vor Europas Grenze.  2015  Stuttgart, Schmetterling Verlag

Hans Ebeling. Der Nationalitäten-Wahn.  Der Geist der Rache und die Zukunft Europas.  1994 Hamburg, Europäische Verlagsanstalt

Daniela Dahn.  Wir sind der Staat.  Warum  Volk sein nicht genügt.  2013 Reinek b. Hamburg, Rowohlt  Verlag

Rainer  Funk.  Der  entgrenzte  Mensch.   Warum  ein Leben  ohne  Grenze  nicht frei,   sondern abhängig macht.  2011 Gütersloh, Gütersloher Verlagshaus

Amilcar  0.  Herrera / Hugo D. Scolnik u.  a.  Grenzen des Elends.  Das Bariloche-Modell.  So kann die Menschheit überleben.  1977 Frankfurt  am Main,  S.  Fischer  Verlag /  1978 Zürich, Buchclub Ex-Libris

Thomas  Hobbes.  Leviathan.  Übersetzung  von  Jacob  Peter Mayer.    1970  Stuttgart,    Verlag Philipp Reclam jun.

Karl Jaspers.  Von der  Wahrheit.  1947 München, R.  Piper Verlag/  1984 Zürich.  Buchclub Ex Libris

Hermann  Kinder /  Werner  Hilgemann  (chronologischer  Abriss).  Harald  und  Ruth  Bukor (Karten).      dtvAtlas zur  Weltgeschichte.  Karten und chronologischer Abriss. Bd.  I und II. 1966/1991  München,  Deutscher Taschenbuch Verlag

Sarah   Kofman.    Rue   Ordener.    Rue   Labat.    Autobiographisches   Fragment.    Aus   dem Französischen  vom Ursula Beitz.  1995 Tübingen, Edition Diskord

Konrad Paul Liessmann.  Lob der  Grenze.  Kritik der politischen  Unterscheidungskraft.  2012 Wien, Paul Zsolnay Verlag

Primo Levi.  Ist das ein Mensch? Aus dem Italienischen von Heinz Riedt.   1961  Frankfurt am Main,            S. Fischer Verlag

John Stuart Mill.  Über Freiheit. Aus dem Englischen von Achim v. Borries.  1969 Hamburg, Europäische Verlagsanstalt  /  1987 Frankfurt am Main, Athenäum Verlag

Charles-Louis  de Secondat,  Baron de la Brede et de Montesquieu.  Vom Geist der Gesetze. Aus  dem  Französischen  von Ernst  Forsthoff.  Bd.  I und  II.   1992  Tübingen,  Verlag   J.C.B. Mohr ( Paul Siebeck)

Ignacio Ramonet. Kriege des 21. Jahrhunderts.  Die Welt vor neuen Bedrohungen.   Aus dem Französischen von Birgit Althaler. 2002 Zürich, Rotpunktverlag

John Rawls.  Eine Theorie der Gerechtigkeit.  Aus dem Englischen von Hermann Vetter.  1995  Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag

Jean-Jacques  Rousseau.  Staat und Gesellschaft.  Aus dem Französischen  von Kurt Weigand. 1959 München.  Wilhelm Goldmann Verlag

Sven Rücker.  Das Gesetz der  Überschreitung.  Eine philosophische  Geschichte  der Grenzen. 2013 München, Wilhelm Fink Verlag

Mihail Sebastian.  Voller Entsetzen,  aber nicht verzweifelt.  Tagebücher  1935-1944.  Aus dem Rumänischen  von Edward Kanterian  und Roland  Erb, unter  Mitarbeit  von Larisa  Schippel.

2005  Berlin,  Claassen  Verlag  (Ullstein  Buchverlage)    –    Seit zweitausend  Jahren.  Roman. Aus dem Rumänischen von Daniel Rhein.  1997 Paderborn, Igel Verlag

Michael    Sypien.  Der  Club  of Rome  und die  Grenzen  des  Wachstums.  Anmerkungen  zur Zukunft der Menschheit. 2014 Hamburg, Bachelor & Master Publishing

Maja   Wicki-Vogt.   Erbschaften    ohne    Testament.    Über   Freiheit    und   Unfreiheit   im persönlichen Werden.  Essays zu einer dialogischen Kultur. 2014 Zürich, Edition 8

Simone Weil. Cahiers. Aufzeichnungen. Bd. I. Aus dem Französischen  von Elisabeth Edl und Wikfgang Matz. o. J. München/ Wien, Carl Hanser Verlag –   Die Verwurzelung.   Vorspiel zu einer  Erklärung   der  Pflichten   dem  Menschen  gegenüber.   Aus  dem  Französischen   von Marianne  Schneider. 2011 Zürich, Verlag Diaphanes

Andreas  Zumach.  Globales  Chaos.  Machtlose  UNO.  Ist die  Weltorganisation  überflüssig geworden? 2015 Zürich, Rotpunktverlag

1)  Ugo Canonico  ( 1918  – 2003 ).  Das Leben.  Übersetzt  aus dem Dialekt von Bidogno  von Christoph Ferber.  In: Moderne  Poesie in der Schweiz.  Eine Anthologie  von Roger  Perret.  2013  Zürich,  Limmat Verlag.  S. 270   (Ra vita.  Rimbiugh.  1994 Bellinzona,  Edizioni Casagrande.   Der urspüngliche  Text:  ,,Ra vida,  al rne dis,  la sboga eo i verse d’una caragnada  e la finiss con un sospir.  Tra quisccedu confin, qunce di per toca la fin” …

2)   Alfred Wolfenstein  (1888  – 1945).  Gebannt.  (Ersterscheinung in:  Menschlicher  Kämpfer.   1919  Berlin,  S. Fischer Verlag) Neuerscheinung in:  Über,  o über dem Dorn.  Gedichte aus den 100  Jahren S.  Fischer Verlag. 1986 Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag.  S. 53

3)    Deutsches Wörterbuch. Ausgabe von 1935:  S.  124ff

4)  zum Beispiel Gracanica (zwischen Doloj-Lukavac und Tuzla,  Bosnien), Gradacac (am Fluss Gradacnica,  auch in der Region Tuzla,  Bosnien), Novi Grad und Novigrad (auf bosnischer und auf kroatischer Seite  des Flusses Sava), Gradiste (ostkroatisch, jenseits der Sava), Grad (in Slowenien),  Gracnica (ein slowenischer  Gebirgszug im nördlichen Teil der Karawanken, dt. Gratschenitzen oder Gratschützen), Gradisce (Slowenien, an der zur Steiermark), Nova Gorica (dt. Neu-Görz,  erst 1947 durch die Trennung von Gorica in einen italienischen und in einen slowenischen  Teil),  Gorjanske  (im  slowenischen  Gebirge östlich von Trieste),  Kupe granica (auch in Slowenien);

5)    zum Beispiel „granica  krajn”  – Landesgrenze; ,,granica  pokoja” – Friedensgrenze; ,,dolna  granica wieku” – Mindestalter

6)  Friedrich Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache.  Erstmals erschienen 1881-1883, schliesslich  1915  die Achte verbesserte und vermehrte Auflage, über die ich verfüge.

7)  „Granikos” war der Name eines  Flusses – nun  Biga Cayi -, der im Gebiet der heutigen Türkei ins Marmarameer fliesst und an  dessen  Ufer im Jahr 334 v. u. Z.  Alexander der Grosse die erste Schlacht gegen die persischen Streitkräfte gewann.

8)   etwa  Grentzingen (deutsche  Schreiweise  Grenzingen), 25 km von Basel im Departement Haut-Rhin, im Elsass (Frankreich)

9) Nelly  Sachs.  Späte Gedichte.   1981  Frankfurt am Main,  Suhrkamp  Verlag.  S. 225

10)  Nelly Sachs.  Späte Gedichte.  1981  Frankfurt am Main,  Suhrkamp Verlag.  S. 225

11)  Sonja Brunschweiler. Lebenslänglich.  Report einer Behinderten.  1981  Muttenz,  St. Arbogast Verlag

12)  Sarah  Kofman (1934-  1994). Rue Ordener, Rue Labat.  1994 Paris, Editions Galilee. Deutsche Übersetzung: gleicher Titel,  1995  Wien, Passsagen Verlag.

13)   Sarah  Kofman.  Paroles  suffoquees.   1987  Paris,  Edition  Galilee.  – Deutsche  Übersetzung:  Erstickte  Worte. 1988  Wien, Passagen Verlag.

14)  Robert Antelme (1917 – 1990).   L espece humaine.  1957  Paris 1957, Edition Gallimard. – Deutsche Übersetzung:  Das Menschengeschlecht.  1987 München, Carl Hanser Verlag.

15)   Sarah  Kofman.  Schreiben wie eine Katze.  Zu E.   T  A.  Hoffmanns  Lebensansichten des Katers Murr.   1985 Graz-Wien,  Passagen Verlag.

16)  Nelly Sachs. aus: Fahrt ins Staublose,  in: Späte Gedichte.  1981  Frankfurt am Main,  Suhrkamp Verlag.   S.  89

17)   Franz Kafka (1883  – 1924).  Nr.  1.  der   Zürauer Zettel.  2011  Frankfurt  am Main /Basel,  Stroemfeld  Verlag (erstmals erschienen  1931  beim Verlag Kiepenheuer, herausgegeben  von Max Brod)

18)   Bo  Setterlind  (1923  – 1991).  Das Licht.  (Ljuset.  Aus  dem  Schwedischen  übersetzt   von  Hans  Günther Hirschberg),   in:  Der  Rhythmus   des  Regens.  Gedichte  und Nachdichtungen  aus fremden  Sprachen.   H.  G. Hirschberg.

19)  Adalbert  von Chamisso (1781  – 1838).  Peter Schlemihls wundersame Geschichte.  Ersterscheinung  1813  (Zeit des  preussischen  Befreiungskriegs   gegen  die  napoleonische  Besatzung,  an welchem  Chamisso  infolge  seines französischen Passes nicht teilnehmen konnte).  1959 Zürich, Verein Gute Schriften.

20)  William Shakespeare. Sonett 119.  In: Hans Günther Hirschberg. Der Rhythmus  des Regens.  Gedichte und Nachdichtungen  aus fremden Sprachen.  1999  Schaffhausen, Verlag Pro Lyrica.  Schweizerische  lyrische Gesellschaft.  S. 193

21)  Hilde Domin (1909 –  2006). Noch gestern. In: Nur eine Rose als Stütze.  Gedichte.  1994,  Frankfurt  am Main, Fischer Taschenbuch  Verlag.  S. 80-81

22)   In  Bern  wird  2016  im  Museum  für  Kommunikation   eine  Ausstellung   zum  Thema  Dialog  mit  der Zeit stattfinden,  die  von  Vorträgen  und  öffentlichen  Diskussionen  um  die  Tatsache  des  Älter-  und  Altwerdens begleitet sein wird, u.a.  am 1.  März 2016 von einem Vortrag, den ich zu diesem Thema halten werde.

23) Nelly Sachs.  Fahrt ins Staublose.  1961  Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag.  S. 136

24) Nelly Sachs. Späte Gedichte.  Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M.  1981.  S. 42

25) Nelly Sachs. Späte Gedichte.  1981,  Frankfurt am Main,  S. 46

26)  Robert  Walser.  Abend.  Aus: Dichtungen  in  Prosa.  Hrsg. von Carl Seelig.  Sonderausgabe:  27. Zürcher  Druck der Offizin Gebrüder Fretz AG zu Weihnachten  1961.  S. 49

27)  (1927 -1988)

28)  Walter Vogt.  Vergessen und Erinnern. Altern.  Romane.  1992 Zürich, Benziger Verlag AG, S. 208-209

29) Nelly Sachs. Fahrt ins Staublose.  Gedichte.  1961/1988  Frankfurt am Main.  Suhrkamp Verlag.  S. 320

30)  Daniel  Pennac. Journal d’un corps. 2012/2014 Paris,  Edition Gallimard. S.  29 :   ,,Im  Blick der Menschen besteht nichts ausserhalb eines Rahmens.  Ich  rate Dir, den Rahmen zu sprengen.” (dt.  maw)

31)  Dr.  Lu-Schan (Hans-Günther  Hirschberg). Massstäbe.  In: Experten  aufgerufen  ...  1992, Pfungen.  S. 5

32)   Immanuel  Kant. Kritik der reinen  Vernunft.  Transzendentale Analytik.  Von  den reinen Verstandesbegriffen. Kap. 12.  Band 3  aus Werke in 12 Bänden.  Hrsg. von Wilhelm Weischedel.  1956 Wiesbaden,  Insel Verlag.  S.  123 ff.   –  Peter Baumanns. Kants Philosophie der Erkenntnis. Durchgehende  Kommentare  zu den Hauptkapiteln  der Kritik der reinen Vernunft.  1997  Würzburg,  Verlag Königshausen   & Neumann.  S. 252 ff.   –  Mariom Hellwig. Alles ist gut. Untersuchungen zur Geschichte einer Theodize im  18. Jahrhundert in Deutschland, England und Frankreich.  2008 Würzburg, Verlag Königshausen & Neumann.  S. 62 ff

33)  u. a. Giorgio Agamben.  La Communaute qui vient.  Theorie de la Singularite quelconque.  1990  Paris, Editions du Seuil. S. 9 – 11

34)  Simone Weil. L ‘enracinement.  Prelude a une Declaration  des Devoirs envers l ‘Etre humain.  1949 Paris, Editions Gallimard.  –   Simone Weil. Die Einwurzelung.  Vorspiel  zu einer Erklärung  der Pflichten dem Menschen gegenüber.   Aus dem Französischen  von Marianne  Schneider.  2011  Zürich, Verlag Diaphanes

35)  Thomas Hobbes (1588 – 1679).  Leviathan  (1651, unmittelbar  nach Abschluss  des Dreissigjährigen Kriegs von 1648). Erster und Zweiter Teil.  1996 Stuttgart,  Reclam Verlag (Reclams Universal Bibliothek  Bd.  8348)

36)  Otto von Bismarck (1815 – 1898)

37)  James Harrington (  1611  – 1677).  Oceana  (1656).  Übersetzt von Klaus UdoSzudra.1991  Leipzig,  Reclam Verlag. – Alois Riklin. Die Republik von James Harrington  1656.  1999 Bern, Verlag Stämpfli u.a.

38)  Oliver Cromwell (1599 – 1658)

39)  Das ,,Ackergesetz” hatte seit 140 v.u.Z. reformatorische Köpfe bewegt, ohne Erfolg, bis der aus dem Hochadel stammende Volkstribun Tiberius Sempronius Gracchus zusammen  mit seinem jüngeren Bruder Gaius Gracchus und  seinem  reichen,  mächtigen  Schwiegervater Appius Claudius  Pulcher  es  zu  Gunsten  der  unterdrückten, besitzlosen Kleinbauern   umsetzen  wollte,  die er insbesondere  aus dem  römisch  eroberten  und  besetzten, mithin  enteigneten  und zum Teil versklavten  etruskischen  Etrurien  (der heutigen Toscana) kannte,  allerdings im bedenkenlosen  übergehen von Verfassungsregeln  und gegen den Willen des Senats.  Die Folge war, dass er 133 v.u.Z.  im  Rahmen  einer Volksversammlung  ermordet  und  in  den Tiber  geworfen  wurde,  dass  ca.  zehn  Jahre später auch sein  Bruder Gaius aus Rom fliehen  musste und  in den Tod ging und dass ab jenem  Zeitpunkt  für ca. hundert Jahre  Bürgerkriege,  Diktaturen und  ins  Masslose  anwachsende  Imperien  die  römische  Geschichte bestimmten, bis im Jahr 31 v. u. Z. mit Augustus eine neue Kaiserdynastie begann.

40)   Baruch de Spinoza  (1632  – 1677)  – Für eine nähere Auseinandersetzng mit Spinoza  s.  Maja  Wicki-Vogt. Erbschaften  ohne Testament.  2014 Zürich. edition  8. S. 30-50

41)  John Locke (1632-1704)

42)  Charles de Secondat, Baron de Montesquieu  (1689 – 1755)

43)  Jean-Jacques  Rousseau  (1712 – 1778). Du Contrat Social et autres Oeuvres Politiques.  1975 Paris, Editions Gamiers Freres            Staat und Gesellschaft. Contrat Social. Grundlegende  Gedanken zu einer neuen Gesellschaftsordnung.  1959 München, Wilhelm Goldmann Verlag

44) John Stuart Mill ( 1805 – 1873 ), dessen Freundin und spätere Ehefrau Harriet Tayler Mill ( 1807 – 185 8)

45) John Stuart Mill.  Über Freiheit.  Aus dem englischen übertragen  und mit einem Nachwort versehen von Achim von Borries.  1987 Frankfurt am Main, Athenäum Verlag

46) John Stuart Mill: Ausgewählte Werke. Herausgegeben  von Ulrike Ackermann und Hans Jörg Schmidt. Band I: John Stuart Mill und Harriet Taylor. Freiheit und Gleichberechtigung. Herausgegeben  und eingeleitet von Ulrike Ackermann. Mit durchgesehenen  und überarbeiteten  Übersetzungen  von Sigmund Freud, Jenny Hirsch, Hans-Günther Holl und Hannelore Schröder sowie Erstübersetzungen  von Siegfried Kohlhammer und Florian Wolfrum. 2012 Hamburg, Murmann-Verlag.

47)  Maja  Wicki-Vogt.  Kreative  Vernunft.  Mut  und  Tragik  von Denkerinnen  der  Modeme.  2010/2013  Zürich, Edition 8. S. 19-35

48) John Stuart Mill. Die Hörigkeit der Frau.  Übersetzt ins Deutsche von Jenny Hirsch.  1872 Berlin, Verlag Berggold.

49)   John  Rawls  (1921  – 2002).  A  Theory  of Justice.   1971   University  Press  of   Harvard  /  Eine  Theorie  der Gerechtigkeit.   Übersetzt   von  Hermann   Vetter.   1979   Frankfurt   am  Main,   Suhrkamp   Verlag   /  Suhrkamp Taschenbuch  Wissenschaft 271

50)  Walter Benjamin.  Über den Begriff der Geschichte. VII. These. In: Illuminationen.  Suhrkamp Taschenbuch 345, S.254

51)  Proklamationen  der Freiheit.  Von  der Magna  Charta  bis zur ungarischen  Volkserhebung.  Hrsg.  von Janko Musulin.  1959 Frankfurt am Main und Hamburg, Fischer Bücherei.  S.  150

52)  David Signer.  Grenzen erzählen Geschichten. Landkarten sind aus der Nähe betrachtet voller Kuriosa und berichten  indirekt von Entdeckungen,  Eroberungen,  Kriegen,  Kompromissen  und ungelösten Konflikten.  NZZ / International,  Freitag,  19.  September 2014, Nr.  217,  S. 8- 9 (Mit Beiträgen von neun Redaktoren und Korrespondenten)

53)   Friedrich  Dürrenmatt.  Schweizerpsalm II.  In:  Moderne  Poesie  in  der Schweiz.  Eine Anthologie  von Roger Perret.  2013 Zürich, Migros Kulturprozent/ Limmat Verlag.  S.  151-152

54)  Mihail Sebastian (1907 – 1945). Jurnal 1935 -1944.  1996 Bukarest, Verlag Humanitas  / Journal 1935 – 1944. 1998 Paris, Editions Stock I Voller Entsetzen,  aber nicht verzweifelt”.  Tagebücher 1935-1944.  2005 Berlin, Claassen Verlag – Ullstein Buchverlag.

55)  Corneliu Zeah Condreanu wurde  1938 ermordet und von Horia Sima abgelöst.  Die „Eiserne Garde” hatte bis an die 270’000 Mitglieder, die an der brutalen, systematischen Verfolgung und Tötung der jüdischen Bevölkerung  Rumäniens in ihren Dörfern und Städten wie an deren Deportation nach Transnistrien  und der Tötung durch Verhungern und Erfrieren sowie durch Erschiessen massgeblich beteiligt waren.

56) Mihail Sebastian. Seit zweitausend Jahren,  Roman,  Übersetzt und mit einem Nachwort und einer Dokumentation  herausgegeben  von Daniel Rhein.  1998 Paderborn,  Igel Verlag  / 1997 Bukarest,  Editura Fundatiei Culturale Romane

57)  Es handelte sich um Istrate Micescu, der in der antisemitischen  Regierung von 1939 erst Staatssekretär,  dann Finanzminister  wurde.

58)  Mihail Sebastian. 2005 Berlin.  S. 262

59)  Sebastian. 2005 Berlin.  S. 2

60)  Sebastian. 2005 Berlin.  S. 284

61)  Sebastian.  2005 Berlin.  S. 294

62)  Sebastian. 2005 Berlin.  S. 321

63)  Sebastian. 2005 Berlin.  S. 327

64)  Sebastian. 2005 Berlin.  S. 334 – 336

65)  Sebastian. 2005 Berlin.  S. 332

66)  Simon  Dubnow  (1860  – 1941).   Weltgeschichte  des jüdischen   Volkes,  Autorisierte   Übersetzung   aus  dem Russischen,  10 Bände.  1925-1929 Berlin

67)  Sebastian. 2005 Berlin.  S. 337

68)  Sebastian. 2005 Berlin.  S. 356

69)  Sebastian.  2005 Berlin.,  S. 369

70)  Sebastian. 2005 Berlin.  S. 370

71)  Sebastian. 2005 Berlin.  S. 3 88

72)  Sebastian, 2005 Berlin.  S. 393  – 395

73)  Sebastian, 2005 Berlin.  S. 396-397

74)  Sebastian. 2005 Berlin.  S. 407

75)  Sebastian. 2005 Berlin.  S. 409

76)  Sebastian. 2005 Berlin.  S. 498

77)  Sebastian. 2005 Berlin. S. 523

78)  Sebastian. 2005 Berlin.  S. 541

79)  Sebastian. 2005  Berlin.  S. 571-572

80)  Sebastian. 2005 Berlin.  S. 643-644

81)  Sebastian. 2005 Berlin.  S. 545

82)  Sebastian. 2005 Berlin.  S. 685

83)  Sebastian.  2005 Berlin.  S. 704

84)  Sebastian.  1998 Berlin.  S. 705-706

85)  Sebastian.  2005 Berlin.  S. 748 – 755

86)   Zwischen  Roosevelt,  Churchill  und Chiang Kai-shek,  zuerst zwischen  22. und 26. November,  dann zwischen 28. November und 1.  Dezember  1943:  es ging um asiatischen  Kriegsschauplatz wie um die Fragen der Landung der Allierten

87)  Sebastian.  2005 Berlin.  S. 756 -757

88)  Sebastian.  2995 Berlin.  S. 761-762

89)  Sebastian. 2005 Berlin.  S. 772

90)  Sebastian.  2005 Berlin.  S. 773

91)  Sebastian.  2005 Berlin.  S. 774

92)  Sebastian.  2005 Berlin.  S. 775

93)  Die von den Nazis  eingerichteten  Konzentrations-  und Vernichtungslager in Polen werden  von Iosif Hechter kaum erwähnt.  Vermutlich gab es diesbezüglich  wohl Ahnungen, aber keine genauen Informationen.

96) Leon Volovici. Nationalist ldeology ans Antisemitism.  The Case of Romanian  lntellectuals.  1991  Oxford, Pergamon Press

97) Seine  Nichte  Michele  Hechter,  Poldy’s älteste Tochter,  hielt dazu eine Rede (s.  Beilage)

98) Ignacio Ramonet. Kriege des 21. Jahrhunderts.  Die Welt vor neuen Bedrohungen. 2002 Zürich, Rotpunktverlag

99)  Anne Perrier (1922).  Ohne Titel. Übersetzt aus dem Französischen von Manfred Bauschulte. In:  Moderne Poesie  aus der Schweiz. Eine Anthologie von Roger Perret. 2013 Zürich. S.  305. (Ersterscheinung in: La voie nomade / Die Nomadenspur.   2002 Zürich, Edition Howeg)

100) Franz Kafka. Die Zürauer Zettel.  Nr.  57.   2011 Frankfurt am  Main/ Basel, Verlag Stroemfeld / Roter Stern

101) Simone  Weil  (1909  in  Paris  – 1943  in  Ashford,  Südengland).  Cahiers.  Aufzeichnungen.   Erster  Band. Herausgegeben  und  übersetzt von Elisabeth  Edl  und  Wolfgang Matz.  o. J.  München/ Wien, Carl  Hanser Verlag. S.  227 – Maja Wicki-Vogt.  Simone  Weil.  In:  Kreative  Vernunft.  Mut  und Tragik  von Denkerinnen  der Modeme. 2010 / 2013 Zürich.  edition  8.  S. 186 – 206 – Auch Widerspenstig, furchtlos.  Simone  Weil.  in: Erbschaften  ohne Testament.  2014, Zürich edition 8.  S. 303-322

102)  Jean Baudrillard, Hannes Böhringer, Vilem Flusser, Heinz von Foerster,  Friedrich Kittler, Peter Weibel. Philosophien der neuen Technologie.  1989 Berlin, Merve Verlag. – Pierre Levy. Les technologies de l’intelligence.  1990 Paris, Edition La Decouverte.  -Cyberculture.  1997 Paris, Librairie Jacob. =Qu’est-ce que le virtuel?  1998 Paris, Edition La Decouverte. – Paul Virilio. Die Sehmaschine.  1989 Berlin, Merve Verlag. – Rasender Stillstand.  1992 München/Wien,  Hanser Verlag / 1997 Frankfurt am Main, Fischer Verlag. – Revolutionen der Geschwindigkeit.  1993  Berlin, Merve Verlag. – Fluchtgeschwindigkeit.  1996 München/Wien, Hanser Verlag.  – Maja Wicki-Vogt. Erbschaften  ohne Testament. 2014 Zürich, edition 8.

103)  Alfred Wolfenstein  (1883 in Halle – 1945  in Paris). Vorspann  zu:  Über,  o über dem Dom. Gedichte aus 100 Jahren  S.  Fischer  Verlag.  Herausgegeben   von  Reiner  Kunze.   1986  Frankfurt  am  Main,  S.  Fischer  Verlag. (Erstmals erschienen  im Nachwort  zu dem von Alfred Wolfenstein herausgegebenen Jahrbuch für neue Dichtung und Wertung-Die Erhebung.  1920 Berlin,  S. Fischer Verlag)

104)  Simone Weil (1909  in  Paris – 1943  in Südengland).  Cahiers.  Aufzeichnungen.  Erster Band.  Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz.  o. J. München/ Wien, Carl Hanser Verlag

105)    Simone   Weil.   L ‘Enracinement.   1948  Paris,  Edition  Gallimard  –    Die  Verwurzelung.   Vorspiel  zu  einer Erklärung der  Pflichten  dem Menschen  gegenüber.   Aus  dem  Französischen   von  Marianne  Schneider.  2011 Zürich, Verlag diaphanes

106)  Simone Weil.  Cahiers l.  o.J. München/Wien.  S. 212

107)  Simone Weil. Cahiers 1.  o. J.  München/Wien.  S. 215

108)  Simone Weil. Cahiers  1.  o. J. München/ Wien.  S. 215

109)  Franz Kafka. Die Zürauer Zettel. Nr.  2. 2011 Frankfurt am Main/ Basel, Verlag Stroemfeld / Roter Stern

110)  Amilcar  0.  Herrera, Hugo Scolnik u.a. Grenzen des Elends. DasBariloche-Medell: So kann die Menschheit überleben. Vorwort von Peter Menke-Glückert. Aus dem Spanischen übersetzt von Otto Janic. (Ersterscheinung: Catastrophe o Nueva Sociedad  Modelo Mundia! Latinoamericano). 1977  Frankfurt am Main,  S. Fischer Verlag / 1978 Zürich, Buchclub Ex Libris

111)  Bariloche (eigentlich  Sans Carlos de Bariloche)   ist die Hauptstadt  der Provinz Rio Negro am Fuss der Anden

112)  Herrera / Scolnik u.a.  Genzen des Elends.  1977 Frankfurt am Main / 1978 Zürich.  S. 9

113)  Ignacio Ramonet. Kriege des 21. Jahrhunderts.  Die Welt vor neuen Bedrohungen. 2002 Zürich, Rotpunktverlag.  S.  140 ff

 

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