Grenze. Grenzen
Salongespräche ZUW Uni Bern – Herbstsemester 2015
Grenze. Grenzen
Vorspann
Wie werden die ersten Erfahrungen von Grenzen gemacht, von Trennungslinien und Schranken? Sind es Erfahrungen des Anprallens, des Verlustes? Wie verändern sie sich im Lauf der persönlichen Entwicklung? Wann bedeuten Grenzen Schutz und wann Ausschluss, wann Willkür und Verhängnis? Sind sie unüberwindbar oder lassen sie sich erweitern und öffnen? Und wenn von „Grenzgängern” und „Grenzgängerinnen” die Rede ist, um wen handelt es sich? Um Heimatlose oder um Menschen mit besonderen Kräften? Und was bedeutet das Entgrenzte, das Grenzenlose? Die Macht des Unbewussten und der Triebe, die Phantasie, das Nichts, die mystische Transzendenz, sind es Ideologien und Herrschaftsansprüche, ist es die aktuelle Diktatur des Marktes oder die Allmacht der digitalisierten Technik und der Virtualität?
Grenze ist eine strikte Linie und ein Mass. Sie betrifft das menschliche Innenleben und die äusseren Bedingungen des Zusammenlebens. Sie kann Absperrung oder Sicherheit bedeuten. Möglicherweise ist sie ein Scheideweg oder eine Schwelle, die sich überschreiten lässt, so dass sich neue Räume öffnen. Immer verbindet sich mit „Grenze” ein Drinnen und Draussen, ein Vorher und Nachher, ein Dazugehören oder ein Ausgeschlossensein. Das Wort ist voller Doppelbedeutungen, die sich dem Menschen als Individuum wie als Teil eines Kollektivs als Erfahrung anbieten, sich ihm entgegenstellen, ihn schützen oder empören. Die Grenzziehungen während und nach dem 1. und dem II. Weltkrieg, die Grenzen der Schweiz, die aktuellen Grenzen Europas im Mittelmeer und die Grenzmauern im Nahen Osten, die Grenzen des Ertragbaren – es sind Geschichten über Grenzen, die zum Staunen anregen oder die erschüttern.
- Vorlesung
Die Grenzen im Innenleben des einzelnen Menschen
Im Vorspann wurde festgehalten, dass Grenzen immer ein Diesseits und ein Jenseits bewirken, ob sie fliessend seien, wie hier in Europa die Dämmerung, der Übergang zwischen Tag und Nacht, oder ob sie Abbruchkanten seien, eine Linie vor dem Abgrund. Wir kennen im Alltäglichen eine Vielzahl von Grenzen und Grenzerfahrungen, etwa Grenzen der Leistungsfähigkeit, die sich durch Müdigkeit oder gar durch Erschöpfung anzeigen, oder Grenzen der Selbstachtung, des Duldens und Leidens, psychische oder körperliche Schmerzgrenzen, deren Überschreitung Kontrollverlust und Ohnmacht bewirken, oder Grenzen der Toleranz, die möglicherweise im täglichen Alltag erlebt werden, wenn Fremde durch Rassismus oder andere Formen des Angriffs auf die menschliche Würde und Integrität verletzt werden, sei es auf der Strasse oder in den Medien oder durch richterliche Entscheide, durch Gesetzesentwürfe oder polizeiliches Verhalten. Oder Grenzen der Erkenntnismöglichkeiten und des Verstehens, wie wir sie durch das philosophische Vordringen in die Bereiche der Astrophysik erleben, auch Grenzen der Sprache, oft des Mitteilenkönnens dessen, was sich der Sprache entzieht, was jenseits der Worte, auch jenseits des unmittelbaren Ausdrucks ist.
Seit vielen Jahren habe ich mich mit dem Thema der Grenzen und der Grenzerfahrungen befasst. Zum Teil werden daher in den Vorlesungen dieses Semesters Arbeiten wieder aufgenommen und neu überarbeitet, die ich schon publiziert habe oder an denen Sie mitgearbeitet haben, zum Teil sind es völlig neue Aspekte der thematischen Aufarbeitung, die Ihnen vorgelegt werden und die Sie zum Denken und Diskutieren anregen. Ich werde mich freuen, wenn es gelingt, erkenntnismässig Schritt für Schritt voran zu kommen.
Zwei Dichter, die wenig bekannt sind, erleichtern den Einstieg:
“Das Leben, so meint er, beginne mit einem Aufschrei, einem Weinen, und ende mit einem Seufzer. Zwischen diesen Grenzen, wie viele Tage, um ans Ende zu kommen”(1)
Der Übergang aus dem Dunkel ins Licht am Anfang des menschlichen Lebens und ebenso der Übergang vom Licht ins Dunkel am Ende des Lebens sind für den Tessiner Schriftsteller und Dichter Ugo Canonico entscheidende Grenzerfahrungen, die weder austauschbar noch wiederholbar sind. Herkunft und Geburtsort waren für ihn, der als Emigrantenkind in Willisau zur Welt kam und aufwuchs, durch Sprachgrenzen zwischen dem privaten und dem öffentlichen Raum getrennt, bis er als Lehrer in seine ursprüngliche Sprachheimat zurückkehrte, dort zu schreiben begann und mit „La voce del Padre” sowie mit weiteren frühen Erinnerungen die Quellen seiner eigenen Entwicklungswege darstellen konnte.
,,An Grenzen, die uns selbst durchziehen, stossen wir”(2).
Zwischen den existentiellen Grenzerfahrungen von Lebensanfang und -ende sind die „vielen Tage” mit den verborgenen „Grenzen”, die Alfred Wolfenstein’s Innenleben „durchziehen”, als Barrieren gegen Sehnsüchte und Hoffnungen, als Stolpersteine mit scharfen Kanten, unter denen jene der Angst – der Todesangst – die radikalsten sind. So hatte sich der Dichter aus dem ostdeutschen Sachsen-Anhalt, in Halle geboren, in Dessau aufgewachsen, mit einem Jura-Studium in Berlin, Freiburg, München und Halle, im Kreis anderer Schriftsteller und Dichter für die Münchner Räterepublik engagiert, mit diesen durch seine expressionistische Klarheit und durch grosse Übersetzungswerke aus dem Französischen und Englischen die Hoffnungen und Enttäuschungen der Weimarer Zeit geteilt, jedoch ab 1930 wegen seiner jüdischen Wurzeln nur noch ein prekäres überleben gekannt, 1933 mit der Übersiedlung nach Prag und 1938 nach Paris, wo er zwei Jahre später vom Einmarsch von Hitlers Wehrmacht und Gestapo überrascht wurde und sich fortan bis zu seinem Tod 1945 ständig auf der Flucht befand, mit anderem Namen versteckt lebte, ohne dass die Visa aus den USA rechtzeitig eintrafen, die ihm die erhoffte Ausreise aus dem besetzten Frankreich ermöglicht hätten, schliesslich anlässlich eines Klinikaufenthalts, krank und erschöpft, beschloss, selber das Leben zu beenden. Die Flucht vor dem Tod war für ihn an die Grenze des Sinnhaften und Umsetzbaren gelangt, er stimmte ihm zu und gab ihm die Hand.
Sprachanalytische Annäherung
In der deutschen Sprache ist die Bedeutung von „Grenze” beinah unbegrenzt vielschichtig. Während im Französischen wie in anderen Sprachen mit stärkerem lateinischem Einfluss aus der römischen Besatzungszeit klar zwischen “Limite” und „fin”, ,,borne”, ,,terme”, ,,cadre” und “frontière” unterschieden wird, werden diese Worte im Deutschen wohl auch verwendet, doch „Grenze” mit seiner slawischen Herkunft hat in den unterschiedlichsten Zusammenhängen den häufigsten Gebrauch. Sprachgeschichtlich nachweisbar ist, wie die Brüder Grimm in den Wörterbüchern der deutschen Sprache belegen”, dass sich „grenize” erstmals im 14. Jahrhundert in Schriften der Deutschordensgemeinschaft findet, dass sich jedoch erst im 16. Jahrhundert mit Luthers Bibelübersetzung der Gebrauch des Wortes allmählich in vielen Bereichen durchsetzte. Vorher wurde eher das fränkische Wort „Mark” oder das oberdeutsche „ Anewand” – ,,wo der Pflug wendet” gebraucht. Erklärungen für „Grenze” finden sich in Synonyma: ,,Linie, die zwei Grundstücke, Staaten, Länder oder Bereiche voneinander trennt”, oder „Schranke, Einschränkung, Beschränkung und Rahmen”, auch „Termin” und „Ende”. In einer weiteren Erklärung wird „Grenze” als „Punkt” bezeichnet, ,,an dem zwei verschiedene Sachen, Zustände voneinander zu unterscheiden, zu trennen sind”, so wie tatsächlich in der Schriftsprache mit dem Punkt eine Abgrenzung zwischen dem einen und dem nächsten Satz geschaffen wird.
„Grenze” hat somit in erster Linie die Bedeutung örtlicher und sachlicher Trennung. Jede kleinste Sache, jedes Ding ist vom nächsten anderen getrennt, somit abgegrenzt, jedes Sandkorn vom Sandkorn, jedes Stäubchen vom Stäubchen neben ihm. Auch jede Zelle ist abgegrenzt, ist eine Einheit an sich, die sich in einer bestimmten Ordnung zur nächsten befindet, auch jedes Atom ist eine Einheit an sich. Verbindungen kommen zustande, doch jede Verbindung geschieht aus unterschiedlichen Teilen, deren Abgrenzung von einander gemäss einer bestimmten Ordnung aufgehoben wird.
In ähnlicher Bedeutung findet sich das aus „grenize” abgeleitete Wort „Grenze” in mehreren slawischen Sprachen und in zahlreichen Verbindungen als Ortsbezeichnung (4), am deutlichsten das polnische Wort „granica”(5). Etymologisch(6) wiederum leitet sich granica von grani, grana oder grand ab, das die Bedeutung von „Zweig”, ,,Ecke” oder „Kante” hat und aus den indo-europäischen Wurzeln ghre /ghro – ,,grünen” resp. ,,wachsen” stammt. Die Bedeutung von granica – grenize -Grenze steht somit mit „pflanzlich” und „spitz” oder „scharf” in Verbindung, in diesem Sinn auch im deutschen Wort „Grat”. Kulturhistorisch erinnert das Wort an die von Wäldern überwachsenen Weiten Europas, in welche von den ursprünglichen Bewohnern Schneisen und Querwege zur Abgrenzung von Eigentum und Besitz gezogen wurden. Auch Bäume mit ungewöhnlichem Wuchs dienten zur Markierung von Grenzen, allmählich auch Holzpfähle oder Grenzsteine, mit der Zeit – bis in die Gegenwart – Steinmauern, Grenzwälle und Wachtürme. Ebenso wurden Flüsse7 und deren Ufer (lat. ripa – .Ja rive”), Hügel- und Bergketten oder Felsblöcke zur Markierung von Landbesitz und Macht gebraucht. Auch als Ortsbezeichnung wurde das Wort verwendet(8). Das lateinische Wort limes (abgeleitet vom Adjektiv limus – “quer” auch vom Substantiv limen – “Türschwelle”) diente als Abgrenzung für alle Merkmale von Besitz, Herrschaft und Macht, von Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit. Als definitiv abschliessende Grenze wurde finis – “Grenze” im Sinn von ,,Abschluss” und “Ende” verwendet. Und was im öffentlichen Raum die Eingrenzungen von Herrschaft und Macht bewirkte, wurde auch für den privaten Besitz benutzt. So sind die Wände und Türe eines Zimmers ebenso Grenzlinien wie die Mauern oder Wände eines Hauses, deren Ecken und Kanten, oder jene eines Hages oder Zauns. Wo ein Raum von einem anderen abgegrenzt wird, wird er gleichzeitig eingegrenzt, ob mit Pappkarton, mit Blech, mit Holz oder mit Mauern aus Stein, da bilden sich Räume mit Ecken, die auch ausgrenzen. Besitz, Zuteilung oder Zugehörigkeit besteht somit innerhalb von Grenzen und ist nicht grenzenlos.
Und die zeitlichen Grenzen und Grenzerfahrungen? Geburt und Tod wie alle Abläufe im menschlichen Werden, im Lernen und Heranwachsen, im Erreichen von Zielen, im Genesen nach Erkrankungen oder nach Unfällen und anderem Unglück, alle sind mit Einschränkungen, somit mit Grenzen verknüpft, die mit komplexen Voraussetzungen, Bedingungen und Begleitumständen einhergehen. Je nachdem lassen sich Grenzen erweitern und öffnen, ja nachdem nicht. Hier blieb auch in der deutschen Sprache mit “final” und “definitiv” sowie mit “Termin” das lateinische finis und terminus erhalten, terminus, das ebenfalls die Bedeutung von “Grenz- oder Markstein”, von “Schranke”, von “Ende” und “Abschluss” wie von “Ziel” hat.
Im kindlichen Empfinden besteht ausser im Hell- und Dunkelwerden von Tag und Nacht keine zeitliche Eingrenzung, die Zeit ist ein unbegrenzter Raum. Umso schwieriger ist es zu akzeptieren, dass fürs Getragenwerden und fürs Spielen, für Trinken und Essen, für alles, was von Mutter und Vater anhängig ist, zeitliche Einschränkungen und dadurch Grenzen bestehen. Schon früh wird dem Kind das Ordnungssystem beigebracht, das im menschlichen Zusammenleben hier in Europa mit dem römischen Imperium und den damit verbundenen gesellschaftlichen Klassen begann und das sich mit der Einführung des 11calendarium” zum Zweck des Eintreibens von Schulden durch Geldverleiher verfestigte, auch zur geregelten Einteilung des Jahres in Arbeitstage und Ruhetage oder religiöse Festtage. Termine jeder Art sind somit zeitliche Marksteine, die auf unterschiedliche Weise einschränken und belasten vermitteln.
Die psychoanalytische Annäherung
a) Zeitliche Grenzerfahrungen
( … ) ,,Niemals eine Atempause wie in Ur / Da ein Kindervolk an den weissen Bändern zog/ Mit dem Mond Schlafball zu spielen – ( … )”(9)
Wir wollen noch genauer auf das frühkindliche Empfinden eingehen, auf die Anfänge jeder Art von Grenzerfahrung. Tastend gehen wir einen weiten Weg zurück, bis in die Vorzeit der Erinnerung und der Sprache, in die Vorzeit des Wissens. Aus welchem Urgefilde wächst die Besonderheit jedes menschlichen Lebens? Was bedeutet die pränatale Zeit?
Sie ist ein transgenerationelles Geflecht des individuellen Werdens, eine Gleichzeitigkeit der dem neuen Leben übertragenen Ahnengeschichte und dessen Entwicklung innerhalb weniger Monate im verschlossenen Raum des Mutterbauchs, in deren Wärme, im Summen der warmen Blutkanäle, in deren pulsierendem Plätschern und Sausen, im Zeitrhythmus des pochenden Herzens der Mutter, pausenlos geschaukelt vom Atem der Mutter, genährt mit der Wärme ihres Körpers, angeheizt manchmal schier bis zum Verbrennen von glühender Lust am Rand des kleinen Innenraums, in anderen Fächern, oder fast erstickend, fast verhungernd, wenn mit Unwillen und Schmerz getragen, oder eingeengt von Atemknappheit und Angst, sich selber überlassen, im Dunkel gefangen unter der klemmenden Not der Mutter, ihrer Ungewissheit vor der der bevorstehenden Zeit, doch so oder so im ständigen Wiegen der Mutter getragen, im Gespräch mit der Sprache ihrer Seele. Dann, wenn zu klein der mütterliche Innenraum wird, freigelassen, losgestossen aus Atem- und Blutsymbiose ins vielfach hilfebedürftige, geheimnisvoll unbekannte, nicht wählbar gestaltete, besondere, eigene Ich-Leben in der eigenen Haut, die nun abgrenzender und schützender, zugleich verletzbarer Halt wird, dieses feine persönliche Hauthaus, aus der Genesis geschaffen (sowohl im Sinn von „gennan” / erzeugen, hervorbringen und ,,gignesthai” / entstehen, geboren werden), diese feine Umgrenzung des Ich nach Aussen, wie vor der Geburt unter der Mutterhaut, unverwechselbar, einzigartig, das zarte Geflecht der sinnlichen Wahrnehmung über dem – nun – eigenen pulsierenden Herzen und dem Ateminstrument der Lungen, mit dem Zeichen des eigenen Geschlechts, das dem Ausstossen des Verdauten wie der sinnlichen Hungerstillung im Ablauf sich folgender Stunden, Tage und Nächte dienen wird, mit den sich öffnenden Fenstern und Türen der Sinne – der Haut selber von den Zehenspitzen über jedes Fleckchen, der Augen und der Nase, der Zunge und des Gaumens, und der Ohren -, mit deren je eigenen, langsam erwachenden Fähigkeit der Vermittlung von Wärme und Kälte, von Helligkeit, Farben und Dunkelheit, von Gerüchen und Geschmack, von Klängen und Tönen, von Hunger, von Freude und von Angst, dieser präzisen Übersetzung der Empfindungen der Seele – auf andere Weise bezeichnet: der cerebralen Funktionen – über den dialogischen Kontakt durch das Berührtwerden, durch den Blick, durch die Bewegung der Hände, durch das Betasten und Fühlen und allmählich, zusätzlich zur spürbaren Sprache von Haut und Atem über die hörbare Sprache mit dem wunderbaren Tonregister, das über Bronchien und Mund den Dialog mit der Mutter fortsetzt, nicht mehr in ihrem Inneren, sondern nun aus dem von ihr getrennten, eigenen Körper. Allmählich dann der Austausch mit anderen Menschen auf unterschiedliche Weise, mit dem Vater, mit weiteren Gesichtern und Gestalten, die allmählich nebeneinander oder gegen einander das Kind umringen – all dies auf unverwechselbare, eigene, persönliche Weise, die das Kind als Individuum kennzeichnet, als das Unteilbare und Ungeteilte, jedoch in der sich fortsetzenden Entwicklung verwandt mit Völkern von Ahnen auf Mutter- und Vaterseite – vierhundertvierzigtausend – bis zurück zum Anfang des Menschseins aus der Verwandtschaft mit Pflanzenwesen und einfachsten Tieren zu Beginn der zählbaren Zeit, gleichzeitig in allem vernetzt und geleitet durch die eigene Zeit, Atemzeit, Tag- und Nachtzeit, Existenzzeit im Dasein und Hiersein, durch die eingegrenzte, persönliche Raumzeit und Lebenszeit, die stets im Entgleiten und im Werden ist, voller Grenzerfahrungen im Zusammenleben mit den Nächsten und den vielen Anderen.
So ist die erste Zeit des persönlichen Ich im geschenkten, nicht wählbaren, zwar genetisch und anthropologisch vielfach erklärbaren, zugleich aber geheimnisvollen innersten Teil des In-der-Welt-Seins zu finden, im Innenraum des Entstehens der Lebenszeit, im abgegrenzten Raum des Mutterbauchs. Hier ist der Beginn der seelischen und körperlichen Entwicklungsgeschichte jedes Menschen, der inneren Zeit des Ich, dann die sich fortsetzende Lebensgeschichte, die mit der räumlichen Ausgrenzung durch die Geburt beginnt, wenn die nach den äusseren Zeitmassstäben berechnete Zeit mit dem eigenen Atem eine Sekunde zählt, dann einen Tag, der einen Namen trägt – Geburtstag-, auf den die Kindheitsjahre folgen, Geburtstag Jahr für Jahr – die lange Geschichte, die zur Lern-, Beziehungs- und Handlungsaufgabe wird, voller Grenzen, Abgrenzungen und Eingrenzungen, als Teil der zuerst zählbaren und nah bekannten anderen Menschen, dann der unzählbar vielen, die je eine eigene Geschichte haben.
„Einmal verschlossen/ in der Geburtenbüchse der Verheissungen / seit Adam/ die Frage schläft zugedeckt/ mit unserem Blut”(10).
- b) Erfahrungen der Ausgrenzung des Ichs, der Eingrenzung, der Abgrenzung
Der Handlungsspielraum und der Erfahrungsbereich, der sowohl aktiv wie passiv dem einzelnen Menschen verfügbar ist, bis die Grenzen des Ertragens und des Tuns erreicht sind, ist nicht nur unterschiedlich weit, sondern gerade im innerpsychischen Raum auch unterschiedlich begehbar. Wenn die Grenzen nicht klar sind, oder wenn sie durchbrochen oder verletzt wurden, benutzt das Unbewusste alle möglichen Abwehrdispositive, um die „Ansicht” der Verletzungen zu verwehren. Oft sind diese Abwehrvorkehrungen untauglich und schaffen neues Leiden. Traumatherapien können als sorgfältig begleitete seelische Annäherung an den Ort des Schmerzes ermöglichen, die vom Unbewussten zum Schutzzweck aufgebauten Barrikaden abzubauen. Es mag aufwühlend sein, doch allmählich auch stärkend und befreiend. Ohne nah an die Verletzung heranzukommen, lässt sich das, was jenseits der eingebrochenen oder mangelnden Grenze ist, nicht erkennen. Unterstützend sind lebenszustimmende Ressourcen, die trotz der schweren, leidvollen Erfahrungen erhalten bleiben konnten. Traumata lassen sich dadurch nicht ungeschehen machen, aber sie können durch den therapeutischen Heilungsprozess ihre Dominanz verlieren und ins gelebte Leben integriert werden, so wie eine offene körperliche Wunde vernarben kann.
Als eine junge Frau, die in ein Strafverfahren verwickelt war, mich anrief und mich um ein erstes Therapiegespräch bat, nannte sie ihren Namen und fügte bei: ,,So heisse ich, obwohl ich nicht weiss, was der Name mit mir zu tun hat. Zwischen mir und meinem Namen ist etwas Unüberwindbares
Sie war in einem osteuropäischen Land in mehreren Waisenhäusern aufgewachsen, ohne Kenntnis ihrer Mutter, die sie nach der Geburt in einem öffentlichen Park zur staatlichen Adoption ausgesetzt hatte. Keine Erinnerung war ihr an die ersten sechs Lebensjahre geblieben. Vom zwölften Altersjahr an wurde sie durch einen kaum älteren Mitbewohner missbraucht, gebar mit sechzehn Jahren ein erstes Kind, ein Mädchen, das auch sie zur Adoption freigab. Als sie nach wenigen Wochen erfuhr, dass es im „Durchgangsheim” gestorben war, hat sie ihr Land verlassen. Sie zog in ein nordeuropäisches Land, lebte von Schwarzarbeit in Fabriken, gebar infolge flüchtiger Beziehungen zwei weitere Töchter, für die sie nicht zu sorgen vermochte und sie wieder weitergab, schliesslich einen Sohn, den sie bei sich behielt und alleine aufzuziehen beschloss. Mehrmals sagte sie, ,,den Mädchen, die ich geboren habe, soll es besser gehen als mir, sie sollen in Sicherheit offener leben können und weniger durch Unwissen eingegrenzt werden. Das Waisenhaus war ein Gefängnis. Eine bessere Mutter sollen sie haben.” Da in ihrem Land Krieg zwischen Ethnien mit Verfolgungen und ständig wechselnden Grenzen herrschte, versuchte sie, mit dem kleinen Knaben in der Schweiz Unterschlupf zu finden, mit dem Wissen um ihre Verantwortung und zugleich ohne Erfahrung einer stärkenden Beziehung, täglich von Angst besetzt, dass ihr dieses Kind entzogen würde, wenn sie nicht als „gute Mutter” Anerkennung finden könne.
Die Therapie, der sie anfänglich blass 11auf Befehl der Behörden” zustimmte, wurde nach kurzer Zeit zu einem Weg in die vielen Schichten ihres seelischen Leidens. Dabei gelang es ihr, mit der Stimme der Verzweiflung ihre Wut auszuschreien, auch zu wimmern und zu schluchzen, aber nach und nach über die Lebenskraft ihres eigenen Ichs zu staunen, allmählich dieses Staunen in ein Gefühl stärkender Fürsorge für sich selber und ihr Kind zu verändern. Als sie nach 36 Therapiestunden die Schweiz verlassen musste, war ihr bewusst, dass sich durch die Aufarbeitung ihrer Geschichte innere Grenzen geöffnet hatten, dass sie die unbekannte Herkunftsinsel .Mutter”, in welcher sie ihre Wurzeln hatte, akzeptieren konnte. Zugleich wünschte sie, dass ihre zwei Töchter, für die zu sorgen sie nach deren Geburt keine Möglichkeit hatte finden können, von wirklich guten Ersatzmüttern begleitet waren und dass sie sich eines Tages auf den Weg machen würden, um sie als deren wirkliche Mutter zu finden.
Die individuelle Besonderheit menschlichen Lebens, die mit der Geburt eines Kindes sichtbar und spürbar wird, ist mit der mütterlichen Zustimmung zum Leben des noch ungeborenen Kindes während der Schwangerschaft verknüpft, wird jedoch durch quälenden Schmerz geprägt, wenn die Mutter das Neugeborene preisgibt und fremder Sorge überlässt. “Freiheit”, die Hannah Arendt mit der “Gebürtlichkeit” verbindet, wird als ständiger seelischer Hunger spürbar sein, ja die ganze Kindheit kann wie ein Weltteil der Kolonisation empfunden werden, in welcher das Sich-selber-Fremdsein zum gefährdenden Leiden anwachsen kann.
Zwar sind die unterschiedlichen, häufig dunkeln Herkunftsgeschichten von Mutter und Vater sowie deren Eltern auf verborgene Weise in jedem Menschen spürbar wie ein fremder Teil des Ich, der häufig in der Pubertät schwer wird wie eine hemmende und lähmende Barrikade in einem verschlossen wirkenden Tunnel. Bei jungen Menschen, denen nach der Geburt keine stärkende Beziehung zur Mutter ermöglicht wurde, bedarf der Übergang von der Kindheit ins Erwachsenwerden einer zusätzlichen Sorgfalt. Immer wieder geschieht es, dass anstelle eines konstruktiven Aufruhrs suchtartige Fluchtversuche und Ersatzerfahrungen genutzt werden, ein aus Unwissen destruktiver Widerstand gegen das eigene Ich, oder dass sich aus der Macht der Angst eine gefährdende Depressivität entwickelt, als Folge früher Trauer und in der Kindheit nicht zugelassener Wut. Um den Wert des eigenen Lebens aus dem destruktiven Zweifel zu lösen, braucht es Mut und Beharrlichkeit, auch Erfahrungen des Glücks.
Kindheit ist ein dunkler Kontinent voller Grenzen. Was in der frühesten Phase des seelischen und körperlichen Erlebens geschieht, ohne dass es anders als durch Weinen und zunehmende Stummheit, durch angstbesetzte Unterwerfung und Gehorsam oder durch trotzigen Widerstand mitgeteilt werden kann, nistet sich ein und setzt sich lange fort, manchmal lebenslang.
Die erste Abgrenzung, die das Kind erlebt, ist der Körper, ist die Haut, die ihn umspannt. Sie erlaubt die Wahrnehmung des umgrenzten eigenen, vom nicht-eigenen, anderen getrennten Lebens. Der Blick der Mutter und ihre aufmerksame, umfangende Berührung gibt dem Kind das Wissen um die eigenen Grenzen als „holding security”, als Halt und Sicherheit, gibt ihm die Anerkennung seiner eigenen Individualität seiner in sich geschlossenen „Unteilbarkeit”. Und der Name, mit dem sie das Kind empfängt, bestärkt seine Erkennbarkeit in der Welt. Fehlt der Name, so fehlt ein Teil der Identität.
Gleichzeitig mit der Anerkennung der Zugehörigkeit des Kindes durch die Namengebung geht die erste traumatische Erfahrung des Verlusts primärer Sicherheit einher, des Verlusts der symbiotischen Geborgenheit im ebenfalls abgegrenzten Innenraum der Mutter. Das unabtrennbare Zugleich von angstvollem Schrecken und von lndividualitätsgewinn, das bei der Geburt den Freiheitsimpuls des lebensfähigen Kindes nicht nur zur eigenen Körperhaftigkeit, sondern zur eigenen Geschichte kennzeichnet, beeinflusst im innerpsychischen Raum zutiefst dessen lchwerdung, je nachdem, wie sehr das Kind sich dabei „gehalten” oder alleingelassen fühlt. Diese erste Erfahrung prägt sein sicheres oder sein unsicheres inneres Wissen um sein Ich und sein Selbst, um die Qualität seines unaustauschbaren Selbstwerts. Und es ist diese im Unbewussten gespeicherte Erfahrung einer guten und stärkenden Abgrenzung oder einer nur schmerzlichen und vielfach mangelhaften, die aus den frühesten Beziehungen zur Mutter oder zu einem Mutterersatzobjekt erwächst, die gewissermassen alle nachfolgenden Beziehungen konditioniert, insbesondere jene zum Vater oder zu einem väterlichen Ersatzobjekt. Und ganz früh schon entstehen daraus die bestimmenden Grundgefühle von Sicherheit und Vertrauen, oder von Angst, Verlassenheit und Selbstablehnung, die später als psychische Grundstimmung spürbar sein werden.
Psyche und Körper, Innen und Aussen, bieten dem Kind nicht nur die ersten Grenzen und Grenzerfahrungen, sondern prägen als nicht wählbare Voraussetzung das ganze Leben, sowohl die genetisch codierten und vererbten Eigenschaften – etwa Körpergrösse und Körpergestalt, Augenfarbe, Haar- und Hautfarbe, praktisch alle Körpereigenschaften – wie das im Unbewussten gespeicherte relationale Selbstbild. Doch ein Teil dieser Grenzen ist nicht starr und unverrückbar, sondern ist unterschiedlich veränderbar. Dies gilt insbesondere im innerpsychischen Raum, zu welchem nicht nur die emotionalen, sondern auch die rationalen und intellektuellen Fähigkeiten zählen. Sie sind veränderbar durch Lernen, durch neue Erfahrungen, sowohl im Beziehungsgeschehen wie im Weltbezug, etwa durch realitätsschaffenden Widerstand wie durch unterstützendes und stärkendes Verstehen, vor allem durch die Erfahrung des Angenommenseins, andererseits durch Enttäuschung und Entmutigung, durch Beziehungsverluste und andere lebensbedrohende Traumatisierungen. Dass nicht nur im psychischen, sondern auch im körperlichen Prozess Grenzveränderungen stattfinden, durch Wachsen, durch Älter- und Stärkerwerden, umgekehrt durch Krankheiten, durch den Verlust oder die Einbusse körperlicher Fähigkeiten, durch Abbau und Schwäche, aber auch durch korrigierende medizinische und andere Hilfe, all dies kann durch Erfahrung bewusst werden.
Die körperlichen und psychischen Grenzen haben in erster Linie Schutzfunktionen. Sie schützen – de-finieren (lat. ,,finis” – die Grenze) – das, was die persönliche Norm, das persönliche Mass (lat. “norma” – das Mass, das Winkelmass, die Richtschnur) des einzelnen Menschen ist, seine individuelle .Normalität”. Dass der Begriff 11Normalitätu sowohl im wissenschaftlichen wie im alltäglichen Gebrauch sich nicht auf die individuelle Norm des Menschen bezieht, sondern ein statistisches Durchschnittsmass der Unauffälligkeit bezeichnet, erweist sich als verhängnisvoll. Es leistet jener Gleichschaltung von Menschen mit Industrieprodukten Vorschub, die mit den neuen mikrobiologischen und medizinischen Technologien zunehmend bedrohlicher wird.
Dass unsere Grenzen in erster Linie Schutzfunktionen haben, spüren wir selber deutlich, von der frühen Kindheit an, als warnende innere Stimme, als Gefühl der Scham, der Angst, der Vorsicht und des Misstrauen, kurz des Widerstandes, oder da, wo sie ausgeweitet werden dürfen, als Lust und Neugier, als Tatendrang und als Mut, vor allem als Bewusstsein um unsere Fähigkeiten. Wie wichtig der Respekt der Grenzen ist, zeigt sich bei deren Verletzung und Überschreitung. Denn was wir als Leiden erfahren, ist die von Aussen oder von Innen zugefügte Verletzung oder die mutwillige, rücksichtslose, schlecht vorbereitete oder gar unbefugte Nichtbeachtung oder Überschreitung der Grenzen, jede Form von Missbrauch.
Zusätzliche Beispiele aus Lebensgeschichten können einen Einblick vermitteln, allerdings immer blass bis zur zeitlichen Grenze, die mit dem Aufzeichnen oder Erzählen gesetzt wird.
Ein schmales Buch(11) widerspiegelt die Vielschichtigkeit der Zusammenhänge. Die 1939 geborene Autorin hielt als “Behinderte”, wie sie sich selber bezeichnete, den Rückblick auf Kindheit, Jugend und Erwachsenwerden mit dem Erkämpfen und Durchstehen ihres immer wieder in Frage gestellten Lebens fest, mit den Erschwernissen einer beruflichen Ausbildung und mit den herabsetzenden Vorurteilen bei deren Umsetzung, spürbar mit Klage und Auflehnung, weniger gegen sich selber und ihren Körper, als gegen die von Familie und Gesellschaft geschaffene Entwertung ihrer Besonderheit. Gehörlos aufzuwachsen, gleichzeitig lernhungrig und vielseitig begabt, mit zwei geschickten Händen, jedoch beide ohne Daumen, in der Familie stets dem Vergleich mit den Geschwistern und in der Schule mit den Gleichaltrigen ausgesetzt, als “mangelhaft”, als “Last” oder gar als “Strafe Gottes” bewertet zu werden, sich nicht geliebt, sondern abgelehnt oder knapp geduldet und mit hochmütigem Blick “bemitleidet” zu fühlen, sich der unberechenbaren Macht der Erwachsenen, der Ärzte, Chirurgen und Krankenschwestern ausgesetzt zu wissen, ständig für sich selber kämpfen zu müssen, um sich nicht an der Grenze des Selbstwertes und der psychischen Erschöpfung gegen sich selber zu entscheiden – es ist ein aufwühlender Bericht, der aktuell bleibt. In der abschliessend anklingenden Versöhnung mit den Webmustern, mit den Knoten und Mängeln der genetischen Disposition und des schmerzlichen Daseins wird mit Klarheit verdeutlicht, dass sich für sie die Grenzen des ertragbaren Leidens im Lauf der Erfahrungen verschoben haben, insbesondere dass die früheren Leiden hartnäckiger weiterwirkten, als sie im Moment des Erlebens bewusst waren. Auch dass über das spätere Verstehen des Leidens eine Erkenntnis möglich werden konnte, durch welche die Kraft und der Wert des Überlebens lichtvoll wurde.
Eines Tages meldete sich eine junge Frau aus dem Ausland zu einer Abklärung an, dreiundzwanzig Jahre alt, kurz vor dem Abschluss ihrer Ausbildung als Heilpädagogin, die zweite und jüngste Tochter eines Ehepaars, das seit der Geburt der Kinder an vielen Orten in der Welt gelebt hatte. Was sofort auffiel, war die körperliche Gestalt der jungen Frau, eine mit Kleidern kaum eingrenzbare Körperfülle und eine nach vorn geneigte, sich beschämt ein krümmende Körperhaltung, ein fast konturenloses Gesicht mit wachen und zugleich ängstlichen Augen hinter einer eng anliegenden, nickelgefassten Brille sowie ein kindlich wirkender Mund mit einem schnell bereiten scheuen Lächeln. Als ich sie auf ihren – eher seltenen – Namen ansprach, antwortete sie sofort, der Name sei für sie ein Problem, sie habe ihn nie gemocht, aber sie habe sich nun ein Buch gekauft, in welchem die Bedeutung aller Namen aufgezeichnet sei. Zu ihrer Überraschung habe sie festgestellt, dass viele Eigenschaften, die ihrem Namen zugesprochen würden, mit ihren Eigenschaften übereinstimmen würden. Darauf sagte ich vorsichtig, dass sie also auf dem Weg sei, ihren Namen zu akzeptieren? Ob sie mit dem Namen vielleicht auch einen Weg sehe, sich selber zu akzeptieren? Sie errötete, die Augen hinter Brillengläsern füllten sich mit Tränen, und nicht nur der Blick, die ganze Gestalt schien sich aufzulösen, und sie sagte leise, das sei noch weit entfernt.
Allmählich erfuhr ich, dass der Vater der jungen Frau sein ganzes Erwachsenenleben als Ingenieur und Bauführer auf Risikobaustellen – Kraftwerkbau, Erdgasförderanlagen und ähnliches – in verschiedenen Ländern Afrikas und Asiens gearbeitet hatte, er stehe heute kurz vor der Pensionierung. Die Mutter sei vor acht Jahren gestorben, als C. vierzehn Jahre alt gewesen sei, an Krebs, nach einer – ebenfalls – achtjährigen Krankheitsdauer. Bei ihrer Geburt, die von beiden Elternteilen sehr herbeigewünscht worden sei, habe sich allerdings gezeigt, dass das Kind als Knabe und nicht als Mädchen erwartet worden sei, und zwar so zweifelsfrei, dass ihre Eltern für sie keinen Namen vorbereitet gehabt hätten. So sei sie als Neugeborene während mehreren Tagen ohne Namen gewesen. Schliesslich habe eine Nonne, die im Spital als Säuglingsschwester gearbeitet habe, der Mutter einen Kalender gegeben und sie angehalten, für das Kind einen Namen zu wählen.
Das Grundleiden der jungen Frau ist, in den Anfängen ihrer eigenen Persönlichkeit nicht benannt, nicht „definiert” worden zu sein, wie ein Niemandsland mit ungesicherten Grenzen und dadurch mit völlig unsicherem Eigenmass, mit einer ungesicherten eigenen Norm, mit einer dadurch gefährdeten und prekären eigenen „Normalität”. Ihr Grundleiden ist ein Hungerleiden, psychisch und körperlich, eine unstillbar entgrenzte Sehnsucht danach, komplett zu sein: ausgefüllt und dadurch abgegrenzt, in dieser Abgrenzung spürbar in sich sicher zu sein. All dies sei ihr verwehrt geblieben, obwohl ihre Eltern, wie sie selber sagte, sie sehr geliebt hätten, obwohl auch nach dem Tod der Mutter ihr Vater sie nie im Stichgelassen habe. Täglich rufe sie ihn an, und alles, was sie brauche, erhalte sie von ihm, ob Rat oder Geld oder praktische Unterstützung.
Die Frage, die erst im Lauf einer sorgfältigen Therapie geklärt werden könnte, ist, ob das Übermass an Zuwendung und Fürsorge, das der Vater ihr entgegenbringt, nicht aus der Hilflosigkeit des Mitleids erwächst, das wiederum bewirkt, dass ihr jene Nahrung, nach der sie hungert, vorenthalten bleibt: die Möglichkeit der Eigendefinition, die, weil sie Abgrenzung bedeutet, auch die Trennung von der elterlichen Fürsorge akzeptieren können müsste, sodann den Widerstand als Realitätserfahrung, weil sonst die entgrenzte, nie stillbare leere – die persönliche Undefiniertheit – anhält und immer bedrohlicher wird, wenn sie auf untaugliche Weise mit zu grossen Mengen von Speisen zu füllen gesucht wird.
Eine Kinderstimme am Telefon, Knabenstimme: ,,Meine Mutter ist krank. Sie ist heute im Park gefallen, mit dem kleinen Bruder an der Hand. Eine Frau gab mir Ihre Telefon-Nummer. Wann kann die Mutter zu Ihnen kommen? Heute Abend? Nicht ich komme mit ihr, der grössere Bruder wird die Mutter begleiten. Wo kann er Sie finden? Bitte sagen Sie mir die Adresse, ich schreibe, langsam bitte, Buchstaben bitte.” Der Knabe, der um Hilfe für seine Mutter angerufen hatte, war acht Jahre alt, der „grössere Bruder” zählte zwölf Jahre, die Augen überweit geöffnet, kein Lächeln, nichts kindhaft leichtes, die Stimme klar und trotzdem fast tonlos. Die Mutter mit bitterem, dumpfem Gesicht, auch sie ohne Lächeln, kaum grösser, aber zehn mal schwerer und wie verloren neben dem Knaben, der ihre Seele zu tragen schien wie einen Berg. Er war Kind und gleichzeitig hatte er sich nie als Kind abgrenzen dürfen.
Wie er im Sesselsass, getrennt von der Mutter, doch untrennbar von ihr als ihr Sohn, der ihr als Begleiter und Übersetzer diente, wurde langsam seine Stimmer vor Weinen erstickt. Er schluchzte und weinte, weinte voller Erschrecken, weil er das Weinen nicht anhalten konnte. Und die Mutter? Sie blickte ihn an, selber hilflos klein und herrisch alt, vielleicht zum ersten Mal bewusst der Grenze zwischen ihr und ihrem Kind. Er konnte nun weinen, was sie sich selber nie zugestanden hatte, und eigentlich ebenso wenig ihrem Kind. Mehrmals während des Gesprächs betonte sie, dass das schwere Hautleiden, das sie plage, unmittelbar nach der Geburt des ersten Sohnes begonnen habe, dass damals die Armut überschwer auf ihr lastete, nach dem ersten Knaben noch zwei weitere Knaben plus Ehemann und sie, zusammengepfercht in einem einzigen kleinen Zimmer im niedrigen Haus der Schwiegereltern, in welchem zusätzlich zwei Brüder ihres Mannes mit Frau und Kindern in je einem Zimmer gelebt hätten, ohne Einkommen, täglich kaum zu essen, und gleichzeitig die stete Präsenz der Besatzungspolizei mit Schlagstöcken und Geldforderungen. In der Schweiz sei sie angelangt mit der Hoffnung, besser leben zu können, doch wieder sei sie ohne Sicherheit gewesen, dann der Ausschaffungstermin und die von den Behörden geforderte Rückkehr in die Heimat, aus der sie geflohen war – all die Angst, die den Sohn und die Mutter besetzt hielten. Wie und wo leben, wenn kein Leben möglich erscheint?
Ein neues Asylverfahren konnte eingeleitet und die Ausschaffung durch ein sorgfältiges Gutachten verhindert werden. Es brauchte viele Jahre, bis in der Mutter ein genügendes Selbstvertrauen anwachsen konnte, so dass auch der älteste Sohn sich freischaufeln durfte, wie die jüngeren Brüder es sich unter seinem Schutz ermöglicht hatten.
Auch damals stellte sich mir die Frage, die sich immer wieder stellt: Welche Art von Grenzerfahrung geschieht bei einem Kind, wenn der Lebensimpuls, der sich in der pränatalen Zeit entwickeln konnte, den Lebensbedingungen der Erwachsenen, deren Angst und Noterfahrungen ausgesetzt ist, so dass eine sorgsame Wachheit zur Notwendigkeit des Überlebens wird und ein allzu frühes Pflichtgefühl das spielerisch erkundende, innere Wachstum überdeckt? Geht eine lnfragestellung des lebenswertes, damit des Ich-Wertes des Kindes damit einher? – oder eine Verstärkung? Was bewirken unter diesen Bedingungen früheste Erfahrungen dessen, was .Beziehung” heisst – mit der Mutter, dem Vater, mit Grossmutter, Ersatzmutter, Geschwistern usw. – im Empfinden des Kindes? Kann es sich selber innere Grenzen setzen, um sich zu schützen? Wie und was können spätere Erfahrungen – Veränderungen, Trennungen, Verluste, Ersatzheimat u.a.m. – dazu beitragen? Was heisst Ersatz? Bleibt das Ich intakt, für dessen Seinswert es keinerlei Ersatz gibt? Oder sind Verlust- und Ersatzerfahrungen gar nicht heilbar, höchstens erkennbar und dann – eventuell – akzeptierbar als zeitbegrenzte Geschehnisse? Können sie durch das Erkennen korrigierbar werden, da die innere Zeit im Moment des Erkennens das, was war, in ein neues Licht der Gegenwart versetzt und damit in ein – möglicherweise – helleres, besseres Lebensumfeld, das den Blick auf die Zukunft stärkt?
Hinter allen Fragen, die sich zu den Geschehnissen und Entwicklungen der Kindheit stellen, steht immer die Zeit und das Verhältnis zur Zeit, zur auferlegten und erlebten Zeit wie zur berechneten Zeit, das sich hinsichtlich der kommenden, unbekannten Zeit in Angst oder in Neugier und Zuversicht verdichten kann. Die Frage stellt sich, wo die Grenzen des Ertragbaren und jene des Nichtwissens sind.
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Ich will im Zusammenhang dieser Frage auf Sarah Kofman eingehen, eine der grossen, tragischen Denkerinnen der Nachkriegszeit, eine Psychoanalytikerin, deren innere Zeit an der äusseren Zeitgeschichte zerbrach, die in ihrem Empfinden nicht Vergangenheit werden konnte, sondern als belastende Dauer ihre Lebenskraft verzehrte. Ihre autobiographischen Notizen(12) mit den Fragen nach den überlebensbedingten Belastungen ihres Ich und den damit verknüpften Emotionen vermochte sie erst nach langen Jahren der intellektuellen Flucht in theoretisch-philosophische und zeitanalytische Denkübungen, dann in die mitfühlende Aufarbeitung'” des Berichts von Robert Antelme14 über dessen Erfahrungen sowie nach einer sich über zehn Jahre erstreckenden Psychoanalyse zu formulieren. Die Notizen sind knapp, präzise, aufwühlend, als habe sie bei deren Niederschrift stets die Grenzen des Ertragbaren gespürt.
Mit dem Zeitpunkt von 1942 setzen Sarah Kofman’s Erinnerungen ein. Sie war somit acht Jahre alt gewesen, als ihr Vater Bereck Kofman, von Beruf Rabbiner aus dem polnischen Sobin, in Paris von der französischen Polizei gefangengenommen, der Gestapo übergeben und über Drancy nach Auschwitz abtransportiert worden war, während ihre Mutter, sie und ihre fünf Geschwister auf kaum zählbaren Fluchtwegen in Frankreich hin- und hergeschoben wurden und voneinander getrennt, versteckt, mit anderen Namen versehen knapp überleben konnten. Sarah tauchte zusammen mit der Mutter bei einer Gastgeberin aus dem französischen Widerstand unter, einer Art Ersatzmutter für sie, die sie bewunderte. Es entstand in ihr eine verstörende Spaltung der Mutter-Beziehung wie der Ich-Beziehung, die sich bis ins Erwachsenenalter fortsetzte. Die Erinnerungen an den religiös geordneten, und emotional reichen Jahresablauf vor der nazideutschen Besetzung Frankreichs mit der Erfahrung fester Rollen von Vater und Mutter wurden abgelöst vom plötzlichen Abbruch der festen Zugehörigkeit, von völliger Verunsicherung und vom Gefühl der Fremdheit, von Hunger nach Zugehörigkeit und nach Sicherheit, ohne dass Sicherheit zugelassen worden wäre. Mitten in der Kindheit war es zu einem Abbruch im inneren Zeitgefüge der Kindheit gekommen, ohne dass diese einen anderen Namen gehabt hätte, doch der Name und das, was der Name bedeutete, stimmten nicht überein. Die seelische Spaltung, die dadurch bewirkt wurde, wurde für sie zum grenzenlosen, nicht mehr heilbaren Leiden.
Die beiden Bücher – ,,Paroles suffoquées” und „Rue Ordener, Rue Labat” – schrieb Sarah Kofman mit dem Bedürfnis, das eigene Wissen festzuhalten. Nachdem sie sich eingehend mit Freud und mit Nietzsche befasst hatte, mit der Aussagekraft der Bilder und der Bedeutung von Kunst, ging sie auf knappem zeitlichem Raum auf die Abfolge ihrer eigenen Erinnerungen ein, durch welche die gelebte Zeit der Spaltung und Entfremdung für sie etwas Unauslöschbares und Andauerndes darzustellen begann. Das Gefühl von Dauer wurde durch die kleine Anzahl an Jahren umso bedeutender und gewichtiger. Die Entwurzelung wurde zur entgrenzten Macht der Zukunftsverweigerung.
Ist dies die Erklärung, warum Sarah Kofman kurz nach Erscheinen von „Rue Ordener, rue Labat” aus dem Leben schied? Es war eine rätselhafte Tatsache. Warum war sie so gnadenlos gegenüber der eigenen Lebenszeit? Warum gestand sie sich keinen eigenen inneren Halt zu, warum nicht eine Öffnung aus der aussichtslos eingegrenzten seelischen Erfahrung? Warum brach sie selber den Lebenslauf ab? Hatte sie sich zu sehr in die Theorie des Schreibens versetzt, die sie zehn Jahre vorher mit ihrer Arbeit über E. T. A. Hoffmanns Kater Murr(15) auf das Schreiben der Autobiographie konzentriert hatte, durch welche ein Selbst konstruiert werde, wie sie festhielt, jedoch das Ich verloren gehe? War bei ihr mit dem definitiven, schriftlichen Festhalten der erlebten Zeit ein Abbruch und Abschluss der weiteren, noch möglichen eigenen Existenzzeit geschehen?
Es ist beklemmend, ohne Antwort zu bleiben auf die Frage, warum in ihr die Kraft der kindlichen Neugier auf das Unbekannte der noch nicht gelebten Zeit nicht wieder geweckt werden konnte, warum sie sich selber diese nicht zugestand, sondern an der eigenen seelischen Eingrenzung zerbrach.
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Kinder und junge Menschen, die in jüngster Zeit auf irgend eine Weise Kriege oder Verfolgung und Flucht durchstehen mussten, in Tschetschenien, im ehemaligen Jugoslawien und in Kosovo, in Irak, in Afghanistan, in Syrien, im Libanon, in Gaza, in der Ukraine, im Kongo, in Mali und in weiteren afrikanischen oder nordafrikanischen Ländern, die sich von Diktaturen zu befreien suchten, oder die die nationalistisch oder ethnisch und religiös begründete Gewalt, Vertreibung oder Verfolgung in Kurdistan, in Dagestan, in Somalia, Eritrea in vielen weiteren Ländern, in den palästinensischen Gebieten der Westbank, in Burma und in Iran, in so vielen Ländern der Erde überlebt haben und auf Fluchtwegen in andere Länder gelangt sind, auch hierher in die Schweiz, alle weisen individuelle psychische Verletzungen und Spaltungen auf, zum Teil Leiden wie sie Sarah Kofman in ihrer Kindheit erlebt hatte.
Ein anderes Beispiel mag dieses Leiden zusätzlich veranschaulichen: A. war elf Jahre alt, als er durch eine Sozialarbeiterin an mich überwiesen wurde. Es war einige Jahre nach dem Bosnienkrieg und nach dem Abkommen von Dayton. Der Vater war von wohlhabender Herkunft gewesen, und die Ehe zwischen ihm und seiner Mutter, die aus einer armen Roma- Familie stammte, war aus wirklicher Liebe gegen den Widerstand der väterlichen Familie abgeschlossen worden. Von 1992 bis Februar 1996, das heisst während des ganzen Bosnienkriegs und über diesen hinaus, war A’s Vater in serbischen Konzentrationslagern gefangen gehalten worden und hatte schwerste Folter erlebt. Seine Mutter, die selber vom zwölften Altersjahr an vaterlos aufgewachsen war, durch die gesellschaftlichen Bedingungen und die Armut oft erniedrigt und stets hungrig, ohne Schulbildung, hatte auf ihn stark und furchtlos gewirkt. Während des Kriegs war sie mit dem Kind durch Bosnien geirrt, schliesslich dank eines Hilfswerks nach Deutschland gelangt, ohne dass ihr dort Bleiberecht zugestanden worden wäre. Nach Kriegsende, als sich mit Hilfe des IKRK das Paar in Bosnien wieder fand, jedoch keinen Ort zLeben finden konnte, gelangte es mit dem Kind in die Schweiz und bat um Asyl, doch vergeblich. Der Krieg sei längst zu Ende, war die Begründung der Behörden, im Herkunftsland zu leben sei zumutbar. Schlaflos, unruhig und kraftlos vor Angst erlebten A’s Eltern die Nächte und Tage. Der Negativentscheid des Bundesamtes konnte auch durch ein letztes Rekursverfahren nicht aufgehoben werden, er war definitiv. Wie sich die Ungewissheit und Hilflosigkeit auf das Kind auswirkte, beschäftigte Mutter und Vater nicht.
A. blickte mich durch seine Brille gross an. Er übergab mir eine Zeichnung, die er gemacht hatte: ein von Geschossen durchlöchertes Haus ohne Tür und Fenster, von dem aus ein Weg beginnt und abbricht, mit einem Soldaten an der Seite des Hauses, der ein Gewehr vor sich hält, irgendwo ein Apfelbaum mit breitem Stamm. Was für A. grossen Wert und Sicherheit bedeutete, hatte er nicht mit einem Bild festgehalten, sondern mit Zahlen in kleinen Vierecken. ,,Alles wurde getötet”, sagte er leise, Boby, mein Hund, 1; meine Hasen, 4; mein Sandkasten, Hühner und Kücken und Hahn, 120; Vögel 150, Tauben meine; meine Rinder, 250″ – eine ganze Welt, die getötet wurde, von welcher nur noch Zahlen und Worte übrig blieben, Bezeichnung und Anzahl. Senkrecht neben dem Apfelbaum und neben dem durchlöcherten Haus hatte A. einen Wunsch festgehalten, wie ein Ausrufezeichen. Neben dem Baum stand )eh habe mir einen Terrier gewünscht”, und neben dem Bild des Hauses “ich habe mir noch ein Land gewünscht”.
Mit der Erinnerung an die Wünsche, die unerfüllt blieben, verwies der Knabe auf die Zukunft der Vergangenheit, die zerstört worden war, die er jedoch wach halten wollte. Er wirkte in seiner Ernsthaftigkeit älter als ein elfjähriger Knabe, und zugleich sehr kindlich, hilfesuchend, geprägt durch eine verwirrende Gleichzeitigkeit von grosser Traurigkeit ob der Verluste und ob der Unerfüllbarkeit irgendwie vorstellbarer Wünsche, ob der Verschmelzung von Tod und von Leben. ,,Alles wurde getötet”, sagte er, 11mit Gewehren, mit Bomben. Mein kleiner Hund Boby, von Soldaten erschossen”. Seines Lebens war er in den Jahren des Kriegs sicher gewesen, die Mutter an seiner Seite hatte Sicherheit bedeutet, sie hatte ihn getragen und hatte ihn geschützt. Auch in der Schweiz bedurfte er ihrer Nähe, nicht tagsüber, aber in der Nacht, wenn Albträume ihn aufschreckten und er sich bei ihr einzunisten suchte.
Dass seine Mutter nicht unbegrenzt stark war, dass sie ihm keine Sicherheit und keine Hoffnung mehr vermitteln konnte, verwirrte und belastete ihn zutiefst. Ebenso belastete ihn, dass sein Vater, den er während Jahren nicht gesehen hatte und den er sich vorgestellt hatte wie einen starken Fürsten, ein kranker überlebender war, so krank, dass zwischen den nächtlichen Angstträumen des Vaters und dessen täglicher Angst vor einer erzwungenen Rückschaffung nach Bosnien nicht unterschieden werden konnte. Die Altersdifferenz zwischen Kind und Erwachsenen hob sich ob der sich überkreuzenden Tag- und Nachtangst auf, es gab keine Differenz mehr zwischen A’s Wunschtraum nach Sicherheit und der fehlenden Lebenssicherheit der Eltern. Durch den Entscheid der Behörden, dass sie die Schweiz verlassen mussten, waren sie in ihren Entscheidungsmöglichkeiten wie gelähmt. In deren inneren Bildern gab es kein Zurück und kein Voran, kein Bild einer möglichen Zukunft, nachdem ihnen diese auch in der Schweiz nicht zugestanden wurde. ,,überall baut die Erde an ihren Heimwehkolonien”16 hatte Nelly Sachs geschrieben.
In therapeutischer Hinsicht erschien es mir damals dringlich, das Zeitgefühl des Kindes wie jenes seiner Eltern aus der Angstblockierung zu lösen, die sich auf die Zukunft ausrichtet, diese verdüstert oder unzugänglich macht. Ich versuchte zuerst auf der Menschenrechtsebene eine Korrektur des Asylentscheids zu erreichen. Als auch diese verwehrt wurde und die Zeit vor dem Ausschaffungstermin auf wenige Tage geschmolzen war, blieb nur noch die Möglichkeit, Geld zu beschaffen und eine neue Flucht zu organisieren. Damals war Dänemark ein aufnahmebereites Land. Eine Fahrt durch die Nacht, Telefongespräche mit der Menschenrechtskommission in Kopenhagen, später während Jahren eine – wenigstens telefonische – Fortsetzung des Kontakts. In Dänemark wurde der Familie schliesslich der Flüchtlingsstatus gewährt. Die durchgestandene angstbesetzte Zeit konnte Vergangenheit werden, die Gegenwart wurde erträglich, allmählich öffnete sich der Blick auf die Zukunft.
A. ist inzwischen ein junger Mann, er machte Abitur, spricht Dänisch und Englisch, hat auch seine Deutschkenntnisse aus der Zeit in der Schweiz nicht verloren. Wir hatten immer wieder Telefongespräche, wenn er diese brauchte. Für A. wurde es, anders als für seine Eltern, im Lauf der Jahre spürbar, dass die aktuelle Zeit und die noch bevorstehende Zeit von den belastenden Erfahrungen der Kindheit nicht besetzt werden müssen, ohne dass deren Verdrängung nötig ist. Die noch offene Zeit lässt sich erneut, wie es in der frühesten Kindheit möglich war, in ein Licht versetzen und zugleich in einen Raum, der wieder weit und sicher erscheint. Es ist der Raum der Zuversicht, dass das, was auf unbekannte Weise auf uns zukommt und was Zukunft genannt wird, uns selber zusteht, unserem Denken, unseren Beziehungsmöglichkeiten, unserem Entscheiden und Handeln, dass wir uns weder bedrohlichen Ideologien noch negativen Prognosen der Weltentwicklung mit Ängsten zu unterwerfen haben.
c) Lebensgrenzen
„Der wahre Weg geht über ein Seil, das nicht in der Höhe gespannt ist, sondern knapp über dem Boden. Es scheint mehr bestimmt stolpern zu machen, als begangen zu werden.”(17)
Franz Kafka war 34 Jahre alt, als er im August 1917 einen Blutsturz erlebte und nach der Konsultation mehrerer Ärzte wusste, dass er an einem „Lungenspitzenkatharr” erkrankt war und dass die Gefahr einer Tuberkulose bestand. Dass sich diese zur tödlichen Kehlkopftuberkulose entwickeln würde, war damals nicht vorhersehbar, doch zur Eingrenzung der Gefahr wurde dringlich eine Kur auf dem Land empfohlen. Diese wurde Kafka vom Vorgesetzten bei der Arbeiter-Versicherungsanstalt ohne Zögern zugestanden, und so schrieb er seiner Schwester Ottla, die in Zürau, einem Dorf im nordwestlichen Böhmen, einen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb unter sich hatte. Er bat sie, ihn aufzunehmen. Die acht Monate, die er vom September 1917 bis April 1918 bei ihr verbrachte, bezeichnete er als die glücklichsten seines Lebens, weit weg von den aufwühlenden Kriegsgeschehnissen und von beruflichen Rechenschaftsberichten über Kriegs- und Unfallversehrte oder von anderem Leistungsdruck, weit weg von der Prager Gesellschaft und von den Eltern. Täglich trank er frische Milch und betätigte sich bei ländlichen Arbeiten, etwa beim Holzhacken, wie er mit Genugtuung und Stolz auf einem Zettel notierte.
Das Seil, das er auf seinem Lebensweg knapp über dem Boden gespannt vor sich sah und das er, mit der Gefahr zu stolpern, zu übergehen hatte, wie er zu Beginn seines Aufenthalts in Zürau schrieb, war vermutlich die stets gegenwärtige Grenze der Lebenskräfte, die er in sich spürte, damit die knappe Überlebenschance, die er sich selber zugestand. Drei Jahre zuvor, im Juli 2014, hatte er gegenüber Felice Bauer, in Gegenwart von zwei Zeugen, seine Verlobung endgültig aufgehoben und sich dabei wie in einem aussichtslosen Gerichtsverfahren als schuldig erklärt empfunden. Unmittelbar nachher begann er, das Romanfragment Der Prozess zu schreiben, in welchem er die undurchschaubare und aussichtslose Geschichte des dreissigjährigen Bankangestellten Josef K., dessen undurchschaubare Verhaftung und Verurteilung zum Tod schilderte, die sich über ein Jahr erstreckte (auch Kafka war einunddreissig Jahre alt, als er nach Auflösung der Verlobung den Roman zu schreiben begann) und die mit dessen Tötung mit einem Fleischermesser
ausserhalb der Stadt, bei Mondlicht in einem Steinbruch, durch zwei als Beamte agierende, dem schuldlos Verurteilten aber als Schauspieler erscheinende Unbekannte abschloss:
Unklar war für Kafka in der albtraumhaften Vorstellungskraft, die sein Leben begleitete und die in seinem Werk – wie in diesem Roman – Ausdruck fand, wie die Grenze zwischen Unschuld und Schuld, zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, zwischen Lebensrecht und aussichtsloser Entrechtung zu erkennen war. Die Grenze war vermutlich die Stolperlinie. Klar war lediglich die Hilflosigkeit des einzelnen machtlosen Menschen, des Josef K. wie seiner selbst, der sich der Prüfung und dem Urteil durch eine unbenennbare, unbegrenzt über ihn entscheidende Macht ausgesetzt fühlte.
Wie viel widerspiegelt Kafkas Werk von der Innenwelt zahlreicher Menschen? Geht diese zurück in die Erfahrungen der Hilfslosigkeit des kleinen Kindes, das weder verstehen noch durchschauen kann, weshalb es nicht geliebt, gehegt und gefördert, sondern bestraft wird? Immer wieder bestätigt sich, wie sehr die frühen Erfahrungen die Entwicklung des einzelnen Menschen bestimmen, wie unlösbar nah Körper und Seele vernetzt sind, wie geheimnisvoll sich die Grenzen der Erfahrungen einnisten und wie viel Beharrlichkeit im Wunsch zu verstehen erfordert ist, um diese von den Ängsten zu lösen und mit einem zuversichtlichen Blick zu öffnen, selbst zum Älter- und Altwerden, zum Verlust der körperlichen Kräfte und zur finalen Grenze des nicht mehr abwendbaren Todes hin.
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„Licht / – über allem und allen . / Auch das kleinste Insekt/ wirft seinen Schatten.” (18)
Durch den Schatten mag dem Menschen auf symbolische Weise bewusst werden, dass die körperlich-seelische Lebensgrenze ihm von den Anfängen an inne ist und seine zeitliche Begrenztheit Tag für Tag widerspiegelt. Stets begleitet er seinen Körper, ändert sich beim feinsten Lichteinfluss und bei jeder Bewegung, neben ihm mal links oder rechts, unsichtbar hinter ihm oder vor ihm her, so dass er ihn mit den eigenen Füssen voranschieben muss. Ob für Peter Schlemihl(19) weniger die Versuchung grenzenlosen Reichtums als grenzenloser Lebenszeit ausschlaggebend gewesen ist, seinen Schatten zu verkaufen, bleibt eine offene Frage. Erst durch den endgültigen Entscheid, auf alle vorgegebene “Sichereit” zu verzichten und seinen Schatten wieder zurückzugewinnen, gelang es ihm, angstfrei zu sich selber zu finden und sich mit dem vielfach begrenzten Leben auf dieser Erde zu versöhnen.
Und der psychische Schatten, der ein Leben lang der stumme, dunkle Begleiter eines Menschen sein kann? Ein Beispiel bietet der Einblick in die Geschichte einer knapp sechzigjährigen Frau, die im Rahmen einer Gruppentherapie schildern konnte, wie schwer es für sie gewesen sei, zu ihrem eigenen Wert zu finden, obwohl sie es geschafft habe, beruflich und einkommensmässig erfolgreich zu sein. Sie habe sich stets von einem schwarzen Schatten begleitet gefühlt, gegen den sie sich nicht habe auflehnen dürfen. Zwar habe sie ein erfolgreiches Forschungsinstitut aufgebaut und verfüge über einen Stab von Mitarbeitern, doch trotzdem habe sie stets an Unsicherheit und Selbstzweifeln gelitten. Mit dem Älterwerden habe sich das seelische Leiden noch verstärkt. Schliesslich habe eine Krebsdiagnose sie völlig “an die Wand” gestellt.
Ihre Kindheitsgeschichte? Sie habe sich wenig merken können. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs sei sie sechs Jahre alt gewesen, in einer Kleinstadt mit vier Geschwistern als Zweitjüngste unter streng geregelten Verhältnissen aufgewachsen, mit einer überbelasteten Mutter, die auch die Hemden für ihren Mann und die Kleider für die Kinder selber genäht habe, und einem Vater, der manchmal da und manchmal nicht da gewesen sei, dem die Mutter und die Kinder hätten “dienen” müssen, der bald nach Kriegsbeginn Besitzer einer Transportfirma und nach dem Krieg sogar sehr reich gewesen sei, vor dem sie sich gefürchtet und dem sie zu gefallen gewünscht habe. So habe sie “zu seiner Ehre” Wirtschaftswissenschaft studiert, wobei sie noch während des Studiums geheiratet habe und in eine grössere Stadt gezogen sei. Nach einigen Jahren sei eine erste, dann eine zweite Tochter zur Welt gekommen, gleichzeitig habe sie in der Gesellschaft als “ungewöhnliche Frau” gegolten. Tatsächlich habe sie angestrebt, eine besondere Bedeutung zu erfahren und habe solche leicht erreicht, doch nirgendwo, wo sie als Erwachsene gelebt habe, habe sie sich wirklich wohl fühlen oder gar sich “einwurzeln” können. Ihre Töchter seien nach Übersee gezogen und lebten dort in verschiedenen Städten, von ihrem Ehemann habe sie sich scheiden lassen. Es sei eine Zweckehe gewesen, die irgendwann keinen Sinn mehr gehabt habe. Die Geschwister hätten sich wegen des elterlichen Erbes zerstritten, sie habe sich nicht darum gekümmert. Ihre frühe Geschichte habe sie stets vergessen wollen, insbesondere ihre Vatergeschichte. Nach dem Tod der Mutter habe der Vater noch mehrere Beziehungen gehabt und sei sehr alt geworden, sie habe ihn vor seinem Tod kaum mehr besucht.
Erst die Krebsdiagnose habe sie bewogen, den Weg zu sich selber finden zu wollen. Es sei eine ganz andere Art Forschungsarbeit gewesen als die ihr vertraute, die Frage nach den Ursachen der Angst vor den dunkeln Kellern des Heranwachsens, vor der Geschichte des Vaters und vor ihrer Geschichte als dessen Tochter. Die Arbeit habe sich über Jahre hingezogen, mit Gefühlen der Scham, des Schmerzes und der Wut, allmählich der Befreiung. Die innere Grenze des Ertragbaren sei nicht die körperliche Krankheit gewesen, auch nicht die Operationen und die Chemotherapie mit allen Folgen, sondern die Verzweiflung über die Macht der Schattenwelt, diese jahrzehntelange Verschleierung ihres wirklichen Leidens und ihrer Einsamkeit. Noch immer fühle sie sich innerlich schwankend, doch die körperliche und gleichzeitig die seelische Genesungsgeschichte sei vorangegangen, seit sich die Grenzen zur Kindheit und gleichzeitig jene nach vorn ins Unbekannte geöffnet hätten. Allmählich lerne sie, sich und ihren Körper in den „Jahreszeiten des Lebens”, selbst mit der dunklen Epoche der Anfänge, als Stationen des Überlebens und Lernens zu akzeptieren. Vielleicht werde sie auch lernen, sich nicht mehr vor dem Eindämmern des Lebenslichts zu fürchten? Für sie habe letztlich das dunkle Tabu vor dem Vergangenen den furchterregenden Schatten bedeutet, nicht der Tod.
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Im Sonett 119 fasste William Shakespeare zusammen, was die geheimnisvollen Abläufe vom Kindsein zum Altwerden prägt, die „manch ein Schatten fällt und unterbricht”, mit den Grenzerfahrungen des Aufbäumens und des Zerrinnens der Kräfte: ,,So wie die Wogen roll’n zum kiesbedeckten Strand/ so eilen unsre Stunden an ihr Ziel./ Wetteifernd überdeckt ein jedes Wellenband/ Das vor ihm eilende in stetem Wechselspiel. / Geboren wirst du in ein strahlend Licht,/ erklimmst die Reife dann als dein gekröntes Ziel. / Doch manch ein Schatten fällt und unterbricht/ der Zeit so hoffnungsreiches Gabenspiel. / Die Zeit durchbohrt der Jugend Schwingen,/ schürft, deine Stirn mit Furchen zu durchziehn, / weiss ihre herbe Wahrheit aufzuzwingen./ Kein Halm, der wuchs, kann ihrem Schnitt entfliehn. / Und doch: In Hoffnung habe dies mein Lied Bestand,/ dass es dich preist trotz ihrer grausam harten Hand”(20)
Jedes Lebewesen, selbst jedes pflanzliche, ist dem „Gabenspiel” der Zeit ausgesetzt, das irgendwann endet. So geschah es mit der hochgewachsenen, zweiarmigen Platane auf der kleinen Wiese am See. Sie war meine treue Baumgefährtin, seit ich vor vielen Jahren ins alte Miethaus wohnen kam, wo ich nach wechselnden Unterkünften in der Stadt ein Zuhause finden konnte. In ihrem Schatten am Ufer des Wassers hatte ich ungezählte Male geruht.
Dieses Jahr, zu Beginn des Frühlings, als sich ringsum die anderen Bäume mit neuem Blattwerk zu schmücken begannen, stellte ich fest, wie sehr die Platane gealtert hatte. Noch hoffte ich, dass die spärlichen Blättchen an den zahllosen Zweigen der ausgreifenden Äste grünen und wachsen würden, doch schnell waren sie vergilbt. Beim ersten, noch schwachen Gewittersturm im Frühsommer flatterten sie zu Boden. Mir wurde bewusst, dass mit dem abklingenden Winter der Frühling bei ihr zu wirken versucht hatte, dass jedoch der Spätherbst schon Einzug gehalten und keinen Neubeginn mehr zulassen wollte. Die Erneuerungs- und Wachstumskräfte waren von den Wurzeln bis zu den Spitzen erschöpft, die Zellen ausgelaugt, brüchig und matt. Doch die grosse Platane fiel nicht selber mit Beugen und Brechen, wie Gottfried Keller das Sterben der Eiche geschildert hatte, nein. Modernste Technik kam ihr entgegen.
Frühmorgens war auf einem Lastwagen mit langem Sattelzug ein grosser pinkfarbener Mobilkran angefahren worden, der auf der Wiese vor der Platane abgestellt wurde, hinter diesem ein kleinerer, grüner Kran mit einer Fassklammer. Der pinkfarbene Mobilkran führte seinen Riesenarm mit einer sich öffnenden Klammer wie eine mächtig zugreifende Hand erst zu den stärksten Ästen, ergriff diese, liess eine Säge vorrücken und führte Ast um Ast hoch aufgerichtet, wie ganze Bäume, in grosser Ruhe der grünen Kranklammer entgegen, die jeden ergriff und entweder in einer offenen Mulde auf dem Lastwagen sorgsam deponierte oder auf den Boden legte, wo er von einem jungen Mann mit einer Handmotorsäge zerkleinert, anschliessend wieder hochgehoben und in die Mulde gelegt wurde. So ging der Abbau voran, Ast um Ast, dann von den zwei Baumspitzen her Teil um Teil der zum Himmel ragenden Arme der Platane, dann der breite, mächtige Hauptstamm, aus welchem die zwei Arme auf gleicher Höhe herausgewachsen waren, der jedoch, während er vom Kran festgehalten wurde, mit der Handmotorsäge auf Erdhöhe durchsägt werden musste, in einem auf- und abschwellenden, fordernden und klagenden, stöhnenden Lied. Es wollte nicht enden. Weisse Holzspäne bedeckten die Wiese wie einen Teppich. Dann wurde der letzte schwere Teil des Baumes, der Unterkörper mit dem verbleibenden Rest der Arme, langsam dem grünen Kran entgegengetragen und vor diesem auf der Erde abgesetzt, durch den jungen Mann mit der Handsäge in Teile zerkleinert, die von der grünen Klammer wieder gefasst, hochgehoben und in der Mulde deponiert wurden. Darauf war kein Laut mehr zu hören. Am darauf folgenden Morgen sah ich, dass über dem breiten abgesägten Wurzelteil ein Erdhügel lag, wie ein zugedecktes Grab.
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“Das Frühjahr ist wie ein Herbst,/ ein Abschiednehmen / von allem, was kommt ( … ) Keiner ausser dir kennt die kleine Linie,/ den Strich auf dem Boden,/ den riesigen Strom,/ den du nie mehr/ überquerst.”(21)
So wie beim Baum vor meinem Fenster sind beim menschlichen Älter- und Altwerden die Grenzen der körperlichen Kräfte sichtbar und spürbar. Der zunehmende Abbau und die nicht mehr aufschiebbare Todesnähe – “die kleine Linie, der Strich auf dem Boden” – können nicht vertuscht werden. Es setzt ein Leben im Gegenlicht ein, ein Leben von besonderem Wert, zugleich von besonderer Wertgefährdung, insbesondere angesichts der öffentlichen Klage über die .horrenden” Kosten der Pflege nutzloser, alter Menschen, die in den letzten zwei Jahrzehnten durch die breite Markt- und Mediendiktatur angewachsen ist. Ende Mai 2014 wurde im Rahmen der Generalversammlung von “Exlt” beschlossen, die Hilfe zum „Freitod” alter Menschen zu legitimieren und anzubieten. Diese Tatsache bewirkte in den Alters- und Pflegeheimen, die mir nahe stehen, aufwühlende Auseinandersetzungen. Handelte es sich bei diesem Angebot nicht um eine massive ethische Grenzüberschreitung?
Auf diese wichtige Frage werde ich bei einer anderen Gelegenheit eingehen(22). Heute erscheint mir wichtig, uns einfach auf das Bewusstsein der letzen Lebensperiode zu konzentrieren, auf die Möglichkeiten und Schranken deren Erfahrung, auf Beobachtung und Wissen von Menschen, die uns nahe stehen, auf Ahnen und auf Nichtwissen bei uns selber.
„Du sitzt am Fenster/ und es schneit – / dein Haar ist weiss / und deine Hände – / aber in den beiden Spiegeln/ deines weissen Gesichts/ hat sich der Sommer erhalten:/ Land, für die ins Unsichtbare erhobenen Wiesen – / Tränke für Schattenrehe der Nacht”(23)
Es sind Gedichtzeilen von Nelly Sachs, der 1891 in Berlin geborenen und 1970 in Stockholm verstorbenen Dichterin, die sie schrieb, als sie sich selber in ihrer Spätzeit empfand, weniger an gezählten Jahren, sondern mit den nicht zählbar vielen Lebenszeiten, die sie in sich trug. Das Gedicht, aus welchem ich die ersten Zeilen wählte, schrieb sie in der Zeit nach dem Tod ihrer Mutter, im Februar 1950, beinah zehn Jahre nachdem sie mit ihr aus Berlin hatte fliehen und nach Schweden hatte gelangen können.
Das war am 16. Mai 1940 gewesen, im letzten Moment möglicher Rettung, als Nelly Sachs beinah 49 Jahre zählte. Da ihr Werk aus der Zeit vor der Flucht verbrannt worden war – wie viele Bücher im damaligen Deutschland -, nehme ich an, dass fast alle lyrischen und szenischen Dichtungen, die von ihr vorliegen und die auch mit zahlreichen Literaturpreisen geehrt worden sind – 1966 gar mit dem Nobelpreis-, Mitteilungen aus der „Spätzeit” dieser Dichterin sind, deren Sprache so feine Schwingungen hat, als würde sie selber vor uns sitzen und leise die Bilder schildern, die sie bewegen.
Mit den Zeilen aus einem ihrer Späten Gedichte, die wir vor uns haben, sprach Nelly Sachs die Mutter an, mit welcher sie die Wohnung im Süden Stockholms, die ihnen zugeteilt worden war, bewohnt hat und die sie nach deren Tod weiter bewohnte, bis sie selber aus Krankheitsgründen den Spitalaufenthalt brauchte. Dort starb sie am 12. Mai 1970. Ich war damals dreissig Jahre alt, noch ohne Studienabschluss, unterrichtete Sprachen und übersetzte Bücher, hatte Zwillinge geboren – Knabe und Mädchen -, dann ein kleines Mädchen, das zur Welt kam und nicht leben konnte, dann einen Knaben, und war in Erwartung des fünften Kindes, voller Hoffnung, es komme zur Welt ohne Beschwerden und trage in sich eine starke eigene Kraft fürs Leben. Was meine Kräfte betraf, war ich für mich selber in schwindender Zuversicht, fühlte mich alt, da die erlebte Zeit in mir wie ein dunkles Gemenge wirkte, das, wie ich zunehmend spürte, sich zur “Ellipse” formte, für deren Farben und Klarheit ich die Verantwortung trug.
“Mutter”, hatte Nelly Sachs geschrieben / 11( ••• ) umzogen von göttlicher Ellipse/ mit den beiden Schwellenbränden / Eingang/ und / Ausgang / Dein Atemzug holt Zeiten heim/ Bausteine für Herzkammern/ Und das himmlische Echo der Augen … / Leise vollendet sich / die schlafende Sprache/ von Wasser und Wind im Raum deines/ lerchenhaften Aufschreis. “(24)
Bedurfte die “Herzkammer” meiner Kinder, ja, bedurfte meine eigene nicht der “Baustelne”, die sicherer waren als diejenigen, die ich bieten konnte? War die Wohnung, in welcher Nelly Sachs “die Zeiten heimholen” konnte, ein Symbol von ähnlichem Wert wie die Sprache, in die sie sich flüchtete? Was heisst .Alter”? Welche Jahre sind die “späten Jahre”? Was bedeutet “spät”?
Es war meine Grossmutter gewesen, die mir häufig gesagt hatte, ich solle mich “rechtzeitig auf den Weg machen, damit ich nicht zu spät komme”. Sie, die im Elsass zur Welt gekommen und aufgewachsen war, in Armut und ständiger Unsicherheit, sowohl was den Alltag wie was die Zukunft betraf, die noch vor dem Ersten Weltkrieg in die Schweiz gelangen konnte, meinen Grossvater heiratete und meinen Vater gebar, dann weitere sechs Kinder, während ihre männlichen Familienangehörigen an der Front und die weiblichen, mit Ausnahme einer Cousine, an den Folgen der Spanischen Grippe starben, sie wusste, dass es eine ständige, kaum erfüllbare Aufgabe ist, den Rhythmus der ungleichen Zeiten zu koordinieren und Zeitraster einzuhalten, in denen die berechnete und vorgegebene Zeit mit der eigenen, inneren Zeit in einem ständigen, nagenden Konflikt stehen. “Zu spät sein” hiess nach ihrer Erfahrung “zu kurz kommen”. Es wurde als eigene Verantwortung bewertet, schon dem Kind gegenüber, wenn ein vorgegebener Zeitablauf nicht durchgeführt oder nicht eingehalten werden konnte, vielleicht weil Hindernisse im Weg standen, vielleicht auch weil ein eigener Widerstand mitwirkte oder weil das Zeitgefüge – das innere und das äussere – einander blockierten. So geschah es immer wieder, dass ein Weg mir überflüssig erschien, als unnütz verbrauchte Zeit, dass ich einen anderen zu gehen wünschte, doch dass ein Streben spürbar wurde, nochmals zur Wegkreuzung zu gelangen, vielleicht rückwärts zu gehen und anders zu gehen, doch ständig hiess dies in meiner Empfindung, dass die Zeit schrecklich begrenzt war, da die Zukunft vorweg Vergangenheit wurde, so dass ich mich in der Kindheit und Jugend wie atemlos fühlte.
“Zu spät sein” konnte heissen, dass eine Türe sich nicht mehr öffnete, wenn ich an sie gelangte, hiess vielleicht Selbsttäuschung wegen der Hoffnung, die ich auf dem Weg zwischen Tagen und Nächten und Jahren wie einen Motor in mir wach zu halten suchte, aber Hoffnung worauf? – auf eine zeitlose Zeit? Auf Glück? War Zukunft ein blasser Traum? Und das Ziel der Rechtzeitigkeit? Ein Altwerden? – ein Geborgensein? All dies war eine Warnung wegen des Übermasses an Zeithunger, der ungestillt blieb. Meine Mutter, die ihren erstgeborenen Sohn verloren hatte, bedurfte meiner steten Tätigkeit, als ich ein Kind war, um die Trauer nicht zu vergessen. So empfand ich mein Leben eingegrenzt von vielerlei Pflichten und Dringlichkeiten, doch nicht ohne Sinn und Zufriedenheit.
In der Kindheit konnte ich freie Zeit beanstanden, wenn ich mich bei meiner Grossmutter befand, und trotzdem kannte ich sie kaum. Um freie Zeit zu haben, bedurfte es der Flucht, wie mir schien. Einmal, ich erinnere mich, lag ich unter einem Baum, ich wusste nicht wo, jenseits der Schweizer Grenzen, die Grillen zirpten, den Wind spürte ich leicht durch die Blätter wehen. Neben mir lag im Gras der grosse Wächterhund, dessen Kette ich von der Hauswand gelöst und der mich durch die Wiesen mit sich gerissen hatte, ungehemmt atmend und glücklich-erschöpft, da ihm nie zuvor Freiheit zugestanden worden war. Ich war ein Kind damals, noch vor der Schulzeit, ich spürte in mir weder Alter noch Angst.
Irgendwann tauchte einer der Grossonkel auf, packte mich hart an der Hand und den Hund an der Kette. “Spät ist es, Abend”, brummte er “Seit Mittag musste ich den Hund und dich suchen.” So wurde ich zurückgeführt ins Grosselternhaus und bekam an jenem Abend kein Abendbrot. Der Hund wurde wieder mit der Kette an die Mauer gefesselt. Wir hatten nicht nur die Grenze des Erlaubten, sondern auch die Grenze des Landes, in dem wir lebten, sorglos überschritten. Es blieb eine Freundschaft zwischen dem Hund und mir, auch eine Art Übereinkunft mit den Grosseltern. Obwohl sie mir wenig erklären konnten, schien mir, dass sie spürten, was die Freiheit mir bedeutete, als seien wir ähnlich alt. Eventuell war das Pflichtengehäuse gesellschaftlicher Kindheitsregeln ihnen fremd geworden. Oder bedeutete sowohl ihnen wie mir das Leben das Nicht-Vorhersehbare, das Nicht-Absehbare, so dass ein Vertrauen in eine geheime, unbegrenzt wirkende Kraft uns trug, und die Abhängigkeit von anderen Menschen – jene vom finsteren Bruder-Schwager-Grossonkel – ähnlich empfunden wurde wie jene vom Wetter?
Was heisst alt werden und alt sein? Obwohl ich an Jahren allmählich alt bin und mehrere Lebensgrenzen erlebt habe, will ich nochmals eintauchen in das Zeitempfinden, wie es in der Kindheit wach war. Als 1948, nach Kriegsende, meine Eltern erstmals wieder ins Ausland gefahren waren, nach Mailand, dann ans Meer und nach Rom, und ich sie vermisste, stieg ich eines Morgens den Hügel hinunter, um Besorgungen für den Haushalt zu erledigen. Es war zu Beginn des Sommers, die erste Ferienwoche in der ersten Schulklasse. Da sah ich meine Mutter auf der anderen Seite der Strasse stehen, zurückgekehrt nach, wie mir schien, unendlich langer Zeit. Ich lief über die Strasse hinweg ihr entgegen, ohne im geringsten zu achten, ob es nötig sei zu warten, wurde von einem Auto überfahren und aufs schwerste verletzt, war in der Folge ohne Bewusstsein, dann mit einem Bein wie an einen Schragen gehängt, bewegungslos, nur noch beschäftigt mit meiner inneren Welt. Als ich mich nach Monaten im Spital wieder zu Hause befand, fühlte ich mich alt wie die ältesten Menschen, die ich kannte. Eine Zeitgrenze war hinter mir. Gehen und lachen lagen weit zurück oder standen mir nicht mehr zu.
Da baute mir ein Knabe aus Wien, der sich bei uns von Krieg und Hungersnot erholte, eine Seifenkiste, mit welcher er mich die steile und steinige Strasse neben dem Haus hinunterfahren liess, dann mich lehrte, gestützt auf die Seifenkiste, Schritt für Schritt wieder gehen zu lernen. Irgendwann ging ich wieder und fand die Rückkehr ins Leben.
Für mich als Kind hatten “spät” und “alt” besonderen Wert. Unter der Bettdecke mit einer kleinen Taschenlampe zu lesen, bis von einem Turm, der nicht nahe stand, zwölf dunkle Klänge Mitternacht anzeigten, als gälte die Mahnung mir, dem Kind, das nicht schlief. Oder zu später Stunde zu hören, dass Besuch ins Haus kam, ein Freund meines Vaters, mit welchem sich Gespräche stundenlang fortsetzten, hinter geschlossener Tür im Raum nächst der Eingangstür, der Herrenzimmer hiess. Oder zu hören, dass die Hebamme eintraf, die hinter der Wand, die mich vom Elternzimmer trennte, mit meiner Mutter sprach, bis irgendwann ein leises Weinen ertönte und ich am Morgen erfuhr, dass eine Schwester zur Welt gekommen war, einmal ein Bruder.
Ist es merkwürdig oder nicht, dass “spät” und “alt” in deren Bedeutung auch vernetzt waren mit ,,früh”? Was im Gegenlicht wahrgenommen wird, ob in der Abenddämmerung, ob im Morgendunst, ist Grenzerfahrung von flüchtigem Zauber. Schlaflosigkeit oder Fieberträume ermöglichten die Vernetzung, manchmal war es Angstverklammerung, häufig aber Eigenwilligkeit und Wissensdurst, immer die Ahnung, dass zwischen Leben und Tod ein schmaler Pfad ist. Leben bekommt so den Wert des Morgengeschenks.
Eine Erinnerung? Früh morgens erwachen, die Gräser unter glitzerndem Tau erleben und die ersten Vogelrufe hören, an der Hand des Grossvaters gehen, der selber kaum sprach, mich neben ihn auf eine Bank setzen, nachdem er mit der Sense das Gras geschnitten hatte, und warten, bis er mit langsamen Schritten wieder heimwärts ging. Oder am Freitagmorgen vom Duft des Brotes erwachen, das die Grossmutter buk, und am Tisch in der Küche auf das knusprige kleine Brot warten, das sie auf besondere Weise für mich geformt hatte, dann zuschauen wie Laib für Laib, in Tücher gehüllt, in einer Nebenkammer im oberen Stockwerk in eine Truhe gelegt wurden, um für die Woche zu reichen.
Was ich damals empfand, blieb gespeichert bis heute, auch während Lebensetappen, die in dunkeln Tunnels durchschritten werden mussten. Gespeichert blieb die Nähe von Kindsein und Altsein, die einem Strickwerk gleicht in unterschiedlichen Farben, mit Faden mustern hinauf und hinunter, ständig verstrickt. Ist eines leichter, eines schwerer, beide anders und gleich? Für die Lebensetappen gibt es weder im Erleben noch im Rückblick zeitliche Grenzen. Im Moment der Gegenwart werden sie gleichzeitig und zeitlos.
Und heute? Wieder drängt sich Erinnerung vor und mischt sich unter die aktuellen Aufgaben und Belastungen, die Erinnerung an Janka K. Sie stand mir nah, aus dem Warschauer Ghetto gerettet. Mit sechsundachtzig Jahren starb sie wie ein erschöpftes Vögelchen. Sie hatte weder Haus noch Enkelkinder wie meine Grossmutter, aber ein Zimmer für sich, auch eine kleine Badeküche, ein Bett mit einer Sommerdecke und einer Winterdecke, sie hatte einige wenige Fotos und Dokumente, drei Lampen, Gläser und Teller, zwei wacklige Tischehen aus Metall und einen starken Tisch aus Holz, einen alten Drehsessel, auf welchem sie sass und sitzend schlummerte, während die Zeit zerrann. Ein Fenster war vor ihr, mit dem Blick auf die Dächer von Zürich und auf die Wolken, die am Himmel vorüber glitten, manchmal wie Herden von Schäfchen, manchmal wie wandelnde Berge.
In Warschau hatte sie Jura studiert und Gedichte geschrieben, in der Schweiz als Übersetzerin gearbeitet, bei der Fremdenpolizei und privat, immer bewegt vom Wunsch, Menschen aus Polen beim Gesuch um Asyl zu unterstützen, jahrzehntelang ohne Honorar, aber mit einem wachsenden Netz von Frauen und Männern, die ihr nahe blieben. Daran dachte sie, wenn sie im Sesselsass, Bilder wurden wach und bunt, in welchen sie sich selber sah, intensiv und stolz, auch Bilder von den Kindheitsjahren in Warschau, dann von Vorlesungen im Ghetto in Medizin, Biologie und Psychologie. Eng sassen die Menschen nebeneinander, lauschten und lernten, sie, die überlebte, und viele, die nicht mehr lebten. Wissen galt als Gegenkraft gegen die Verzweiflung. Doch glitten zugleich, wenn sie von ihrem Sessel in die Wolken blickte, aus anderen Bildern Wehmut und Trauer über sie herein. Sie sah die Eltern, die Freundin Ejgha Jochelson, Kinder aus dem nahen Umkreis und viele Menschen mehr, wie sie an die Sammelstelle gejagt, auf die Lastwagen gestossen und abgeführt worden waren, einige, die schon vorher irr geworden waren oder gestorben waren vor Hunger.
Als Janka K. in jeder Hinsicht sehr hilfebedürftig wurde, auch die kleinen haushälterischen Aufgaben nicht mehr selber erledigen konnte, fragte ich sie, ob sie einverstanden wäre, in ein Pflegeheim umzuziehen und dort umsorgt zu werden. ,,Auf keinen Fall”, war ihre Antwort, mit unmissverständlichem Ton. Seither kam dreimal täglich eine Betreuerin von Spitex zu ihr. Auch ihr Arzt, dessen Praxis im gleichen Haus war, in welchem sie im Dachstock lebte, konnte stets gerufen werden, eine Nachbarin auf der gleichen Etage schaute oft vorbei, ein Paar aus dem polnischen Kreis besorgte ihre Buchhaltung, und täglich, wann immer möglich, besuchte ich sie und brachte ihr mit, was sie brauchte und was sie freute, manchmal Blumen, manchmal frisches Brot oder ein Fläschchen Wein, immer meine Zeit. Ich setzte mich in ihre Nähe. ,,Hier ist mein Ort, mein Raum”, sagte Janka K. Was hiess „ihr” Raum?
Alles, was ihrem persönlichen Lebensmassstab und ihren Bedürfnissen entsprach, konnte Janka K. in diesem Raum geniessen, obwohl ihr Körper nur noch Schmerz war, Knochen, Gelenke, Lungen, Herz und Kopf, alles Schmerz, gebrochen, entzündet, vielfach krank, mit Wasser angefüllt, obwohl auch das Zeitgefühl schwand und oft, wenn ich abends zu ihr ging, sie lächelnd fragte, ob ich schon gefrühstückt habe. Auch waren es die gleichen Geschichten, die sie nicht losliessen und die sie immer wieder erzählte, als sei es das erste Mal. Nelly Sachs hatte festgehalten in wenigen Zeilen, was Janka erlebte und ich mit ihr:
,, … im Alter ist alles ein grosses Verschwimmen/ die kleinen Dinge fliegen fort wie die Immen./ Alle Worte vergasst du und auch den Gegenstand./ Und reichtest deinem Feind über Rosen und Nesseln die Hand.”(25)
Oft wollte sie weder Geschichten erzählen noch klagen, nur Weisheit austauschen. ,,Angst ist ein schlechter Berater”, sagte sie fast täglich, erinnerte sich dabei an den Vater, der ihr dies vorgelebt hatte, und blickte mich an mit Glanz in den Augen. Oft fasste sie leicht meine Hände dabei und hielt sie fest. 11Wenn nur keine Träume wären, die mag ich nicht, keine Träume mag ich”, sagte sie. Eines Tages aber erzählte sie erstmals einen guten Traum. Sie hatte Ejgha gesehen, die Freundin, die Warschau nicht überlebt hatte, ganz nah, als lebte sie wieder.
Tage und Nächte waren für sie gleich wie ein langer Abend. Aufzeichnungen von Robert Walser fielen mir ein, als ich einmal von ihr wegging. Auch Erinnerungen an meinen Vater, der, als er so alt war wie Janka K., ebenfalls die Abendstimmungen liebte, das himmelvergoldende, langsam verblassende Licht. Walser hatte in einem kleinen Text zum Abend festgehalten: ,,Einige Helligkeit war am Verschwinden, war noch da, hauchte und schwebte noch da und dort herum. ( …. ) Alles war so still, lautlos, freundlich-nachbarlich, gut und gross. Ich wünschte, dass die Zeit zwischen Tag und Nacht, die schöne Zwischenzeit, die liebe, schöne Abendzeit ewig, ewig andauern könnte. Eine Ewigkeit lang Abend. Weiter ging ich. ( … ) Da kam ich über die Brücke.”(26)
Über welche Brücke? Die Brücke ist der Schlaf, mit welchem Robert Walser, Nelly Sachs, meine Grosseltern, mein kleines Mädchen Josephine, mein Vater, meine Mutter, Janka K., ich selber, jede und jeder von uns das andere Ufer – vielleicht den nächsten Morgen, oft nur die nächste Stunde – in der Besonderheit der eigenen Lebensdauer erreichen konnten oder können. Was „früh” und “spät” bedeuten, wird spürbar in der Klarheit und Intensität des Gegenlichts, das in flimmernden Dunst übergeht oder in Dunkelheit. Irgendwann ist es der letzte Schlaf. Walter Vogt”, ein Arzt und Schriftsteller, notierte in seinem Tagebuch, das unter dem Titel Später Sommer erschien: ,,Alles altert, auch die Sonne, auch der Wind. An einem Nebelmorgen hocken die Möwen auf dem Steg, mit ihrem novemberlichen Schrei. Selten genug zerreisst ein Reiher “das Porzellan des Abends” mit seinem krächzenden Ruf.
Vor wenigen Jahren waren die Reiher häufiger, sassen öfter nebenan, auf einem bestimmten Bau: dort hatten einmal Milane ihren Horst gebaut. ( …. ) Alle altern, Möwen, Reiher, Enten. Es altert der Mensch, es altert die Natur. Von den kleinen Singvögeln sagt man: was im folgenden Jahr in denselben schier unendlichen Schwärmen über dieselben Pässe zieht, ist, im Schnitt, immer schon die nächste Generation. Kleinere Vögel altern rascher als grosse. Junge Menschen altern schneller als ältere. Erst Greise altern wieder mit atemberaubender Geschwindigkeit, so dass man es sieht. ( …. ) – Vorgänge, die nicht rückgängig zu machen sind”(28)
Zum wichtigsten gehört in den späten Jahren, dass nicht Angst die wachsende Hilfebedürftigkeit und Wehrlosigkeit beherrscht, dass der Mensch in Räumen, zuletzt in einem Raum leben kann, in welchem, gemäss dem Gedicht von Nelly Sachs, ,,die Zeiten heimgeholt” werden können, welche die „Bausteine der Herzkammern” sind. Dass der Raum selber gewählt werden kann, in welchem sich der Blick auf den Abend richtet und im Gegenlicht den nächsten Morgen ersehnt, so wie ein Vogel den Ast selber wählt, auf welchen er sich setzt für die Nacht.
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- Vorlesung
Grenzen im menschlichen Zusammenleben
„Alle landmessenden Finger / erheben sich / von den Staubgrenzen” … (29)
Was im Innenleben des Individuums von der frühen Kindheit bis ins hohe Alter auf vielfältige Weise als Grenzerfahrung erlebt wird, bestätigt sich auch im öffentlichen Raum in allen Zusammenhängen menschlichen Zusammenlebens. Nichts, was mit „Grenze” zu tun hat, ist trivial.
Wenn wir uns selber sagen hören, dass wir mit der zu leistenden Arbeit oder mit körperlichen Schmerzen „an unsere Grenzen stossen”, betrifft es das psychische und körperliche Kräfteverhältnis, das durch das Zusammenleben mit anderen Menschen, durch Existenz- und Arbeitsbedingungen geprägt wird. Oder wenn wir zu verstehen geben, dass wir uns „grenzenlos ärgern“, geht es um das emotionale und moralische Verhältnis zu Grundwerten und Erfahrungen, die durch kulturelle und rechtliche Bedingungen und Regeln beeinflusst werden. Oder wenn wir klar vermitteln, dass wir uns „ausgegrenzt fühlen”, ist das gestörte oder verletzte Verhältnis gemeint zwischen dem individuellen Bedürfnis nach Zugehörigkeit oder nach gerechter Partizipation, und dem Machtverhalten des Kollektivs.
Und wenn wir uns an die Berliner Mauer erinnern, die Mitte August 1961 als unüberwindliche Grenze zwischen Osten und Westen gebaut wurde, und an den Freudentaumel, als diese am 9. November 1989 gebrochen wurde, oder wenn wir an den über 3’144 km langen Grenzzaun zwischen den USA und Mexico denken, der 2006 unter George Bush mit dem Sicherheitszaungesetz noch um mehr als 1000 km verlängert wurde und der die Verzweiflung und den Tod Tausender von Menschen bewirkt hat, oder wenn wir uns der aktuellen Ausgrenzung der palästinensischen Bevölkerung von ihrem Land durch die 759 Kilometer lange Mauer sowie durch die Besetzung der Wohngebiete durch die Siedler im Westjordanland bewusst werden, oder wenn wir lesen, dass Ungarn nun seine Grenzen zu Serbien für Flüchtlinge zumauert so wie die Türkei ihre Grenzen zu Bulgarien, oder dass im französischen Calais zur Verhinderung der Einwanderung von Flüchtlingen nach England ein vielfacher Hochsicherheitszaun errichtet wurde, so wie einer im marokkanischen Melilla besteht gegen die Überquerung der Meerenge von Gibraltar, oder dass ein Teil der Schweiz fordert, ihre Grenzen mit Militär vor Flüchtlingen zu sichern, oder dass die Sprachgrenze – der „Röstigraben” zwischen der deutschsprachigen und der französischsprachigen Schweiz die nicht übereinstimmenden Resultate bei politisch wichtigen Volksabstimmungen bewirkt, oder dass die neuen Gesetze im Asyl- und Ausländerrecht die Grenzen völkerrechtlicher und menschenrechtlicher Ethik sprengen, so wird immer mit Erschrecken das verletzbare Verhältnis zwischen dem eigenen politischen Denken und der massiven politischen Entscheidungsmacht – oder moralischen Gegenmacht – bewusst, in welchem die Bedeutung von Grenzen mit dem Zwiespalt zwischen „Sicherheit” und Ausgrenzung, zwischen Recht und Unrecht einhergeht. Die Begrenztheit der Demokratie infolge der medialen ideologischen Betörbarkeit der Masse sowie der Macht von Kapital und Wirtschaft ist für viele Menschen eine erschreckende Grenzerfahrung, der gegenüber sie sich hilflos fühlen.
Ich möchte daher auf die Grenzen zu sprechen kommen, die das kollektive Leben im privaten und im öffentlichen Raum regeln. Sie betreffen das Leben innerhalb von Familien, das Leben von Paaren, das Leben innerhalb von Nachbarschaft, von religiöser oder politischer oder beruflicher, künstlerischer, sportlicher oder anderer Gruppenzugehörigkeit, sie betreffen die Schulen und Universitäten, die Arbeits- und Anstellungsbedingungen, das Verhältnis der Geschlechter und der Generationen unter einander, jenes zwischen Erwachsenen und Kindern und jenes zwischen „Einheimischen” und „Fremden”, die Volkszugehörigkeit und das Zusammenleben innerhalb von Gemeinden, Kantonen und Staaten, das Zusammenleben auf der Welt. Sie betreffen jedes soziale und politische Verhältnis, jede Art von System im Bereich von Regeln, die für alle gleich gelten sollten, dies jedoch nicht tun, von Gesetzgebung und von Umsetzung von Gesetzen, von Gerichts- und von Strafverfahren, von Krieg und Frieden. Sie betreffen ebenso die Benutzung des Bodens und der Kräfte der Natur, der Luft und des Wassers, die Fragen von Besitz und Eigentum, von sozialer Verpflichtung gegenüber Armen, Heimatlosen und Kranken. Es geht dabei um Verhältnisse zwischen menschlichen Grundbedürfnissen, Grundrechten und sozialen Regeln, um zugestandene oder nicht zugestandene politische und zivile Rechte und denen entsprechende Pflichten, um Gebote und Verbote, die für alle tragbar sein sollten, um Gesetze und um übergeordnete ethische Normen. Jedes Verhältnis – schon das Verhältnis des Menschen zu sich selber – beruht auf einem Ermessen und Respektieren dessen, was zulässig und was nicht zulässig ist, was ertragbar und was nicht ertragbar, was lebensstärkend ist oder was Schaden und Leiden bewirkt: dazwischen sind Grenzen.
a) Grundbedürfnisse, Regeln, Gebote und Verbote, Rechte und Pflichten
„Aux yeux des hommes, rien n’ existe hors du cadre. Je te conseille de briser le cadre.”(30)
Möglicherweise sollte ebenso angeraten werden, den Rahmen zu achten? Wie unterscheiden sich „Rahmen” und „Grenze”?
Ohne Zweifel ist jede Empfehlung und jeder Rat durch subjektive Erfahrungen geprägt und richtet sich auf einen Zweck aus, der wiederum Folgen nach sich zieht. ,,Man hüte sich,/ aus den Schranken/ und Unzulänglichkeiten/ des eigenen Denkens/ Massstäbe zu schneiden/ für die Welt;/ aus den Massstäben / und Unzulänglichkeiten/ der Wekt / Schranken zu zimmern/ fürs eigene Denken. “(31)
Um die Bedeutung der individuellen und kollektiven Grenzen und Grenzerfahrungen zu verstehen, ist es nützlich, deren Bedeutung mit anderen Grenzen zu vergleichen. Die gebräuchlichste und – vordergründig – unproblematischste Verwendung von Grenzen geschieht im Bereich der Räume, ob es sich um die Wände und die Schwelle zwischen dem Innern und dem Äusseren eines Zimmers, einer Wohnung oder eines Hauses handle, oder um die Abgrenzung privater Grundstücke durch einen Zaun oder um die Abgrenzung öffentlicher Territorien durch deren Benennung, um Quartier-, Dorf- oder Stadtgrenzen, um Gemeindegrenzen, um Kantons- oder Landesgrenzen. Diese Grenzen machen deutlich, dass die Menschen das unabgegrenzte kollektive Leben, das offene In-der-Welt-sein schwer ertragen, dass sie abgegrenzte Räume brauchen, nicht nur private Räume, sondern auch politisch definierte öffentliche Räume, die zu betreten oder zu bewohnen es eines besonderen Rechts oder einer besonderen Genehmigung bedarf, die eine Zugehörigkeit voraussetzt oder die bewilligt, erworben oder erkauft werden muss, die mit einer besonderen Identität einhergeht, die eventuell durch „Identitätspapiere”, Pässe, Geburtsscheine, Strafregisterauszüge, Quittungen und andere Dokumente bestätigt werden muss. Die Abgrenzung und Eingrenzung sowohl des privaten wie des politischen Raums, auch des nationalen, hat die Bedeutung eines Rahmens, der in erster Linie der Sicherheit und der Ausgrenzung dienen soll. ,,Sicherheit” wird beinah ausschliesslich durch Bilder von Bedrohungsszenarien definiert, die sich aus der Angst vor dem Andern und dem Anderssein, aus dem Vorbehalt und Misstrauen gegenüber Differenz und Differenzen konstituieren.
Differenz wird mithin in erster Linie benötigt und benutzt, um Identität zu konstruieren. Derweil beruht die Differenz auf der Individualität jedes Menschen, das heisst auf dem nicht austauschbaren Wert seiner Besonderheit. Jede Besonderheit geht mit dem Ich-sein und dem Subjektsein einher, das in den Beziehungsstrukturen zum Du wird, dadurch zum Objektsein, ohne den Wert des Subjektseins einzubüssen. Diese Tatsache ist für alle Menschen gleich. Sie beinhaltet die Würde des Menschseins.
Individualität kann daher wie ein fester „Besitz” von persönlichem Wert und von besonderen Eigenschaften verstanden werden, als untrennbare Besonderheit des Menschen in der Zugehörigkeit zu sich selbst, zu seinem Ich, das gleichzeitig als Du angesprochen wird, ersehnt und liebenswert ist, weiblich oder männlich, und zu einem Wir gehört, einen Namen und einen unverwechselbaren Körper hat, Schweizerin/Schweizer oder Schwedin/Schwede oder Somalierin/Somalier, Gärtner/Gärtnerin oder Arzt/Ärztin oder Kellner/Kellnerin und noch vieles mehr, wer immer ein Mensch ist, ist in seinem So- und Dasein von unverwechselbarer Einzigartigkeit, Besonderheit und Bedeutung: ,,Qodlibet ens est unum, verum, bonum”, Was seit Augustinus über die Zeit der Scholastik bis zu Kant(32) und seinen philosophischen Zeitgenossen Anlass zu Auseinandersetzungen im Bereich der transzendentalen Analytik bot, wurde in neuerer Zeit zunehmend in den Bereich der existenz- und sozialphilosophischen Erkenntnislehre und Ethik einbezogen, letztlich auch in den politischen Bereich der Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945, die die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 beinhaltet.
Die Individualität des Menschen, die sich von jeder anderen Individualität abgrenzt und unterscheidet, kennzeichnet sich jedoch nicht nur durch Besonderheit aus, sondern ebenso durch grundlegende Bedürfnisse, die kaum allein gestillt werden können. Jeder Mensch bedarf gleichzeitig der anderen Menschen, deren Zuwendung, der körperlichen Fürsorge sowie der geistigen und seelischen Unterstützung. Jeder und jede bedarf der Nähe und der Achtung, der Ordnung, des Schutzes und der Sicherheit, der Möglichkeit von Bildung, von Arbeit und von gerechtem Lohn, der Anerkennung von Freiheit und Würde. Doch ebenso ist er/sie jedem anderen Menschen gegenüber zu Wohlwollen, Anerkennung und Achtung, in irgend einer Form auch zu Unterstützung verpflichtet, und sei es zu einem Gruss oder einem Lächeln. Die persönlichen Grundbedürfnisse jedes Menschen entsprechen den gleichen Grundbedürfnissen jedes anderen Menschen. Deren Anerkennung geht den Grundrechten voraus, wie Simone Weil in ihrem letzten Werk(34) ausführlich begründet hat, das sie im Auftrag der französischen Exilregierung in England kurz vor ihrem Tod, mit 34 Jahren, abschloss.
Wenn nicht von Individualität, sondern von Identität die Rede ist, die durch Identitätspapiere offiziell bestätigt wird, die zum Beispiel berechtigen oder nicht berechtigen, eine staatliche Grenze zu überschreiten, so müssen wir zu Recht fragen, um welche „Identität”, resp. um welche „Gleichheit” es sich dabei handle. Gleichheit zwischen wem und wem, oder zwischen wem und was?
Es gibt eine Gleichheit der menschlichen Grundbedürfnisse, ebenso eine Gleichheit der Grundverpflichtung zu deren Anerkennung sowie eine Gleichheit der Grundrechte, unabhängig von Herkunft und Staatsbürgerschaft, von Alter und von gesellschaftlichem Rang, von Aussehen und Geschlecht, von Religion und von Gesundheitszustand. Staaten, die die Grundbedürfnisse und Grundrechte von Menschen nicht beachten oder ungleich beachten, wie es in der aktuellen europäischen, zum Teil auch schweizerischen Asylpolitik geschieht, missachten die grundlegenden Regeln der Erklärung der Menschenrechte. Gesetze, die die Missachtung der Menschenrechte, somit menschliche Ungleichbewertung und Entwertung legitimieren, könnten von denjenigen, die sie rechtfertigen und umsetzen, nicht ertragen werden, wenn sie ihnen gegenüber umgesetzt würden.
Identität bedeutet Eingrenzung und Ausgrenzung. Bei der Staatsbürgerschaft etwa geht es um ein erwerbbares, käufliches Recht, das während einer Lebenszeit mehrmals gewechselt werden kann. Es handelt sich somit um eine Variable von ausschliesslich funktionalem Wert, die keine Garantie für Lebenssicherheit ist, wie unzählbar viele Flüchtlingsschicksale belegen. Dasselbe kann von der Zugehörigkeit zur gleichen Religion gesagt werden oder von der verhängnisvollen und fragwürdigen Begriffskonstruktion “Ethnie”, die jene von “Rasse” abgelöst hat. Es gilt selbst für das Geschlecht. Jede dieser “Identitätskategorien” weist für das einzelne Individuum, das eine oder mehrere davon für sich beansprucht oder das durch eine oder mehrere determiniert wird, eine Fülle von Differenzen auf, nicht nur wenn das ganze Leben von der Geburt bis zum Tod betrachtet wird, sondern selbst wenn nur ein einzelner bestimmter Tag oder ein einzelner bestimmter Moment in den Blick fällt. Immer ist das, was als Identität erscheint, ein Zugleich vielfältiger, sogar widersprüchlicher Differenzen im einen und gleichen Individuum. So kann Identität eigentlich nur als ständig sich verändernde Summe der Differenzen oder als Prozess verstanden werden, der im abgegrenzten Selbst besser oder schlechter integriert ist. Identität ist kaum als festen Besitz und schon gar nicht als Garantie für Sicherheit zu betrachten.
Was allerdings “identisch” ist bei allen Menschen, unabhängig von ihrer je individuellen Besonderheit und von den unterschiedlichen Identitätsausweisen, ist das Menschsein, und mit dem Menschsein die existentielle Begrenztheit in der Zeitlichkeit, die Sterblichkeit, sowie die gegenseitige Abhängigkeit voneinander in der Stillung der wichtigen Bedürfnisse, die “Grundbedürfnisse” heissen. Zu diesen gehört nicht zuletzt der Respekt vor der Freiheit, die eigenen inneren Grenzen zu benennen, die Grenzen des Erträglichen und Nicht- Erträglichen, des Zumutbaren und des Unzumutbaren.
Wenn ich sage, dass Zeitlichkeit unsere Existenz definiert, so wiederhole ich in der Sprache der Philosophie, was eingangs in der Sprache der Psychoanalysegesagt wurde, dass zugleich Gebürtlichkeit (natalité) und Sterblichkeit (mortalité) den Zeitrahmen der Existenz darstellen und diese in ihrem individuellen Rahmen begrenzen. Dazu gehört das Anfangen können als Ich und als Du, in der Selbstbeziehung wie in der Beziehung zu anderen Menschen, wobei gerade in diesem Anfangen können die Befähigung zur Freiheit liegt, wie Hannah Arendt in ihrem Werk mehrmals festhält. Mit der existentiellen Eingrenzung des Menschen in die Zeitlichkeit hängt seine „ Welthaftigkeit” zusammen. Diese ist daher immer auch durch
räumliche Komponenten definiert, durch einen Platz in der Welt, der sich nicht bloss durch die individuelle Geschichte kennzeichnet, sondern im Hintergrund dieser einen Geschichte gleichzeitig durch die vielfach gemischte Herkunfts- und Zeitgeschichte der Familie, durch die generationenübergreifende Geschichte, damit auch durch eine Sprache und eine Kultur oder oft durch mehrere Sprachen und Kulturen, durch einen Ort und ein Land oder durch viele Orte und mehrere Länder, doch stets durch eine abgegrenzte, allerdings manchmal wechselnde Zugehörigkeit innerhalb definierter Grenzen sowie Handlungsmöglichkeiten innerhalb bestimmter, meist genau definierter Einschränkungen, welche durch das individuelle Umfeld, durch die Lebensbedingungen sowie durch die Gesetze eines Landes bewirkt werden.
Die Tatsache der zeitlichen Eingrenzung des menschlichen Lebens, die Tatsache der Sterblichkeit, blieb sich seit den Anfängen der Menschheit gleich, doch das subjektive Empfinden der Zeit und die gesellschaftliche Bewertung der Zeit haben sich verändert. Mit dem Aufkommen der Kapitalbildung und der industriellen Nutzung menschlichen Lebens zum Zweck der Mehrwertsteigerung wurde auch die Zeit zur Ressource, setzte sich deren Kosten-Nutzen-Wertung durch und sie wurde zur wertvollen oder wertlosen Ressource, je nach dem sozialen Rang der Menschen, deren Existenzzeit als Arbeitszeit gewertet wird, und je nach dem sozialen Prestige der geleisteten Arbeit. Diese ungleiche Wertdefinition der Zeit bedeutet eine folgenschwere gesellschaftliche und existentielle sowie innerpsychische Grenzziehung zwischen dem gleichen Menschsein innerhalb des sozialen Rahmens. Sie impliziert den Skandal des Konstrukts ungleichen menschlichen Existenzwerts, der dem sozialen Klassensystem und den damit verbundenen Ideologien sozialer Ungerechtigkeit zugrundliegt, diesem seit den ältesten Machtstrukturen sich wiederholenden Skandal, der die Überordnung und Unterordnung, Herrschaft, Dienerschaft und Sklaverei, damit die ungleichen Lebensrechte der Menschen bis zur Rechtlosigkeit bewirkte und weiter bewirkt.
Diesen Machtstrukturen Grenzen zu setzen sollte im Sinn der gleichen menschlichen Grundrechte das Anliegen des politischen Handelns sein. Leider stellte/stellt sich dieses allzu oft in den Dienst individuellen Machthungers von Herrschern, oder einseitig wirtschaftlicher Interessen gesellschaftlicher Klassen, oder ideologischer, zum Teil religiös begründeter Strukturen, die als nicht antastbar erklärt werden. Doch die Tatsache der nicht zu leugnenden gleichen Grundbedürfnisse der Menschen, die in den staatlichen Strukturen zusammenleben und von denen ein jeder und eine jede einerseits mit der Befähigung zur Freiheit begabt ist, damit zur Sprache und zur möglichen Partizipation an der Macht, und von denen andererseits jeder und jede wechselseitig von der Unterstützung durch andere abhängig ist, schafft die Notwendigkeit von Regeln des Zusammenlebens, von Gesetzen.
Gesetze sind Grenzziehungen im sozialen und im politischen Raum. Sie grenzen die Freiheit des einzelnen Menschen zu Gunsten der Freiheit jedes anderen Menschen ein. Gleichzeitig sollten sie der geregelten Erfüllung der Grundbedürfnisse aller dienen. Die ursprüngliche Notwendigkeit für Regeln im Zusammenleben, sowohl für die staatliche Verfassung wie für die Gesetzgebung, ergab sich aus der Erkenntnis, dass erstens die individuellen Existenzbedingungen mit den Existenzbedingungen der vielen vereinbar gemacht werden sollten, damit auch die Grundbedürfnisse des schwächsten Individuums innerhalb der vielen auf gleiche Weise erfüllt werden. Zweitens aus der Erkenntnis, dass die Menschen zum Missbrauch ihrer Handlungsmöglichkeiten neigen. Sie neigen dazu, Grenzverletzungen zu begehen, um ihren alleinigen Vorteil oder Gewinn zu erreichen, bis zur Masslosigkeit.
Sowohl das gesellschaftliche System von ungeschriebenen Regeln und Übereinkünften, die „Konventionen” genannt werden, wie Verfassung und Gesetze bilden jene Grammatik des Zusammenlebens, welche die schwer vereinbaren Voraussetzungen von Freiheit im Rahmen der Zeitlichkeit und von Sicherheit im Rahmen der örtlichen und staatlichen Räumlichkeit in der Erfüllung der Grundbedürfnisse aller im Zusammenleben verbinden sollte, damit ein möglichst grosser individueller Nutzen und möglichst geringer individueller Schaden mit dem möglichst grossen allgemeinen Nutzen vereinbar sein könnte. Meines Erachtens ist es die Grammatik der Reziprozität, durch welche Grenzüberschreitungen am klarsten erkennbar wären und verhindert werden könnten. Diese beruht auf dem Kernsatz, dass keinem Menschen etwas zugemutet oder angetan werde, das von denjenigen, die ein Tun beschliessen oder umsetzen, nicht ertragen werden könnte, wenn es ihnen angetan würde.
b) Eingrenzung der Machtverhältnisse, Staats- und Gesellschaftsverträge, Gesetze
Der einfache, einleuchtende Kernsatz mag das private Zusammenleben auf wirksame Weise beeinflussen und Grenzüberschreitungen verhindern. Doch wirkt er sich auch auf der öffentlichen, politischen und sozialen Ebene aus? Wie kann ein Nutzen, der allen dient, überhaupt erreicht werden? Worin besteht dieser Nutzen?
Die jahrtausendalte Kultur- und Machtgeschichte war vor allem durch trügerische und betrügerische Nutzendefinitionen gekennzeichnet, bis in die jüngste Zeit. Es ist eine Geschichte des Misstrauens der einen gegenüber den anderen, des Neids und der Eifersucht, der Beraubung und Unterdrückung, der Herrschaft weniger über viele, eine Geschichte der Gewalt, der Schuld und des vielfachen individuellen wie des kollektiven Leidens, das sich während Jahrtausenden fortsetzte. Durch Historiographen und Staatsdenker, Philosophinnen und Dichter wurde die leidvolle, grosse Geschichte festgehalten, auch jene der Sehnsucht nach Korrektur des Leidens und nach friedlichem Zusammenleben, ohne dass durch neue Theorien oder durch neue Herrschaftsmethoden der menschlichen Entrechtung und Verfolgung infolge religiöser, herkunftsmässiger oder politischer Differenzen, Besitz- und Machtansprüche Grenzen gesetzt worden wären, ohne dass militärische Eroberung und Besetzung fremder Staatsgebiete, Kriege und Deportationen, Folter und Massaker bis zur Auslöschung ganzer Völker und Kulturen, ohne dass jede Form staatlich legitimierter Gewalt abgebaut worden wäre. Neue staatliche Grenzen oder neue religiöse Gebote boten keinen Schutz. Es gab wohl Intervalle zwischen Eroberungen und Kriegen, es gab Feuerpausen und Verhandlungen zwischen Angreifern und Angegriffenen, zahlreiche zwischen- und überstaatliche Waffenstillstandsabkommen, Nichtangriffspakte, Friedensvereinbarungen und -verträge, doch in der Regel wurden sie in kürzester Zeit missachtet, und militärische Angriffe, rücksichtslose Plünderungen und Zerstörungen von Dörfern und Städten, von Feldern und Ländern. Gewalt, qualvolles Leiden und Tötung unschuldiger Menschen setzten sich fort.
Es lohnt sich jedoch, der Resignation Grenzen zu setzen. Daher lohnt es sich, die Geschichte der Friedensverhandlungen, der Staatsverträge sowie in deren Zusammenhang einige Theorien politischer Denkerinnen und Denker aufzugreifen. Vor allem lohnt es sich, selber zu denken und die Erbschaften kritischen, kreativen Denkens über eine Verbesserung des Zusammenlebens fortzusetzen. Da wir uns zeitlich einschränken müssen, beschränken wir uns auf eine kleine Auswahl wichtiger Werke und Ereignisse, die ungefähr seit der Mitte des 17. Jahrhunderts, das heisst seit der Epoche der Aufklärung von Bedeutung waren.
Dieser Epoche gingen in Europa nicht abbrechende, erbitterte Kriege voraus, insbesondere Religionskriege um Herrschaft und Landbesitz, die mit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 beendet werden sollten. Doch indem mit cuius regio eius religio jedem Herrscher zugestanden wurde, die Religion der Bewohner und Bewohnerinnen seines Landes zu bestimmen, wurden Ausgrenzungen, Vertreibungen und Flucht Andersgläubiger erneut legitimiert. Es folgte ein gnadenloser Kampf zwischen Kaiser und Königen, geistlichen und weltlichen Kurfürsten und Reichsfürsten, Rittern und Grafen, freien Städten und aufständischen Bauern und Bürgern, zwischen dem Heiligen Reich Deutscher Nation, den freien Reichsstädten, dem mächtigen habsburgischen Österreich, der spanischen Grossmacht, dem französischen Königtum, dem dänischen und dem schwedischen Königtum, den polnischen und den litauischen Grafschaften und weiteren adligen oder unabhängigen Territorien, auch den während 80 Jahren um Unabhängigkeit von Spanien kämpfenden Niederlanden. Es war ein gnadenloser Kampf um Macht und Besitz, der 1618 in Böhmen einsetzte, zunehmend ganz Europa verwüstete und die Länder mit den Toten der Schlachtfelder, der Hungersnöte und Seuchen bedeckte, bis er nach dreissig Jahren, 1648, mit dem Westfälischen Frieden endete. Dass dieser Friedensvertrag mehr oder weniger über hundert Jahre anhielt, bis zur Französischen Revolution von 1791 und den damit beginnenden neuen Kriegen, erklärt sich weniger durch Einsicht und Verstand als durch die Erschöpfung und Ausblutung aller betroffenen Länder sowie durch den wichtigsten Vertragsinhalt: dass alle Vertragspartner gleichberechtigt seien, unabhängig von deren Rang und Macht, auch unabhängig von der Grösse und vom Reichtum der Staaten.
Gleichzeitig mit den Kriegen auf dem Festland tobten in England sowie zwischen England, Schottland und Irland ebenso erbitterte Macht- und Religionskämpfe, einerseits zwischen dem absolutistischen Königshaus und dem Parlament, andererseits zwischen den Anglikanern, den Puritanern, den Presbyterianern und den Katholiken. Thomas Hobbes strebte mit seinem Buch Leviathan35 an, die Sinnhaftigkeit einer einheitlichen, auf einen Monarchen konzentrierten Macht und der von diesem allein geschaffenen Gesetze zu begründen. Um Sicherheit und innerstaatlichen Frieden zu erreichen, sollte das Machtstreben der Einzelnen im Staat gebändigt werden. Darin bestand der Nutzen und Zweck des Gesellschaftsvertrags, wie Hobbes sich diesen durch Bezug auf die Vernunft vorstellte: durch Zustimmung der im Staat lebenden Bürger zur alleinigen, unbegrenzten Macht des Herrschers im Bestimmen von Religion, von Rechten und Gesetzen.
Es war in aller Klarheit ein einseitiger Gesellschaftsvertrag, durch welchen dem Herrscher keine Einschränkungen auferlegt waren, von den Bürgern aber verlangt wurde, auf ihre eigene Freiheit zu verzichten, auch auf das Recht auf Widerstand resp. auf Revolution, all dies zu Gunsten der innerstaatlichen Sicherheit. Territorium und Volk zusammen bildeten somit den Staat, über welchen ein Einzelner herrschte und dem dadurch die unbegrenzte Macht zustand, über Recht und Unrecht zu bestimmen. Das Verhältnis der Staaten untereinander erachtete Hobbes als vergleichbar mit dem Verhältnis der Menschen untereinander, so dass er Misstrauen und Kriege zum Schutz oder zur Stärkung der je einzelnen staatlichen Macht als berechtigt erklärte, entsprechend dem Entscheid des Machthabers zum Zweck der Selbstverteidigung.
Was von Hobbes im 17. Jahrhundert als bestmögliche Methode zur Aufhebung des „Kriegs aller gegen alle” verstanden wurde, hat sich lange fortgesetzt. Ein Beispiel im 19. Jahrhundert ist die „Realpolitik”, die von Bismarck(36) einerseits zum Zweck der Verhinderung von revolutionären Aufständen und andererseits zum Zweck der territorialen Erweiterung der preussischen Macht umgesetzt wurde, und sie hat sich in konservativen Staatssystemen bis in die Gegenwart fortgesetzt, eine defensiv-aggressive Grundhaltung, auf welcher jede Diktatur aufgebaut wurde und durch welche die Unterdrückung innerstaatlichen Widerstandes wie die Feindseligkeit gegen Nachbarstaaten und die Umsetzung von Kriegen mit dem Anspruch auf realpolitische Notwendigkeit und Legitimation legitimiert wurde und immer noch legitimiert wird. Aktuelle Beispiele sind zum Beispiel Chinas Machtanspruch auf Tibet sowie neuestens auf Bereiche im Südchinesischen Meer, die zum Staatsbereich der Philippinen gehören, gleichzeitig die massive innerstaatliche, lebensbedrohliche Kontrolle, Unterdrückung und Einkerkerung politischen Widerstandes. Oder Russlands Kriege gegen aufständische .Nebenstaaten” wie Tschetschenien und Georgien, der Machtanspruch auf die Halbinsel Krim sowie auf die Ostukraine, möglicherweise auch auf die baltischen Staaten, zugleich die Bespitzelung und Verfolgung, Gefangennahme und/oder Tötung kritischer Journalisten, Denkerinnen und Denker. Oder Serbiens territoriale Besitzansprüche, die zusammen mit nationalistischer Aufhetzung, auch von Seiten Kroatien, 1991 mitten in Europa den ex-Jugoslawienkrieg auslösten und mit dem Kosovokrieg fortsetzten. Oder Israels territoriale Erweiterungen im Sechs-Tage-Krieg von 1967 durch die Annexion der syrischen und libanesischen Teile der Golanhöhen, des ägyptisch kontrollierten Gaza- Streifens und der Sinai-Halbinsel, des zu Jordanien gehörenden Westjordanlands und Ostjerusalems, überhaupt des palästinensischen Territoriums bis in die jüngste Zeit. Es gibt zahllose Beispiele mehr in der jüngsten Zeitgeschichte, im Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert, während des 20. Jahrhunderts und nun zu Beginn des 21., durch welche Hobbes’ Leviathan bestätigt wurde und wird. Ist nicht die ganze europäische Kolonialgeschichte, sind nicht der Erste und der Zweite Weltkrieg von Monarchen, von machthungrigen Staatsoberhäuptern und absolutistischen Diktatoren mit der Zustimmung der grossen Masse ihrer Staatsbürger und der Unterdrückung jeglichen politischen Widerstandes gewissermassen als Umsetzungen von Hobbes’ Staatstheorie gerechtfertigt worden?
Hobbes war allerdings im 17. Jahrhundert mit den damals in England wie in den übrigen europäischen Ländern gnadenlosen Kriegen zwischen Fürsten und Religionen nicht der einzige staatspolitische Denker. 1656, fünf Jahre nach Erscheinen des Leviathan, veröffentlichte James Harrington(37) mit The Commonwealth of Oceana den utopischen Entwurf einer Republik, nach dem Vorbild der damals mächtigen Republik Venedig, die er einige Jahre zuvor bereist hatte, wobei er mit Oceana klar erkennbar das damalige England meinte und daher das Buch Oliver Crornwell'” widmete. Dieser hatte als Sieger der puritanischen Armee des aufständischen Parlaments gegen König Charles I und dessen royalistische Armee die Bürgerkriege beendet sowie die Königtümer Schottland und Irland mit England vereinigt. Er hatte König Charles I hinrichten lassen und sich selber zum “Lordprotector” erklärt, mit Vererblichkeit des Titels auf seinen Sohn, doch zunehmend baute er anstelle einer massvollen Republik eine Militärdiktatur auf, mit politischer Zensur und massiver Unterdrückung der Forderungen nach politischer Gleichstellung durch die Kleinbürger und Handwerker, so dass 1660, zwei Jahre nach seinem natürlichen Tod, mit der Ernennung Charles II durch das Parlament die Monarchie wieder an die Macht gelangte. Damit wurde der Entwurf einer 11vollkommenen” Republik, wie James Harrington ihn der
Öffentlichkeit zur Verfügung stellte und wie dieser in den zwei Jahren zwischen Cromwell’s Tod und dem Beginn von Charles’ II Herrschaft in öffentlichen lntellektuellenkreisen heftig diskutiert wurde, schnell beendet.
The Commonwealth of Oceana gleicht auf erstaunliche Weise dem breit angelegten Kommentar einer Verfassung, mit welcher Harrington das römische „Ackergesetz” wieder aufgreifen wollte(39). Es erschien ihm angemessen, auch im englischen Commonwealth die durch Kriegsgewinn angeeigneten staatlichen Ländereien, die an die Reichen und Mächtigen als Grossgrundbesitz aufgeteilt worden waren, neu zu Gunsten der armen und besitzlosen Bauern zu ordnen. Über die sorgsame, gerechte Verteilung der Besitzverhältnisse sollten Rätekammern entscheiden, die durch freie Wahl in absehbarer Rotation stets neu zusammengesetzt werden sollten, um auf diese Weise die Häufung von Ämtern sowie jede Art von Bestechlichkeit und Missbrauch von Macht zu verhindern. Daher sollten auch Inhaber wichtiger religiöser Funktionen keine anderen Ämter übernehmen dürfen. Und die Vertreter des Adels? Menschen sollten auf keinen Fall infolge von Reichtum und Überheblichkeit zu einer Art Elite gehören, sondern höchstens oder ausschliesslich durch Tugendhaftigkeit. Wenn sich Reichtum und Macht auf eine Minderheit zusammenballen, entarte jede Demokratie zur Oligarchie. Diese warnende Erkenntnis bestätigte sich. Kaum hatte Ende 1661 Charles II seine Macht gestärkt, wurde Harrington der Aufwiegelung angeklagt, gefangen genommen und in der Tower eingekerkert. Ungefähr ein Jahr später vermochten seine zwei Schwestern zu erreichen, dass er frei kam, doch er war körperlich und geistig so gebrochen und krank, dass er nicht mehr gesund wurde und die restlichen 15 Jahre seines Lebens zunehmend verkümmerte.
In derselben Zeit vertrat in Holland auch Spinoza(40) im Tractatus theologico–politicus von 1670 die Notwendigkeit einer starken staatlichen Macht, gleichzeitig die Ablehnung jeder willkürlich und grenzenlos waltenden Herrschaft eines alleinigen Machthabers. Spinoza erachtete die menschliche Natur nicht wie Hobbes als grundlegend böse. In Fortsetzung von Descartes’ Erkenntnis verstand er den Menschen als denkendes und entscheidungsfähiges Wesen, das im Zusammenleben aus Vernunftgründen, zur Bändigung der Affekte und zur Verhinderung von Feindseligkeit, von Hass und Hinterlist genauer Richtlinien bedurfte, die von allen gleichermassen zu befolgen waren, ohne hierarchischen Unterschied von Rang und Funktion. Eine Anzahl gewählter Patrizier und sowie gewählter Männer aus dem Volk sollten sich zusammensetzen, um die Gesetze zu erarbeiten und zu erlassen. Diese sollten nicht Furcht und Unterwerfung bewirken, sondern in erster Linie zu Gunsten der Gerechtigkeit genutzt werden und die Freiheit der Menschen im Zusammenleben unterstützen. Gemäss Spinoza dürfen Gesetze auf keinen Fall die Denk- und Meinungsfreiheit einschränken Diese soll in politischer Hinsicht unantastbar sein. Gemäss Spinoza gibt es kein grösseres Unglück für einen Staat als das Verbot, dass Menschen sich kritisch zu Gesetzen äussern, dass sie des Landes verwiesen oder eingekerkert oder gar zum Tod verurteilt werden, wenn sie es trotzdem tun.
Keine zwanzig Jahre später, 1689, erschien in England John Locke’s(41) Two Treatises of Government. Ob John Locke Spinoza’s Tractatus kannte, ist ungewiss, jedoch denkbar. Auf jeden Fall lag nun ein Gesellschaftsvertrag vor, der der Machtwillkür klare Grenzen setzte. Gemäss locke sollte dem Monarchen nur so viel Macht zustehen, wie die Mitglieder des Staates ihm zubilligten. Wenn er die Grenzen seiner Machtbefugnisse missbrauchte oder diese zu Ungunsten des Volkes umsetzte, bestand für dieses das Recht, sich gegen ihn zu erheben und ihm die Macht abzusprechen. Leben, Freiheit und Besitz resp. das, was nach Locke’s Erachten das menschliche Eigentum bedeutet, bedarf des Schutzes durch den Staat und steht ohne Unterschied allen Menschen zu. Gesetze, die John locke als dringlich erachtete, um die individuelle Rücksichtslosigkeit im Streben nach Besitz und Reichtum zu mässigen und um Schaden zu verringern, sollten von den Mächtigen wie von den Machtlosen auf gleiche Weise befolgt werden. Er erachtete daher als sinnvoll, ähnlich wie Spinoza, dass nicht ein einzelner Herrscher die Gesetze erlasse, sondern dass diese durch eine gesetzgebende Körperschaft erarbeitet und festgehalten werden – die Legislative-, die aus klugen Staatsbürgern zusammengestellt werden sollte und deren Macht zu Gunsten des Wohls der Allgemeinheit begrenzt war. So wurde mit John locke durch die Trennung von Legislative und Exekutive eine wichtige Eingrenzung der staatlich-königlichen Machtstrukturen geschaffen, eine Gewaltentrennung, die von Montesquieu(42) in der Defense de l’Esprit des Lois von 1748 durch die zusätzliche Abtrennung der Judikative gestärkt wurde, zum Unwillen von Ludwig XIV wie von den mächtigen Vertretern der kirchlichen Macht.
In Frankreich wie in England brodelte der revolutionäre Geist. Im Frühjahr 1762 erschien in Amsterdam Jean-Jacques Rousseau’s Contrat social ou Principes du Droit politique(43) der alle vorangegangenen Modelle eines Gesellschaftsvertrags sprengte und der unmittelbar nach dem Erscheinen auf den Index gesetzt wurde, überall in Europa während Jahrzehnten verboten blieb und vielerorts, darunter in Genf, öffentlich verbrannt wurde. Gleichzeitig erging gegen den damals fünfzigjährigen Denker ein Haftbefehl, der bewirkte, dass er ständig auf der Flucht war, zuerst nach Yverdon, ins preussische Neuchatei und nach Mötier gelangte, weiter nach Strassburg, 1766 nach England, wohin David Hume ihn mit der Zusicherung von Schutz eingeladen hatte, ohne dass Rousseau sich sicher fühlte, so dass er wieder nach Frankreich zurückkehrte und die restlichen Jahre seines Lebens versteckt lebte, zum Teil unter einem anderen Namen oder unter fremdem Schutz. Politisch aufwühlend, ja revolutionär war in seinem Contrat social, dass es seiner Ansicht nach keines Monarchen mehr fürs menschliche Zusammenleben (l’etat civil) bedurfte, dass sich dieses unter gleichgestellten Bürgern als Gemeinschaft (l’etat social) auf Grund eines gemeinsamen Willens (la volonte generale) mit Hilfe eines allgemeingültigen, daher unfehlbaren Gesellschaftsvertrags (le contrat social) einigte, der die gleiche Gerechtigkeit für alle anstrebte. Keine Stimme sollte die anderen Stimmen übertönen, kein einzelner Bürger sollte über mehr Macht verfügen als ein anderer, weder in politischer noch in rechtlicher noch in wirtschaftlicher Hinsicht. Daher durfte keiner den anderen unterwerfen oder ausbeuten. Der Staat war somit das – vor allem in emotionaler Hinsicht – über die gleichen Anliegen einheitlich zusammengeschlossene Volk, es vereinte in sich die staatliche Macht und teilte diese auf in eine durch „bon sens” und möglichst einfache Sitten wirkende Legislative, Exekutive und Judikative, immer auf der Basis der Zustimmung aller.
Gute hundert Jahre nach Rousseau’s Contrat socia/ setzte John Stuart Mill44 mit seinem Werk On Uberty von 1859 – die erste deutsche Übersetzung erschien schon 186945 – eine massgebliche Verfeinerung und Erweiterung auch der englischen Entwürfe eines Gesellschaftsvertrags durch. Die Ausgrenzung der Frauen vom Bildungs-und Wahlrecht wurde als nicht länger tragbar erklärt, ebenso wurde die Ungleichheit von Reichtum und Lebensform angeprangert. John Stuart Mill war ohne Zweifel massgeblich beeinflusst durch Harriet Taylor, seine Freundin und spätere Ehefrau(46), die als Nachfolgerin von Mary Wollstonecraft, von Flora Tristan und Olympe de Gouges(47) zu den frühen, bedeutenden Verfechterinnen der Frauenrechte zählt. In ihrem Sinn erschien 1863 von John Stuart Mill das Buch The Subjection of Women (Die Hörigkeit der Frau)(48) und zwei Jahre später wurde er als Vertreter der „Gesellschaft für das Frauenwahlrecht” ins Parlament gewählt. Er war der festen Überzeugung, dass die gleiche Freiheit, die allen Menschen zusteht, nicht durch Geschlecht und Herkunft gemindert werden darf, dass daher jede Form von Sklaverei aufgehoben werden muss, auch jene der Ehe, dass auch Frauen das Recht auf freie Scheidung zugestanden sein soll (nach zweijähriger Bedenkzeit), dass das gleiche Schulsystem ohne Bedingung und Einschränkung für alle zugänglich sein soll, dass Arbeitsverhältnisse auch in Fabriken und in der Landwirtschaft mit gerechtem Lohn, mit genügend Erholung und Aufstiegsmöglichkeit gesichert werden sollen, dass auch die Meinungsfreiheit, die Diskussions- und Pressefreiheit allen zustehen soll. Allerdings soll eine persönliche Überzeugung, die möglicherweise einen Wahrheitsanspruch beansprucht, nie zu einem Dogma erklärt werden. Fortschritt im Zusammenleben ist nur denkbar, wenn der Dialog und die Diskussion sowohl auf der alltäglichen Ebene der Gewohnheiten wie auf der wissenschaftlichen Ebene der Erkenntnisse das Denken anregen.
Auch soziale Gerechtigkeit begründet sich bei Harriet und John Stuart Mill durch den Grundwert der Freiheit. Anstelle des einseitigen Strebens nach Steigerung von Gewinn und Besitz rät John Stuart Mill an, die anderen Fähigkeiten, die jedem Menschen eigen sind, zu berücksichtigen, nicht in gedankenloser Fortsetzung von Gewohnheiten, auch nicht in blinder Nachahmung anderer Leben, sondern in der klugen, selbstkritischen Wahl des Bestmöglichen, so dass weder persönliches Missbehagen noch Schaden gegenüber anderen Menschen bewirkt werde. Hierin bestehe der Wert des Individuums in seiner Freiheit und im Zusammenleben, hierin bestehe auch der Schutz vor jeder Form von Tyrannei: es ist der Wert des persönlichen Wohlbehagens und des Wohlbehagens der anderen Menschen, die von den Folgen tangiert werden, somit die Frage nach dem Wert des Nutzens im Entscheiden von Tun und Lassen.
Diese Frage drängt sich als Grenze der Freiheit auf. Entsteht durch das Handeln Schaden, so ist zu beachten, ob dieser mit Absicht bewirkt wurde oder auf Grund von Nichtwissen, doch auf jeden Fall gilt es, Schaden zu verhindern. Die gleiche Grenze betrifft die Gesetze der regierenden politischen Mehrheit, die sich in irgend einer Form auf die Allgemeinheit auswirken, d.h. auf alle, die zusammen leben, insbesondere auf die hilflosen und kraftlosen Teile der Gesellschaft, die Kinder, die kranken und die alten Menschen, oder auf Anhänger und Anhängerinnen anderer Religionen, deren Sitten und Gebräuche ebenfalls des Respekts bedürfen. Auch Demokratie ist keine Garantie für gute Gesetze, auch Demokratie kann zur Tyrannei werden, wenn das kritische Denken innerhalb einer Mehrheit abhanden kommt und Minderheiten unterdrückt oder diskriminiert werden.
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In allen staats- und gesellschaftstheoretischen Entwürfen, die wir thematisiert haben, finden sich Annäherungen an ein politisches und soziales System menschlichen Zusammenlebens, das zugleich die ursprünglich liberalen und die frühsozialistischen Ideen vereint, jene der Umsetzung von Freiheit und jene der Umsetzung von Gerechtigkeit. Sie beinhalten Grenzsetzungen gegenüber Machtwillkür und gegenüber Machtmissbrauch, um die Voraussetzungen für ein optimales Zusammenleben auf allen Ebenen und in allen Bereichen zu schaffen. Die Komplexität der dafür erforderten Institutionen und Strukturen beruht auf Vertragsverhältnissen, die der Notwendigkeit gerecht werden, die gleichen Grundbedürfnisse und Grundrechte der in ihrer Besonderheit so unterschiedlichen Menschen gemäss gesetzlicher Massstäbe zu erfüllen, die sich der Macht- und Profitwillkür entgegen stellen. Den Schwächsten in der Gesellschaft sollte gemäss der Regeln der „fairness”, die John Rawls in seiner Theory of Justice49 von 1971 erarbeitet hatte, die grösste Beachtung zukommen. Diese betreffen die gesellschaftlichen Voraussetzungen für gleiche Bildungs- und Ausbildungschancen für alle Kinder und Jugendlichen, unabhängig von materiellen und kulturellen Herkunftsbedingungen, für gesundheitsfördernde, lebensgerechte Ernährung und Wohnmöglichkeit für alle Menschen, für ein Leben in Sicherheit und Würde unabhängig von Einkommen und Alter, es betrifft gerechte Löhne für jede Art von Arbeit, gerechte Besteuerung, eine optimale Förderung von Gesundheit, von Pflege bei Krankheit und von Hilfe in Not, ein gerechtes Strafverfahren bei der Verursachung von Schaden, unabhängig von gesellschaftlichem Status und Rang. Alle diese Voraussetzungen beruhen letztlich auf den Grundlagen einer Grammatik der Reziprozität, auf welche mehrmals hingewiesen wurde und die abschliessend erläutert werden soll.
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Die Grammatik der Reziprozität wurde von Denkern und Denkerinnen erkannt, aber von den Machthabenden nicht umgesetzt. ,,Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozess der Überlieferung nicht, in der es von der einen an den anderen gefallen ist”(50), schrieb Walter Benjamin 1940 im Exil in Paris, wenige Monate, bevor er sich nach einem gescheiterten Versuch, vor den Nazis über die Pyrenäengrenze von Frankreich nach Spanien zu flüchten, das Leben nahm. Die Grenze war auf trügerische Weise für Flüchtlinge manchmal für einige Stunden offen, dann wurde sie wieder unüberschreitbar verbarrikadiert.
Skepsis ist gegenüber jedem .Dokurnent der Kultur”, das heisst auch gegenüber jeder Geschichtsschreibung angezeigt, da sie stets einen bestimmten Zweck der Rechtfertigung zu erfüllen sucht. Die Unterdrückten sind kaum oder selten in der Lage, ihre eigene Geschichte zu schildern und zu dokumentieren. Darin ist Walter Benjamin zuzustimmen. Allerdings gibt es Dokumente, die von verpflichtender Bedeutung sind, gerade weil sie aus der Barbarei herausgewachsen sind und die Verletzbarkeit der Kultur zu schützen trachten. Das heisst, dass sie auf Grund der Kenntnis der durch Barbarei verursachten untragbaren Leiden gegen einen Rückfall in die Barbarei Grenzen setzen. Der hohe Wert der “Pflege” (lat. “cultura”) menschlichen Zusammenlebens soll staatlichen Gesetzgebungen übergeordnet sein, durch welche auch in Demokratien Machtwillkür Ausdruck finden kann, um so die Umsetzung jeder Form und Art von Unrecht zu legitimieren. Als Beispiel gilt die Al/gemeine Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948, welcher die Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945, unmittelbar nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs, vorausgegangen ist, diese im Namen der Völker der sich verpflichtenden Nationen festgehaltenen Urkunde,
- “die kommenden Generationen von der Geissel des Kriegs zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsägliches Leid über die Menschheit gebracht hat, und
- den Glauben an grundlegende Menschenrechte, an Würde und Wert der menschlichen Person und an die Gleichberechtigung von Mann und Frau und von grossen und kleinen Nationen erneut zu bekräftigen und
- Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und Achtung der Verpflichtungen, die auf Verträgen oder anderen Quellen des Völkerrechts beruhen, gewährleistet werden kann und
- sozialen Fortschritt und bessere Lebensbedingungen bei grösserer Freiheit zu fördern und für diese Zwecke
- Toleranz (in anderer Übersetzung: Duldsamkeit) zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben und
- durch die Annahme von Grundsätzen und die Schaffung entsprechender Methoden sicherzustellen, dass Waffengewalt nicht zur Anwendung komme, es sei denn im Interesse des Gemeinwohls, und
- internationale Organisationen heranzuziehen, um den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Völker zu fördern, haben beschlossen, unsere Anstrengungen zu vereinen, um diese Absichten zu erreichen.
- Dementsprechend haben sich unsere Regierungen durch ihre in San Francisco versammelten Vertreter, die ihre in guter und gehöriger Form befundenen Vollmachten vorgewiesen haben, auf die vorliegende Satzung der Vereinten Nationen geeinigt und errichten hiermit eine internationale Organisation, die den Namen Vereinte Nationen tragen soll.”(51)
Ist die Ernsthaftigkeit dieser Erklärung anzuzweifeln? Das Ausmass der durch den Ersten und den Zweiten Weltkrieg verursachten Toten und schwer leidenden überlebenden sowie der Zerstörung kultureller Werte macht die Dringlichkeit des Wunschs nach Frieden glaubwürdig. Doch manifestiert die Einschränkung des Verzichts auf Waffengewalt aus Gründen der „Interessen des Gemeinwohls” nicht schon Zweifel an der Ernsthaftigkeit? Sind Waffenproduktionen und Feinderklärungen nicht stets zu wirtschaftlichen und zu religiös- oder politisch motivierten ideologischen Zwecken erfolgt, somit gewissermassen „im Interesse des Gemeinwohls”? Hat nicht praktisch gleichzeitig mit der Unterzeichnung der Charta der Vereinten Nationen der Kalte Krieg zwischen den um die Weltmacht rivalisierenden Siegermächten USA und UdSSR begonnen, und mit dem Kalten Krieg über Jahre dauernde und sich steigernde, grausame Stellvertreterkriege, unter anderen der Koreakrieg zwischen Südkorea und Nordkorea von 1950 bis 1953, der gewissermassen bis heute andauert, dann ab 1955 der amerikanische Indochina-Krieg im Anschluss an den französischen Indochina-Krieg, der 1946, sofort nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begonnen und bis 1954 gedauert hatte, das heisst der Krieg zwischen Südvietnam und dem von Sowjetrussland unterstützten Nordvietam, der ab 1964 sich auf Laos und dann auf Kambodscha ausgedehnt wurde und bis 1975 dauerte, ferner die einerseits von den USA, andererseits von der UdSSR unterstützten Kriege in Angola sowie zwischen Somalia und Äthiopien, die Kriege in Afghanistan, deren Folgen weiter andauern, auch der Jom Kippur- Krieg von 1973 zwischen Ägypten (von Russland und weiteren arabischen Staaten unterstützt) und Syrien gegen Israel, das mit amerikanischer Unterstützung siegte und seine militärische wie seine räumlich-nationale Stellung gegen die arabische, insbesondere gegen die von Israel besetzte palästinensische Bevölkerung und deren Land verstärkte.
Doch während sich Waffenproduktion, Feinderklärungen und Kriege fortsetzten und die Organisation der Vereinten Nationen, die UNO, sich zu einer hilflosen, rein formalen internationalen Staatenorganisation entwickelte, die keinen Krieg verhindern konnte, geschah mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 etwas Erstaunliches: für alle Unterzeichnerstaaten, für deren Verfassung und für deren Gesetze wurden ethische Normen gesetzt, die jede Art von menschlicher Entrechtung, Entwertung und Diskriminierung auf Grund von Herkunft, Stand und Religion, von Aussehen oder Sprache, von Geschlecht und Alter, von Gesundheitszustand und Leistungsfähigkeit als Unrecht erklärte. Zwei Jahre später, am 4. November 1950, wurde in Rom von den Europäischen Staaten die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) bestätigt, gleichzeitig auch die Errichtung eines Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte beschlossen. Von der Schweizerischen Bundesversammlung wurde der Beitritt zur EMRK erst am 3. Oktober 1974 genehmigt, und am 28. November 1974 trat der Beitritt in Kraft. Vorher musste den Frauen das seit Jahrzehnten immer wieder geforderte und verweigerte politische Stimm- und Wahlrecht zugestanden werden, was nach archaischem Widerstand, vor allem von Seiten der ländlichen Kantone, am 7. Februar 1971 endlich geschah. Die Hürden und Schwierigkeiten in der Umsetzung der gleichen Rechte, der politischen wie der zivilen Rechte, auch des Rechts auf gleiche Löhne kennen wir bis heute. Auch die rechtliche Ungleichstellung der Kinder dauerte lange an, dauert eigentlich weiter an, obwohl 1989 die Internationale Kinderrechtskonvention zustande kam. Die Schweiz hat sie erst 1997 ratifiziert, und die seit der Ratifikation erforderten Berichte über deren Umsetzung erfolgen mit regelmässigen Verspätungen.
Den geringsten Schutz ihrer Rechte erleben Kinder von saisonalen Arbeitern und von Asylsuchenden sowie diese selber, obwohl gemäss Art. 1, 2 und 3 der Menschenrechtskonvention die gleichen Rechte auf Freiheit, Würde und Sicherheit für alle Menschen ohne den geringsten Unterschied gelten sollten. Das in Art. 7 festgehaltene gleiche Recht für alle Menschen vor dem Gesetz eines Landes und durch das Gesetz das Recht auf gleichen Schutz gegen jede unterschiedliche Behandlung und gegen jede Aufreizung zu einer unterschiedlichen Behandlung wird in keiner Weise weder in der Schweiz noch in anderen westeuropäischen Ländern beachtet, ebenso wenig das in Art. 14 zugesprochene menschliche Recht, in anderen Ländern vor Verfolgungen Asyl zu suchen und zu geniessen. Seit der mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 zunehmenden Aufhebung des Kalten Kriegs zwischen Westen und Osten wuchs der Abwehrkrieg der Reichen gegen die Armen und die Entrechteten an, woher immer diese an die Grenzen der europäischen Länder gelangen. Fremdenfeindliche, rassistische und ausbeuterische Kräfte beherrschen zunehmend die innereuropäischen Staaten. Die Grammatik der Reziprozität mit dem Grundsatz, niemandem zuzumuten, was selber nicht ertragen werden könnte, scheint utopisch zu sein. Zusätzlich zur erschütternden Asylpolitk zeigt sich die Missachtung der Menschenrechtserklärung auch in der Tatsache, dass die am 18. Dezember 1990 von der UNO erklärte Internationale Konvention zum Schutz aller saisonaler Arbeiterinnen und Arbeiter, der “Wanderarbeiter”, die am 1. Juli 2003 in Kraft trat, noch von keinem westeuropäischen Staat ratifiziert wurde, auch nicht von der Schweiz.
Wie brüchig die Grenzen gegen innerstaatliche Machtwillkür auch in Demokratien sind, ist eine bittere Erkenntnis. Sie weichen vor jeder politischen Ideologie und vor jeder Aufwiegelung zu Hass und Fremdenfeindlichkeit, deren Vertreter infolge der Betörbarkeit der breiten Bevölkerung bei Volksabstimmungen die angestrebten Resultate erreichen und an die Macht gelangen.
Doch Gesetze, deren Inhalt und Vollzug dem eigenen Gewissen widersprechen, müssen nicht befolgt werden, sie fordern zum poliltischen Widerstand heraus. Das Grundrecht auf Entscheidungsfreiheit darf nie vergessen gehen. Möglicherweise braucht es für diesen Widerstand besonderen Mut, doch diejenigen, die ihn nicht scheuen, vereinen sich untereinander auf der Basis der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, deren Inhalt sie selber beanspruchen und um den sie zu Gunsten der Entrechteten kämpfen. Diese Wechselwirkung wächst aus der Grammatik der Reziprozität. Sie ist die Kraftquelle der kreativen Vernunft.
Brüchig waren stets auch die Staats- und Landesgrenzen. Die Geschichte ist voller erschütternder Beispiele. Diesen gilt die nächste Vorlesung.
- Vorlesung
Landesgrenzen, Staatsgrenzen, Sprachgrenzen – Grenzen erzählen Geschichte 52
,,Was zum Teufel soll ich mit diesem Land anfangen? Es breitet sich, zwei Schritte in die / Länge und drei in die Breite, / wie der Garten eines Fabrikanten zu meinen / Füssen aus, / der in undurchsichtigen Geschäften / verreist ist. ( … )
Der Himmel ist wirklich sonst überall unendlich / und die Erde / breitet sich überall ohne Grenzen aus. / Ins Meer tauchend erhebt sie sich wieder / anderswo zu Kontinenten. / Reisende haben mir das versichert.
Wenn man jedoch in diesem Land Eisenbahnzug / fährt, / ist man in vier – fünf Stunden von einer / Grenze zur andern gekommen / und stochert sich im Speisewagen beim / Anblick des Bodensees / die letzten Reste des Menüs aus den / Zähnen, / das man in Genf begonnen hat.
Und dabei hätte man die Distanzen so furchtbar nötig. ( .. .)”(53)
Ist Unzufriedenheit über die Grenzen des Landes, in welchem ein Mensch lebt, üblich? Welche „Distanzen” werden als fehlend erachtet? Sind die auf der Landkarte eingezogenen nationalen Grenzen einander zu nah? Oder ist die Zugehörigkeit zur Nation, die innerhalb dieser Grenzen lebt, die „Stammeszugehörigkeit” bedrückend?
Generell lässt sich sagen, dass durch die Festlegung nationaler Grenzen die Rechte, die Bewegungs-, Wohn- und Tätigkeitsmöglichkeit von vielen auf einschränkende Weise bestimmt, aber zugleich geschützt werden, indem andere Menschen dadurch ausgeschlossen werden. Die nationalen Grenzen kamen meist als Resultat von Kriegen zustande, deren Gegenstand sie unter anderen waren, in einzelnen Fällen auch als Resultat von Verhandlungen zwischen Machtträgern, welche die Bedürfnisse der vielen einzelnen Menschen kaum berücksichtigten, sondern in erster Linie den eigenen Gewinn suchten. Auch die schweizerischen Kantons- und Staatsgrenzen, die wir heute ohne besondere Probleme passieren, und von denen letztere – abgesehen von den Kontrollposten an der Strasse oder von Zollbeamten in den Zügen – von Auge nur selten ersichtlich sind, sind Grenzen, um welche Kriege geführt wurden. Wir sind uns bewusst, dass die schweizerischen Grenzen vor noch nicht langer Zeit, vor wenig mehr als sieben Jahrzehnten, Grenzen zwischen Leben und Tod waren. Die „passeurs” und „passeuses”, welche es wagten, unter eigener Lebensgefahr verfolgte, gehetzte und gejagte Menschen aus einer Situation der tödlichen Bedrohung über die Grenze zu führen, wussten, wie real diese war. Heute sind es „Schlepper”, die möglicherweise noch immer aus politischer Überzeugung, meist jedoch in Hinblick auf finanziellen Gewinn flüchtende Menschen über Grenzen begleiten. Die Geschichte von A. und seiner Familie ist ein Beispiel.
Die lange politische Geschichte, aus welcher territoriale und kulturelle sowie staatliche Grenzen entstanden sind, war zugleich geprägt durch Neubeginn, d.h. durch ein Neubesinnen auf die Chancen der Freiheit für ein besseres Zusammenleben, damit der Neudefinition von Regeln. Wir stehen heute in Europa einmal mehr in einer unruhigen Gleichzeitigkeit sowohl der erneuten Ausgrenzungen wie des transnationalen Zusammenschlusses, erneut in Kriegen, in denen es um Identität und Differenzen geht. Die Machthaber an den Schreibtischen wie jene in den Dörfern und Städten nutzen die eine wie die andere Erklärung, um „ethnische Säuberungen” vordergründig zu legitimieren.
Als optimale Übereinstimmung von möglichst grossem individuellem Nutzen und möglichst grossem allgemeinem Nutzen erscheint heute ein Wert alle anderen in den Schatten zu stellen. Es ist jener der Sicherheit. Auch Sicherheit beruht auf einem zentralen Grundbedürfnis. In der kollektiven Bedeutung lässt sich Sicherheit jedoch nur negativ definieren, nur durch Aufzählung der Verunsicherungen, ja der Bedrohungen, die es auszuschalten gilt: wirtschaftliche, politische, militärische, ökologische, letztlich existentielle Verunsicherungen. Was auf existentieller Ebene einerseits durch kommerzielle Angebote von Versicherungen (gegen Einbruch, Diebstahl, Unfall, Todesfall etc.) angeboten wird, andererseits durch solidarische, gesamtgesellschaftliche Vertragswerke (zum Beispiel die Alters- und Invalidenversicherung) erkämpft wurde, soll eine Begrenzung der Leidensfolgen der „condition humaine” bewirken, wenigstens der mit der Zeitlichkeit verbundenen Unvorhersehbarkeit des Verlusts von Sicherheit.
Auf nationaler Ebene gewährleisten einerseits, wie erwähnt wurde, Verfassung und Gesetze die Rechtssicherheit der Bürgerinnen und Bürger, andererseits soll gleichzeitig durch institutionelle Massnahmen, etwa durch Polizei, durch Grenzbeamte und durch Armeen, Sicherheit durch Abschreckung oder Ausschaltung von „Feinden”, von irgendwie definierten Feinden garantiert werden. Dass heute erneut Flüchtlinge zu Feinden deklariert werden, indem durch die Regierung zu deren „Abschreckung” mittels immer wieder neuer Gesetze und Erlasse Notrecht proklamiert wird, ist ein verhängnisvoller Widerspruch zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die von der Schweiz ratifiziert wurde. Dieser Widerspruch geht einher mit einer verhängnisvollen Entwicklung der Demokratie. Eine Angst bewirkende Konstruktion von Feindbildern vermag mittels medialer Macht grosse Bevölkerungsteile zu manipulieren. Damit wird deutlich, in welchem Mass eine verlässliche, transnationale völkerrechtliche und menschenrechtliche Garantie für die Sicherheit der personalen und politischen Rechte aller Menschen fehlt, unabhängig von deren Status, insbesondere jener Menschen, die auf Grund von Flucht und Staatenlosigkeit als rechtlos gelten. Allein in Europa leben Millionen von Kindern, Frauen und Männern – Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten, gesellschaftlich Marginalisierte, Obdachlose, Langzeitarbeitslose und sogenannte „drop outs”, zum Teil auch körperlich behinderte Menschen – in einer Situation der höchst prekären existentiellen Unsicherheit, zum Teil der rechtlichen Ausgrenzung. Deren Bedürfnis und Recht auf Sicherheit wird als Anmassung erklärt und übergangen.
Doch darf die Forderung nach Sicherheit zum reaktionären Diskurs um die Ängste und Rechte Privilegierter verkommen? Gehen mit deren Forderungen nicht Begehrlichkeiten klassen- oder statusdefinierter Eigentums- und Privilegiensicherung einher? Tritt nicht gerade dadurch die Notwendigkeit zutage, existentielle Verunsicherung infolge prekärer Lebensbedingungen zu beheben, eine Notwendigkeit, bei der es um den Schutz der menschlichen Würde geht? Die Forderung politisch rechtsextremer Kreise, dass die Schweiz die Mitgliedschaft bei der Europäischen Menschenrechtskonvention aufkündige, überschreitet die Grenze politischer Freiheit. Sie beinhaltet deren Verlust. Letztlich halten sich die Grundbedürfnisse und Grundrechte von Freiheit und Sicherheit die Waage.
Das zutiefst Erschreckende ist, dass gerade die Forderung nach Sicherheit vor sozialer und politischer Ausgrenzung nicht nur in der Schweiz, sondern in den meisten europäischen Ländern von deren Regierungen und Parlamenten in ihrer Bedeutung nicht erkannt wird, sondern als Bedrohung definiert wird. Die bis heute vorliegenden europäischen Vertragswerke Sehengen-Dublin und Folgeverträge, welche die Modalitäten transnationaler Sicherheit festhalten, richten sich ja nicht gegen fremde Staaten und fremde Armeen, sondern allein gegen Menschen. Es sind Menschen, die zu „Feinden” deklariert werden, weil sie die Erfüllung ihrer Rechte und Grundbedürfnisse ausserhalb der Grenzen ihrer eng definierten Herkunftsidentität, ihrer Herkunftsländer oder der nächst anliegenden Länder einfordern, weil ihre Existenz und ihre Arbeitszeit innerhalb ihrer eigenen Gesellschaft nichts gilt. Es sind Migrierende, Arbeitssuchende, Arme, Flüchtlinge vor Verfolgung und Gewalt, vor Hunger und Krieg. Da, wo sie ankommen, werden sie erneut ausgegrenzt. Die Grenzen einer transnationalen Vertragsgemeinschaft werden gleichsam als Grenzen privaten Wohnraums definiert, in den die Fremden nicht „eindringen” dürfen. Es geht um eine massive menschliche Ausgrenzung, die auf verhängnisvolle Weise durch die Hintertür von nationalen und multinationalen Vereinbarungen „legitimiert” wird, ein Klassenkampf von Oben, der neue „faits accomplis” unhaltbarer Ungerechtigkeit schafft.
Noch ein anderer Aspekt von individueller und kollektiver Sicherheit verdient Aufmerksamkeit: Dieser betrifft die Sicherheit vor Schadenfolgen aus militärischen, technologischen und ökologischen Risiken. Auch bei dieser Sicherheit geht es um den Respekt vor der Integrität des menschlichen Lebens, der immer und unbedingt gefordert werden muss, im privaten wie im öffentlichen Bereich. Es geht um die Sicherheit vor psychischer und körperlicher Gewalt, die ebenfalls einem Grundbedürfnis entspricht. Da, wo sie als kollektives Postulat aller Menschen kollektive Räume und Nutzungen betrifft, ist deren Garantie auch durch politische Instanzen zu leisten. Dies betrifft unter anderem die Sicherheit am Arbeitsplatz, in Fabriken, auf Baustellen und anderswo, Sicherheit auf der Strasse oder in der Luft, Sicherheit vor krankmachender Nahrung, Sicherheit vor Anwendung von Waffen und menschenverachtenden Technologien, Sicherheit vor atomarer Verstrahlung und mehr. Die Aufzählung könnte weitergehen. Hier müssen nicht nur Gesetze dem Missbrauch Grenzen setzen, sondern die Täter wie der Missbrauch selber müssen eingeklagt und geahndet werden können, damit alle Menschen im sozialen Raum ohne willkürliche Begrenzung ihrer physischen und psychischen Integrität geschützt seien.
Die Tatsache ist allgemein bekannt: Seit dem Beginn der industriellen Ausbeutung und der bedenkenlosen Entsorgung der Erdgüter sowie gleichzeitig der masslos und grenzenlos anwachsenden industriellen Herstellung von Konsumgütern, technologischen Produkten und jeder Art von tödlichen Waffen sind die Schadensfolgen in der Luft, im Wasser und in den Böden, das heisst im gesamten existentiellen Umweltbereiche der Menschen, der Tiere und der Pflanzen unermesslich hoch. Sie sind es seit Beginn des 20. Jahrhunderts, seit den bedenkenlosen Vorbereitungen und Umsetzungen des Ersten und des Zweiten Weltkriegs und der nachfolgenden Kriege, lange vor den atomaren oder anderen neuesten wirtschaftsbedingten Katastrophen wie jenen von Tschernobyl vom 26. April 1986 oder von Fukushima vom 11. März 2011 oder jenen, die durch die Explosion giftiger Chemikalien in der chinesischen Stadt Tianjin geschaffen wurden und unzählbar vielen mehr. Es sind Entgrenzungen der exponentiellen Steigerung des Gewinnstrebens, die seit Jahrhundertenfortgesetzt wurde/wird. Unzählbar viele Tote und transgenerationelles Leiden hat sie bewirkt und bewirkt sie weiter. Erst seit jüngster Zeit werden in einigen westlichen Ländern, auch hier in der Schweiz, dank sozialen und ökologischen Widerstandbewegungen von staatlicher Seite her Kontrollen und schadenbegrenzende Einschränkungen gefordert. Ob sich diese auf nachhaltige Weise umsetzen lassen, steht in mancher Hinsicht offen.
Doch gehen wir nochmals zu den Landes- und Staatsgrenzen. Sie finden sich auf geographischen und politischen Karten eingetragen, entsprechend der Jahresdaten immer wieder wechselnd und anders, manchmal entlang grosser oder kleiner Flüsse und Ströme – Rhein, Mosel, Loire, Donau, Save, Elbe, Moldau, Pruth, Dnjestr, Bug, Dnjeper und viele mehr-, manchmal quer durch Länder hindurch oder durch Wüsten und Meere wie mit dem Lineal gezogen, manchmal Gebirgen entlang oder über Gebirge hinweg – und immer erzählen sie Geschichten, in die sich zu versenken aufwühlend ist.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, dies zu tun: wir öffnen den Atlas der Weltgeschichte und folgen Seite für Seite seit der frühen Antike den Eroberungen und Kriegen, den Unterwerfungen, Ausdehnungen und Verschmelzungen oder Trennungen und Auflösungen von Dynastien, Kaiser-, König- und Fürstentümern, Stadtstaaten, Demokratien, Republiken und Diktaturen. Oder wir lesen die grossen historischen Werke, ob jene des Thukydides über den Peloponnesischen Krieg, oder jene des Quintus Curtius Rufus über die Eroberungen Alexanders des Grossen, oder von Leo Tolstoi Krieg und Frieden über die napoleonischen Kriege und gesellschaftlichen Auswirkungen in Russland. Oder wir vertiefen uns in Briefe und Tagebücher aus der Zeit vor und während der grossen Kriege, die unsere nächsten Vorfahren oder möglicherweise am Rande wir selber erlebt haben.
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Beim Vorbereiten des heutigen Abends wählte ich aus meiner Bibliothek eine Anzahl Bücher, die mich im Lauf der Jahre immer wieder begleitet haben. Einige wurden schon erwähnt. Ich entschied, einer posthum erschienen Dokumentation der Auflösung jeder Art von schützender Grenze im Vorfeld und während des Zweiten Weltkriegs, der staatlichen, rechtlichen und anderen vertraglichen Grenzen, der Grenzen im Zusammenleben und der Grenzen im Ertragen von Entrechtung und Angst einen besonderen Raum zuzugestehen. Es geht um die Tagebücher 1935 –194454 von Mihail Sebastian, die unter dem Titel Voller Entsetzen, aber nicht verzweifelt erstmals 1996 im rumänischen Original und 1998 in deutscher Übersetzung erschienenen sind.
Der 1907 im rumänischen Braila, einer historischen Stadt an der Donau im Südosten der Grossen Walachei, geborene losif Hechter wählte 1929, mit 22 Jahren, nach Abschluss seines Jurastudiums und seiner Anwaltslizenz, für seine Publikationen das Pseudonym Mihail Sebastian. Mit dem neuen, nicht-jüdisch klingenden Namen trat er in die Redaktion der Tageszeitung Cuväntu! (Das Wort) in Bukarest ein, die von Nae lonescu geleitet wurde, der als existentialistischer Philosophieprofessor, zunehmend aber auch als faschistischer und antisemitischer Ideologe die Studentenschaft um sich scharte, auch als diese sich 1927 unter der Führung von Corneliu Zeah Condreanu(55) mit gleich motivierten jungen Bauern zur Eisernen Garde zusammenschlossen, die als parteiähnliche Bewegung unter dem Namen „Nationale Revolution” und „Alles für das Vaterland” auftrat und bald als paramilitärische Legionärstruppe mit schwerster Gewalt gegen die jüdische Bevölkerung vorging. Ab September 1940, als General Ion Antonescu, ein Verbündeter Adolf Hitlers, zum „Staatsführer” und Marschall Rumäniens ernannt wurde, übernahmen Legionäre Ministerposten in dessen Regierung, auch beim Betritt Rumäniens zum nationalsozialistisch- faschistischen Dreimächtepakt am 23 November 1940.
losif Hechter alias Mihail Sebastian hatte als Literaturkritiker und als hervorragender Kenner der französischen und englischen Literatur früh Erfolg, auch als Journalist und Schriftsteller, als eigenwilliger Denker, der lange den wachsenden Antisemitismus im Kreis von Nae lonescu, von Mircea Eliade und von weiteren Freunden zu verdrängen versuchte. Als er 1934 Nae lonescu um ein Vorwort für seinen Roman Seit zweitausend Jahren(56) bat und als dieser ihn darin mit einer übelsten antisemitischen Tirade lächerlich machte, distanzierte sich Hechter von ihm, doch er liess die Publikation des Buchs trotzdem zu. Sie wurde zum Desaster. Fortan wurde die politische Realität in Rumänien für losif Hechter zunehmend schwieriger, und die widerliche, unverständliche Anpassung von Intellektuellen, die er als seine Freunde erachtet hatte, an einen rumänisch-orthodoxen, Hitler konformen Faschismus und Antisemitismus wurde zunehmend unerträglicher. Es war die gleiche nationalsozialistische Anpassung, die sich seit Anfang 1933 zunehmend durch die Presse auf die breite Masse auswirkte, die Hechter nicht nur an der Universität und in den lntellektuellencafes, sondern selbst in der Anwaltskammer feststellte. Verblüfft notierte er am 18. Februar 1935 im Tagebuch, dass auch ein befreundeter Anwalt(57) sich der antisemitischen „Nationalen Revolution” angeschlossen habe, der früher „über die Freiheit” gesprochen habe, ,,über den Widerstand des Einzelnen gegen den Staat, über die Dummheit der Idee vom ,kollektiven Weg’, einer Idee, die in Diktaturen ausgenützt werde”. Deutlich sei die Hand Nae lonescu’s am Werk. So wolle der Professor dazu beitragen, ein „neues Rumänien” zu schaffen.
Das „neue Rumänien” kam tatsächlich auf verhängnisvolle Weise zustande. Seit sich in Deutschland der Nationalsozialismus mit der am 30. Januar 1933 erfolgten Wahl Hitlers zum Reichskanzler als Macht bestätigt hatte, wirkte sich dieser wie ein Virus auf die umliegenden Staaten aus. losif Hechter stellte am 24. September 1938 mit Bangen fest, dass es keine staatliche Sicherheit mehr gebe, dass von Stunde zu Stunde das Schlimmste zu befürchten sei. ,,Die Tschechoslowakei hat gestern die Mobilmachung ausgerufen. Frankreich scheint das Gleiche getan zu haben, ohne ausdrücklich den Begriff ,Allgemeine Mobilmachung’ zu benutzen. Heute Nacht stand der Krieg unmittelbar bevor. In der Stadt war gegen drei Uhr nachts Panikstimmung zu spüren. ( … ) Wir befinden uns in einer Synkope. Chamberlain ist mit den neuen Forderungen Hitlers nach London zurückgekehrt. Werden sie akzeptiert werden? Werden wir einen ,deutschen Frieden’ haben, der die Freiheit in Europa abschafft, für wer weiss wie lange? Vielleicht für eine ganze historische Epoche?- Und wenn die Forderungen nicht akzeptiert werden? Dann haben wir Krieg. Alles ist nur eine Frage von Tagen, vielleicht von noch weniger, von Stunden, von Minuten.”(58)
“Wir befinden uns in einer Synkope”, hielt losif Hechter mit Entsetzen fest. Ein “Kreislaufkollaps” lässt in der Regel kein überleben zu. Das Münchner Abkommen, das am 20. September 1938 zwischen Hitler mit Grossbritannien, Frankreich, Polen, den USA und der Sowjetunion abgeschlossen wurde, betraf die Annexion des tschechoslowakischen Sudentengebietes durch das Deutsche Reich. Doch die Grenzverschiebung sollte nicht bei diesem deutschsprachigen Gebiet bleiben, das durch den Versailler Vertrag der Tschechoslowakei zugeschrieben worden war. Hitler plante, die ganze Tschechoslowakei dem deutschen Grossreich einzuverleiben und er wies am 21. November 1938 die Wehrmacht an, sich für die Eroberung und Besetzung bereit zu halten. Am 14. März 1939 erklärte sich die Slowakei als 11unabhängiger” Staat, das heisst als Satellitenstaat des Deutschen Reichs, und am selben Tag kam es zum .Protektoratsvertrag” zwischen Hitler und dem tschechischen Staatspräsidenten. Es gab keine schützenden Grenzen mehr, die deutsche Armee und die Gestapo besetzten das Land, das nun .Relchsprotektorat Böhmen und Mähren” hiess. Unzählige Gefangennahmen, Abtransporte in Konzentrationslager und Tötungen folgten.
losif Hechter hatte im September 1938 diese bedrohliche Entwicklung geahnt. Er bangte damals um seinen Bruder Poldy, der in Paris lebte und der die Mutter als Gast bei sich hatte, die keine andere Sprache als Rumänisch sprach und deren Rückreise nach Bukarest unter der sich zuspitzenden antisemitischen Gefährdung nicht vorstellbar war. Gewiss bangte er auch um sein eigenes überleben und um das Schicksal Rumäniens. Trotzdem schlug er jede Möglichkeit von Flucht aus. Als er am 17. Oktober 1938 notierte, seine Mutter sei zurückgekehrt, doch während vier Stunden sei sie in Jimbolia an der serbisch-rumänischen Grenze festgehalten worden, bis er durch ein Telegramm ans Innenministerium ihre Weiterreise habe bewirken können. 11Es scheint, dass nicht nur Jimbolia, sondern sämtliche Grenzstationen voller Juden sind, die weder in die Länder, aus denen sie kommen, zurückkehren noch nach Rumänien einreisen dürfen, obwohl sie alle Inhaber rumänischer Pässe sind. Keine Erklärung für diese Barbarei, keine Rechtfertigung. ( … ) 0 Herr, was kommt jetzt noch auf uns zu?”(59) Die Ungewissheit verstärkte sich, als bekannt wurde, dass am 30. November der Gründer und „Führer” der „Eisernen Garde”, Corneliu Codreanu, ermordet worden sei, nicht allein er, sondern gleichzeitig die Mörder von dessen rechtsextremen Rivalen. ,,Es läge in der Logik der Dinge”, schrieb Hechter am 2. Dezember 1938, dass dieser dumpfe Schock zu einem antisemitischen Ausbruch führt. Das wäre ein Sicherheitsventil, und es ist nicht ausgeschlossen, dass die Regierung es selbst eröffnet. Auch diesmal können wir es sein, die für alles bezahlen müssen.”
Anfang 1939, am 5. Januar, erfuhr Hechter, dass seine Bewerbung um Aufnahme in den “Schriftstellerverband zur Nationalen Front” als “heikler Name” gestrichen worden sei. Seit König Carol II im Februar 1938 seine Diktatur und gleichzeitig die Neutralität Rumäniens ausgerufen hatte, war die “Front zur nationalen Wiedergeburt” die einzige zugelassene Partei, die am 22. Juni 1940 durch die “Partei der Nation” ersetzt wurde. “Jch muss bekennen, dass mir meine Manuskripte nicht besonders wichtig sind. Wichtiger sind mir vielleicht die Bücher, die ich vielleicht nicht mehr schreiben kann. Und vor allem ist mir das Leben wichtig – dieses Leben, aus dem ich bis heute so gut wie nichts gemacht habe”(60) notierte er am 20. März 1939. Am gleichen Tag erfuhr er “die Vernichtung der Tschechoslowakei” wie ein persönliches Drama. “Jch las die Zeitung noch auf der Strasse, die Einzelheiten über den Einmarsch Hitlers in Prag. Ich hatte Tränen in den Augen. Das ist etwas so Demütigendes und Erbärmliches, dass es alles erschüttert, was ich einmal von den Menschen zu wissen meinte.” Dazu gehörte die Tatsache, dass Grossbritannien und Frankreich durch ihre Aussenminister wohl Protestreden veröffentlichten, ohne dass gegen Hitlers Grenzüberschreitung und militärische Besetzung das Geringste unternommen worden wäre. Hechter führte weiter aus, dass offenbar auch seinem Land ein Ultimatum gestellt worden sei, trotz der in den Zeitungen erschienenen Dementis. Dass Hitler von Rumänien den Verzicht auf jegliche industrielle Produktion und den Aufbau einer reinen Agrarwirtschaft fordere, deren Produkte ausschliesslich an Deutschland zu liefern wären. Am nächstfolgenden Tag erfuhr er, dass das ganze II. Armee-Korps seines Landes mobilisiert wurde und dass auch er sich beim Regiment melden musste. Er tat dies, wurde fürs erste jedoch wieder freigestellt. “Die beiden im Regen im Hof der Kaserne verbrachten Tage liessen mein Leben als Zivilist auf einmal wertvoll erscheinen, und ich hatte den Eindruck, dass ich, wenn ich zu diesem Leben zurückkehrte, es besser nutzen und mehr lieben würde.”
Am 16. Mai 1939 wurde losif Hechter tatsächlich einberufen, und am 18. Mai musste er die militärische Ausrüstung in Empfang nehmen, 11ein paar ekelhafte Lumpen, die man nicht in der Wohnung aufbewahren kann, ohne sämtliche Fenster offen stehen zu lassen. ( … ) Ich bemühte mich, eine saubere Uniform zusammenzuklauben: meinen alten Uniformrock von 1933, die Wickelgamaschen gleichfalls von damals, meine Sommerstiefel. ( … ) Ich sehe so erbärmlich aus, als wäre ich verprügelt und verunstaltet worden. Ich bin nicht mehr ich selbst, ich bin nichts, nichts, absolut nichts. Etwas, das ohne Aufhebens gemeinsam mit anderen getötet, durch den Dreck gezerrt, in Scheunen geworfen, auf dem Feld liegen gelassen werden kann, etwas ohne Namen, ohne Identität, ohne Antlitz. Ohne Willen, ohne Stimme, ohne Leben – ein rumänischer Soldat. “(61)
Am 23. August 1939 kam es zwischen Hitler und Stalin zum Deutsch-Russischen Nichtangriffspakt, mit der heimlichen Vereinbarung der Aufteilung Polens. Hechter griff sich an den Kopf. 11Die ganze Weltpolitik hat sich um 180 Grad gedreht. ( … ) Wäre die europäische Partie, die jetzt gespielt wird, ein Theaterstück, so wäre die Intrige perfekt gelungen. (…) Im September 1938 haben sich England und Frankreich mit Hitler geeinigt, gegen Russland und über dessen Kopf hinweg. Im August 1939 verständigt sich Russland nun mit Hitler über die Köpfe von Frankreich und England hinweg – und gegen diese. Im September 1938 war das Preisgeld, das Hitler kassierte, die Tschechoslowakei. Jetzt ist es Danzig. Der zweite Akt sieht aus wie der erste, nur umgekehrt. Doch es fällt mir schwer, die Dinge bloss vom Gesichtspunkt des dramatischen Aufbaus her zu betrachten. { … ) Was wird also geschehen ?”(62)
Die Frage spitzte sich von Tag zu Tag zu. Am 1. September 1939 erfuhr losif Hechter von seinem Bruder Poldy, dass dieser sich in Frankreich als Freiwilliger gemeldet habe. Am gleichen Tag wurde Danzig annektiert und die deutsche Wehrmacht überschritt auf breiter Front die polnische Grenze. Die Nachrichten gelangten aufs spärlichste nach Bukarest. Am 2. September hiess es, Warschau sei bombardiert worden, doch wenige Stunden später wurde die Nachricht wieder dementiert. Am 4. September erklärten England und Frankreich, die mit Polen liiert waren, Deutschland den Krieg. Wie wird Russland reagieren, was war für Rumänien zu befürchten? Stand der unmittelbare Kriegseintritt an der Seite Frankreichs bevor? Oder an wessen Seite? Am 5. September hielt Hechter fest: ,,Es kursieren die schlimmsten Gerüchte und Voraussagen. Deutschland verlange sämtlichen Weizen und alles Erdöl Rumäniens. Frankreich und England würden in Constanza Truppen an Land setzen. Rumänien akzeptiere weder das eine noch das andere. Krieg, Krieg und nochmals Krieg. “(63)
Das Gefühl der Machtlosigkeit angesichts der in Polen voran rückenden deutschen Armeen wurde durch die Sorge um das Schicksal der polnischen Juden vervielfacht. Die politische Situation wurde immer aussichtsloser. Am 17. September 1939 erfuhr Hechter, dass die Russen ein Abkommen mit Japan abgeschlossen hatten und dass sie gleichzeitig die Nordgrenze Polens überschritten hatten, um die von den Deutschen noch nicht besetzten Gebiete zu erobern. In Rumänien verschlimmerte sich die Lage durch die am 21. September 1939 von Legionären vorgenommenen Ermordung des noch vom König eingesetzten Premierministers Armand Calinescu, der sich gegen die Kommunistische Partei wie gegen die Eiserne Garde eingesetzt hatte und der sich zu den Franzosen und Engländern bekannte, um der polnischen Armee einen Rückhalt zu bieten. Hechter befürchtete, dass das in Rumänien entstandene Chaos für Hitler wie für Stalin Anlass sein könnte, deren Truppen einmarschieren zu lassen „um ,wieder Ordnung herzustellen’ und ,die Blutsbrüder zu schützen'( … ). Wie leben nun in einer Stadt, die mit Dynamit ausgelegt ist und die in fünf Minuten in die Luft fliegen wird ( … ) Es scheint, dass das Attentat zu einem Zeitpunkt geplant war, als die Deutschen sich rasch auf die polnisch-rumänische Grenze zu bewegten. Hätten sie sich dort oben, im Norden der Bukowina, befunden, dann wäre nichts einfacher gewesen, als im Moment der Ermordung von Armand in unser Land einzudringen ( … ) Alles hätte in Absicht und Ausführung perfekt der Ermordung von Dollfuss geglichen. Was diese Pläne aber durcheinander brachte, war der unerwartete Einmarsch der Russen in Polen und vor allem ihr unerwarteter Vormarsch auf die polnisch-rumänische Grenze zu, wodurch nun eine gemeinsame Grenze Rumäniens mit den Deutschen ausgeschlossen ist. Es ist das Einzige, was uns einstweilen vor der totalen Katastrophe bewahrt. “(64)
Mit der wachsenden Bedrohung von Aussen verschlimmerte sich im Innern Rumäniens die Macht der Eisernen Garde und die antisemitische Aufhetzung. losif Hechter stellte mit Erschrecken fest, dass nicht nur Nae lonescu, sondern auch Mircea Eliade, den er zu seinen Freunden gezählt hatte, eine prodeutsche Regierung als Rettung Rumäniens erklärten, dass Eliade die menschliche Tragödie, die an der Grenze zur Bukowina geschah, als lästigen Skandal bezeichnete, ,,da immer weitere Wogen von Juden eindringen würden. Lieber ein deutsches Protektorat als ein wieder einmal von Saujuden überranntes Rumänien. “(65) In seinem Gefühl der Hilflosigkeit las Hechter Die Geschichte der Juden von Simon Dubnow(66) und vertiefte sich in die Pogrome des 16. Jahrhunderts in Venedig, Padua, Prag, Wien und Frankfurt. ,,Ich fühlte, wie ich mich beim Lesen in der Zeit entfernte. Es ist gut zu wissen, dass man einem Volk angehört, das im Lauf der Jahrhunderte viel durchgemacht hat, wobei einiges davon noch schlimmer war als das, was sich heute zuträgt. “(67) Das „heute” war noch nicht das morgen. er konnte nicht ahnen, was noch kommen würde.
Mitte Dezember 1939 wurde losif aufgeboten, sich bei seinem Regiment zu melden. ,,Das Furchtbare am Übergang vom Zivil- zum Kasernenleben ist die Abruptheit, mit der das geschieht. Wenn ich vorgewarnt wäre, wenn ich jetzt wüsste, dass ich beispielweise am 15. Januar einberufen werde, dann würde die Tatsache erträglich werden, nicht nur, weil sie noch in weiter Ferne läge (qui doit a terme, ne doit rien), sondern auch, weil ich wirklich Zeit hätte, mich vorzubereiten und den Schlag “abzufedern.”(68) Am 9. Januar 1940 erfuhr er von einem Bekannten, der eine Funktion bei der Regierung hatte, dass tatsächlich auf den 15. Januar eine Einberufung vorgesehen war, die ausschliesslich Juden betraf, 1500 Juden und keinen einzigen Christen. ,,Alles ist erträglich bis zu dem Augenblick, in dem man sich nicht mehr als Soldat oder als Bürger betroffen fühlt, sondern als Jude. Tausende, Zehntausende Juden werden einberufen, um in Bessarabien und der Dobrudscha Steine zu schleppen und Schützengräben auszuheben.” (69) Wann immer möglich, hörte er über verschiedenste Radiosender (zum Beispiel Paris-Mondial, Paris-Colonial} Musik, Kompositionen von Mozart, von Haydn, von Beethoven, von Bach, von Ravel, von Max Bruch, sinfonische Dichtungen von Cesar Franck. Er vertiefte sich in jedes Werk und versuchte zu vergessen „was jetzt in Polen mit den von Hitlers Horden umzingelten Juden geschieht, es übertrifft jedes uns bekannte Grauen.”(70)
Die Kriegssituation veränderte sich. Am 10. April 1940 hielt Hechter fest, dass am Tag zuvor „die Deutschen ohne den geringsten Widerstand Dänemark besetzt haben und an mehreren Punkten in Norwegen gelandet sind, wo sie auf einen seltsamen, fast nur formalen Widerstand treffen.”(71) Als er am 16. April 1940 erfuhr, dass britische Truppen an der norwegischen Küste gelandet seien und dass in Narvik ein britischer Sieg verzeichnet werden konnte, spürte er etwas wie Hoffnung in der zunehmend düsteren Vorstellung einer von Hitler beherrschten Welt. Doch ab dem 10. Mai 1940 bestätigte sich diese panikartig. „Heute früh im Morgengrauen haben die Deutschen Luxemburg besetzt, die belgischen und holländischen Grenzen überschritten und den Flughafen von Brüssel bombardiert.” Am 14. Mai: ,,Lüttich ist gefallen. Zumindest besagt dies das deutsche Kornmunique. Das französische behauptet, dass viele Befestigungen noch Widerstand leisten, aber es dementiert nicht eindeutig die Besetzung der Stadt. In Holland findet noch Schlimmeres statt. Der Fall von Rotterdam steht, wie es selbst im französischen Kornrnunique heisst, kurz bevor. Der deutsche Angriff ist vernichtend. Die Telegramme der Allierten können ihre Verwirrung, ja Verzweiflung kaum noch verbergen. Italien bereitet sich darauf vor, ebenfalls in den Krieg einzutreten. ( … } Über uns lässt sich noch nichts sagen. Werden die Russen uns angreifen? Werden uns die Deutschen besetzen?” Dann einen Tag später, am 15 Mai: ,,Sehr ernste Lage an der französisch-belgischen Front. Die Deutschen haben an verschiedenen Stellen die Meuse überschritten. Vor allen in Sedan scheint es einen sehr mächtigen Militärschlag gegeben zu haben. ( … } Holland hat gestern Abend kapituliert. Es ist erschreckend – nach vier Tagen Krieg! Die deutsche Streitkraft scheint dämonisch, absolut zerstörerisch zu sein. Ich fühle alles, was geschieht, bis ins Innerste des Herzens. Ich wünschte, ich hätte mehr Mut, könnte um mich herum mehr Mut verbreiten.( … } Mama ist voller Entsetzen, Benu (der jüngere Bruder – maw} hoffnungslos (mit seinen 24 Jahren schon hoffnungslos, warum nur, warum?}( … }. Im Regiment ein Durcheinander, das mich in Schrecken versetzt. “(72)
Einerseits war losif Hechter irrtümlicherweise als Deserteur gemeldet worden, gleichzeitig jedoch einer neuen Kompanie zugeteilt worden, was ihn ängstigte. Andererseits wusste er um die verzweifelte Lage an der westlichen Front, wusste aber nicht, wo sich sein Bruder Poldy befand und wie es ihm ging. Am 18. Mai 1940 notierte er: ,,In Belgien fallen die Städte eine nach der anderen: Louvain, Brüssel, Antwerpen. In Sedan haben die Deutschen verkündet, dass sie die Verteidigungslinien der Franzosen auf einer Länge von hundert Kilometern durchbrochen haben. ( … ) Was mich besonders deprimiert, sind die Anzeichen von Panik. Keinem ist es mehr erlaubt, Paris zu verlassen (was bedeutet, dass sich alle danach drängen zu fliehen), niemand mehr darf die Grenze zu Spanien überschreiten (was vielleicht bedeutet, dass die Grenze von Flüchtlingen bestürmt wird), ( … ) Zu Hause will und kann ich nicht mehr über den Krieg reden. Wir sind uns in allem einig, ohne weiter darüber sprechen zu müssen. Wir wissen genau, dass unser ganzes Leben von den Ereignissen dort, von der Front, anhängt. Der einzige Ort, an den man den Krieg nicht sieht, nicht fühlt, wo er nicht existiert, ist die Kaserne. Vom Oberst bis zum Unteroffizier vom Dienst sind alle damit beschäftigt zu fluchen, zu schlagen, zu brüllen, zu toben. Was für eine furchtbare Fabrik für Zeitverschwendung, welche Vergeudung von Energie und Arbeit. Alles in den Wind geschrieben, alles vergeblich. Ich bin bedrückt, angewidert, ständig angespannt.” Dann einen Tag später, am 19. Mai: ,,Die Deutschen sind in Laon. Sie kämpfen zehn Kilometer vor Reims. Der Weg nach Paris ist schon zur Hälfte zurückgelegt. Das deutsche Kornmunique spricht von über 100’000 Kriegsgefangenen. ( … ) Das Destaster lässt sich nicht überblicken. Die Nachrichten von der Front sind vage. Die einzigen präzisen Informationen sind die Namen der von den Deutschen eroberten Ortschaften.” Später erfuhr Sebastian, dass die Franzosen schon 400’000 Mann verloren hätten. ,,Alles ist wie in einem entsetzlichen Albtraum, aus dem man erwachen möchte. Gott, erbarme dich !”(73)
Der „entsetzliche Albtraum” war keine Nachtmär, sondern die undurchschbare Realität. Dessen war sich losif Hechter schonungslos bewusst. Als am 28. Mai 1940 König Leopold von Belgien kapitulierte, bedeutete dies für ihn einen nicht zu verstehenden Verrat, wie er mit Bestürzung, Trauer und tiefer Bitterkeit notierte. Seine Furcht, dass der Vormarsch von Wehrmacht und Gestapo Richtung Paris nicht mehr zu stoppen war, dass die Somme diesen ebenso wenig verhindern werde wir die Meuse dies tun konnte, bestätigte sich bald. Er bangte um den Eintritt von Italien in den Krieg. Die sogenannte „Objektivität” zahlreicher rumänischer, nicht-jüdischer Intellektueller, die eine Bewunderung und Sympathie für die Allmacht der Deutschen bekundeten, war für ihn unverständlich. Unverständlich war, dass sie sich über die Tatsache keine Rechenschaft geben wollten, dass der deutsche Triumph mit ihrer eigenen Versklavung einherging. Für die einen sei es die Versklavung, jedoch für ihn und seine nächsten und weit entfernten jüdischen Angehörigen bedeute es den Tod, schrieb Hechter.
Der Antisemitismus wuchs in Rumänien täglich an. Hechter fragte sich, ob dieser unter jedem Defätismus brüte und darauf harre, sich zu entfalten. Er erlebte ihn nicht blass auf der Strasse und in den Cafes, sondern auch auf militärischer, administrativer und diplomatischer Ebene. Ein deutliches Zeichen war, dass der rumänische Aussenminister Grigore Gavencu, der seit Beginn des Kriegs die rumänischen Neutralität zu wahren versucht hatte, abgesetzt und durch Ion Gigurtu ersetzt wurde, der den Nazis und insbesondere Göring nahe stand, der sich auf die Nürnberger Gesetze berief und der Eisernen Garde Ministerposten zubilligte.
Am 10. Juni 1940 vernahm losif Hechter über Rundfunk von der Kriegserklärung Italiens an Frankreich und England, auch dass die Deutsche Armee die Seine überschritten hatte. Er verbrachte den Abend im Institut Francais unter französischen Freunden, in der vagen Hoffnung, dass nicht alles verloren sei. Doch am nächsten Tag wusste er, dass Paris von drei Seiten umzingelt war und dass die Regierung „in die Provinz” abgereist war. ,,Die Provinz” bedeutete Verhandlungen mit der deutschen Besatzungsmacht in Bordeaux, welche die Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens in Compiegne resp. die von Hitler geforderte bedingungslose Kapitulation Frankreichs beinhaltete. In der Nacht vom 14. Juni, hörte er am Radio den französischen Ministerpräsidenten Paul Reynaud, der die britische Appeasement-Politik abgelehnt und gegenüber Hitler eine klare Gegenhaltung bekundet hatte, der trotz der militärischen Niederlage auf keinen Fall kapitulieren wollte, ,,ein Lebewohl von grösster Verzweiflung” aussprechen. ,,Es scheint ein allerletztes Wort zu sein, das der Kapitulation vorausgeht'<“, ahnte Hechter. Reynaud trat von seinem Posten zurück und wurde durch Marschall Philippe Petain ersetzt, der diese am 22. Juni 1940 unterzeichnete. ,,Alles gleicht dem Tod eines geliebten Wesens. Du verstehst nicht, wie es geschehen konnte, du kannst es nicht glauben. Der Verstand setzt aus, das Herz fühlt nichts mehr.( … ) Ich möchte weinen können.”(75)
losif Hechter konnte nach diesen Zeilen sein Tagebuch während Monaten nicht fortsetzen. Die Geschehnisse und die Grenzverschiebungen in Europa konnte er nicht festhalten, nicht die Besetzung von Paris durch die deutschen Truppen, nicht die Besetzung der baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen durch die sowjetischen Truppen, nicht das Schicksal Rumäniens. Am 28. Juni geschah der Einmarsch russischer Truppen und die ultimative Forderung nach Rückgabe der Nordbukowina und Bessarabiens an die Sowjetunion, die diese Gebiete nach dem Ersten Weltkrieg an Rumänien hatte abtreten müssen. Ebenso forderte Ungarn die Rückgabe des nördlichen Teils von Siebenbürgen und Bulgarien die Rückgabe des südlichen Teils der Dobrudscha. Die rumänische Bevölkerung war über diese schweren territorialen Verluste aufgebracht und verlangte deutschen Schutz, bis sich König Carol II duckte und den der Eisernen Garde nahestehenden Ion Antonescu zum Ministerpräsidenten resp. zum Staatsführer mit uneingeschränkten Vollmachten erklärte. Deutsche Truppen marschierten ein, und im Streit um Siebenbürgen entschied das von Hitler unterzeichnete Wiener Schiedsgericht am 30. August 1940, dass diese Gebietsrückgabe an das ebenfalls mit Deutschland liierte Ungarn umzusetzen sei. Am 6. September zwang Antonescu den König zur Abdankung, ersetzte ihn durch seinen Sohn Mihail I und baute durch die Koalition mit Horis Sima, dem Führer der Legionäre, eine faschistische Diktatur auf, die er als „Nationallegionären-Staat” bezeichnete. Am 27. September unterzeichnete er den Beitritt Rumäniens zum Dreimächteabkommen zwischen dem Deutschen Reich, Italien und Japan.
Als am 1. Januar 1941 Hechter die Aufzeichnungen in seinem Tagebuch wieder aufnahm, fasste er aufs knappeste zusammen, wie er die vergangenen Monate unter schwierigsten Bedingungen im Militärdienst überlebt hatte. Die Tatsache, dass er infolge der antisemitischen Gesetze sowohl seine Mitgliedschaft bei der Anwaltskammer wie seine Anstellung bei der Stiftung für Literatur verloren hatte, erschien ihm wie etwas Beiläufiges, ebenso, dass er, seit Antonescu im September 1940 die Herrschaft übernommen hatte, wie alle Juden anstelle von Militärdienst “Zwangsarbelt mit der Schaufel” leisten musste, die ebenfalls vom Militär überwacht wurde. Er fühlte sich krank und kraftlos, schrieb von Fieber und vom Gefühl lähmender Angst. Am 21. Januar 1941 beobachtete er von seiner kleinen Wohnung im Zentrum von Bukarest aus den Aufstand der Legionäre, die gegen Antonescu rebellierten. Anstelle einzelner Plätze in der faschistischen Regierung des “Nationallegionären Staats” wollten sie die ganze Macht an sich reissen.
In diesem Zusammenhang kam es in Bukarest zu einem der schlimmsten Pogrome. Innerhalb von drei Tagen wurden nach offiziellen Angaben über hundert, tatsächlich aber mehrere tausend jüdische Bewohner massakriert, auf der Strasse oder im nahe gelegenen Wald von Baneasa und von Jilava, oder sie wurden im Schlachthaus von Straulesti erschossen, aufs schrecklichste zugerichtet und nackt liegen gelassen. Zusätzlich wurden Tausende aus ihren Wohnungen gejagt, zusammenschlagen und gequält, deren Wohn- und Geschäftshäuser wie die Lehrhäuser und selbst die Synagogen wurden ausgeraubt und in Flammen vernichtet. Josif Hechter notierte, dass noch am 23. Januar das Getöse von Maschinengewehren und schreienden Stimmen weiterging, dann am nächsten Tag, dass er motorisierte Kolonnen der deutschen Wehrmacht beobachtete, die mit Maschinengewehren im Anschlag durch die Hauptstrassen von Bukarest defilierten. Er war in grosser Sorge um seine Eltern und den jüngeren Bruder Benu, die im alten Antim-Quartier lebten, und der hoffte, dass dieses möglicherweise mit dem christlich orthodoxen Kloster im Zentrum weniger gefährdet war als die jüdischen Viertel Vacaresti und Dudesti, doch es gab nirgendwo mehr Sicherheit. Am 24. Januar holte ihn eine nicht-jüdische Freundin in seiner Wohnung ab und fuhr ihn in ihrem Auto durch die Stadt zu seinen Eltern, begleitet von einem aufgelöst wirkenden Legionär. Sie wollte diese überzeugen, aus Antim wegzuziehen, doch Hechters Familie beharrte darauf, in der Wohnung zu bleiben und sich zu verbarrikadieren.
Das Regime von Antonescu wurde zu einer reinen Militärdiktatur, die das Bündnis mit Hitler- Deutschland noch enger bekundete und dieses gegenüber der jüdischen Bevölkerung wie gegenüber den Roma gnadenlos umsetzte. Einzelne Bekannte und Freunde Hechters verliessen Rumänien und zogen nach Kairo oder nach Paris oder nach London, obwohl sich auch diese Städte im Kriegszustand befanden. Er entschied auszuharren und zu beobachten. Auf keinen Fall wollte er resignieren. Am 27. März 1941 erfuhr er spät nachts über einen Radiosender, dass Jugoslawien, das am Tag zuvor in Wien den Dreimächtepakt unterschrieben hatte, auf völlig überraschende Weise einen antideutschen Staatsstreich gewagt hatte: dass Prinzregent Paul abgedankt und sich ins Ausland abgesetzt hatte, dass König Peter im Alter von 17 Jahren die Macht übernommen hatte, mit einer neuen Regierung, zu der drei serbische Minister gehörten, die gegen den Betritt zum Dreimächtepakt protestiert hatten. Was würde diese Tatsache bewirken? Sie änderte nichts an der anderen Tatsache, die am selben Abend über Radio Bukarest bekannt gegeben wurde, dass alle jüdischen Immobilien ab sofort enteignet seien und an rumänische Lehrer, Offiziere, Staatsbeamte etc. vergeben würden. Schon seit Tagen war ihm bewusst, dass auch er die Wohnung, die er bewohnte, aufgeben musste, da der Eigentümer den Mietzins ins Unzahlbare gesteigert hatte, dass er sich vermutlich in Antim mit einem Bett in der kleinen Wohnung seiner Eltern begnügen musste.
Hechter hielt fest, wie der Krieg voranschritt, in Nordafrika bis nach Eritrea und Abessinien sowie im Mittelmeer südlich von Kreta zu Gunsten der Engländer, in Mitteleuropa zu Gunsten der Deutschen. Grenzen wurden wertlos. Besitzerklärungen über Länder und Menschen veränderten sich von Woche zu Woche. Am März 1941 notierte er, dass die Wehrmacht die Donau überschritten habe und seit drei Tagen Bulgarien besetze, am 6. April, dass Deutschland Jugoslawien den Krieg erklärt und Belgrad bombardiert habe. Im Norden und Süden Jugoslawiens habe es Tausende von Gefangenen gegeben, Ljubljana sei von den Italienern besetzt, Zagreb von den Deutschen, in deren 11Schutz” sich Kroatien zum unabhängigen Staat erklärt habe. Die mit Deutschland liierte ungarische Armee sei über die serbische Nordgrenze marschiert, um die ungarische Bevölkerung zu 11schützen”, die rumänische Armee sei mit der gleichen Erklärung ins Banat vorgedrungen. Die Ereignisse überstürzten sich. Als Hechter am 13. April 1941 vom Neutralitätsabkommen zwischen Moskau und Tokio erfuhr, ahnte er, dass der Ausbruch eines russisch-deutschen Kriegs zu befürchten war. Gleichzeitig sah er voraus, dass innerhalb weniger Wochen nicht nur ganz Jugoslawien, sondern auch Griechenland – inklusive Kreta – und Albanien von der Wehrmacht und der Gestapo besetzt sein würden. All dies trat ein, ebenso die Rückeroberung durch die Deutschen der von England erkämpften Gebiete Libyens.
Gleichzeitig wurden in Bukarest die Lebensbedingungen für die jüdische Bevölkerung zunehmend enger: die Radiogeräte wurden beschlagnahmt, die jüdischen Namen aus der Geschichte der rumänischen Literatur entfernt, vor den geschlossenen Bäckereien kam es zu Warteschlangen, die Telefonverbindungen wurden durchschnitten. Hechter hatte seine eigene kleine Wohnung aufgeben müssen. Auf der Strasse beobachtete er die Verhaftung jüdischer Bewohner Bukarests, eine lange Kolonne von Menschen, die meisten gepflegt bekleidet, von Soldaten umzingelt. Er schilderte, wie Eugen lonescu, der Schriftsteller und Maler, ihn besucht und mit blankem Entsetzen in den Augen mitgeteilt habe, der Krieg gegen die Russen sei eine definitive Tatsache. Und so war es. Am 22. Juni 1941 gab der Staatschef über Radio bekannt, dass “Rumänien an der Seite Deutschlands in den heiligen Krieg zur Befreiung Bessarabiens und der Bukowina und zur Vernichtung des Bolschewismus zieht.”(76)
Tag für Tag notierte Hechter, was er erfahren konnte: das Vordringen der deutschen Truppen in die Region von Vilna, dann Richtung Minsk und weiter, fortgesetzte Fliegeralarme in Bukarest und in anderen rumänischen Städten, erste Bombardierungen und Tote, zunehmend weniger Überblick über den Frontverlauf. Er hielt auch fest, was ihn ängstigte: die wachsende antisemitische Aufhetzung auf Plakaten, in der Presse und am Radio, dann, dass die jüdische Bevölkerung aus den moldauischen Dörfern deportiert worden sei und dass sich die Massnahme auf andere Regionen ausdehne, dass am 29. und 30. Juni 1941 in Iasi fünfhundert “jüdische Freimaurer” von rumänischen und deutschen Polizei- und Militäreinheiten hingerichtet worden seien, doch tatsächlich wurden 13’000 jüdische Bewohner und Bewohnerinnen massakriert. In Buzau, Ploiesti und Rimnic wurden alle jüdischen Männer zwischen zehn und sechzig Jahren in improvisierte Lager interniert, ganze Züge voller Juden wurden nach Calarasi deportiert. Auch in Bukarest sollten die männlichen Juden registriert und abtransportiert werden. Ein von der Front zurückgekehrter Offizier berichtete Hechter, dass die Armee den Befehl erhalten habe, in Bessarabien und in der Bukowina alle Juden, die erfasst werden konnten, zu erschiessen.
Während die neue Offensive der Deutschen in der Ukraine voranging und die Umzingelungsaktion zwischen Dnjstr, Dnjepr und Schwarzem Meer im offiziellen deutschen Cornmunique als erfolgreich bekannt gegeben wurde, notierte Hechter, zum Glück könne er noch Anderes lesen, unter anderem mit grosser Intensität das sechste Buch von Thukydides über den Krieg Athens gegen Syrakus, über die griechische Militärexpedition nach Sizilien und über Verhandlungen mit den Kolonien. Es gebe packende Analogien zwischen dem Peloponnesischen Krieg und den Kriegen von 1914 und 1939. Die griechischen Stadtstaaten hätten lediglich die antisemitische Ablenkung nicht gekannt, möglicherweise aber eine andere Ablenkung, gewiss jene mit den Sklaven und Sklavinnen. Er könne kaum mehr über die aktuelle Stunde hinausschauen, es seien Tage endloser Angst, die anstelle von Denken bleierne Apathie bewirkten. Er habe von der Verhaftung von Freunden und Freundinnen erfahren, ohne zu wissen, aus welchen Gründen, er frage sich, wann er abtransportiert würde.
Am 2. August 1941 mussten losif Hechter und sein jüngerer Bruder Benu sich mit Proviant und Wäsche für drei Tage auf der Präfektur melden. Es handelte sich, wie er schrieb, um eine „wahre Massenrekrutierung” von jüdischen Männern zwischen zwanzig und fünfzig Jahren. Die meisten seien aus dem Bukarester Vacaresti-Viertel, ,,elende Gruppen von ausgehungerten, gespenstisch aussehenden Juden mit jämmerlichen Reisesäcken, ( … ) von denen zahlreiche in Kolonnen umgebildet und in Marsch gesetzt wurden. “(77) Sebastian und seinem Bruder wurde eine kleine Verschnaufpause gewährt, doch es stand fest, dass sie zur Zwangsarbeit beordert würden, und tatsächlich wurde Benu am 29. August als erster „in die Provinz” abgefahren. Ebenso stand fest, dass sie wie die jüdischen Menschen von Czernowitz und von Jasr bald den Davidstern würden tragen müssen. Die Antonescu- Regierung verlangte gleichzeitig von der jüdischen Bevölkerung die sofortige Zahlung von zehn Milliarden Lei, und drei Tage später zusätzlich die persönliche Ablieferung von 4000 Betten mit der gleichen Anzahl Kissen, Decken, Betttüchern und Kissenbezügen, innerhalb von zwei Tagen, ansonsten die Polizei oder Armeeeinheiten diese beschaffen werde, ferner von 5000 Stiefeln, Hüten und Kleidungen. ,,Ein jämmerliches Schauspiel im Hof der Grossen Synagoge ( … }. Ständig kommen geplagte Menschen an, die Sachen auf dem Rücken schleppen, schicksalsergeben, traurig, ohne Widerstand oder Irritation. Nichts wundert uns mehr. “(78) Das persönliche Leben wurde zunehmend enger. Der Eigentümer des Hauses in Antim, in welchem er mit seinen Eltern und Benu lebte, verlangte die Unsumme von 93’000 Lei, um den Mietvertrag zu erneuern. Einen Umzug ins Auge zu fassen war nicht möglich, gleichzeitig blieb fürs praktische überleben praktisch nichts mehr, zumal sich auch die Lebensmittelpreise fast täglich verdoppelten. Sebastian fühlte sich seiner Mutter gegenüber hilflos und in grösster Verzweiflung. Er nahm sich vor, sich um jede Art von Arbeit zu bemühen, um irgendwie Geld verdienen zu können.
Es wurde Oktober und die deutsche Wehrmacht liess in der Presse wissen, sie sei für die Winteroffensive gerüstet, die gesamte sowjetische Front sei kollabiert, die Offensive auf Moskau sei in vollem Gang. Hechter war skeptisch, doch gleichzeitig wusste er, dass eine Hoffnung auf baldigen Frieden illusorisch war. Mitte Oktober setzte Nieselregen und schneidende Kälte ein, gleichzeitig drangen Informationen durch, dass die Juden aus den Städten und Dörfern der Bukowina auf lange Märsche geschickt würden, das Ziel sei Transnistrien. Eine andere Mitteilung ergänzte, dass die Wege nach Bessarabien und in die Bukowina übersät seien von Leichen von Menschen, die, aus ihren Häusern gejagt, auf der Flucht in die Ukraine gewesen seien, Greise, Kinder, Frauen, Kranke. ,,Ein antisemitischer Irrsinn, den nichts aufhalten kann. Es gibt keine Zurückhaltung, kein Mass, ( … } Es handelt sich um pure Bestialität, eine entfesselte, schamlose, gewissenlose, zwecklose, sinnlose Bestialität. ( … ) Von Juni bis jetzt sind über 100’000 Juden ermordet worden. Wie viele von uns sind noch übrig? Wie lange noch, bis wir alle ermordet sind? Mein Herz ist schwer und traurig. Wohin soll ich mich wenden, was ist noch zu erwarten?”(7)
Hechter konnte nicht wissen, dass unter Antonescu’s Herrschaft zwischen 280’000 und 380’000 jüdische Frauen, Kinder und Männer in Transnistrien ermordet würden, ferner gegen 250’000 Roma, eine unvorstellbare Anzahl von Toten, die in Anpassung an Hitlers Forderungen das damalige Rumänien zu einem Land der Toten machte. Er war in täglicher Geldnot, musste immer wieder Geld von jemandem aus dem Bekanntenkreis borgen, damit er seiner Mutter das Nötigste für den Haushalt bieten und gleichzeitig die Darlehen wieder zurückzahlen konnte. Er nahm im Hachette-Verlag, der noch einen Vertreter im Bukarest hatte, den Übersetzungsauftrag von Kinderbüchern an, obwohl er wusste, dass er einen sehr geringen Lohn dafür erhalten würde. Auch versuchte er, ein Theaterstück zu schreiben oder in juristischer Hinsicht einen Auftrag zu finden.
Der Krieg auf der Weltbühne veränderte sich. In Bukarest wurde bekannt, dass Hitler am 21. Dezember 1941 Generalfeldmarschall von Brauchitsch abgesetzt und selber das Oberkommando über das deutsche Heer in Russland übernommen hatte. Ebenso wurde bekannt, dass die russische Armee die Deutschen zum Rückzug drängte. Im Januar und Februar 1942 häuften sich ständig widersprüchliche Meldungen, auch was die Kriegssituation in Nordafrika, im Pazifik und in Ostasien betraf.
In Bukarest wurde am 20. Januar ein 11neues Kornrnunique über die Juden” veröffentlicht, in welchem hiess, dass 11alle Juden, ohne irgendeine Ausnahme, verpflichtet seien, fünf Tage lang Schnee zu räumen”, ansonsten sie der jüdischen Arbeitstruppe zugewiesen und nach Transnistrien versetzt würden. Aus den fünf Tagen wurden zehn Tage. Die Forderung dauerte bis Anfang März an. Auch losif Hechter und sein Bruder Benu blieb nicht anderes übrig, als von Morgen um halb sechs bis abends um acht Uhr Schnee zu räumen, ständig unter Kontrolle der Polizei. Doch er sagte sich, dass es in den Kriegsgefangenen- und Konzentrationslagern noch viel härter zuging als in Bukarest, dass die Schikane, die er erlebte, nicht zu vergleichen war. Die erneute Steigerung der Monatsmiete versetzte ihn in grössere Verzweiflung als die Schneeräumungsarbeit, auch die Nachricht, die Anfang April eintraf, dass sich in Dorohoi, in der nördlichen Bukowina, die Deportationen der Juden fortsetzten, ferner dass in Kertsch auf der Halbinsel Krim, wo die jüdische Bevölkerung schon Ende November-Anfang Dezember 1941 aufs grausamste zusammengetrieben und in einem Panzergraben vernichtet worden war, wieder neue Kämpfe der Sowjets gegen die Deutschen stattfanden. Hechter selber wurde Ende Mai gezwungen, 5000 Lei für fünf Tage Schneeräumen zu bezahlen, obwohl er zehn Tage gratis gearbeitet hatte. Trost suchte er im Übersetzen von Shakespeare’s Sonnetten ins Rumänische, auch in der Hoffnung, sich noch gründlicher mit Shakespeare zu befassen und irgendwann ein Buch über ihn zu schreiben.
„Die absurde Unwirklichkeit unseres Lebens. Wir lesen noch Bücher, vermögen noch zu lachen ( … ) Manchmal habe ich den Eindruck, dass der Juden Fluch nichts mehr mit dem Krieg zu tun hat. Der Krieg ist irgendwo anders, auf einer anderen Ebene, in einer anderen Dimension ( ….)”(80)
Für losif Hechter wiederholten und steigerten sich die Grenzerfahrungen, die sich ihm eingeprägt hatten und die er neu erlebte: am 17. Juni 1942 waren es zwei Jahre her seit der Verzweiflung ob der französischen Kapitulation, am 22. Juni 1942 ein Jahr seit Beginn des Kriegs gegen Russland, in welchen Rumänien durch das verhängnisvolle Bündnis mit Hitler- Deutschland einbezogen war. Die deutsche Offensive unter Feldmarschall Friedrich Paulus und unter der Oberbefehlsmacht Hitlers nahm im Juli 1942 mit der 6. Deutschen Armee, der 4. Panzerarmee und der 4. Rumänischen Armee riesige Ausmasse an. An einzelnen Stellen hatten die deutschen Truppen den Don überschritten und drangen Richtung Wolga vor, während an anderen Stellen das russische Heer Widerstand leistete. Dass mit der Offensive die Schlacht um Stalingrad einsetzte, die mit einer russischen Gegenoffensive ab dem 19. November 1942 eine Einkesselung der deutschen Truppen und eine Kehrtwende im Krieg bewirken wird, mit Hunderttausenden von Toten und Gefangenen, das konnte Hechter noch nicht wissen, obwohl die Mutmassungen um die Entwicklung des Kriegs ihn und seine Freunde zutiefst bewegten.
Gleichzeitig verfinsterte sich im Sommer 1942 der Überlebensraum der Juden. Am 8. August erschien in der Tageszeitung der deutschen Botschaft, im Bukarester Tagblatt, ein langer Artikel über die Pläne, wie Rumänien bis in einem Jahr judenfrei sein werde. ,,Eine bedrückende Atmosphäre, voller dunkler Vorahnungen, Befürchtungen und Ängste, die man nicht zu Ende zu denken wagt. Und Poldy? ( … ) Man erzählt von massiven Abtransporten von Juden aus Frankreich nach Polen. Ein immer finsterer, irrwitzigerer Albtraum. Werden wir jemals aus ihm erwachen?”(81) Am nächsten Tag fanden grosse Razzien in Bukarest statt, überall Absperrketten und Patrouillen, ein paar Tage später das Gesetz, dass alle Fahrräder abgegeben werden mussten und dass Juden für Brot den doppelten Preis zahlen mussten wie Christen, wenig später, dass sie jeden fünften Tag kein Recht auf Brot haben, wieder etwas später, dass die Bücher jüdischer Autorinnen und Autoren aus den Buchhandlungen und Bibliotheken entfernt werden mussten. Die Männer, Frauen und Kinder, die während der Razzien aus ihren Wohnungen gejagt worden waren, wurden in einem Sammellager gefangen gehalten, am 7. und 9. September 1942 in Lastwagen abtransportiert, einen Tag später in Zügen zusammengepfercht und nach Transnistrien deportiert. Ab dann gingen Abtransporte und Deportationen nach Transnistiren fast täglich weiter.
Das Jahr ging allmählich dem Ende zu. In Frankreich hatten Wehrmacht und Gestapo ab dem 11. November auch die unbesetzten Gebiete eingenommen, in Nordafrika hatten sich die USA in die Kämpfe eingemischt. Die Grenzen zwischen den deutsch besetzten und den von den Allierten zurückeroberten Gebieten änderten vorweg. In Russland im Grenzbiet der Wolga und des Kaukasus war die Lage für die Bevölkerung wie für die in den Krieg einbezogenen Soldaten katastrophal. ,,Der Krieg ist nun in einer Phase, in der die Deutschen nicht mehr tun können als bisher, und die Allierten noch nicht so viel tun können, wie sie vermögen. ( … ) Das wird ein langer Abnutzungskrieg, bis das Kräfteverhältnis sich entscheidend verändert. “(82)
Mit dem neuen Jahr setzte sich das alte Jahr fort, es gab keine Zeitgrenze, die einen Neuanfang bewirkt hätte, im Gegenteil. Die Tagesrationen für Brot wurden nochmals verdoppelt, der Geldmangel wurde immer drückender, die deutschen Cornmuniques über den Krieg waren verlogen und undurchsichtig. Gegen Ende Januar sagten sie praktisch täglich aus, dass “die grosse Winterschlacht an der Ostfront ungebrochen weitergeht und auf andere Gebiete übergreift”. Doch am 1. Februar 1943 erfuhr Hechter, dass der Kampf um Stalingrad vorbei war, dass Generalmarschall Paulus aufgegeben hatte, dass er selber und mit ihm über hunderttausend deutsche und rumänische Soldaten in russischer Kriegsgefangenschaft waren, etwas später, dass zusätzlich auch in den Regionen von Charkow und Kursk, die die Deutschen seit dem Herbst 1941 besetzt hielten, die sowjetische Gegenoffensive Erfolg hatte. .Nlernand hätte im September (1942) gewagt, sich diesen Ausgang auch nur vorzustellen, erst recht nicht vorauszusagen. “83 Die deutschen Cornmuniques meldeten jedoch Widerstand, Gegenangriffe, Initiativen, Erfolge und Angriffe aus allen Rohren. Hechter stellte sich vor, einen Essay über Die physische Realität der Lüge zu schreiben, wie “die Lüge, sei sie auch noch so sehr an den Haaren herbeigezogen, sich entwickelt und entfaltet, Gestalt annimmt, Wurzeln schlägt, zum System wird, und wie sie ab einem bestimmten Punkt die Tatsachen ersetzt, selbst zur Tatsache wird und einen unerbittlichen Druck ausübt, nicht auf die Welt, sondern auch auf den Lügner selbst.”(84)
Der Monat März wie der Monat April 1943 begannen und gingen vorüber mit ständig wechselnden Kämpfen auf Seiten der Deutschen wie auf Seiten der Sowjets an mehreren russischen Fronten, ebenso auf Seiten der Deutschen wie auf Seiten der Allierten an der nordafrikanischen Front, bis am 8. Mai 1943 die Meldung nach Bukarest gelangte, dass Tunis und Bizerte gefallen seien, dann am 13. Mai, dass die Achsenmächte die Kapitulation erklärt hätten. Der Afrika-Krieg war damit zu Ende. Die Frage stellte sich für Hechter, ob die Allierten nun planten, in Europa zu landen, oder ob sie noch zu wenig darauf vorbereitet waren und dies erst ein Jahr später wagen würden. Mitte Juni wurden die Inseln Pantelleria und Lampedusa von den Allierten besetzt, so dass die Strasse von Messina völlig frei war, dann Mitte Juli Sizilien. Gleichzeitig verstärkten sich die nicht nur auf Italien, sondern auch auf Deutschland gerichteten Fliegerangriffe. Trotzdem wagten die Deutschen auf der Linie zwischen Orel, Belgorod und Kursk nochmals einen mächtigen Angriff, um die Ukraine zurückzugewinnen. In Prochorow kam zu einer Panzerschlacht mit enormen Verlusten, bis Hitler am 13. Juli 1943 befahl, von weiteren Angriffen abzusehen. Die sowjetische Armee war im deutsch besetzten Gebiet überall im Vormarsch.
Was Rumänien innenpolitisch betraf, da waren die Vorahnungen und Ängste wegen neuer antisemitischer Gesetze, Deportationen und Internierungen in Lager bedrückend. Am 13. Mai 1943, am Tag der deutschen Kapitulation in Nordafrika, notierte Hechter, es seien 250 junge Juden aus den “mobilen Einsatztruppen” in Marschkolonnen eingeteilt und zu Zwangsarbeit nach Transnistrien weggeschickt worden. Zusätzlich wiederholten sich die erstickenden Geldnöte, die Rückzahlungen von geliehenem Geld und die Dringlichkeit von neuen Geldquellen. Er übersetzte unter anderem Jane Auster’s Pride and Prejudice und andere englische Texte ins Rumänische, in der Hoffnung, dafür ein genügendes Honorar zu erhalten, doch was er einnehmen konnte, ging gleich wieder weg. Er hatte das Glück, ein paar Wochen als Gast beim Fürsten Antoine Bibescu und dessen Frau Elizabeth in Corcova seine Kräfte auftanken zu können. Als er am 8. September 1943 wieder in Bukarest war, erfuhr er, dass Italien kapituliert hatte und ein grosses Chaos herrsche, dass die Deutschen noch Rom und Norditalien besetzt hielten, während die Engländer andere Teile erobert hätten, dass Mussolini von deutschen Fallschirmjägern und SS-Leuten befreit worden sei.
Mitte September war der Krieg an allen Frontlinien wieder voll im Gang, jedoch anders. Es wurde bekannt, dass allein vor Odessa 18’000 rumänische Soldaten gefallen seien. Hechters grosse Befürchtung war, dass die Deutschen, wenn sie im Herbst oder Winter ihre eigenen Grenzen gefährdet sähen, Rumänien besetzen würden, um sich den Rücken frei zu halten. Berlin wurde heftig bombardiert, auch im Oktober und November, doch die offiziellen Mitteilungen der Deutschen gaben in erster Linie Erfolg vor, obwohl sie Kiew räumen mussten. Die Kämpfe um die Ukraine gingen jedoch unentwegt weiter, um Schytomyr, um Korosten, um Gomel und um weiter Orte. “Keine der propagandistischen Floskeln zeigt mehr Wirkung, keine apologetische Erklärung macht mehr Sinn. Die Russen gewinnen immer mehr Boden zurück. ( … ). Doch der Krieg wird noch dauern. Sein Rhythmus beschleunigt sich nicht, im Gegenteil.”( … ). Am 8. Dezember 1943: “Ein besorgniserregender Brief von Poldy. Er ist sehr krank und musste sich zwei Operationen unterziehen. 1941 war er drei Monate in einem Konzentrationslager, und seine Gesundheit nahm dort Schaden. ,,J’ai eu faim, horriblement faim”, schreibt er mir. Und ich wusste überhaupt nichts, weiss immer noch nichts. Der Krieg wird wieder zu dem grauenvollen Albtraum, den ich in letzter Zeit aus schierer Gedankenlosigkeit verdrängt habe.”( … ) Dann am 11. Dezember 1943:
„Schlagzeile in den Abendausgaben: 12’000 Verhaftungen in Frankreich. Sofort denke ich an Poldy ( … ) immer denke ich an ihn.”(85) So ging das Jahr zu Ende. ,,Habe in letzter Zeit nichts mehr über den Krieg notiert. ( … ) Seit der Konferenz von Kairo und Teheran(86) scheinen sich die Ereignisse zu überstürzen. Berlin ist Ziel unablässiger heftiger Fliegerangriffe. Im Nordatlantik wurde vor drei Tagen das deutsche Schlachtschiff Scharnhorst versenkt. überall (selbst im deutschen Lager) rechnet man jeden Moment mit der Landung der Allierten. ( … ) Dennoch glaube ich persönlich nicht, dass es im Westen mitten im Winter zu einer Offensive kommt. ( … ) Doch der Krieg ist weiterhin hier, mit uns, neben uns, in uns. Er nähert sich dem Ende, doch gerade deswegen ist alles viel dramatischer. Jede persönliche Bilanz verliert sich im Windschatten des Kriegs. An erster Stelle ist er selbst, seine schreckliche Präsenz. Irgendwo weit dahinter stehen wir mit unserem geschrumpften, faden, lethargischen Leben und warten selbstvergessen auf unser Erwachen, auf unsere Auferstehung.”(87)
1944 setzten die Aufzeichnungen von Josif Hechter erst am 8. April wieder ein, nach dem ersten schweren Bombenangriff der Allierten auf Bukarest. Die Bombenangriffe folgten sich. Viele Wohnquartiere und Strassen wurden zerstört, unzählige Wohnhäuser, offizielle Gebäude und Fabriken gingen in Flammen auf, Hunderte oder Tausende von Menschen starben. Es gab keine genauen Mitteilungen. Hechter notierte, was er erfahren konnte und was er erlebte. Offiziellen Mitteilungen gegenüber war er skeptisch, er ging selber ins Grivita-Viertel, das neben anderen völlig zerstört worden war. ,,Vom Bahnhof bis zum Boulevard Basarab blieb kein Haus verschont. Der Anblick ist erschütternd. Noch immer werden Leichen ausgegraben. Man hört noch jammernde Laute unter den Ruinen. ( … ). Am Morgen hatte es geregnet, und über dem ganzen Viertel hing ein Geruch nach Schlamm, Russ und verbranntem Holz. ( … ) Ich konnte nicht viel weiter gehen und kehrte um, mit einem Gefühl von Ekel, Grauen und Ohnrnacht.T” Die Bombenangriffe wiederholten sich. Tagsüber und nachts gab es Fliegeralarme. Immer wieder gingen ganze Quartiere in Flammen auf. Hechter bemühte sich, nach Möglichkeit seine Mutter zu schützen. Gleichzeitig vertiefte er sich in die Lektüre von Balzac’s Werken und stellte sich vor, ein Buch über Balzac zu schreiben. Er wollte keiner persönlichen Verzweiflung Raum lassen. Ein Gerücht ging um, dass am 10. Mai ganz Bukarest zerstört würde, und Tausende von Menschen hatten deshalb die Stadt verlassen. Hechter und seine Familie wollten nicht fliehen, obwohl die Schutzräume, die fast alle zwei Stunden aufgesucht werden mussten, nicht wirklichen Schutz bieten konnten.
Gleichzeitig setzten sich die Angriffe der Allierten gegen Italien fort, wie Hechter aus den Nachrichten erfuhr. Am 5. Juni 1944, neun Monate nach der Kapitulation Italiens, wurde Rom besetzt. Und einen Tag später, am 6. Juni 1944, konnte er erfahren, dass die Invasion in der Normandie begonnen hatte. ,,Eisenhower richtet eine Ansprache an die Völker Europas. Churchill erklärt, dass 4’000 grosse Schiffe und 11’000 Flugzeuge an der Operation teilnehmen.”89 Einige Tag später notierte Hechter, dass sich alles nicht mehr „so schockartig” weiter entwickle wie nach der ersten Angriffswelle, doch das Wichtigste sei, dass die Truppen der Allierten nun auf dem Kontinent seien. Der „Atlantikwall” sei kein unüberwindliches Hindernis gewesen, ebenso wenig die von den Deutschen angedrohte „Geheimwaffe”. Zehn Tage später wurde diese gegen jede Erwartung „enthüllt”: eine führerlos gelenkte Rakete, die auf London abgefeuert wurde. ,,London in Flammen. Millionen von Engländern auf der Flucht. London zerstört. London evakuiert.”(90) Hechter war in einem Cafe und hörte, wie am Nebentisch eine Gruppe legionärshöriger Intellektueller, die er kannte, vor Begeisterung ausriefen, nach London müsse noch Washington getroffen werden. Er wurde sich bewusst, dass Menschen letztlich nur das sehen und aufnehmen wollen, was von ihrem Standpunkt aus Bedeutung hat. ,,Eine fixe Idee ist ein hermetisch abgeschlossenes Universum. “(91)
Hechter lebte nicht in einem „hermetisch abgeschlossenen Universum”. Er informierte sich und nahm wahr, soweit sein Kräfte es zuliessen: die Befreiung von Cherbourg konnte nicht in zwei Tage gelingen, wie die Allierten geplant hatten, sondern brauchte zwanzig Tage und liess eine völlig zerstörte Stadt zurück. In Finnland war die russische Armee in zwei getrennten Routen von grossem Ausmass auf dem Vormarsch. In Bukarest kam es ab dem 28. Juni wieder zu Fliegerangriffen, die sich bis Ende Juli fortsetzten und auch das Stadtviertel von Atim trafen. ,,Wie seltsam das Entwarnungssignal danach klang! Entwarnung für wen? Für uns, die überlebenden? Und für die anderen? Ein Tag wie jeder andere folgt, trotz Leichen und brennenden Häusern.”92 Eines Nachts seien die Erschütterungen stark wie die eines Erdbebens gewesen, die Wände hätten gewankt, eine Staubwolke habe die Tür des Kellerraums aufgerissen und Brandgeruch hereingeweht. Als er hinausgegangen sei, hätten überall gewaltige weissgelbe Flammen gezüngelt. Hechter fragte sich, was die Bombenangriffe bezweckten, ob sie Rumänien unter Druck setzten, aus dem Achsenbündnis auszutreten?
Seiner Ansicht nach veränderte das Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 nichts an der Kriegssituation, doch er deutete es als Zeichen eines Auflösungsprozesses, der sich wie ein Krebsgeschwür ausbreitete. Er hielt fest, es gebe ohne Zweifel Spannungen innerhalb der deutschen Führung. Tatsächlich breche in Polen und in den baltischen Staaten die deutsche Front unter dem Anmarsch der sowjetischen Truppen zusammen: in Lettland sei Dvinsk gefallen, in Estland Narva, in Polen Bialystock und weitere kleinere und grössere Städte. Die nächsten Ziele seien ohne Zweifel Riga, Memel, Warschau, Krakau.(93) Die Situation in Frankreich erscheine ihm von der nördlichen Invasion her undurchschaubar, der deutsche Widerstand in Caen halte noch immer an, doch in Südfrankreich gehe die Mitte August erfolgte Landung allierter Truppen schnell voran. Bedeutungsvoll sei der Abbruch der diplomatischen Beziehungen der Türkei mit Nazideutschland. Gegenüber Rumänien stünden den Allierten dadurch viel nähere Luftbasen zur Verfügung.
Am 21. August 1944 notierte Hechter, die russischen Truppen seien schon gegen die Moldau und Bessarabien vorgedrungen, last sei von ihnen erobert worden. Es sei nicht zu erwarten, dass sich die Deutschen bald und aus freien Stücken zurückziehen würden. Eine Kapitulation Rumäniens würde ohne Zweifel Repressionen nach sich ziehen, wie dies in Norditalien der Fall gewesen sei. Es müsse mit einem Pogrom gerechnet werden.
Am Dienstag, 29. August hielt er kurz fest: ,, Wo soll ich anfangen? Wie soll ich es sagen? Die Russen sind in Bukarest. Paris ist befreit. Unser Haus in Antim von Bomben zerstört.”(94) Etwas ausführlicher fasste er anschliessend zusammen: Am Mittwoch, 30. August, habe der Staatsstreich stattgefunden. Innerhalb von fünf Minuten sei Staatschef Antonescu entmachtet gewesen, die Kapitulation sei eingereicht und akzeptiert sowie eine neue Regierung ausgerufen worden. In der Nacht auf Donnerstag hätten überall in der Stadt Menschen vor Freude gebrüllt. Er habe für die Zeitung Romtinio Libera, die erste kommunistische Zeitung in Rumänien, ununterbrochen über die Ereignisse geschrieben, glücklich über die Möglichkeit, in dieser Nacht als Journalist tätig sein zu können. Als er sich gegen Morgen auf den Weg nach Hause gemacht habe, hätten die Sirenen zu heulen begonnen und gleichzeitig hätten Bombardierungen eingesetzt, wie sie in Bukarest noch nie erlebt worden seien. Pausenlos habe er 60 Stunden im Schutzkeller verbracht. Mit einem der letzten Angriffe sei auch das Haus in Atim getroffen und zerstört worden, doch wie durch ein Wunder hätten er und seine Angehörige überlebt.
Hechter und seine Familie fanden eine Notunterkunft in einem leer stehenden Haus, doch nach wenigen Wochen brauchten sie eine andere Unterkunft. Das Leben zwischen Obdachlosigkeit und „provisorischem Dasein” setzte sich bis zum Jahresende fort, ,,wie einer, der in einem Provinzbahnhof auf seine Verbindung wartet. Habe keine Bücher, keinen Arbeitsplan. Weiss nicht, wo ich die Menschen treffen soll, die mich interessieren, und sie wissen erst recht nicht, wo sie mich finden können. Entkräftet und arbeitslos. “(95)
Das Glücksgefühl neu gewonnener Freiheit war schnell verblasst, in jeder Hinsicht. Bei der Romania Libero trat er von der Mitarbeit zurück, als er feststellte, wie stalinistisch gleichgeschaltet die Redaktion war. Seine Dankbarkeit und Bewunderung für die russischen Soldaten wichen der Verwirrung und Angst, als er von vergewaltigten Frauen und ausgeraubten Geschäfte erfuhr, auch als das Anhalten fahrender Autos und Kleinbusse durch Soldaten erlebte und deren selbstverständliche Aneignung nach dem Herauszerren von Chauffeur und Mitfahrern. Ab dem 1. September 1944 galt das Verbot, sich nach neun Uhr abends auf der Strasse aufzuhalten. Dazu kam das Gebot der Zwangsabgabe von Radiogeräten. Am meisten befremdet und angewidert fühlte sich Hechter jedoch durch das anpasserische Lecken nach einem Platz an der Spitze und neuem Erfolg sowohl seitens seiner jüdischen wie der nicht-jüdisch rumänischen Kollegen, auch durch die skrupellose Reinwäscherei und das Vorgeben politischen Widerstandes durch Mitläufer und aktive Vertreter der Legionäre und des ganzen faschistischen Systems.
Zusammen mit Benu sah er einen Film über den Krieg in der Ukraine. ,,Alle Vorstellung übersteigendes Grauen. Worte, Gesten versagen hier samt und sonders”, an einem anderen Abend in einer Tagesschau die endlosen Kolonnen deutscher Gefangener, die durch Moskau marschierten, das Gegenteil der sportlichen, eleganten Nazimenschen, die durch Bukarest defiliert waren, mit Gesichtern, die nun den jüdischen und bolschewistischen „Untermenschen” in den Schlammmassen und Blutlachen Polens und Transnistriens ähnlich waren, die mit Triumph in den Zeitungen des Dritten Reichs gezeigt worden waren. Trotzdem wusste er, dass die Freiheit, das Einzige, wonach er sich in den Jahren des Terrors gesehnt hatte, durch das russische Regime, das nun Rumänien besetzte, nicht erreichbar war. Auch war spürbar, dass sich der Antisemitismus fortsetzte.
„Die Geschichte macht keine Geschenke” hatte Hechter selber vor Jahren In einem von ihm verfassten Manifest des national-Demokratischen Blocks geschrieben. Plötzlich hörte er, dass dieser Satz auf Radio London wiederholt wurde, ohne dass sein Name genannt worden wäre. Die Entwicklung der europäischen und der anderen Kriegsfronten zu verfolgen war ihm nicht mehr möglich. Er konnte erfahren, dass Frankreich ganz befreit war, Belgien zur Hälfte, Luxemburg und Holland ganz, dass die deutsche Westfront, die „Siegfriedlinie”, an vielen Stellen durchbrochen war, dass Aachen unter dem Feuer der Allierten stand.
losif Hechter’s letzte Aufzeichnung ins Tagebuch geschah am 31. Dezember 1944. Er hatte sechs Tage in den Bucegi-Bergen am Rand der Südkarpaten verbringen können, die er von früheren Aufenthalten kannte, ,,einen Tag in Predeal und sechs Tage in einer Hütte am Diham-Berg. Kein Schnee zum Skifahren, aber dennoch ein schöner Urlaub. Ergriffen von den Bucegi-Bergen, die ich nach einer so langen Zeit wieder gesehen habe. Ein weisses Licht, das der Winterlandschaft eine gewisse Plastizität gab. In den letzten zwei Tagen war alles vom Nebel verschluckt. Ich vermag kaum etwas zu sagen oder zu schreiben. Die Sprache versagt hier. Manchmal blieb ich einfach stehen, um die Landschaft genauer zu betrachten und sie in meinem Gedächtnis einzubrennen. Alles war vielfältiger, komplexer, mysteriöser, als ich es hier wiedergeben kann. ( … ) Schleppe mit mir meine alte Erschöpfung und Einsamkeit. Der letzte Tag des Jahres. Ich schäme mich, so traurig zu sein. ( … ) Ich muss an Poldy denken. Es schmerzt mich, ihn so weit weg zu wissen, doch ich hoffe, ihn wiederzusehen. Alles andere geht in Wehmut und Hoffnung unter.”
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Zurück in Bukarest widmete sich losif Hechter unter dem Namen Mihail Sebastian erneut dem Verfassen von Theaterstücken. Auch nahm er nach einigem Widerstand ein Angebot des Aussenministeriums als Presseberater an, in der Hoffnung, eines Tages als Delegierter ins Ausland gelangen zu können. Ebenso stimmte er einem Lehrauftrag an der Fakultät für Literatur an der Universität von Bukarest zu. Als er am 29. Mai 1945 auf dem Weg zur Universität war, um seine Antrittsvorlesung über Balzac zu halten, wurde er beim Überqueren der Strasse von einem Lastwagen überfahren und getötet.
Poldy und Benu Hechter überlebten ihren Bruder. Poldy, der nach der Besetzung Frankreichs von der Gestapo gefangengenommen und nach Drancy abgeführt worden war, konnte fliehen und untertauchen, bevor er nach Auschwitz deportiert worden wäre. Benu gelang 1961 die Flucht aus Rumänien. Er nahm das Manuskript des Tagebuchs seines so tragisch verstorbenen Bruders mit nach Frankreich, wo er seinen ältesten Bruder Poldy (in Frankreiche hiess er Pierre), dessen Ehefrau Bea und dessen zwei Töchter finden konnte. Die beiden Brüder waren sich uneinig, ob die Publikation zu wagen war. Benu war dagegen, Poldy dafür. Doch als er sich in Frankreich um einen Verleger bemühte, begegnete er nur bedauerlicher Ablehnung, vermutlich weil die Anhängerschaft an die Eiserne Garde von Mircea Eliade und von Emil M. Cioran geheim gehalten werden sollte. Auch Eugene lonescu, der sich ebenfalls in Frankreich aufhielt, leistete keine Unterstützung. Als jedoch nach dem Tod von Benu im Jahr 1991 das Manuskript in die Hände von Poldy’s Töchtern gelangte, und als ein Freund von Leon Volovici(96) sich für die Publikation einsetzte und zu diesem Zweck von New York nach Paris kam, konnte das Tagebuch unter dem Pseudonym Mihail Sebastian 1996 erstmals in Rumänien im Verlag Humanitas als Buch erscheinen, darauf 1998 im Claassen Verlag, Berlin, in der Übersetzung von Edward Kanterian.
Am 20. November 2006 erhielt losif Hechter alias Mihail Sebastian für seine Tagebücher 1935 –1944 in München die posthume Ehrung durch den Geschwister-Scholl-Preis(97).
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Damit schliesse ich die Vorlesung zu den Grenzerfahrungen individueller und kollektiver Identität und Differenz ab, die uns zuletzt dank der Auszeichnungen losif Hechters in die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts hinein geführt hat. Sie setzt sich in der Aktualität fort. Der jüngste Krieg in der Ukraine, in Syrien und Jemen, in Gaza und im Westjordanland(98), die Diktaturen in Eritrea und in weiteren afrikanischen, asiatischen und osteuropäischen Ländern, so wie die Tragik der grossen Flüchtlingsströme, die gegen die Grenzen und Abwehrzäune Europas und der europäischen Länder stossen, sind Tatsachen, die an die Mitverantwortung aller pochen, die davon Kenntnis haben. Freiheit und Sicherheit sind die gleichen Grundbedürfnisse aller Menschen, deren Erfüllung und Umsetzung nicht von staatlicher Herkunft oder Ethnie und Religion, nicht von Hautfarbe und beruflichen oder gesundheitlichen Fähigkeiten abhängig gemacht werden dürfen. Wer darüber verfügt, ist verpflichtet, die Notleidenden daran teilnehmen zu lassen, entsprechend der Grammatik der Reziprozität. Was für diejenigen, die über Rechte, Sicherheit und Entscheidungsmacht verfügen, an Entrechtung und Entbehrung, an Not und Angst nicht tragbar wäre zu erdulden, kann niemandem zugemutet werden.
Möglicherweise konnte im Lauf der vergangenen Stunden verständlich werden, dass sich die Reflexion über die immanenten Grenzen von Zeitlichkeit und Weltzugehörigkeit auf keinen Fall auf wissenschaftliche Theorie beschränken kann, sondern in jeder Form des Zusammenlebens bei allen individuellen wie bei allen kollektiven – politischen, sozialen und ökonomischen – Beschlüssen und deren Umsetzung Beachtung braucht. Es wäre ein grosser Gewinn im menschlichen Zusammenleben, könnte dadurch die Fragilität der Grenzen in Hinblick auf die Prävention von Gewalt und Kriegen wie die Möglichkeit des prozesshaften Aufbaus respektvollen Zusammenlebens besser verstanden, angestrebt und umgesetzt werden.
- Vorlesung
Braucht es die Begrenzung des Grenzenlosen?
“Entfemt sich die Erde/ Oder nähert sich der Horizont?/ Niemals vermöchte man in diesen grossen Entfernungen / das Gleichgewicht zu halten,/ dessen was man verliert oder gewinnt.” – (“Est-ce la terre qui s’éloigne / ou l’horizon qui s’approche? / On ne saurait jamais dans ces grandes distances / tenir la mesure / de se qu’on perd ou ce qu’on gagne. “(99)
Vergangenes Jahr haben wir uns im gleichen Rahmen mit den Gesetzmässigkeiten des Kosmos befasst, das grenzenlos erscheint, jedoch zeitliche und räumliche Grenzen hat, die vorvergangenen Jahre mit den Fragen der Zeit sowie der menschlichen Tugenden und Laster im Verhältnis zum eigenen Ich wie im Verhältnis zu anderen Menschen. Wir haben die Auseinandersetzung zwischen philosophischen, naturwissenschaftlichen und religiösen Erkenntnissen verfolgt und kamen zur Erkenntnis, dass trotz aller wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritte im Bereich der Philosophie, der Psychologie und Psychoanalyse, der Sozialwissenschaften und der menschlichen Sprache, der Mathematik und Astrophysik, generell der Physik und der Chemie, der Biologie, der Geologie und Ökologie, der Medizin, der alltagspraktischen Erkenntnis-, Entscheidungs- und Verhaltensmöglichkeiten, des zwischenmenschlichen Vertragsrechts sowie des Staats- und Völkerrechts, trotz der Verbreitung von Bildung sowie allgemein gültiger ethischer und moralischer Grundsätze, religiöser Erklärungen oder rechtlicher Forderungen, dass sich trotz der Erweiterung und Vertiefung in allen Wissensbereichen die Tatsachen des feindseligen, destruktiven Verhaltens im menschlichen Zusammenleben in keiner Weise verringert haben, dass sich diese nicht zu Gunsten des kreativen, wechselseitig wohlwollenden Verhaltens geändert haben. Zahllose Fragen nach dem “Warum” und nach dem “Wie weiter” bleiben unbeantwortet, vielleicht unbeantwortbar. Dies ist ein wichtiger Grund, weshalb wir dieses Jahr die Auseinandersetzung mit der Frage nach der Bedeutung der Grenze – der Grenzen – fortgesetzt haben und weiter fortsetzen.
Gibt es Grenzenloses im Bereich von Erfahrung und Erkenntnis? Ist das Grenzenlose das, was in religiöser Hinsicht das Göttliche ist, im religionswissenschaftlichen und philosophischen Zusammenhang das Transzendente? Kann das, was das sinnenmässig Erkennbare und Denkbare überschreitet – transzendiert-, überhaupt gedacht oder erkannt werden? Gibt es hierfür taugliche Worte? Franz Kafka hatte auf seinen Zürauer Zetteln festgehalten: ,,Die Sprache kann für alles ausserhalb der sinnlichen Welt nur andeutungsweise, aber niemals auch nur annähernd vergleichsweise gebraucht werden, da sie entsprechend der sinnlichen Welt nur vom Besitz und seinen Beziehungen handelt. “(100)
Gemäss Kafka kann somit die Art der Beziehung zum Transzendenten heschildert weden, das Transzendente selber nicht. Wir können annehmen, dass er das intuitive Erkennen meinte, eher ein sich dem Erkennen annäherndes Ahnen, das seit Platons Ideenlehre nicht nur die Philosophie, sondern auch Dichter und Dichtrinnen angeregt hat. In den Religionen gehört es zum Bereich des Glaubens. Doch liess nicht die sinnliche Entgrenzung der Ideenlehre, die sich dem kritischen Überprüfen und dem praktischen Nachforschen entzieht, die Ideologien entstehen, die im Bereich der Religionen mit dem Alleinrichtigkeits- und Wahrheitsanspruch über Jahrhunderte zum grenzenlos rivalisierenden Kampf führten? Ging mit dem damit verbundenen Besitz- und Machtanspruch über Menschen und ganze Völker nicht das Transzendente verloren? Simone Weil(101) schrieb im Frühling 1941, als sie sich in Marseille in einer geheimen Widerstandsbewegung gegen die deutsche Besetzung und die Vichy-Regierung engagierte, man dürfe Gott nicht soweit herabwürdigen, dass man aus ihm einen Parteigänger in einem Krieg mache. Ungezählte sinnlose Verfolgungen und Kriege, die Rechtfertigung von Folter und Tötung, damit verbunden grenzenloses menschliches Leiden entstand aus dem Missbrauch religiöser Lehren. Das Grauen vergangener Geschichte wiederholt sich bis in die heutige Zeit.
Jede Art von Gewalt bedeutet Nichtbeachten und übergehen von Grenzen im Verhältnis des Menschen zu sich selbst und zu anderen Menschen.
Doch beruht nicht auch jede Form von Rauschzustand auf dem Bedürfnis nach Aufhebung von Grenzen? Ist nicht Masslosigkeit überhaupt verbunden mit dem Verlust schützender Grenzen? Die völlig entgrenzte Entwicklung der Hochtechnologie sowohl in der digitalisierten Kommunikation wie in gigantischen Kontrollmassnahmen und Rechenleistungen, in der Molekularbiologie wie in den übrigen Naturwissenschaften und deren Umsetzung in digital gelenkte, chemische und atomare Waffensysteme, in der Gentechnologie und deren Eingriff ins Erbgut der Menschen, der Pflanzen und Tiere, in der Finanzwirtschaft mit den täglichen virtuellen Geldtransaktionen von Billionen, die die praktische Weltwirtschaft beherrschen und lenken, die ganze exponentielle Entwicklung dessen, was zu Beginn der industriellen Entwicklung als „Fortschritt” bezeichnet wurde, hat eine Steigerung der Virtualität geschaffen, die die menschliche Lebensrealität erstickt und zerdrückt. Sie wurde zur grenzenlosen, nicht mehr einzudämmenden Diktatur, unter deren Versklavung ein grosser Teil der Menschheit vielfach darbt. Orientierungslosigkeit durch den Verlust realer Arbeit und verlässlicher Beziehungen, Angst und Misstrauen besetzen deren Alltag, virtuelle Beziehungen ersetzen diejenigen echter Begegnung und Verantwortung, blinde Gefolgschaft unter per Internet verkündete Ideologien bewirkt die Umsetzung von Feinderklärungen und von Gewalt in neuen ausserstaatlichen Kriegen.
Die Masslosigkeit in jedem Bereich ist verhängnisvoll. Selbst wenn Virtualität zur Realität wurde, sind die destruktiven Folgen dieser Entwicklung nicht virtuell, sondern aufs leidvollste real, voller Unglück und Leiden. Lässt sie sich anhalten? Ist eine Korrektur möglich?(102)
Ich nehme an, dass auch die harten Erziehungsmethoden, die über Jahrhunderte das Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern prägten und die sich in den militärischen Strukturen wie zum grossen Teil in den Anstellungsverhältnissen von Firmen und Verwaltungen durch statusmässige Überordnung und Unterordnung von Befehlenden und Gehorchenden fortsetzen, dass auch diese auf ungleichen Grenzsetzungen im menschlichen Werteverhältnis beruhen, auf funktionaler Abgehobenheit oder Überheblichkeit und auf abhängigkeitsbedingter Unfreiheit. Das heisst, jede Art menschlicher Erniedrigung und menschlichen Grössenwahns wird letztlich durch Nichtbeachtung von Grenzen bewirkt, möglicherweise jede Art von menschlich verursachtem Unglück. Glück könnte somit auf einem optimalen Ausgleich von Erfüllung der wichtigen Grundbedürfnisse und von Erfahrung schützender Grenzen beruhen, auf einem Wertempfinden, das in jeder Art und Form von Verhältnis frei von besitz- und macht- oder marktbedingter Bewertung ist, frei von jeglicher Angst vor Verlust, somit auf Gleichwertigkeit.
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Dies mag der Bedeutung von “Grenze” in Zusammenhang von “Kunst” nahe kommen, wie Alfred Wolfenstein sie verstand, als er schrieb: “Rings kreischt es von Ohren und Seele zerreissender Halbheit … Manches verwandte Können ist gesucht – aber mit der Kunst beginnt die Grenze. Nach ihr fragt man immer weniger nach, und die bessere Wahrheit lautet: es ist der Kunst nicht einmal gestattet, darauf zu rechnen … Sie ist der Archimedespunkt ausserhalb der Geldwelt, um die Erde zu bewegen.”(103)
„Mit der Kunst beginnt die Grenze”. Gemeint ist Kunst im Sinn der vielschichtigen Ausdrucksmöglichkeit der individuellen Sprache menschlicher Lebenserfahrung, die sich abgrenzt von jeder anderen. Sie bedarf „mehrerer Lesarten gleichzeitig, übereinander gelagerter Lesarten”, wie nicht Alfred Wolfenstein, sondern – in ähnlichem Sinn – Simone Weil(104) in einem ihrer Cahiers von Frühling 1941 schrieb, auch sie in allen Lebenserfahrungen fern von der „Geldwelt”, erfüllt vom Bestreben des Aufbaus, der Gestaltung und der Erfahrung eines ausgewogenen Ordnungssystems angstfreien Zusammenlebens. Ein solches sollte jedem Menschen in dessen Abhängigkeit von anderen Menschen die Erfüllung seiner Bedürftigkeit und die Entfaltung seiner persönlichen kreativen Fähigkeiten ermöglichen, wie immer sich diese äussern, ob im Werden und Wachsen, im Fragen und Lernen, im Tun, Herstellen und Gestalten, im handwerklichen oder landwirtschaftlichen oder wissenschaftlichen oder administrativen oder künstlerischen Wirken, im Bebauen oder im Erkunden und Forschen, im Ernähren und Schützen, im Vermitteln von Wissen und im Heilen von Leiden. Dieses Ordnungssystem basiert auf der Grammatik der Reziprozität resp. der Wechselverpflichtung und Wechselwirkung im Erfüllen der menschlichen Grundbedürfnisse, die Simone Weil 1943 in ihrem letzten Werk L’Enracinement’t” eingehend begründet hat. Es wächst aus jenem der Grundrechte, die jedem Menschen von seinem ersten bis zum letzten Atemzug zustehen, den Kranken wie den Gesunden und den Geschwächten wie den Starken im gleichen Mass. Simone Weil sprach von der „Gleichwertigkeit verschiedener und sogar entgegengesetzter Dinge, die aber auf einer Ebene bleiben und die gleichen Notwendigkeiten nur anders ausdrücken. Tausend Beispiele im Leben eines Menschen. In der Komposition eines dichterischen Werkes. In den Gesellschaften. ( … ).”(106)
Wie Alfred Wolfenstein bezog auch Simone Weil sich dabei auf das von Archimedes um das Jahr 287 vor unserer Zeit erkannte Hebelgesetz. Mehrmals berief sie sich in ihren Notizen darauf. Es beruht auf dem Gleichgewicht, das entsteht, wenn die Summe aller an einem Hebel anliegenden Drehmomente gleich null ist, das heisst, wenn Kraft mal Kraftarm gleich Last mal Lastarm ist, so dass ein an Länge und Stärke dem richtigen Mass entsprechender Körper oder Arm – ein Hebel – von seinem Angelpunkt aus, das heisst vom Punkt der Verankerung aus schwerste Gewichte heben kann. Sie fragte sich, ob das Gesetz, das für den Einsatz von physikalischer Energie gilt, damit dank dem Hebel eine vielfache Steigerung der Wirkung zustande kommt, ohne dass der Aufwand vergrössert werden muss, ob dieses Gesetz auch im Bereich der geistigen Energie gelte. Für sie war klar, dass solange blass Wissen an Wissen addiert wird, das heisst, solange „kein Hebel da ist”, Veränderungen höchstens linear, auf der gleichen Ebene geschehen, als Summierung oder quantitative Anhäufung von Wissen, ohne dass ein Mehrwert und durch diesen eine qualitative, exponentielle Veränderung, dadurch etwas Neues entstände. Sie kam zum Schluss, dass die verblüffende Bedeutung von „Handlungen, die wie Hebel hin zu mehr Wirklichkeit sind”(107) für jede Form von Aufmerksamkeit gilt, selbst im Unbedeutendsten, das vom einzelnen Menschen mit oder für andere Menschen getan wird.
Simone Weil überlegte sich, welche Form der Energie diese Hebelwirkung auslösen könnte. Ob es jene „zusätzliche, unstete Energie” sei, fragte sie sich, die den „Schlüssel zum menschlichen l.eben” darstellt, die somit auch die „sexuelle Energie” betrifft? Ob es zutiefst die Kraft des Verlangens sei, die Kraft des „eros{{ in der Bedeutung von Sokrates’ Symposion, die sich auf einen Gegenstand und auf die grösstmögliche Nähe zum Gegenstand des Verlangens ausrichtet? Simone Weil war sich bewusst, dass sich das Verlangen ändern kann, dass anstelle einer Verschmelzung zum Zweck der biologischen, körperlichen Fortpflanzung eine andere Art von Neuschöpfung – une procreatlon – angestrebt werden kann, im Sinn dessen, was „Sublimation” in der Thermodynamik bedeutet resp. der Veränderung des festen in einen gasförmigen Stoff, oder eher der 11Sublimierung{{, wie Sigmund Freud sie verstand: als Verlagerung der Kraft des Verlangens auf eine andere Ebene, in einen anderen Bereich, ohne dass sie ihre eigentümlich, auf Erfüllung ausgerichtete Zielstrebigkeit verlöre. Was dadurch erreicht werden kann, ist ein Werk der Innerlichkeit, das zugleich nach Aussen wirkt, ob es eine Erkenntnis sei, ein künstlerisches Werk, oder ein politisches oder soziales Engagement. Was es auch sei, es bedarf, damit die Hebelwirkung „hin zu mehr Wlrklichkeit” gelingt, immer der qualitativen Veränderung, das heisst der Verlagerung des ursprünglichen Verlangens auf eine andere Ebene: auf jene des Wissensdurstes, des schöpferischen Willens, des Mitfühlens fremden Leidens, der sozialen oder politischen Verantwortung.
Diese Verlagerung bedeutet, gemäss Simone Weil, Verzicht auf unmittelbare, schnelle Befriedigung. In der Psychoanalyse besteht hierin die Aufmerksamkeit und Geduld, die den Schritt vom Unbewussten ins Bewusstsein ermöglicht. Simone Weil gelang damit eine wichtige Erkenntnis. Sie stellte „Handlungen, die wie Hebel zu mehr Wirklichkeit sind” jenen entgegen, die „einen Schirm (einen weiteren Schirm) zwischen sich und der Wirklichkeit schaffen.(108) Das Unbewusste hat tatsächlich eine Schirmfunktion, die manchmal in mehreren Schichten eine verdunkelnde Eingrenzung der Erkenntnismöglichkeit und des Wissens bewirkt. Indem es schützt, stimuliert es zu Gefühlen und Handlungsentscheiden, die möglicherweise einen hemmenden und abwehrenden oder kompensatorischen Effekt haben, möglicherweise aber auch einen rettenden. Falls jedoch der „Schirm(/ auf Grund von Angst vervielfacht wird, kann der Schutz so dicht und undurchdringlich werden, dass er zur Kapsel wird und eine Abkapselung bewirkt. Simone Weil fragte sich, wie sich diese lösen lässt. Auf den „Schirm” zu verzichten, mag zuerst ängstigen, doch sie war überzeugt, dass letztlich nur schirmlos die Wirklichkeit erfahren werden kann. Selbst wenn diese hart ist, kann deren Kenntnis mehr innere Sicherheit und Klarheit bewirken, möglicherweise sogar ein Gefühl der Freude ob der Befreiung von Selbsttäuschung und Unklarheit, entsprechend dem Resultat der Hebelwirkung resp. der Verlagerung von Energie. Die Hebelwirkung beruht auf Mut und bewirkt auf einer anderen Ebene eine Stärkung des Wertgefühls. Damit erklärt sich Simone Weils Erwähnung des „Blindenstocks”, den sie mit dem Hebel in Verbindung setzte: Hebel und Blindenstock.
Wozu dient der Blindenstock den Blinden? Wofür steht er als Metapher?
Den Blinden dient der Stock als Mittel, um Distanz und Nähe abzuschätzen, um einen Gegenstand, der dem voranschreitenden Menschen als Hindernis entgegensteht, rechtzeitig wahrzunehmen sowie dessen Grösse und Konsistenz zu erahnen. Der Blindenstock findet sich bei Simone Weil in all ihren Cahiers als erkenntnistheoretische Metapher. Vermutlich übernahm sie diese aus Descartes Meditationes. Auch Descartes war der Meinung, dass der Mensch auf dem Weg der Erkenntnis zur Unterscheidung von Wahrem und Falschem einen Blindenstock – une canne – brauche.
Gemäss Simone Weil übernimmt die Vorstellungkraft – l’imagination – diese Funktion. Die Vorstellungskraft ist dem Einfühlungsvermögen – l’intuition – nah, sie lässt das „blinde” Erkennen „sehend” werden und ermöglicht so eine nahe, unbegriffliche, intuitive Erkenntnis, die das Verstehen bewirkt, ein Verstehen über die Kraft der Gefühle, über Mitempfinden, Mitfühlen und Mitleiden – Sympathie und Empathie -, das die Begrenztheit der wahrnehmungsmässigen, sinnlichen wie der begrifflichen Erkenntnis öffnet. Simone Weils persönliches Entscheidungsvermögen wurde davon beeinflusst. Ihr kritischer Geist bezog sich auf jede Art von Macht, auf theoretische, begriffliche Wahrheits- oder Richtigkeitserklärungen wie auf politische, gesellschaftliche und religiöse Ideologien. Gegenüber menschlichem Leiden wie gegenüber ihrem eigenen Wissenshunger war sie jedoch „schirmlosu, letztlich grenzenlos in ihrem Verlangen, Unklares klarer zu erkennen und das Leiden der Leidenden zu lindern. In der Kriegszeit nach der Besetzung Frankreichs durch Wehrmacht und Gestapo, insbesondere ab 1942-1943 galt ihre Aufmerksamkeit vor allem dem Leiden der Verwundeten und Sterbenden an der Front. Als die französische Exilregierung in London ihr diese Hilfeleistung nicht zugestand, sondern von ihr verlangte, einen sozialethischen Entwurf für Frankreich-nach-dem-Krieg zu schreiben und sie diesen mit L’Enracinement erfüllt hatte, gönnte sie sich keine lebensstärkende Nahrung mehr. War ihre Geduld erschöpft? Franz Kafka hatte zu Beginn seiner Zeit in Zürau festgehalten, möglicherweise als Warnung an sich selbst; ,,Alle menschlichen Fehler sind Ungeduld, ein vorzeitiges Abbrechen des Methodischen, ein scheinbares Einpfählen der scheinbaren Sache.”(109) So starb sie mit vierunddreissig Jahren an Entkräftung sowie an Tuberkulose und Herzinsuffizienz, an einer Summierung tödlicher Ursachen, die möglicherweise aus dem grenzenlos vielschichtig gewordenen Verlust ihrer Verwurzelung ins Leben gewachsen sind und ihren oft erprobten Mut, schwierigen Aufgaben die Stirn zu bieten, erstickt haben.
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Grundlegende Gedanken über die Pflichten dem Menschen gegenüber, die Simone Weil in Enracinement festgehalten hat, wurden durch kritische, politische Bewegungen und profitfreie Nichregierungsorganisationen aufgegriffen, die sich zu Gunsten der Umsetzung der Menschenrechtserklärung von 1948 aktiv einsetzten und dies weiter tun. Sie überzeugen Menschen durch die Dringlichkeit ihrer Anliegen und Zielsetzungen zu Unterstützung und freiwilligem Einsatz.
Ein Beispiel ist das 1970 das Bariloche–Modell(110), das anlässlich einer Tagung in Rio de Janeiro entstand, zu welcher der Club of Rome einberufen hatte und in welcher eine grosse Anzahl von Wissenschaftlern die Einschränkung der Zukunftsforschung auf die Frage der begrenzten Ressourcenvorräte beanstandete. Sie beschlossen, mit Unterstützung durch die Stiftung von Bariloche111 ein anderes Projekt- und Forschungsteam zusammenzustellen und dabei nicht vom theoretischen Ansatz klassischer Ökonometrie auszugehen, bei welchem das Kapital der bedeutendste Produktionsfaktor ist und Normen sich als Ergebnis der Arbeit am Modell ergeben, sondern Arbeit und Kapital als gleichbedeutende Produktionsfaktoren zu berücksichtigen und mit dem theoretischen Ansatz von sozialethischen Normen eine konstruktive Zukunftsforschung zu realisieren. Dass der geschundene Planet dringlich des Schutzes und des Wiederaufbaus bedarf, der Rückgewinnung von Wäldern, von pestizidfreiem Boden, von gesundem Trinkwasser, von unverseuchten Meeren und unverschmutzter Luft, das wurde in keiner Weise in Frage gestellt, im Gegenteil. Doch das Ziel des Bariloche-Modells sollte sich nicht auf die ökologische Krisenvermeidung beschränken, sondern eine Stufenplanung sozialer und politischer Entwicklungspolitik anstreben, um aufzuzeigen, was die absoluten Grenzen zumutbaren Elends sind und um die Bekämpfung von Armut und Elend, Hunger und Unterernährung, von Bildung und einem sicheren Dach über dem Kopf, letztlich von Verweigerung einfachster Menschenrechte bei zwei Dritteln der Erdbevölkerung so realisieren zu können, dass gute Lebensbedingungen für alle geschaffen werden können.
Das Modell beruht auf lateinamerikanischen Erfahrungen, richtet sich jedoch auf die Korrektur menschlich entwürdigender, nicht tragbarer Mangelbedingungen im Zusammenleben in allen Teilen der Welt aus, ,,angesichts vorhandener gewaltiger Hilfsquellen an Bodenschätzen, Energie sowie des intellektuellen Potentials der Menschheit. Lösungswege sollen abgesteckt, nicht nur Analysen gegeben werden. ( … ) Die Bariloche- Gruppe hält ,Einkommen’ für ein überbewertetes Konzept. Erst wenn die im Modell beschriebenen Grundbedürfnisse befriedigt sind, kann gerechte, erwünschte, wachstumsbetontere oder befriedigendere Einkommensverteilung angestrebt werden. { … ) Von Mimima, nicht von Maxima wird gesprochen, vom unbedingt Notwendigen, vom zentral Wünschbaren. Das Bariloche-Weltmodell ist ein Entscheidungsmodell. “(112) Es sollte ein Ja zur Aufhebung des durch grenzenlosen Besitz- und Bereicherungshunger einzelner Menschen geschaffenen Elends von Millionen und Millionen von Menschen bewirken.
War das Bariloche-Modell eine Utopie? Oder entstanden in der Folge praktische Umsetzungen? Tatsächlich wurde zum Beispiel 1988 im brasilianischen Porto Alegre, als die Arbeiterpartei die Wahlen gewann, ein neues System des gerechten Zusammenlebens ausprobiert, das sich partizipative Haushaltpolitik(113) nannte und in welches alle Bürgerinnen und Bürger eingeschlossen waren. In erster Linie ging es darum, der Korruption und der einseitigen Bereicherung entgegen zu wirken, gleichzeitig den Bedürfnissen der armen Bevölkerung gerecht zu werden, deren Arbeits- und Lebensqualität zu verbessern und dadurch einem System der Gerechtigkeit, letztlich der Reziprozität näher zu kommen. In Brasilien gab es in der Folge gegen 200 weitere Gemeinden, die dasselbe Modell umzusetzen suchten, in ganz Lateinamerika an die 1000 Gemeinden. Möglicherweise gibt es auch einzelne in Nordamerika, in Europa oder in asiatischen und afrikanischen Ländern.
Auf jeden Fall entstanden Anfang der Sechziger- und Siebzigerjahre eine grosse Anzahl von internationalen Bewegungen und Organisationen – z. B. Amnesty International, Medecins sans frontieres, All Together for Dignity – ATD Vierte Welt, Greenpeace und viele mehr-, die sich für die Umsetzung der Menschenrechtserklärung sowie für eine Korrektur der menschlichen Entrechtung, des Elends und Leidens sowie der misssbrauchten, geschädigten Elemente der Natur einsetzten und dies weiter tun. Ebenfalls entstanden zahlreiche ähnliche politische und soziale Bewegungen, die im Bereich einzelner Nationen wirksam sind. Sie alle stellen eine kreative Gegenmacht dar, die unverzichtbar ist.
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Zum Abschluss scheint mir wichtig, nochmals auf die Kernbedeutung einer Grammatik des Zusammenlebens einzugehen, die jedem einzelnen Individuum den gleichen Wert als Subjekt wie als Objekt im Beziehungssystem einer privaten oder öffentlichen Gemeinschaft zuteilt. Das Ziel ist, jeder Form von Destruktivität Grenzen zu setzen, jeder Form von Gewalt, von Betrug und von Missbrauch, von Entwertung und Erniedrigung, die für diejenigen, die diese propagieren, rechtfertigen oder umsetzen, nicht ertragbar wäre, wenn sie ihnen angetan würde und sie diese ertragen müssten. Es geht um die Grammatik der Reziprozität, die mehrmals erwähnt wurde, ohne dass deren Bedeutung geklärt werden konnte.
Von der Wortbedeutung her handelt es sich bei Reziprozität in erster Linie um einen Zeitbegriff. Es geht um den schmalen Übergang im Augenblick des Entscheidens und Tuns zwischen “recus” – “was eben war” – und “procus” – “was eben sein wird”. “Was eben war” beeinflusst die Emotionen und das Denken, die das Entscheiden und Handeln bestimmen. “Was eben sein wird” betrifft die unmittelbaren Folgen des Tuns. Der Zeitbegriff ist zugleich ein Beziehungsbegriff, weil das, was vom einzelnen Menschen als Subjekt getan wird, sich sowohl auf ihn selbst auswirkt wie auf den und die Nächsten als Objekt, die auch wieder als Subjekte in Bezug zu sich selbst und in Bezug auf Andere agieren und reagieren. Ob es um Blicke oder um Worte gehe, um die Bewegung der Hand oder generell um den Entscheid, etwas oder nichts zu tun, alles hat Folgen in der Wechselwirkung. Das Wohlbefinden jedes Menschen, unabhängig von Namen, von Alter und Geschlecht, auch unabhängig von gesellschaftlicher Stellung, beruht auf der Wechselwirkung von Subjekt- und Objektsein im schmalen Übergang zwischen “recus” und “procus”.
Reziprozität gilt auf gleiche Weise für Menschen, die stark und gesund sind wie für Menschen, deren Kräfte geschwächt sind. Damit im Zusammenleben keiner Art von Besonderheit oder von Zugehörigkeit etwas Erniedrigendes anhaftet, sondern dem Bedürfnis nach Freiheit ebenso entspricht wie jenem nach Wert, ist jene Achtsamkeit erfordert, die auch dem Wachstum und dem Aufblühen von Pflanzen entgegengebracht wird, jene besondere “cura” – “Pflege”, die in ältesten Zeiten dem Bebauen des Bodens galt und die, ganz analog, der “Kultur” menschlichen Zusammenlebens im gemeinsamen gesellschaftlichen Raum gelten sollte.
Selbst wenn Verschiedenheit und Besonderheit das individuelle Menschsein kennzeichnen, die menschlichen Grundbedürfnisse sind stets die gleichen. Es geht um Nahrung und Bildung, um die Anerkennung und Achtung von lebenswert, um die Entfaltung der persönlichen Begabungen, um Freiheit, insbesondere um Denkfreiheit und Religionsfreiheit, um gleiche politische und soziale Rechte, um Wohn- und Lebenssicherheit im Alltag, auch im Fall von Krankheit und von Versagen der Kräfte. Zutiefst geht es um das Bedürfnis nach Angstfreiheit und nach Glück. Was dieses Bedürfnis bedeutet, wissen alle, auch wie ungleich dessen Erfüllung erlebt wird. Der Hunger danach lässt sich nicht stillen durch die Anhäufung und Vermehrung von Haben. Die Erfüllung geht einher mit dem Erleben von Achtsamkeit, von Respekt und Wohlwollen im Verhältnis des Menschen zu sich selber und zu anderen Menschen, das heißt mit der Reziprozität von Achtsamkeit, Respekt und Wohlwollen, zutiefst von menschlicher Würde. Es ist diese Grundregel des Zusammenlebens, die das Individuum weder einengt noch beklemmt, da sie nicht auf Misstrauen beruht, sondern auf der Korrektur von Misstrauen. Sie beruht auf dem Wissen um den Wert jedes Lebens im Zusammenleben, in der wechselseitigen Abhängigkeit der Individuen von einander, wenn diese nicht gegen einander umgesetzt wird, sondern im Sinn der Reziprozität beachtet und genutzt wird wie die Grammatik der Sprache.
Als Maßstab in allen Belangen der Reziprozität, in denen ein Ungleichgewicht der Kräfte im Entscheiden und Handeln vorliegt, mag die Frage der Zumutbarkeit gelten. Sie richtet sich an das Subjekt, das im Zusammenleben über mehr Macht verfügt als diejenigen, die von ihm abhängig sind. Dadurch werden dem Unzumutbaren Grenzen gesetzt. Selbst wenn ein Entscheid als belanglos erscheinen mag, drängt sich dem einzelnen Menschen als Subjekt auf zu fragen: Könnte ich es ertragen, wenn jemand Anderer tun würde, was ich beschließe zu tun? Wären die Folgen dieses Entscheids für mich zumutbar? Macht ist immer ungleich verteilt, doch wer auf Grund von Funktion und Stellung Macht ausübt, trägt in erster Linie die Verantwortung, jede Art von Unrecht zu verhindern. Die Unterwerfung des eigenen Denkens und Entscheidens unter eine stärkere Macht, zum Beispiel unter eine Majorität von Stimmen, durch welche ein Gesetz geschaffen wird, durch welches Unrecht zu Recht erklärt wird, bedeutet den Verlust von Freiheit. Die innere Freiheit, ohne Zwang die eigenen Gefühle zu beachten, zu denken und danach zu handeln, rechtfertigt die Nichtbefolgung eines solchen Gesetzes. Die innere Freiheit ist ein so unbestreitbarer Wert, dass jeder andere Wert auf diesem beruht, selbst der im Zusammenleben höchste: jener der Freundschaft.
Freundschaft ist vermutlich die kostbarste Bezeichnung für eine Beziehung zwischen Individuen. Immer geht eine verlässliche Übereinstimmung in der Zustimmung zur je persönlichen Besonderheit damit einher, auch wechselseitig ein Absehen von jeder Art von Besitzanspruch, damit das Zugeständnis von Freiheit und von wechselseitigem Respekt, von Vertrauen. Dieses beinhaltet in erster Linie, dass keinerlei Leiden wiederholt wird, das direkt oder indirekt erlebt wurde. Es geht um die gelebte Reziprozität, die aus den nicht wählbaren Herkunftsbedingungen herausführt, möglicherweise mit diesen versöhnt und die Einsamkeit aufhebt. Freundschaft ermöglicht die wechselseitige Erfüllung aller wichtigen Grundbedürfnisse wie die Anerkennung und Umsetzung der gleichen grundlegenden Rechte. Die Achtung vor Grenzen gehört dazu, Grenzen, die nicht auf Angst oder Misstrauen beruhen und einengen, sondern auf Respekt vor der kreativen, stärkenden Kraft des wechselseitigen Vertrauens.
Literaturliste
David Albahari. Kontrollpunkte. Roman. 2013 Frankfurt am Main, Verlag Schöffling & Co
Robert Antelme. Das Menschengeschlecht. Als Deportierter in Deutschland. Aus dem Französischen von Eugen Helmle. 1990 München, Deutscher Taschenbuch Verlag
Walter Benjamin. Illuminationen. 1977 Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag
Johannes Bühler. Am Fuss der Festung. Begegnungen vor Europas Grenze. 2015 Stuttgart, Schmetterling Verlag
Hans Ebeling. Der Nationalitäten-Wahn. Der Geist der Rache und die Zukunft Europas. 1994 Hamburg, Europäische Verlagsanstalt
Daniela Dahn. Wir sind der Staat. Warum Volk sein nicht genügt. 2013 Reinek b. Hamburg, Rowohlt Verlag
Rainer Funk. Der entgrenzte Mensch. Warum ein Leben ohne Grenze nicht frei, sondern abhängig macht. 2011 Gütersloh, Gütersloher Verlagshaus
Amilcar 0. Herrera / Hugo D. Scolnik u. a. Grenzen des Elends. Das Bariloche-Modell. So kann die Menschheit überleben. 1977 Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag / 1978 Zürich, Buchclub Ex-Libris
Thomas Hobbes. Leviathan. Übersetzung von Jacob Peter Mayer. 1970 Stuttgart, Verlag Philipp Reclam jun.
Karl Jaspers. Von der Wahrheit. 1947 München, R. Piper Verlag/ 1984 Zürich. Buchclub Ex Libris
Hermann Kinder / Werner Hilgemann (chronologischer Abriss). Harald und Ruth Bukor (Karten). dtv–Atlas zur Weltgeschichte. Karten und chronologischer Abriss. Bd. I und II. 1966/1991 München, Deutscher Taschenbuch Verlag
Sarah Kofman. Rue Ordener. Rue Labat. Autobiographisches Fragment. Aus dem Französischen vom Ursula Beitz. 1995 Tübingen, Edition Diskord
Konrad Paul Liessmann. Lob der Grenze. Kritik der politischen Unterscheidungskraft. 2012 Wien, Paul Zsolnay Verlag
Primo Levi. Ist das ein Mensch? Aus dem Italienischen von Heinz Riedt. 1961 Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag
John Stuart Mill. Über Freiheit. Aus dem Englischen von Achim v. Borries. 1969 Hamburg, Europäische Verlagsanstalt / 1987 Frankfurt am Main, Athenäum Verlag
Charles-Louis de Secondat, Baron de la Brede et de Montesquieu. Vom Geist der Gesetze. Aus dem Französischen von Ernst Forsthoff. Bd. I und II. 1992 Tübingen, Verlag J.C.B. Mohr ( Paul Siebeck)
Ignacio Ramonet. Kriege des 21. Jahrhunderts. Die Welt vor neuen Bedrohungen. Aus dem Französischen von Birgit Althaler. 2002 Zürich, Rotpunktverlag
John Rawls. Eine Theorie der Gerechtigkeit. Aus dem Englischen von Hermann Vetter. 1995 Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag
Jean-Jacques Rousseau. Staat und Gesellschaft. Aus dem Französischen von Kurt Weigand. 1959 München. Wilhelm Goldmann Verlag
Sven Rücker. Das Gesetz der Überschreitung. Eine philosophische Geschichte der Grenzen. 2013 München, Wilhelm Fink Verlag
Mihail Sebastian. Voller Entsetzen, aber nicht verzweifelt. Tagebücher 1935-1944. Aus dem Rumänischen von Edward Kanterian und Roland Erb, unter Mitarbeit von Larisa Schippel.
2005 Berlin, Claassen Verlag (Ullstein Buchverlage) – Seit zweitausend Jahren. Roman. Aus dem Rumänischen von Daniel Rhein. 1997 Paderborn, Igel Verlag
Michael Sypien. Der Club of Rome und die Grenzen des Wachstums. Anmerkungen zur Zukunft der Menschheit. 2014 Hamburg, Bachelor & Master Publishing
Maja Wicki-Vogt. Erbschaften ohne Testament. Über Freiheit und Unfreiheit im persönlichen Werden. Essays zu einer dialogischen Kultur. 2014 Zürich, Edition 8
Simone Weil. Cahiers. Aufzeichnungen. Bd. I. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl und Wikfgang Matz. o. J. München/ Wien, Carl Hanser Verlag – Die Verwurzelung. Vorspiel zu einer Erklärung der Pflichten dem Menschen gegenüber. Aus dem Französischen von Marianne Schneider. 2011 Zürich, Verlag Diaphanes
Andreas Zumach. Globales Chaos. Machtlose UNO. Ist die Weltorganisation überflüssig geworden? 2015 Zürich, Rotpunktverlag
1) Ugo Canonico ( 1918 – 2003 ). Das Leben. Übersetzt aus dem Dialekt von Bidogno von Christoph Ferber. In: Moderne Poesie in der Schweiz. Eine Anthologie von Roger Perret. 2013 Zürich, Limmat Verlag. S. 270 (Ra vita. Rimbiugh. 1994 Bellinzona, Edizioni Casagrande. Der urspüngliche Text: ,,Ra vida, al rne dis, la sboga eo i verse d’una caragnada e la finiss con un sospir. Tra quisccedu confin, qunce di per toca la fin” …
2) Alfred Wolfenstein (1888 – 1945). Gebannt. (Ersterscheinung in: Menschlicher Kämpfer. 1919 Berlin, S. Fischer Verlag) Neuerscheinung in: Über, o über dem Dorn. Gedichte aus den 100 Jahren S. Fischer Verlag. 1986 Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag. S. 53
3) Deutsches Wörterbuch. Ausgabe von 1935: S. 124ff
4) zum Beispiel Gracanica (zwischen Doloj-Lukavac und Tuzla, Bosnien), Gradacac (am Fluss Gradacnica, auch in der Region Tuzla, Bosnien), Novi Grad und Novigrad (auf bosnischer und auf kroatischer Seite des Flusses Sava), Gradiste (ostkroatisch, jenseits der Sava), Grad (in Slowenien), Gracnica (ein slowenischer Gebirgszug im nördlichen Teil der Karawanken, dt. Gratschenitzen oder Gratschützen), Gradisce (Slowenien, an der zur Steiermark), Nova Gorica (dt. Neu-Görz, erst 1947 durch die Trennung von Gorica in einen italienischen und in einen slowenischen Teil), Gorjanske (im slowenischen Gebirge östlich von Trieste), Kupe granica (auch in Slowenien);
5) zum Beispiel „granica krajn” – Landesgrenze; ,,granica pokoja” – Friedensgrenze; ,,dolna granica wieku” – Mindestalter
6) Friedrich Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Erstmals erschienen 1881-1883, schliesslich 1915 die Achte verbesserte und vermehrte Auflage, über die ich verfüge.
7) „Granikos” war der Name eines Flusses – nun Biga Cayi -, der im Gebiet der heutigen Türkei ins Marmarameer fliesst und an dessen Ufer im Jahr 334 v. u. Z. Alexander der Grosse die erste Schlacht gegen die persischen Streitkräfte gewann.
8) etwa Grentzingen (deutsche Schreiweise Grenzingen), 25 km von Basel im Departement Haut-Rhin, im Elsass (Frankreich)
9) Nelly Sachs. Späte Gedichte. 1981 Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag. S. 225
10) Nelly Sachs. Späte Gedichte. 1981 Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag. S. 225
11) Sonja Brunschweiler. Lebenslänglich. Report einer Behinderten. 1981 Muttenz, St. Arbogast Verlag
12) Sarah Kofman (1934- 1994). Rue Ordener, Rue Labat. 1994 Paris, Editions Galilee. Deutsche Übersetzung: gleicher Titel, 1995 Wien, Passsagen Verlag.
13) Sarah Kofman. Paroles suffoquees. 1987 Paris, Edition Galilee. – Deutsche Übersetzung: Erstickte Worte. 1988 Wien, Passagen Verlag.
14) Robert Antelme (1917 – 1990). L ‘espece humaine. 1957 Paris 1957, Edition Gallimard. – Deutsche Übersetzung: Das Menschengeschlecht. 1987 München, Carl Hanser Verlag.
15) Sarah Kofman. Schreiben wie eine Katze. Zu E. T A. Hoffmanns Lebensansichten des Katers Murr. 1985 Graz-Wien, Passagen Verlag.
16) Nelly Sachs. aus: Fahrt ins Staublose, in: Späte Gedichte. 1981 Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag. S. 89
17) Franz Kafka (1883 – 1924). Nr. 1. der Zürauer Zettel. 2011 Frankfurt am Main /Basel, Stroemfeld Verlag (erstmals erschienen 1931 beim Verlag Kiepenheuer, herausgegeben von Max Brod)
18) Bo Setterlind (1923 – 1991). Das Licht. (Ljuset. Aus dem Schwedischen übersetzt von Hans Günther Hirschberg), in: Der Rhythmus des Regens. Gedichte und Nachdichtungen aus fremden Sprachen. H. G. Hirschberg.
19) Adalbert von Chamisso (1781 – 1838). Peter Schlemihls wundersame Geschichte. Ersterscheinung 1813 (Zeit des preussischen Befreiungskriegs gegen die napoleonische Besatzung, an welchem Chamisso infolge seines französischen Passes nicht teilnehmen konnte). 1959 Zürich, Verein Gute Schriften.
20) William Shakespeare. Sonett 119. In: Hans Günther Hirschberg. Der Rhythmus des Regens. Gedichte und Nachdichtungen aus fremden Sprachen. 1999 Schaffhausen, Verlag Pro Lyrica. Schweizerische lyrische Gesellschaft. S. 193
21) Hilde Domin (1909 – 2006). Noch gestern. In: Nur eine Rose als Stütze. Gedichte. 1994, Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag. S. 80-81
22) In Bern wird 2016 im Museum für Kommunikation eine Ausstellung zum Thema Dialog mit der Zeit stattfinden, die von Vorträgen und öffentlichen Diskussionen um die Tatsache des Älter- und Altwerdens begleitet sein wird, u.a. am 1. März 2016 von einem Vortrag, den ich zu diesem Thema halten werde.
23) Nelly Sachs. Fahrt ins Staublose. 1961 Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag. S. 136
24) Nelly Sachs. Späte Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1981. S. 42
25) Nelly Sachs. Späte Gedichte. 1981, Frankfurt am Main, S. 46
26) Robert Walser. Abend. Aus: Dichtungen in Prosa. Hrsg. von Carl Seelig. Sonderausgabe: 27. Zürcher Druck der Offizin Gebrüder Fretz AG zu Weihnachten 1961. S. 49
27) (1927 -1988)
28) Walter Vogt. Vergessen und Erinnern. Altern. Romane. 1992 Zürich, Benziger Verlag AG, S. 208-209
29) Nelly Sachs. Fahrt ins Staublose. Gedichte. 1961/1988 Frankfurt am Main. Suhrkamp Verlag. S. 320
30) Daniel Pennac. Journal d’un corps. 2012/2014 Paris, Edition Gallimard. S. 29 : ,,Im Blick der Menschen besteht nichts ausserhalb eines Rahmens. Ich rate Dir, den Rahmen zu sprengen.” (dt. maw)
31) Dr. Lu-Schan (Hans-Günther Hirschberg). Massstäbe. In: Experten aufgerufen ... 1992, Pfungen. S. 5
32) Immanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft. Transzendentale Analytik. Von den reinen Verstandesbegriffen. Kap. 12. Band 3 aus Werke in 12 Bänden. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. 1956 Wiesbaden, Insel Verlag. S. 123 ff. – Peter Baumanns. Kants Philosophie der Erkenntnis. Durchgehende Kommentare zu den Hauptkapiteln der Kritik der reinen Vernunft. 1997 Würzburg, Verlag Königshausen & Neumann. S. 252 ff. – Mariom Hellwig. Alles ist gut. Untersuchungen zur Geschichte einer Theodize im 18. Jahrhundert in Deutschland, England und Frankreich. 2008 Würzburg, Verlag Königshausen & Neumann. S. 62 ff
33) u. a. Giorgio Agamben. La Communaute qui vient. Theorie de la Singularite quelconque. 1990 Paris, Editions du Seuil. S. 9 – 11
34) Simone Weil. L ‘enracinement. Prelude a une Declaration des Devoirs envers l ‘Etre humain. 1949 Paris, Editions Gallimard. – Simone Weil. Die Einwurzelung. Vorspiel zu einer Erklärung der Pflichten dem Menschen gegenüber. Aus dem Französischen von Marianne Schneider. 2011 Zürich, Verlag Diaphanes
35) Thomas Hobbes (1588 – 1679). Leviathan (1651, unmittelbar nach Abschluss des Dreissigjährigen Kriegs von 1648). Erster und Zweiter Teil. 1996 Stuttgart, Reclam Verlag (Reclams Universal Bibliothek Bd. 8348)
36) Otto von Bismarck (1815 – 1898)
37) James Harrington ( 1611 – 1677). Oceana (1656). Übersetzt von Klaus UdoSzudra.1991 Leipzig, Reclam Verlag. – Alois Riklin. Die Republik von James Harrington 1656. 1999 Bern, Verlag Stämpfli u.a.
38) Oliver Cromwell (1599 – 1658)
39) Das ,,Ackergesetz” hatte seit 140 v.u.Z. reformatorische Köpfe bewegt, ohne Erfolg, bis der aus dem Hochadel stammende Volkstribun Tiberius Sempronius Gracchus zusammen mit seinem jüngeren Bruder Gaius Gracchus und seinem reichen, mächtigen Schwiegervater Appius Claudius Pulcher es zu Gunsten der unterdrückten, besitzlosen Kleinbauern umsetzen wollte, die er insbesondere aus dem römisch eroberten und besetzten, mithin enteigneten und zum Teil versklavten etruskischen Etrurien (der heutigen Toscana) kannte, allerdings im bedenkenlosen übergehen von Verfassungsregeln und gegen den Willen des Senats. Die Folge war, dass er 133 v.u.Z. im Rahmen einer Volksversammlung ermordet und in den Tiber geworfen wurde, dass ca. zehn Jahre später auch sein Bruder Gaius aus Rom fliehen musste und in den Tod ging und dass ab jenem Zeitpunkt für ca. hundert Jahre Bürgerkriege, Diktaturen und ins Masslose anwachsende Imperien die römische Geschichte bestimmten, bis im Jahr 31 v. u. Z. mit Augustus eine neue Kaiserdynastie begann.
40) Baruch de Spinoza (1632 – 1677) – Für eine nähere Auseinandersetzng mit Spinoza s. Maja Wicki-Vogt. Erbschaften ohne Testament. 2014 Zürich. edition 8. S. 30-50
41) John Locke (1632-1704)
42) Charles de Secondat, Baron de Montesquieu (1689 – 1755)
43) Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778). Du Contrat Social et autres Oeuvres Politiques. 1975 Paris, Editions Gamiers Freres Staat und Gesellschaft. Contrat Social. Grundlegende Gedanken zu einer neuen Gesellschaftsordnung. 1959 München, Wilhelm Goldmann Verlag
44) John Stuart Mill ( 1805 – 1873 ), dessen Freundin und spätere Ehefrau Harriet Tayler Mill ( 1807 – 185 8)
45) John Stuart Mill. Über Freiheit. Aus dem englischen übertragen und mit einem Nachwort versehen von Achim von Borries. 1987 Frankfurt am Main, Athenäum Verlag
46) John Stuart Mill: Ausgewählte Werke. Herausgegeben von Ulrike Ackermann und Hans Jörg Schmidt. Band I: John Stuart Mill und Harriet Taylor. Freiheit und Gleichberechtigung. Herausgegeben und eingeleitet von Ulrike Ackermann. Mit durchgesehenen und überarbeiteten Übersetzungen von Sigmund Freud, Jenny Hirsch, Hans-Günther Holl und Hannelore Schröder sowie Erstübersetzungen von Siegfried Kohlhammer und Florian Wolfrum. 2012 Hamburg, Murmann-Verlag.
47) Maja Wicki-Vogt. Kreative Vernunft. Mut und Tragik von Denkerinnen der Modeme. 2010/2013 Zürich, Edition 8. S. 19-35
48) John Stuart Mill. Die Hörigkeit der Frau. Übersetzt ins Deutsche von Jenny Hirsch. 1872 Berlin, Verlag Berggold.
49) John Rawls (1921 – 2002). A Theory of Justice. 1971 University Press of Harvard / Eine Theorie der Gerechtigkeit. Übersetzt von Hermann Vetter. 1979 Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag / Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 271
50) Walter Benjamin. Über den Begriff der Geschichte. VII. These. In: Illuminationen. Suhrkamp Taschenbuch 345, S.254
51) Proklamationen der Freiheit. Von der Magna Charta bis zur ungarischen Volkserhebung. Hrsg. von Janko Musulin. 1959 Frankfurt am Main und Hamburg, Fischer Bücherei. S. 150
52) David Signer. Grenzen erzählen Geschichten. Landkarten sind aus der Nähe betrachtet voller Kuriosa und berichten indirekt von Entdeckungen, Eroberungen, Kriegen, Kompromissen und ungelösten Konflikten. NZZ / International, Freitag, 19. September 2014, Nr. 217, S. 8- 9 (Mit Beiträgen von neun Redaktoren und Korrespondenten)
53) Friedrich Dürrenmatt. Schweizerpsalm II. In: Moderne Poesie in der Schweiz. Eine Anthologie von Roger Perret. 2013 Zürich, Migros Kulturprozent/ Limmat Verlag. S. 151-152
54) Mihail Sebastian (1907 – 1945). Jurnal 1935 -1944. 1996 Bukarest, Verlag Humanitas / Journal 1935 – 1944. 1998 Paris, Editions Stock I „ Voller Entsetzen, aber nicht verzweifelt”. Tagebücher 1935-1944. 2005 Berlin, Claassen Verlag – Ullstein Buchverlag.
55) Corneliu Zeah Condreanu wurde 1938 ermordet und von Horia Sima abgelöst. Die „Eiserne Garde” hatte bis an die 270’000 Mitglieder, die an der brutalen, systematischen Verfolgung und Tötung der jüdischen Bevölkerung Rumäniens in ihren Dörfern und Städten wie an deren Deportation nach Transnistrien und der Tötung durch Verhungern und Erfrieren sowie durch Erschiessen massgeblich beteiligt waren.
56) Mihail Sebastian. Seit zweitausend Jahren, Roman, Übersetzt und mit einem Nachwort und einer Dokumentation herausgegeben von Daniel Rhein. 1998 Paderborn, Igel Verlag / 1997 Bukarest, Editura Fundatiei Culturale Romane
57) Es handelte sich um Istrate Micescu, der in der antisemitischen Regierung von 1939 erst Staatssekretär, dann Finanzminister wurde.
58) Mihail Sebastian. 2005 Berlin. S. 262
59) Sebastian. 2005 Berlin. S. 2
60) Sebastian. 2005 Berlin. S. 284
61) Sebastian. 2005 Berlin. S. 294
62) Sebastian. 2005 Berlin. S. 321
63) Sebastian. 2005 Berlin. S. 327
64) Sebastian. 2005 Berlin. S. 334 – 336
65) Sebastian. 2005 Berlin. S. 332
66) Simon Dubnow (1860 – 1941). Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Autorisierte Übersetzung aus dem Russischen, 10 Bände. 1925-1929 Berlin
67) Sebastian. 2005 Berlin. S. 337
68) Sebastian. 2005 Berlin. S. 356
69) Sebastian. 2005 Berlin., S. 369
70) Sebastian. 2005 Berlin. S. 370
71) Sebastian. 2005 Berlin. S. 3 88
72) Sebastian, 2005 Berlin. S. 393 – 395
73) Sebastian, 2005 Berlin. S. 396-397
74) Sebastian. 2005 Berlin. S. 407
75) Sebastian. 2005 Berlin. S. 409
76) Sebastian. 2005 Berlin. S. 498
77) Sebastian. 2005 Berlin. S. 523
78) Sebastian. 2005 Berlin. S. 541
79) Sebastian. 2005 Berlin. S. 571-572
80) Sebastian. 2005 Berlin. S. 643-644
81) Sebastian. 2005 Berlin. S. 545
82) Sebastian. 2005 Berlin. S. 685
83) Sebastian. 2005 Berlin. S. 704
84) Sebastian. 1998 Berlin. S. 705-706
85) Sebastian. 2005 Berlin. S. 748 – 755
86) Zwischen Roosevelt, Churchill und Chiang Kai-shek, zuerst zwischen 22. und 26. November, dann zwischen 28. November und 1. Dezember 1943: es ging um asiatischen Kriegsschauplatz wie um die Fragen der Landung der Allierten
87) Sebastian. 2005 Berlin. S. 756 -757
88) Sebastian. 2995 Berlin. S. 761-762
89) Sebastian. 2005 Berlin. S. 772
90) Sebastian. 2005 Berlin. S. 773
91) Sebastian. 2005 Berlin. S. 774
92) Sebastian. 2005 Berlin. S. 775
93) Die von den Nazis eingerichteten Konzentrations- und Vernichtungslager in Polen werden von Iosif Hechter kaum erwähnt. Vermutlich gab es diesbezüglich wohl Ahnungen, aber keine genauen Informationen.
96) Leon Volovici. Nationalist ldeology ans Antisemitism. The Case of Romanian lntellectuals. 1991 Oxford, Pergamon Press
97) Seine Nichte Michele Hechter, Poldy’s älteste Tochter, hielt dazu eine Rede (s. Beilage)
98) Ignacio Ramonet. Kriege des 21. Jahrhunderts. Die Welt vor neuen Bedrohungen. 2002 Zürich, Rotpunktverlag
99) Anne Perrier (1922). Ohne Titel. Übersetzt aus dem Französischen von Manfred Bauschulte. In: Moderne Poesie aus der Schweiz. Eine Anthologie von Roger Perret. 2013 Zürich. S. 305. (Ersterscheinung in: La voie nomade / Die Nomadenspur. 2002 Zürich, Edition Howeg)
100) Franz Kafka. Die Zürauer Zettel. Nr. 57. 2011 Frankfurt am Main/ Basel, Verlag Stroemfeld / Roter Stern
101) Simone Weil (1909 in Paris – 1943 in Ashford, Südengland). Cahiers. Aufzeichnungen. Erster Band. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. o. J. München/ Wien, Carl Hanser Verlag. S. 227 – Maja Wicki-Vogt. Simone Weil. In: Kreative Vernunft. Mut und Tragik von Denkerinnen der Modeme. 2010 / 2013 Zürich. edition 8. S. 186 – 206 – Auch Widerspenstig, furchtlos. Simone Weil. in: Erbschaften ohne Testament. 2014, Zürich edition 8. S. 303-322
102) Jean Baudrillard, Hannes Böhringer, Vilem Flusser, Heinz von Foerster, Friedrich Kittler, Peter Weibel. Philosophien der neuen Technologie. 1989 Berlin, Merve Verlag. – Pierre Levy. Les technologies de l’intelligence. 1990 Paris, Edition La Decouverte. -Cyberculture. 1997 Paris, Librairie Jacob. =Qu’est-ce que le virtuel? 1998 Paris, Edition La Decouverte. – Paul Virilio. Die Sehmaschine. 1989 Berlin, Merve Verlag. – Rasender Stillstand. 1992 München/Wien, Hanser Verlag / 1997 Frankfurt am Main, Fischer Verlag. – Revolutionen der Geschwindigkeit. 1993 Berlin, Merve Verlag. – Fluchtgeschwindigkeit. 1996 München/Wien, Hanser Verlag. – Maja Wicki-Vogt. Erbschaften ohne Testament. 2014 Zürich, edition 8.
103) Alfred Wolfenstein (1883 in Halle – 1945 in Paris). Vorspann zu: Über, o über dem Dom. Gedichte aus 100 Jahren S. Fischer Verlag. Herausgegeben von Reiner Kunze. 1986 Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag. (Erstmals erschienen im Nachwort zu dem von Alfred Wolfenstein herausgegebenen Jahrbuch für neue Dichtung und Wertung-Die Erhebung. 1920 Berlin, S. Fischer Verlag)
104) Simone Weil (1909 in Paris – 1943 in Südengland). Cahiers. Aufzeichnungen. Erster Band. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. o. J. München/ Wien, Carl Hanser Verlag
105) Simone Weil. L ‘Enracinement. 1948 Paris, Edition Gallimard – Die Verwurzelung. Vorspiel zu einer Erklärung der Pflichten dem Menschen gegenüber. Aus dem Französischen von Marianne Schneider. 2011 Zürich, Verlag diaphanes
106) Simone Weil. Cahiers l. o.J. München/Wien. S. 212
107) Simone Weil. Cahiers 1. o. J. München/Wien. S. 215
108) Simone Weil. Cahiers 1. o. J. München/ Wien. S. 215
109) Franz Kafka. Die Zürauer Zettel. Nr. 2. 2011 Frankfurt am Main/ Basel, Verlag Stroemfeld / Roter Stern
110) Amilcar 0. Herrera, Hugo Scolnik u.a. Grenzen des Elends. DasBariloche-Medell: So kann die Menschheit überleben. Vorwort von Peter Menke-Glückert. Aus dem Spanischen übersetzt von Otto Janic. (Ersterscheinung: Catastrophe o Nueva Sociedad Modelo Mundia! Latinoamericano). 1977 Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag / 1978 Zürich, Buchclub Ex Libris
111) Bariloche (eigentlich Sans Carlos de Bariloche) ist die Hauptstadt der Provinz Rio Negro am Fuss der Anden
112) Herrera / Scolnik u.a. Genzen des Elends. 1977 Frankfurt am Main / 1978 Zürich. S. 9
113) Ignacio Ramonet. Kriege des 21. Jahrhunderts. Die Welt vor neuen Bedrohungen. 2002 Zürich, Rotpunktverlag. S. 140 ff