„Die Zeit ist aus den Fugen …..“ – ein von Annemarie Wäger mit Maja Wicki geführtes Gespräch

„Die Zeit ist aus den Fugen …..“

 Hetzen, rennen, Gewinn machen und erst noch das eigene Tun ethisch rechtfertigen. Was soll das?

Die Philosophin und Psychoanalytikerin Maja Wicki denkt nach über die Zeit und unseren Umgang mit ihr. Sie hinterfragt die heutigen Zeitverhältnisse und warnt vor den entwertenden Folgen für das menschliche Sein.

 

Wir sitzen in Maja Wickis kleinem Praxishaus einander gegenüber. Es ist ein ehemaliges Waschgebäude im Hinterhof eines alten Mehrfamilienhauses am Zeltweg. Das Denken und Wirken von Frauen in längst vergangener Zeit kann vor meinen Augen auferstehen: waschen, hauswirtschaften, philosophieren, sein – ein idealer Ort zur Auseinandersetzung mit Zeitfragen.

Eben noch war Maja Wicki beruflich beschäftigt. Sie öffnete die Tür und empfing mich als Besuch. Sie sprach ernst und bestimmt. Zwischendurch erklang ihr kehliges, helles Lachen. Nun sitzt sie vor mir und liest in aller Ruhe meinen mitgebrachten Text über „Zeit für das Wesentliche“. Dabei hellt ein leises Lächeln ihre feinen, blassen Gesichtszüge auf. Sie erscheint frisch in ihrem langen, roten Schal. Sogar dem leicht dämmrigen Raum verleiht er etwas Lebendiges.

Ganz spontan knüpft sie ans Gelesene an. Belastende Erfahrungen in einem Leben, Verluste, traumatische Erlebnisse haben im Nachhinein eine grosse Bedeutung. Sie sind ein Teil von uns, eine Lernzeit, die – je weiter sie zurückliegt – an Gewichtigkeit gewinnt. Die Lebensaufgabe besteht darin, auch negative Erfahrungen in unser Selbstbild zu integrieren und ihnen dadurch einen Wert einzuräumen“.

Es wird sich ein Gespräch entwickeln, in welchem aufmerksames Zuhören und intuitives Verstehen ebenso viel Platz einnehmen wie das Erzählen von Ereignissen und das Formulieren von Erkenntnissen.

Vor etwas mehr als einem Jahr veröffentlichte sie einen Bericht über eine Kindheitserfahrung. Die Folgen eines schweren Unfalls im Vorschulalter bewirkten, dass sie einen Sommer lang in einem alten Krankenhaus gefesselt in einem Bett lag. Sie fühlte sich zeitlos fremd, wie in einer andern Welt. Als es Herbst wurde und sie nach Hause verlegt wurde, war sie wie gelähmt. Da bastelte ihr ein Ferienknabe aus Wien – es war das erste Nachkriegsjahr – eine Seifenkiste. Unter seinem unermüdlichen Zuspruch lernte sie wieder gehen, sie konnte wieder lachen. Er holte sie zurück in das lebbare Leben, auch in den Austausch ihrer und seiner Realität.

„Kindheitserfahrungen wiederholen sich oft im späteren Leben des Menschen.“

Bald nach der Niederschrift dieser weit zurückliegenden Erfahrung erlitt sie eine schwere Erkrankung. Erneut musste sie auf vergleichbare Weise Lernprozess durchstehen, anders und trotzdem wie damals. Es galt, die Sprache zurückzugewinnen und sich wieder einzufinden in die Praxis des Alltags: Treppen steigen, sich ausser Haus begeben, Tram fahren, einkaufen, den Weg zum Arbeitsort bewältigen, schliesslich die vielfältige berufliche Tätigkeit wieder aufnehmen und ausüben.

„Solche Zeiten sind dicht und zugleich schöpferisch, wenn wir bereit sind, das uns Auferlegte als Aufgabe zu verstehen und uns darauf einzulassen.“

 

Beim Wort Unfall haben Sie kurz gezögert…

 Maja Wicki sinniert. „Un“…ist negativ besetz, beinhaltet ein Defizit. Und „fallen“ hat viele Konnotationen, bis hin zum Glücksfall. „Un-fälle“ sind dazu da, unsere kreativen Kräfte zu wecken und sie zu entfalten, damit wir lernen, neue, andere Wege zu gehen.

Wie gehen Sie seither mit Ihrer Zeit um?

 Die ist Zeit erneut mit Aufgaben sehr ausfüllt. Zeit ist ein weiter Fächer, der, wenn er geöffnet werden kann, die Intensität und die Sinnhaftigkeit des Lebens vermittelt. Es fällt mir selten leicht, mir selber mehr Zeit einzuräumen“.

Wir leben in einer besorgniserregenden Beschleunigung. Der Mensch kann nicht beliebig mithalten. Viele werden seelisch und auch körperlich krank.

 Wirtschaft und Technologie, resp. die wirtschaftlich Machthabenden, stehlen dem Menschen seine Existenzzeit. Es ist ein Raub zum Vorteil der Herrschenden. Menschen werden benutzt wie Maschinen, und wie diese bei Materialermüdung einfach weggeworfen. Sie werden sich selber entfremdet. Das sind tiefste Verletzungen, die krank machen, Kränkungen.

Ein skrupelloses Verfügen über andere zu eigenem Nutzen?

Nach Hannah Arendt ist ein System, das Menschen für überflüssig erklärt, totalitär. Es kommt dem Sklavenhandel.

Wie reagiert das Publikum, wenn Sie Ihre Überzeugung so schonungslos kundtun?

Selten erbost oder ablehnend, häufig berührt, erstaunt, wie geweckt aus einem bösen Traum.

Was können wir dieser Entfremdung entgegensetzen?

 Bewusstseinsarbeit, Zeit finden zur Auseinandersetzung mit sich selbst, mit der eigenen Geschichte, mit Bedürfnissen und Wünschen. Auch wecken der Vorstellungskraft und dadurch mitempfinden, was andere Menschen betrifft.

Ist Arbeitslosigkeit eine Chance?

 Das könnte sie sein. Sie wird jedoch in unserer Gesellschaft nicht als solche erkannt oder ermöglicht, weder geschätzt noch genutzt, im Gegenteil. Verlust der Arbeit ist entwürdigend und demütigend. Die Betroffenen leiden. Sie werden zusätzlich bestraft durch gesetzliche Schikanen, Kontrollen und Restriktionen. Die soziale Unterstützung wird immer knapper. Der ersehnte Zeitgewinn wird, sobald er da ist, zur Existenzentwertung. Das ist ein folgenschwerer Missbrauch, anlog zum wirtschaftlichen System, also eine doppelte Entfremdung.

Die Folgen zeichnen sich rundum ab.

 Ja, die existenzielle Not wächst dauernd. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer mehr auseinander. Und die Wertung der Menschen erfolgt unvermindert über den Zeitverbrauch. Verlust der Arbeit schockiert, traumatisiert.

Es ist dringend notwendig, das Selbstwertgefühl Betroffener zu stärken. Sie brauchen eine aktive Unterstützung, damit sie ihre verborgenen Fähigkeiten entdecken, wecken und entfalten können. Die wenigsten schaffen das in schwierigen Situationen allein.

(Nach einer Pause)

Mangel an Identitätsfindung und das Fehlen von Individualitätskenntnis rufen Angst hervor. Dadurch entwickeln sich Feindschaftsaspekte. Die politische Zuspitzung dieses Phänomens beunruhigt mich sehr.

Fremdenfeindlichkeit ist ein Spiegel persönlicher, oft unbewusster oder verdrängter Erfahrungen des existentiellen Mangels, eventuell der Armut oder des sozialen Werteverlustes. Sie kann geschürt werden durch die Furcht vor wiederkehrenden Bedrohungen ähnlicher Art. Um das Beängstigende zu vermeiden, erstreben Menschen vielfach eine Stillung ihres Machthungers.

Was haben Sie für Lösungsansätze?

Ich plädiere für individuelle Persönlichkeitsarbeit. Feindbilder lassen sich korrigieren, wenn wir erkennen lernen, dass wir uns selber in vielem fremd sind, aber dass jedes Anderssein – auch unser eigenes Anderssein – das gleiche Menschsein bedeutet. Wenn wir lernen, dass Menschen im Anderssein einander ebenbürtig sind.

Wie sehen Sie die Zukunft?

Es wird entscheidend sein, ob und wie es in politischer und in wirtschaftlicher Hinsicht gelingt, den gleichen Lebenswert aller Menschen in der Vielfalt ihrer Differenz gewaltfrei zu realisieren. Die Rechtlosigkeit, in welche eine Vielzahl von Kindern und von Erwachsenen verstossen werden – darunter alle Asylsuchenden und Flüchtlinge – darf nicht mehr der gesetzlich legitimierte „courant normal“ sein. Auch ist die Verantwortung, eine erträgliche Verbindung zwischen der subjektiven inneren Zeit und der extrem beschleunigten äusseren Zeit zu schaffen, resp. diese wiederherzustellen, eine Aufgabe, deren Erfüllung sehr von der verfügbaren und umsetzbaren Freiheit abhängt. Daher ist die konstruktive – d.h. die nicht-destruktive – Umsetzung der kreativen Kräfte sowohl eine je persönliche wie eine kollektive Aufgabe.

 

The time is out of joint

the cursed

spite I was born

to set it right.

 

Die Zeit ist aus den Fugen

Schmach und Gram

Dass ich zur Welt

Sie einzurichten kam.  (Hamlet)

 

 

Hinweise, weiterführende Lektüre:

Julia Kristeva. Fremde sind wir uns selbst. Suhrkamp

Hans Ruh. Anders, aber besser. Die Arbeit neu erfinden, Waldgut, 1995

Esther Vilar. Die 25-Stunden-Woche, Arbeit und Freizeit in einem Europa der Zukunft. Econ 1990

Maja Wicki. Eine Logik des Absurden. Paul Haupt, 1983. – Ethik der Kommunikation und des politischen Handelns, in: Annemarie Pieper (Hrsg.). Geschichte der neueren Ethik 2. Francke 1992. – „Dass der Mensch glücklich sei…“. Jugend in der postmodernen, postindustriellen Gesellschaft, in: MOMA 7./8./1996. – Ohne soziale Sicherheit keine Freiheit, in: Soziale Grundrechte – Kriterien der Politik. Thaur 1998. – Was ist die Zeit? Sozialpolitische Gedanekn zum Milleniumswechsel, in: MOMA 9/1999. – Grenzen. Diesseits und jenseits der Grenzen, in: MOMA 9/1999. – Wo ist der Ort der Erinnerung? in: Entwürfe 18/1999. – „Der Immune ist in gewissem Sinn auch ein Ausgeschlossener“, in: MOMA 1/2000. – Das heimliche Rauschen der tiefe. Über das Erkennen der davoneilenden Zeit. In: MOMA 9/2000. – Was bedeutet kreative Vernunft?, in: MOMA 10/2000

 

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