Für Dölf Funk am Begräbnistag, den 25. April 1996
Für Dölf Funk Am Begräbnistag, den 25. April 1996
Liebes Lissy, liebe Familie
Liebe Verwandte, liebe Freundinnen und Freunde von Dölf und Lissy
Mit dem Verstand wissen wir, dass Dölf gestorben ist, und gleichzeitig wissen wir mit dem Herzen, dass er weiterhin bei uns ist. Ich kann ihn mir nicht anders als lebend vorstellen. Dies hat nichts mit dem Glauben zu tun, es ist eine Gewissheit, die von Dölf selbst kommt. Über ihn zu sprechen, hier in der Kirche, ist zwar ganz anders als bei den Ausstellungseröffnungen, wo ich während des Sprechens ständig seinen Blick auf mir spürte, aufmerksam, wohlwollend, aber auch kritisch, und immer wusste, ob er mit meinen Worten einverstanden war – oder vielleicht nicht ganz. Doch zugleich ist es gar nicht so sehr anders als damals. Auch jetzt spüre ich, dass jedes Wort vor ihm bestehen muss, dass jedes sich an seiner schlichten und wahrhaftigen Art messen muss. Vor allem: dass keines zu viel sein darf
Christian sagte am Montagabend: “Er war ein Lebensprinzip”. Dölf war es für ihn als Vater, er war es auch als Freund. In seiner Nähe spürten wir, was Bestand hat und was eigentlich überflüssig oder unwichtig ist. Nicht dass er uns seinen Massstab aufgedrängt hätte, im Gegenteil. Er war voll Respekt für jede Eigenart, für jede Besonderheit, auch voll Interesse. Wir durften vor ihm so sein, wie wir sind, alle sehr verschieden. Mit seinem Respekt gab er jedem und jeder von uns das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Nur Geschwätzigkeit und Aufgeblasenheit waren ihm abhold. Das war ein Massstab, den er uns spüren liess. Wir sehr er uns damit halt: beim Erwachsenwerden und in unserem Leben als Erwachsene, in unserem privaten Leben und in unserer Arbeit, das wird mir immer mehr bewusst.
Und doch frage ich mich: Wie ist es zu erklären, dass Dölf so gegenwärtig ist? Es ist ja nicht so, dass er den Tod geleugnet oder auch nur verdrängt hätte. Mag es daher kommen, dass er so nah der Natur war, dass der Tod für ihn keine Gegenwelt bedeutete, keinen Widerspruch zum Leben, nicht etwas Unversöhnliches? Er musste daher den Tod nicht zum Thema machen. Er liess ihn auf sich zukommen, ohne Protest, so wie die Tage und Nächte mit ihren Übergängen, mit ihrem a11mäb1ichen Anfang und Ende in der Dämmerung, und so wie die Jahreszeiten, mit der Ungeduld im Frühling, mit dem langsamen Reifen in der Hitze, mit den Gewittern und der Trockenheit, mit dem Ernten und Verwelken im Herbst und mit der Klarheit, die das Erstarren der Natur begleitet in der Wartezeit des Winters. Die letzten Jahre, insbesondere die letzten Monate und Wochen waren für ihn nur noch Wartezeit gewesen, geduldige Wartezeit, und erst in den letzten Wochen wurde er ein wenig ungeduldig, so lange warten zu müssen. Er war ja immer zugleich ungeduldig und geduldig gewesen.
Wie sehr wurde mir dies bewusst, als ich am Montagabend Gelegenheit hatte, ihn nochmals zu sehen: dass im Tod alle Ungeduld zur Ruhe kommt. Der Ausdruck seines Gesichts war Heiterkeit und Friede. Auch der Ausdruck seiner schönen, kräftigen Hände. Lissy und ich begaben uns dann ins Atelier, und lange betrachteten wir die schönen Blätter aus den siebziger Jahren, die ich vorher noch nie gesehen hatte, die Rosina vor nicht langer Zeit kunstvoll aufziehen liess, Blatt um Blatt in bräunlicher Tusche, manchmal mit Gouachetupfern aufgehellt, Bilder immer an der Schwelle zwischen Nacht und Morgen oder zwischen Tag und Abend, zwischen Dunkelheit und Anzeichen von Licht: Erinnerungen an die Welt von Nidau, an den Bielersee, an die langen Kähne, auf denen zwei, manchmal vier oder fünf Männer mit kraftvollen Bewegungen die Netze einholen oder eine Reuse hochziehen, an den Stolz der Fischer, die, wenn ihnen ein besonders grosser Hecht oder eine besonders schöne Seeforelle beschieden ist, die Beute hochhalten, Erinnerungen auch an die Stunden an der Zihl, später an der Töss, wo er, der Fischer, mit der Rute geduldig steht und Mücklein über dem Wasser tanzen lässt, bis eine Forelle mitspielt und anbeisst, oder wo er gar mit der Hand Krebse und Fische unter den Steinen aus dem Wasser holt – Blatt um Blatt mit Geschichten, mit Landschaften, mit Stimmungen, mit Wettern, mit tiefhängenden Wolken, mit Böen über dem See, mit schweigenden, in ihre Arbeit vertieften Männern. Dölf trug diese Geschichten und Landschaften alle in sich. Er war wortkarg, nur selten erzählte er die Geschichten, aber irgendwann nahmen alle Gestalt an in seinen Bildern, auch die Blumen, die Bäume, die Gesichter von Menschen. In allem erkannte er Schönheit, in allem – ich denke, dass es so stimmt – die besondere Beseeltheit.
Es war schön, im Atelier zu sein, wenn Dölf malte, oder gar von ihm portraitiert zu werden, ganz in seinem Blick zu sein und ein Bild zu werden. Das heisst, dass er einen nie zum Objekt machte. Man blieb ganz sich selbst und wurde zugleich mehr und anders: eben ein Werk, ein Bild. Er brauchte dafür viel Zeit. Das war auch so bei der Gartenarbeit. Alle Eile war ihm fremd, er hatte sein eigenes Zeitgefühl, die Arbeit freute ihn ebenso wie das Resultat. Auch dieses konnte er anerkennen, und er war glücklich, wenn man seinen Wert erkannte und anerkannte. Wie gut vermochte dies Lissy, ob es um die Kunst ging oder um die Produkte des Gartens, etwa um den köstlichen Salat, oder, früher, um die Fische, die er nach Hause brachte. Alles konnte zum Fest werden, mitten an einem gewöhnlichen Tag, das Betrachten eines abgeschlossenen Werkes oder älterer Bilder, oder ein Glas Wein oder ein gemeinsames Essen. Es gab auch Literatur, die für ihn wichtig war, etwa Tschechov, und es gab Musik, Vivaldi, Bach, Biber, da konnte er voll Bewunderung sagen: “Das ist doch grossartig!”
Lissy und Dölf diesen zwei so verschiedenen, wunderbaren Menschen ist es gelungen, einen gemeinsamen Herzensrhythmus zu finden, einen helleren und massvolleren, als sonst in dieser masslosen, gehetzten Welt gilt, und daran liessen sie uns teilhaben, die Kinder und Grosskinder, die Freunde, die Freundinnen, selbst die Fremden, die mit ihnen nur kurz in Berührung kamen. Wir haben noch immer daran teil, auch jetzt, voll Dankbarkeit. Vielleicht ist dies der grösste Reichtum, den Dölf uns vorgelebt hat: das Annehmen, das Erkennen dieses langsamen, steten Rhythmus des Lebens.
‘‘Alles hat seine Stunde, und eine Zeit ist bestimmt für jedes Vorhaben unter dem Himmel”, heisst es im Buch Kohelet (Kohelet war der Sohn Davids), im 2. Kapitel des 1. Teils:
‘‘Eine Zeit fürs Geborenwerden, und eine Zeit fürs Sterben; eine Zeit fürs Pflanzen, und eine Zeit, das Gepflanzte auszureissen.
Eine Zeit, zu weinen, und eine Zeit, zu lachen; eine Zeit zu klagen, und eine Zeit, zu tanzen. Eine Zeit, Steine zu werfen, und eine Zeit, Steine zu sammeln. Eine Zeit, zu umarmen, und eine Zeit, der Umarmung sich zu enthalten.
Eine Zeit, zu suchen, und eine Zeit, zu verlieren. Eine Zeit, aufzubewahren, und eine Zeit, wegzuwerfen.
Eine Zeit, zu zerreissen, und eine Zeit, zu nähen. Eine Zeit zu schweigen, und eine Zeit, zu reden.
Eine Zeit, zu lieben, und eine Zeit, zu hassen. Eine Zeit für den Krieg, und eine Zeit für den Frieden.
Da erkannte ich: Es gibt fur den Menschen kein anderes Gut, als sich zu freuen und es sich wohl sein zu lassen in seinem Leben. Aber auch: Es ist Gottes Gabe, dass jeder Mensch isst und trinkt und sich gütlich tut bei all seiner Mühe.
Ich erkannte: Alles, was Gott tut, das ist fiir immer. Denn es gibt nichts hinzuzufügen, und davon ist nichts wegzunehmen. “
Ich denke, Dölf würde sagen: Ja, so ist es. Und so schliesse ich. Wir haben ihn ja alle so geliebt. In unserer Liebe lebt er weiter.