Rätsel der Kommunikation – Vorlesungen Über das Verstehen, Missverstehen und Nicht-Verstehen von Sprache

Rätsel der Kommunikation

Über das Verstehen, Missverstehen und Nicht-Verstehen von Sprache

Universität Bern – Salongespräche in der UniS

Wintersemester 2005/2006

I.                   Vorlesung

I.1.       Eintreten ins Thema

An sechs Abenden werden uns die Rätsel des Verstehens, Missverstehens und Nichtverstehens der Menschen beschäftigen, die miteinander, untereinander, eventuell gegeneinander in Verbindung stehen und durch Kommunikation, d.h. den wechselseitigen Austausch von Worten und Sätzen zu vermitteln suchen, was für sie von Bedeutung ist. Warum ist Kommunikation so schwierig? Gibt es Möglichkeiten der Erleichterung?

Um den Ursachen nachzuspüren und Möglichkeiten der Klärung zu finden, werden wir im analytischen Prozess des Erkundens und Erkennens den eigenen Erfahrungen nachgehen, immer begleitet durch Rückhalt auf eine kleine Auswahl von Texten, in welchen Erkenntnisprozesse anderer Denkerinnen und Denker schriftlich festgehalten wurden und so zur Verfügung stehen. Die geschriebene Sprache hebt die Flüchtigkeit des Sprechens auf und vermittelt der Sprache Dauer, ohne dass die Schwierigkeiten des Verstehens gemindert würden, im Gegenteil.

“Die Welt ist, trotz aller Ätherschwingungen, die sie durchziehen, dunkel. Eines Tages aber macht der Mensch sein sehendes Auge auf, und es wird hell. Unsere Sprache beschreibt zuerst einmal ein Bild. Was mit dem Bild zu geschehen hat, wie es zu verwenden ist, bleibt im Dunkeln. Aber es ist klar, dass es erforscht werden muss, wenn man den Sinn unserer Aussage verstehen will.”[1]

Ludwig Wittgenstein fasst bildhaft den Prozess der mit der Geburt einsetzenden Sinneswahrnehmung zusammen, welche sich mit dem Bedürfnis nach Benennung des Wahrgenommenen, nach Kommunikation und nach Hinterfragen der Richtigkeit und Sinnhaftigkeit des durch Sprache Vermittelten verbindet. Die “Ätherschwingungen”, von welchen er festhält, dass sie die dunkle, dem Erkennen verschlossen Welt – den Bereich menschlichen Lebens – durchziehen, sind die wortlosen Übertragungen, welche Empfindungen bewirken, wie Freud sie erkannte, und die beantwortet werden durch Gegenübertragungen, Mitteilungen im Austausch der menschlichen Empfindungen untereinander, welche jeder Art von Kommunikation zugrunde liegen und jede begleiten. Was über das Sehen, über das Hören, über das Riechen und Schmecken, über die körperliche Wahrnehmung von Kälte und Wärme wahrgenommen wird, erhält zusätzliche Bedeutung durch dessen Vermittelbarkeit in Worte

Die Auseinandersetzung mit der Sprache, die uns seit der frühen Kindheit vermittelt wurde, geht in erster Linie einher mit dem Durchleuchten der Bedeutung der Worte sowie dem Durchleuchten der Syntax, gemäss welcher die Worte so zusammengefügt werden, dass sich daraus ein Satz ergibt, eine geordnete Struktur der Worte, in welcher in den europäischen Sprachen dem Subjekt die primäre, lenkende Funktion zukommt. Ob in aktiver oder passiver Form wird das Verb – der mit Zeitbestimmung verbundene Ausdruck von werden und sein, haben und tun – durch das Subjekt bestimmt, das die “verbale Welt”[2] gestaltet. Es ist tatsächlich so, dass “in der Struktur des Satzes sich ein Teil der seelischen Struktur des Menschen spiegelt “[3] wie Jean Gebser in seinen Sprachuntersuchungen mitten im Zweiten Weltkrieg festhielt, zu einer Zeit, als jedes Wort – jedes deutsche Wort, jedes französische Wort, jedes spanische, italienische, russische, tschechische, englische, holländische und-und-und Wort, d.h. jedes Wort jeder Sprache auf seine Bedeutung hin hinterfragt werden musste. Doch die Dringlichkeit zu hinterfragen, was mit Worten und Sätzen gemeint ist, bedarf nicht der militärischen Gewalt des Kriegs. Jede Art von Krieg wächst aus der destruktiven Zuspitzung des Nicht-Verstehens. Die Dringlichkeit beruht auf einem menschlichen Grundbedürfnis nach Frieden, das selten erfüllt wird: auf dem Bedürfnis verstanden zu werden und zu verstehen.

Die zentrale Frage ist somit: Wie verstehen wird, was wir selber durch Worte sagen? Wie wird durch Andere verstanden, was wir sagen? Wie verstehen wir, was Andere sagen? Was bedeutet überhaupt verstehen?  Geht es dabei tatsächlich um den Infinitiv – die nicht-begrenzte, nicht-beendete Grundform – des Verbs, das im Imperfekt verstand, im Partizip verstanden, somit analog dem Substantiv Verstand uns ratlos stimmt? Was bedeutet die Wortverwandtschaft von verstehen und Verstand? Welches Bild verbindet sich damit? Ist es nicht jenes, das sich mit stehen und Stand verbindet? – mit der Vertikale, die auf der kleinen Horizontale der Füsse dem Menschen ermöglicht, das Gleichgewicht und die Bewegungsmöglichkeit zu realisieren?  Wie sehr verändert sich die Welt für ein Kind, dem es gelingt, gerade zu stehen, vorwärts zu kommen, ein Ziel zu erreichen! Bedeutet verstehen in der sprachanalytischen Deutung somit das verinnerlichte, geistige Gleichgewicht? – damit in Verbindung die Ermöglichung, im Prozess (lat. procedere – vorwärts schreiten) des Erkennens weiter zu kommen, eventuell gar ein Ziel zu erreichen? Was ist die Differenz zwischen verstehen und begreifen? – zwischen verstehen, erfassen und auffassen? – zwischen verstehen, einsehen und erhören? Welche weiteren Synonyma werden geweckt, ohne dass die leichte Veränderung der Aussage übergangen wird? Worin besteht die Differenz zwischen Wort und Begriff?[4]

Allein das Wort Sprache (franz. la langue, ital. la lingua, span. la lengua, engl. the language etc.) – eigentlich die substantivische Benennung des verbalen Sprechens – umschliesst viel mehr als die durch die Zunge – lat. lingua – vermittelten Laute, welche durch geregelte Abfolgen von Vokalen und Konsonnanten sowie durch Betonung des Klangs sich zu Worten zusammenfügen, d.h. zu Ausdrucksweisen, die bei jedem Menschen anders tönen und daher anderes bedeuten. Die Eigentümlichkeit (gr. idioma, von idios eigen abgeleitet) von Worten, die zur eigenständigen Sprache (span. el idioma) werden, finden sich auf Deutsch noch in der Bedeutung von Idiom erhalten, das eher abschätzig für eine Ausdrucksweise der Mundart verwendet wird.

Sprache ist letztlich jede Art der Vermittlung von Empfinden und Denken, d.h. von körperlicher Wahrnehmung und von geistiger Idee. Sprache wird vermittelt über den Blick, der den gesamten Ausdruck des Gesichts mitbestimmt, über die Haltung des Kopfs, der Schultern, der Hände, über die Bewegung der Hände und der einzelnen Finger, über die Haltung des ganzen Körpers, der sich entspannt oder angespannt zeigt, ansprechbar oder abwehrend, in Fluchtbewegung oder angriffig. Sprache tut sich auch kund durch Farben und durch Zeichen, etwa durch das Erröten oder Erblassen der Wangen, durch heftiges oder durch zögerndes Auftreten, durch Stampfen der Füsse, durch Aufschlagen der Faust auf einen Tisch, oder durch Aufzeigen der offenen Hand, sei es der horizontalen oder vertikalen offenen Hand, sei es durch das Spiel der Finger, das Anbieten eines Geschenks oder durch das Androhen der Faust wie einer Waffe. Die Worte und Begriffe sowie deren Abfolge in Sätzen sind schon eine hoch komplizierte Struktur der Wahl von Aussage, die einen Übersetzungsprozess des Denkens voraussetzt. Ist es eventuell die Vielfältigkeit von sprachlicher Vermittlung, welche den Schwierigkeiten des Verstehens zugrunde liegt?

Die Schwierigkeiten des Verstehens bestanden lange vor der Übersetzung des Sprechens in Schrift, lange vor der schriftlichen Sprache, durch welche die geordnete Abfolge von Worten zu einem Zeichen- und Regelsystem der Verständigung – der Grammatik – wurde, welche ermöglichte, dass das Mitteilungsbedürfnis der Menschen über die Ergebnisse von Denken und Empfinden sowie von persönlicher und von kollektiver Erfahrung als Teil der Kommunikation dokumentiert werden konnte. Einem Teil dieser Dokumente wurde im Lauf der Zeit eine hierarchische (gr. hieros – heilig) Bedeutung zugesprochen, durch welche einerseits die Philosophie und alle ihr verwandten Wissenschaften (Mathematik und Geometrie, Physik und Chemie, Astrologie und Geologie, Philologie und Psychologie, Poesie und Musik), andererseits die Religionen ihre Bedeutung aufbauten. Doch trotz der “Heiligkeit” dieser Dokumente entstand durch die Vieldeutigkeit der Worte eine Vielzahl unterschiedlicher Deutungen, welche zu Verwirrungen, zu Missverständnissen, ja zu Unverständnis mit bitterer Aggressivität und Leiden führten – bis in die heutigen Zeiten. Die Frage stellt sich, warum die ursprüngliche “mythische” Vieldeutigkeit dieser Schriften (gr. mythos – Rede, Erzählung, gemäss der indogerm. Wurzel “my- / mu-” – tönen) nicht die Vieldeutigkeit wahren durfte, gemäss dem Klang jeder menschlichen Stimme, welche die geschriebenen Worte wiedergibt. Hätte sie beibehalten können, könnte angenommen werden, dass die Kluft des Missverstehens auf Grund der – vermutlich – willkürlichen, nach hierarchischer Macht strebenden Alleinrichtigkeitserklärung von Worten hätte vermieden werden können! – eine utopische Hypothese potentieller Vorvergangenheit, die sinnlos ist.

Trotzdem erscheint wichtig, nicht zu vergessen, dass gleichzeitig mit der geschriebenen Sprache, welche im europäischen Kulturbereich – vor allem im Mittelmeerbereich – ca. 800 Jahre v. Chr. einsetzte, alle anderen Möglichkeiten der Kommunikation sich weiter fortsetzten. Sie blieben erhalten in der  Architektur und im Bau von Strassen, in der Malerei und in Skulpturen, in Instrumenten (z.B. der Kithara, die, wie der Mythos schildert, von Orpheus geschaffen wurde, um auf dem Schiff der Argonauten die Winde und auf dem Weg zur verstorbenen Euridike Hades, den Gott der Unterwelt, zu beschwören), allmählich in musikalischen Kompositionen, doch ebenso in Waffen und in Maschinen, letztlich in jeder Art der Mitteilungsmöglichkeit von Erkenntnisfähigkeit, auch in jener der Destruktivität.

Die Frage stellt sich, ob Fäuste und Waffen, deren Umsetzung in zwischenmenschliche Kämpfe sowie deren Erweiterung und Steigerung zu  kollektiven Kriegen nicht in erster Linie Zeichen der Verweigerung des wechselseitigen Verstehens sind, resp. des Beharrens auf Missverstehen und Nichtverstehen? Beruht die negative Kommunikation von Streit, Kampf und Krieg nicht in erster Linie auf einer Verweigerung zu verstehen?  – überhaupt jede Art von Machtmissbrauch?  Zu beachten ist die Tatsache, dass durch alles, was “Fortschritt” heisst  – durch die zusätzliche Erweiterung von Kommunikationsmöglichkeiten durch Telefon und Telefax sowie in der jüngsten Zeit durch die vielfältigen Entwicklungen der digitalen Computertechniken (e-mails, SMS, Internet etc.) das Missverstehen und Nicht-Verstehen von Mensch zu Mensch nicht im geringsten aufgehoben werden konnte. Es besteht weiter fort, und da es weiter fortbesteht,  stellt es sich zur Aufgabe je persönlicher Klärung.

I.2.  Zum Beispiel: Augustinus

Die Aufgabe der persönlichen Klärung ist zeitüberdauernd. Ein Beispiel ist Aurelius Augustinus’ Auseinandersetzung mit seiner eigenen Lebensgeschichte, zu welcher im Rückblick auf die Kindheit auch die Vermittlung der sprachlichen Bezeichnungen gehörte, resp. der Namengebung, welcher das Kind bei allem, womit es sich befasst, ausgesetzt ist. In den “Confessiones”, die Augustinus 397/98 n.Chr. schrieb[5], als er 43 / 44 Jahre zählte – kurz nach seiner Ernennung zum Bischof, ca. 10 Jahre nach seinem Übertritt zum Katholizismus – befasste er sich sowohl mit den Geheimnissen des Lebens wie mit jenen des Glaubens an das Göttliche, das er als zeitlos, als das menschliche Leben leitend und lenkend, aber als nicht erkennbar versteht. Im 1. Buch, in welchem er sich fragt, ob sein Leben eventuell die Fortsetzung eines anderen, früher gelebten Lebens sei – “Sage mir, Gott, Deinem Flehenden, sag es, Erbarmer, Deinem Armen, ob mir nicht irgend ein Leben schon verlebt war, auf welches mein Kinderanfang folgte”[6] -, geht er gleichzeitig auf die ersten Kommunikationsversuche seiner selbst  als Kind ein, mit welchen  er zu vermitteln suchte, wessen er bedurfte. “Also rührte ich mich kräftig mit meinen Gliedern und mit Schreien, den Zeichen für mein Begehren, den wenigen, die ich vermochte und wie ich sie eben vermochte: denn deutliche Zeichen waren sie ja nicht. Und wenn mir nicht gehorcht wurde, sei’s weil man mich nicht verstand oder vor Schaden bewahren wollte, so erboste ich, dass die Grossen mir nicht ergeben, die Freien mir nicht zu Diensten sein wollten, und rächte mich an ihnen durch Geheul. Dass Kinder so seien, erlebte ich an denen, die mich’s erleben liessen, und dass ich selber so war, das haben sie, ohne darum zu wissen, mich besser gelehrt als meine Ernährer, die es wussten.”[7]

Es ist eine prä-analytische Untersuchung seiner selbst, mit Fragen und Deutungen, die Augustinus für die erste Phase der Kindheit vor allem auf vergleichende Beobachtungen anderer Kinder abstützte, für die spätere Phase der Kindheit jedoch auf Erinnerungen, die er selber wieder hinterfragte. Dabei geht es in erster Linie um die Bedeutung und macht der Sprache: “Bin ich nicht von der Kindheit heranlebend in die Knabenzeit gekommen, vielmehr diese in mich, auf meine Kindheit folgend? Aber die Kindheit ist doch nicht entwichen: wohin denn wäre sie gegangen? Und dennoch, sie war nicht mehr. Denn nun war ich nicht mehr das Kind, das noch nicht sprechen konnte, sondern schon der Knabe, der redete. Und das weiss ich noch, und woher ich sprechen gelernt hatte, das erfuhr ich später. Nicht die Grossen lehrten es mich, mir Wörter, wie bald danach die Buchstaben, in bestimmtem Lehrgang bietend, sondern ich selber lernte es, vermöge meines Geistes, den du mir, mein Gott, gegeben; ich war es, da ich mit mancherlei Klagelauten, mancherlei Gliedergebärden die Fühlung meines Herzens kundzumachen suchte und es doch nicht in allem vermochte, worauf ich ausging, noch bei allen, die es anging. Da kam ich zu Urteil durch Erinnerung”[8]

Augustinus gab sich Rechenschaft, dass Kommunikation ein Grundbedürfnis ist, nämlich:

–    dass bei ihm als Kind ein dringliches Bedürfnis bestand, seine Empfindungen zu vermitteln;

  • dass dieses Bedürfnis sich zuerst in autonome Sprachzeichen umsetzte – in Töne und in körperliche Zeichensprache -, die durch niemanden gelehrt, sondern durch die eigene denkende – geistige – Fähigkeit erlernt wurde,
  • dass sein Bedürfnis verstanden zu werden jedoch ungestillt blieb, da die persönliche Ton- und Zeichensprache nicht genügte, um verständlich zu machen, was in ihm vorging;
  • dass es ein unbewusster Willensentscheid (übersetzt mit “Urteil”) war, auf die Wiederholung der Laute der Erwachsenen zu achten, sich derer zu erinnern und diese zu wiederholen, um durch Anpassung die gleiche Sprache zu sprechen und verstanden zu werden.

Die Aufzeichnung setzt sich fort: “Wenn die Menschen eine Sache nannten, und wenn sie entsprechend diesem Wort ihren Körper auf etwas hin bewegten. So sah ich und behielt ich, dass durch diese ihre Laute jene Sache von ihnen bezeichnet: werde, auf die sie mich hinweisen wollten. Dass sie dies aber wollten, wurde offenbar aus der Bewegung ihres Körpers, jener natürlichen Sprache aller Völker, die durch Miene und Augenwink zustande kommt, durch die Gebärden der übrigen Glieder und den Ton der Stimme, der die Regung der Geistseele erkennen lässt, ob sie etwas verlange, es besitze, es abweise oder fliehe. So lernte ich allmählich, für welche Sachen die Wörter, die ich in allerlei Sätzen an ihrer bestimmten Stelle immer wieder hörte, die Bezeichnungen waren, und als mein Mund an diese Bezeichnungen sich gewöhnt hatte, begann ich mein Willensleben durch sie auszudrücken.[9]” Es ist eine erstaunliche Erkenntnis, die sich bei Augustinus findet. Er geht davon aus, dass es die Erfahrung des Mangels ist – des Mangels, verstanden zu werden -, die das Kind bewegt, sich der Sprache der Erwachsenen anzupassen. Es ist der Wunsch, Teil der Gemeinschaft (lat. communitas) zu sein, der bewirkt,  auf die Laute, die in Hinblick auf eine Sache sich wiederholen und als Worte vermittelt werden, zu achten, sich deren zu erinnern und zu versuchen, sie selber auszusprechen. Später sind es nicht nur die Laute und deren Rhythmus, sondern auch die Zeichen, die sich als Worte in der Schriftsprache zusammenfügen. Dieser Anpassungs- und/oder Lernprozess ist nicht selbstverständlich, wie wir aus der Praxis der analytischen Psychotherapie wissen[10]. Die Worte entsprechen  auch nicht unbedingt dem, was gemeint, gefühlt oder gedacht wird: sie sind nicht unbedingt eine richtige Übersetzung, so dass das Missverstehen, eventuell gar das Nicht-Verstehen durch die Anpassung an vorgegebene Worte eigentlich vorprogrammiert ist.

Diese sprachanalytische Tatsache bewegte Ludwig Wittgenstein zutiefst, der die patriarchal gebrauchte, verbrauchte, missbrauchte und gleichzeitig geforderte Sprache in Frage stellte. Seine „Philosophischen Untersuchungen“, an welchen er während 16 Jahren gearbeitet hat, dann aber die Veröffentlichung ablehnte[11], beginnt er mit diesem knappen, aber so bedeutenden Auszug aus Augustinus‘ Überlegungen über das Wörterlernen, mit welchem wir eben abgeschlossen haben. Darauf hält er fest: „Jedes Wort hat eine Bedeutung. Diese Bedeutung ist dem Wort zugeordnet. Sie ist der Gegenstand, für welchen das Wort steht.[12]

Was aufs erste so klar erscheint, erweist sich im Lauf der „Untersuchungen“ als höchst unklar, und Wittgenstein stellt fest, dass mit dem Benennen eines Dings noch nichts getan sei;  das Ding habe auch keinen Namen, sondern nur Bedeutung im Satzzusammenhang. Darauf werden wir am nächsten Abend näher eingehen.

[1] Ludwig Wittgenstein. Schriften. Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914 – 1916. Philosophische Untersuchungen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M.  1960. – Aus: Philosophische Untersuchungen. Teil II / VII, S. 495

[2] Fritz Mauthner. Wörterbuch der Philosophie. Bd. II, S. 526. Diogenes Verlag, Zürich 1980. (Erstausgabe 1910/11)

[3] Jean Gebser. Der grammatische Spiegel. Neue Denkformen im sprachlichen Ausdruck. Verlag Oprecht, Zürich 1944, S. 9

[4] In J. W. Goethe’s “Gedanken / Maximen und Reflexionen” findet sich: “Begriff ist Summe, Idee Resultat der Erfahrung; jene zu ziehen wird Verstand, dieses zu erfassen Vernunft erfordert.” Goethes Werke, 12. Bd., S. 115. Verlag Birkhäuser, Basel 1944

[5] Aurelius Augustinus, geb. 13. November 354 n. Chr. in Thagaste (dem heutigen Souk-Ahras in Nordafrika), gest. 430 im Flüchtlingslager Hippo

[6] Präexistenzfrage, analog zu jener des indischen Brahmanismus

[7] Confessiones / Bekenntnisse. Lateienisch und Deutsch. Erstes Buch, 6,8, S. 23.  Kösel Verlag, München 1980

[8]Augustinus.  Confessiones. a.a.O. Erstes Buch, 8,13,  S. 31

[9] ibid. S. 31-33

[10] Autistische Kinder (gr. autos – selbst, für sich, allein), welche diese sprachliche Anpassung verweigern, bewahren ihre eigene Sprache. Sie sind nach meiner Deutung nicht kommunikationsunfähig, sondern ziehen sich auf die Kommunikation mit sich selbst zurück. Unterschiedliche Ursachen können diesen Rückzug veranlassen; ihn zu korrigieren bedarf einer individuellen, sorgfältigen  Methode der Einfühlung und des wortlosen Verstehens, aus welchem allmählich die Zustimmung des Kindes zur Übersetzung in Worte wächst.

[11] Die Veröffentlichung wurde durch Wittgenstein’s Schüler G.E.M.Anscombe und R. Rhees realisiert, erstmals 1958 beim Verlag Basil Blackwell, Oxford, zwei Jahre nach Wittgenstein’s Tod, in englischer Sprache  unter dem Titel “Philosophical Investigations”.

[12] Ludwig Wittgenstein. Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914-1916. Philosophische Untersuchungen. Suhrkamp Verlag,  Frankfurt a.M. 1960. S. 289

Rätsel der Kommunikation – Über das Verstehen, Missverstehen  und Nicht-Verstehen  von Sprache

2. Vorlesung

Ludwig Wittgenstein:  Vom “Tractatus”  zum “Sprachspiel”

Im Anschluss an Augustinus werden  wir uns an zwei Abenden  mit Ludwig Wittgenstein befassen.  Es wird eine kurze  Zeit sein, um in der Dichte  seiner denkerischen Arbeit einige Erkenntnisse aufzunehmen, welche mit den Fragen, die sich beim Entwirren  der eigenen Leiden mit der Sprache  stellen und die der Behandlung” bedürfen,  in Verbindung stehen. Denn so versteht  Wittgenstein das Ergründen  und Klären des nach Weisheit suchenden Menschen – des Philosophen,  der Philosophin –, dass er/sie die  Fragen behandelt,  wie eine Krankheit13.  Wittgenstein selber gab sich Rechenschaft, als er diese Überlegung festhielt, dass es darum  geht, die Ursachen schwerer  Mangelerfahrungen zu klären,  um die belastenden Folgen  ungenügender Aussage  und ungenügenden Verstehens zu heilen.

Der “Tractatus”  als persönlicher Halt

In seiner Jugendzeit14  war Ludwig  Wittgenstein beherrscht vom Ringen um ein unmissverständliche Umsetzen des Regelsystems der Bedeutung der Worte und der Sätze – der Logik. Noch  vor dem Ersten Weltkrieg begann  er mit den Aufzeichnungen, die im “Tractatus logico-philosophicus” während  des Kriegs, zu welchem  er sich freiwillig als Soldat gemeldet  hatte, hinter  der galizischen Front 1918 ihren Abschluss fanden.  Er war damals  29 Jahre alt.  In der Kriegsgefangenschaft in Italien trug er den Text des “Tractatus” bei sich und bemühte sich, einen Verleger zu finden.  Vier Jahre Krieg und ein Jahr Kriegsgefangenschaft hatten  ihn zutiefst verändert.  Er konnte  den Reichtum seiner Vaterfamilie nicht mehr für sich akzeptieren, vermachte 1919 sein ganzes Vermögen an seine Schwestern Helene  und Hermine sowie an seinen  Bruder Paul, zog aus dem Elternhaus aus und mietete  sich in einem Zimmer in der Nähe der Lehrerbildungsanstalt ein, wo er sich zum Volksschullehrer ausbilden  lassen wollte.  Seiner Schwester Hermine,  die wie die anderen  Familienmitglieder seinen Entscheid nicht  akzeptieren wollte und ihm vorwarf,  sein ‘philosophisches Genie an ungebildete Arme zu verschwenden”, antwortete er, dass sie ihn an einen Menschen erinnere,  der aus einem geschlossenen Fenster schaue und sich die sonderbaren Bewegungen eines Menschen nicht erklären könne,  da er nicht wisse,  welcher Sturm draussen wüte und dass dieser Mensch sich vielleicht nur mit Mühe auf den Beinen halte.15   Wittgenstein selber war dieser Mensch, zutiefst traurig und erschöpft,  oft dem Selbstmord nahe. Das abgeschlossene Werk war für ihn der knappe  Halt auf dem Boden  seiner selbst. Er war in Briefkontakt mit dem  17 Jahre älteren Bertrand  Russell,  dem er den “Tractatus” zugeschickt hatte, fühlte sich jedoch auch von ihm im  Stich gelassen,  da dieser  aus England  nicht  ausreisen  durfte und ihn nicht treffen konnte.

Gottlob  Frege, dem er ebenfalls ein Exemplar vorgelegt hatte, versetzte  ihn mit  kleinlicher Kritik in Aufruhr.  Endlich kam es 1922, dank der Unterstützung von Russell und der Übersetzung durch Frank Ramsey, zur ersten Veröffentlichung in England. 16 Aufbau und Inhalt des “Tractatus”, dieses einzigen von Wittgenstein selber  publizierten Buchs, können wir nur anklingen lassen.  Das ausschliessliche Entweder-Oder von Klarheit der Aussage oder von Schweigen ist stellvertretend  für das Entweder-Oder von Lebenszustimmung  oder von Tod, das ihn damals prägte. Was sich im Vorwort des “Tractatus” zusammengefasst findet, entspricht der analytischen Diagnose von Wittgenstein’s verzweifelter Krise, die auf seiner persönlichen  Geschichte basiert wie auf jener seiner Familie wie auf der Krise jener Zeit.  “Was sich überhaupt sagen lässt,  lässt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann,  darüber muss man schweigen.  Das Buch will also dem Denken eine Grenze ziehen,  oder vielmehr – nicht dem Denken,  sondern dem Ausdruck des Denkens: Denn um dem Denken eine Grenzen zu ziehen,  müssten wir beide Seiten dieser Grenze denken können (wir müssten also denken können,  was sich nicht denken lässt).  Die Grenze wird also nur in der Sprache gezogen werden können,  und was jenseits der Grenze liegt,  wird einfach Unsinn sein. 17″

Wittgenstein  entschied sich für das Diesseits der Grenze.  Doch er tat es während Jahren auf harsche Weise, voller Einsamkeit und Erkenntnishunger, ein Bestreben, sich selber auszuhalten, das immer wieder der Selbstbestätigung bedurfte, um ertragen werden zu können. Um sich schützen zu können,  waren Denken und Empfindungen auseinander zu halten, davon war er überzeugt.   Philosophische  Probleme beruhten nach seiner Auffassung auf Missverständnissen  der Logik unserer Sprache; daher sollte das Denksystem des “Tractatus”  Beweis für unmissverständliche Klarheit sein. Verbissen bestand er darauf.  “Wenn diese Arbeit einen Wert hat”,  hielt er fest,  “so besteht er in zweierlei: Erstens darin,  dass in ihr Gedanken ausgedrückt sind. Hier bin ich mir bewusst,  weit hinter dem Möglichen zurückgeblieben  zu sein.  Einfach darum,  weil meine Kraft zur Bewältigung der Aufgabe zu gering ist.  (. ..) Dagegen scheint mir die Wahrheit  der hier mitgeteilten Gedanken unantastbar und definitiv.  Ich bin also der Meinung,  die Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben.  Und wenn ich mich hierin nicht irre,  so besteht nun der Wert dieser Arbeit zweitens darin,  dass sie zeigt,  wie wenig damit getan ist,  dass diese Probleme gelöst sind”.18

Auf die Knappheit und Härte von Wittgenstein’s  Regelsystems  einzugehen mangelt die Zeit. Es ist ein Jugendwerk,  das –   nach meiner Deutung – von Wittgenstein  Stufe für Stufe wie eine schmale, steile Leiter aus dem Gestein des sprachlichen Untergrunds geschlagen wurde, der mit seiner Herkunftsgeschichte eins war. Dass Wittgenstein selber seine Arbeit so empfand, wird durch Georg Henrik von Wright belegt, dem Nachlassverwalter und Nachfolger Wittgensteins  in Cambridge.  Unter den unveröffentlichten Notizen, die Wright in die biografische  Arbeit miteinbezog, fand sich der Entwurf eines Vorworts, in welchem Wittgenstein  vom “Wegwerfen der Leiter” schrieb, nachdem er, wie er damals meinte, die philosophischen  Probleme  “überstiegen” hatte19.  Doch das “Übersteigen” der philosophischen Probleme diente ihm in erster Linie dazu, sich “im Sturm,  der um ihn tobte”, einen Halt zu schaffen, um aus der Angst herauszufinden.

Überlegung;  Oft denke ich, dass das nach mathematischen  Denkkriterien  digitalisierte Kommunikationssystem von heute sich als Fortsetzung der von Wittgenstein,  von Frege, von Russell und weiteren Zeitgenossen  erarbeiteten Logik weiterentwickelt  hat. Die Regulierungsfähigkeit des Denkens – resp.  der Menschen – liess sich durch die als Fortschritt erklärte Ebene der Abstraktion zur Virtualisierung trainieren. Der technische Fortschritt, der schon im 19.  Jahrhundert nicht nur die Massenproduktion von Waffen, sondern auch von Propagandamaterial und Medien als angstschürende  Bedrohung des Denkens bewirkte, wie u.a.  Sören Kierkegaard auf erschütternde  Weise festhielt, das bewirkte im Ersten Weltkrieg erstmals die ins Masslose ausgeweitete Zerbombung menschlicher Kommunikation. Wir wissen, dass sich seither – unter Benutzung der menschlichen  Erkenntnis- und Denkpotenz im Zweiten Weltkrieg bis in die heutige Zeit – jede Art von “Fortschritt” immer weiter von der Komplexität  der menschlichen Sprache entfernt, die auf ebenbürtige Weise Übersetzung- und Vermittlungsmöglichkeit von Seele, Geist und Körper sein könnte, sein sollte. Die Sprache reduziert sich zunehmend auf eine Art neurologischer  Produktion von Worten und Sätzen, welche der maschinellen Produktion ähnlich ist. Unter dem sich steigernden Zeitdruck, über eine funktionsfähige Sprache zu verfügen, werden die vielfältigen Empfindungen, die den Menschen in seiner frühesten Entwicklung  prägen, kaum oder nicht mehr als wichtigen Teil der Sprache zugelassen – auch jene nicht in den schwebenden Zwischentönen,  welche die genauesten Vermittlungserfahrungen des Menschen selbst sind. Wie lässt sich das eigene und wie das wechselseitige  Verstehen noch ermöglichen?

Dass die Regeln  der Logik nicht genügen,  hatte Wittgenstein zunehmend selber gespürt,  nicht zuletzt  infolge neuer Erfahrung der Einsamkeit als Volksschullehrer in Puchberg,  letztlich als vielfach zweifelnder Denker,  der die von Zerstörung und Armut,  von Hass und Aufhetzung geprägte politische Entwicklung in Österreich und in Deutschland  nicht mehr ertrug.  Dank des nahen Gedankenaustauschs mit Russell,  mit Ramsey  und mit weiteren  Freunden  in England entschloss  er sich er sich zur wirklichen Emigration und zur Neuorientierung seiner philosophischen Arbeit,  die bis zum Abschluss  der “Untersuchungen” über sechzehn  Jahre dauerte.  Es war die Zeit der 30er Jahre,  der zunehmenden Aufhetzung gegen die jüdische Bevölkerung in Wien – zu welcher  seine Familie  gehörte  – und überall  in Europa,  der wachsenden Angst vor einem neuen  Krieg,  dem Übertritt Österreichs zu Deutschland, schliesslich der tödlichen  Verdunkelung Europas  durch den Beginn  des Kriegs.  Sein Bruder Paul floh in die Schweiz,  die Schwester Gretl Stonborough hatte  einen englischen  Pass, die zwei Schwestern Helene  und Hermine  hatten zu lange gezögert,  Wien  zu verlassen.  Sie verbachten einige Tage im Gefängnis, überlebten jedoch.  Ludwig  Wittgenstein war in Cambridge’ständiger Sorge um sie, in  “grosser nervlicher Anspannung’t'”,  wie er in einem Brief schrieb.  Dazu kam, dass er wichtige  Freunde  wegen ungenügender medizinischer Behandlung in England  verloren  hatte.  Sorge und Unruhe belasteten ihn sehr.  Er hatte seit 1938 seine Professur für Philosophie in Cambridge und damit einen englischen  Pass, hatte sich vom zweiten  Kriegsjahr an auch zu freiwilliger Hilfsarbeit in einem der Spitäler gemeldet,  setzte seine “Untersuchungen” fort, doch was er anstrebte,  nämlich  ein umfassendes Werk zustande zu bringen und die im “Tractatus”  festgehaltenen Gedanken sowie seine späteren zusammen zu veröffentlichen, durchschaute er als Irrtum.  Philosophie und Leben in Einklang zu bringen, bedurfte der ständigen Prüfung.  “Nach manchen missglückten Versuchen,  meine Ergebnisse zu einem Ganzen zusammenzuschweissen,  sah ich ein,  dass mir dies nie gelingen wiirde’t”,  hielt er Ende des Zweiten Weltkriegs in Cambridge fest. Er kam zum Schluss, dass “die schweren Irrtümer,  die ich in jenem ersten Buch niedergelegt hatte,” dies nicht zuliessen, dass er nicht  “Wahrheit” beanspruchen konnte/wollte  wie im “Tractatus”, sondern lediglich andere Menschen zu eigenem Denken anzuregen vermochte. Jede Art von Behauptung  musste aufgegeben werden.  Ihm genügte festzuhalten,  dass “die philosophischen Bemerkungen dieses Buches  (d.h.  der “Untersuchungen”) gleichsam eine Menge  von Landschaftsskizzen sind,  die auf diesen  langen  und verwickelten Fahrten  entstanden sind. “22

Der Weg zum “Sprachspiel”

Warum  war für Ludwig  Wittgenstein die Auseinandersetzung mit der Sprache,  durch welche er geprägt worden war,  erst ein Wagnis,  das des strengen  Regelsystems bedurfte, dann ein unermüdliches Lernen, vergleichbar einem  Spiel mit variierbaren Regeln?  Interessant ist, dass er die „Philosophischen Untersuchungen=”, die er selber als Spätwerk  verstand  und tatsächlich nicht veröffentlichen mochte, denen  er das Zitat aus Augustinus’  ,,Confessiones” voranstellte, quasi mit der festen Zusage  an die Bedeutung, die jedem Wort zukommt,  begann.

Jedes  Wort hat eine Bedeutung.  Diese Bedeutung ist dem  Wort zugeordnet.  Sie ist der Gegenstand, für welchen  das  Wort steht. “24

Was aufs erste so klar erscheint,  erweist  sich als höchst  komplex.  Wittgenstein hat die Zeitdifferenz von über  1 ‘500 Jahren  zwischen  ihm und Augustinus nicht als Hindernis  im Verstehen dessen  Aussage empfunden, sondern  als Übereinstimmung mit seiner eigenen Skepsis jeder Richtigkeits- und Wahrheitsbehauptung gegenüber.  Entsprechend  der griechischen Wortbedeutung von “skepesthai, skopein”  war es sein zentrales  Bedürfnis,  genau zu betrachten,  zu untersuchen und zu priifen,  was als Bedeutung dem einzelnen  Wort vorgegeben wird/wurde und was ihm zukommt.

Für Wittgenstein bestand  in Augustinus’ Aussage  eine Übereinstimmung mit der Tatsache, dass mit der Bedeutung der Worte  eine autoritäre  Vorgabe einhergeht.  Deren Untersuchung bedarf daher  einer Rückkehr in den Prozess  der Wortfindung des Kindes – das wurde Wittgenstein in dieser Phase  seiner denkerischen Arbeit- etwa ab 1934 / 35 – zunehmend bewusst.  Dabei wurde  ihm auch bewusst,  dass dieser Prozess  am klarsten  mit jenem  eines Spiels vergleichbar ist, das einerseits  Regeln  voraussetzt – Grundregeln wie jene der Grammatik-,  andererseits deren Umsetzung offen lässt.  Die Überlegungen,  die er als “Philosophische Betrachtung’v” ( das sogenannte Braune Buch) in jener Zeit diktierte,  zeigen den sorgfältigen Aufbau  an, den Wittgenstein in den “Philosophischen Untersuchungen” fortsetzte, vertiefte  und erweiterte.  Auch bei der “Betrachtung”   ging der Einstieg  von einem kurzen  Zitat aus Augustinus’ “Confessiones”  aus, aus welchem  der Vergleich mit dem Schachspiel und dem damit verbundenen generellen Regelsystem folgte (womit  auch Sigmund  Freud den analytischen Prozess  verglichen hatte).  Erst anschliessend ging Wittgenstein näher  auf die Anfänge des menschlichen Sprechens  ein, auf die Sprachspiele, auf welchen bei jedem Kind das Erlernen  der Worte  beruht.  “Man könnte die Vorgänge des Benennens der Steine und des Nachsprechens des vorgesagten  Wortes auch Sprachspiele nennen”.  26  Schon Jahre vorher hatte er festgehalten:  “Sprachspiele sind die Sprachformen, mit denen ein Kind anfängt,  Gebrauch von Wörtern zu machen. ” 27 Die Abstützung auf Augustinus ermöglichte einen Vergleich.  “Denken wir uns eine Sprache, für die die Beschreibung,  wie Augustinus  sie gegeben hat,  stimmt: Die Sprache soll der Verständigung eines Bauenden A mit einem Gehilfen B dienen. A fahrt  einen Bau auf aus Bausteinen: es sind Würfel,  Säulen,  Platten und Balken vorhanden.  B hat ihm die Bausteine zuzureichen,  und zwar nach der Reihe,  wie A sie braucht.  Zu dem Zweck bedienen sie sich einer Sprache, bestehende aus den Wörtern  ‘Wiirfel’,  ‘Säule’,  Platte,  ‘Balken’. A ruft sie aus: B bringt den Stein,  den er gelernt hat,  auf diesen Rufzu bringen – Fasse dies als vollständige primitive Sprache auf  -Augustinus beschreibt,  könnten wir sagen,  ein System der Verständigung; nur ist nicht alles,  was wir Sprache nennen,  dieses System.  Und das muss man in so manchen Fällen sagen,  wo sich die Frage erhebt:  ‘Ist diese Darstellung brauchbar,  oder unbrauchbar?’ Die Antwort ist dann: ‘Ja,  brauchbar;  aber nur fiir dieses eng umschriebene Gebiet,  nicht fiir das Ganze,  das du darzustellen  vorgabst.’ ( …)”28

Schon in der “Philosophischen Betrachtung” hielt Wittgenstein fest, dass “dieses Lernen der Sprache wesentlich eine Abrichtung ist – durch  Vormachen,  Ermuntern,  Nachhilfe, Belohnung,  Strafe u.a.m. “29. Mit dem “Abrichten” und dem Nachsprechen geschieht noch kein Verstehen, lediglich ein Benennen. Benennen” wiederum erscheint Wittgenstein  als “eine seltsame  Verbindung eines Wortes mit einem Gegenstand’t'”.  Er stellt fest, dass das richtige Benennen die Aufmerksamkeit des Kindes voraussetzt, somit ein at-tendere, das sich auf ein Lernen ausrichtet.  “Und nun können wir, glaube ich,  sagen: Augustinus beschreibe das Lernen der menschlichen Sprache so,  als käme das Kind in ein fremdes Land und verstehe die Sprache des Landes nicht.  Das heisst: so als habe es bereits eine Sprache,  nur nicht diese.  Oder auch: als könne das Kind schon  de n k en,  nur noch nicht sprechen.  Und ‘denken’ hiesse hier etwas wie: zu sich selber reden. “31    Aufmerksamkeit  zieht die Empfindungen  des Kindes in das Sprachspiel mit ein – den Wunsch sich anzupassen und geliebt zu sein, die Angst, nicht dazu zu gehören, nicht geliebt zu sein-, Empfindungen,  die unter dem Wörterdiktat  der Erwachsenen vorweg verdrängt werden müssen, die auf verborgene Weise, unbewusst, jedoch weiter bestehen. Wittgenstein kommt zum Schluss, dass Aufmerksamkeit das richtige Nachsprechen  ermöglicht, das Erfassen und allmähliche Wissen, wie ein Regelsystem  funktioniert.  “Die  Grammatik32  des Wortes  ‘wissen’ ist offenbar eng verwandt der Grammatik der Worte  ‘können’,  ‘imstande sein’. Aber auch eng verwandt der des Wortes  ‘verstehen’.  (Eine Technik ‘beherrschen’)”. 33  Doch was bedeutet dabei verstehen?

Hier geraten wir auf die Frage, die uns zutiefst beschäftigt. Für Wittgenstein ist sie einerseits beantwortbar, andererseits nicht lösbar.  ‘”Ein  Wort verstehen’,  ein Zustand.  Aber ein s e e l i s c h e r  Zustand? – Betrübnis, Aufregung,  Schmerzen nennen wir seelische Zustände. Mache diese grammatische Betrachtungen:  Wir sagen ‘Er war den ganzen Tag betrübt’.  ‘Er war den ganzen Tag in grosser Aufregung’.  ‘Er hatte seit gestern ununterbrochene Schmerzen’.  Wir sagen auch: ‘Ich verstehe dieses  Wort seit gestern. Aber  ‘ununterbrochen’? – Ja,  man kann von einer Unterbrechung des Verstehens reden. Aber in welchen Fällen’ Vergleiche:  ‘Wann haben Deine Schmerzen nachgelassen?’ und ‘Wann hast du aufgehört,  das Wort zu verstehen?”‘34 Viele Überlegungen und Erwägungen finden sich in Notizen, die Wittgenstein  auflasen Zetteln beigefügt hatte und die von G. E. M. Anscombe und R. Rhees unter dem Strich in die “Untersuchungen”  aufgenommen wurden, so wie die eben zitierte und wie die folgende:  “Muss ich  wissen,  ob ich ein Wort verstehe? Geschieht es nicht auch, dass ich mir einbilde,  ein Wort zu verstehen (nicht anders,  als eine Redensart zu verstehen) und nun darauf komme,  dass ich es nicht verstanden habe? (‘Ich habe geglaubt,  ich weiss, was  relative und was  absolute  Bewegung heisst,  aber ich sehe,  ich weiss es nicht‘). 35

Überlegungen

Die Frage,  die sich stellt, ist, ob das Wahrnehmen oder Feststellen des Nicht-Verstehens nicht auch schon ein Verstehen ist?  – ob das Missverstehen somit ein Nicht-Verstehen des Nicht- Verstehens bedeutet? Darauf werden  wir eingehen.  Im eigenen  Sprachgebrauch ergibt sich ein ständig  erneuertes “Sprachspiel”, das durch ein stetes Bemühen  der Übereinstimmung der Regeln  der Sprache mit den Regeln  des Verhaltens und des Handelns  ergänzt  wird. Spürbar spielen  dabei Empfindungen mit, ob sie verdrängt  seien oder ob sie bewusst  seien.  Welche       … Art vonp. Empfindung bei aller Beachtung der Grammatik das Verstehen oder Missverstehen mitbeeinflusst, ist unklar.

Dass die “Sprachspiele” bei Wittgenstein nach übereinstimmenden Massstäben  befragt werden,  mit einem Mitschwingen von Sehnsucht  nach vollkommenem Verstehen,  erinnert zeitweise  an Mystik.  Wir werden am nächsten  Abend weiter  darauf eingehen.  Was heute feststeht, ist, dass die Aufgaben,  die sich Wittgenstein  stellt, mit jenen  der sokratischen Skepsis  nah verwandt sind: indem er nach ordnender Klarheit  wie nach Gerechtigkeit strebt, ist er geprägt  von bedingungslosen Forderungen an sich selbst. Hierin bestehen  die Regeln, die er sich selber setzt.  Diese beziehen sich mit Strenge und Unerbittlichkeit auf seinen Wert als denkendes  und handelndes Subjekt,  so dass sein Vorgehen wirkt wie eine Art von beinah mönchischer Pflichtenstrukturierung und Pflichtenerfüllung oder wie eine mikroskopische Erforschung der Zusammenhänge zwischen  Intellekt und Psyche,  welche  durch die Sprache

Ausdruck finden.  Dialogische  Bescheidenheit und Intensität  gehen mit dem Vorgehen  einher, das eine emotionale Vorsicht beinhaltet, eine ständige  Selbstkontrolle, die einen knappen, jedoch  kaum abbrechenden Austausch des Fragens  und Weiterfragens bewirkt, damit einen Schutz vor Selbsttäuschung durch schnelle  Zufriedenheit oder gar durch den Schein vorschnellen Glücks.  Letztlich  geht es um die Steigerung des Wertes  dessen,  was als Verstehen erlebt werden  kann. Wittgenstein selber war die seltene Erfahrung des Glücks zu verstehen  zeitweise möglich z.B.  durch das Übereinstimmen der Fähigkeit,  den Aufbau ganzer  Symphonien.” zu erinnern  und diese zu pfeifen, resp. ein Zusammenklingen und Übereinstimmen von musikalischer Komposition, Erinnerung und klanglicher Äusserung zustande  zu bringen,  eine Übereinstimmung von Rhythmus und von Ton, die einer – beinah  – vollkommenen  inneren Grammatik von zugleich psychischer und intellektueller Symbiose nahe kommt.

Die Frage stellt sich, ob die Sprache der Worte und Sätze Verstehen überhaupt zulässt.  Ist Verstehen von anderen Bedingungen  abhängig als von jenen der Grammatik? In welchem Ausmass wirken Tonabfolgen und Klang, in welchem wirken Farbvariationen  mit? Gibt es eine Gewissheit des Verstehens?  – Auf diese Fragen werden wir am dritten Abend eingehen, wiederum in der dialogischen  Auseinandersetzung mit Aufzeichnungen Wittgenstein’s aus der späten Lebensphase.

13  Ludwig Wittgenstein,  Philosophische  Untersuchungen.  a.a.O.   Teil I, 255, S.393

14  Eine knappe Zusammenfassung seiner Biographie findet sich in der Beilage zur 2. Vorlesung; sie beruht vor allem auf der umfassenden  Untersuchung  von Ray Monk.  Wittgenstein. Das Handwerk des Genies. Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart  1992

15  Ray Monk.  a.a.O.,  S. 188

16  beim Verlag Routledge  & Kegan Paul Ltd., London, mit einer Einleitung von Bertrand Russell

17  Ludwig Wittgenstein. Tractatus  locio- philosophicus.  Vorwort.   Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M.  1960,  S. 9

18  a.a.O.  S. 9 –  10

19  Georg Henrik von Wright*. Wittgenstein.  Suhrkamp-Verlag, Frankfurt  1986.   (*geb. 1916, gest.  2003)

20 Ray Monk.  a.a.O.  S. 422

21   Philosophische Untersuchungen,  a.a.O.,  S. 285

22  a.a.O.  S. 285

23  erschienen  1953, zwei Jahre nach Ludwig Wittgensteins  Tod

24  Philosophische  Untersuchungen, a.a.O.  S. 289

25  Ludwig Wittgenstein. Das Blaue Buch.  Eine Philosophische  Betrachtung  (Das Braune Buch). Hrsg. Rush

Rhees. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt a.M.  1980.  S. 117 ff

26  a.a.O.  S. 293

27  Ludwig Wittgenstein.  Das blaue Buch.  Eine Philosophische  Betrachtung  (Das Braune Buch). Hrsg, Rush Rhees (entstand laut Diktaten von Wittgenstein  in Cambridge  1933-34-35).  Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1980, S. 37. (Erstausgabe auf  Englisch beim Verlag Basil Blackwell,  Oxford  1958)

28  Philosophische  Untersuchungen.  a.a.O.  S. 290-91

29  cf. 25), S.  117

30  cf.  26), S. 309

31     cf.  26), S. 305

32 gr.  grammatike – Anfangsgründe, Anfangskenntnisse; gr.  gramma – Schriftzeichen,  Schrift; gr.  graphein –

schreiben,

33  cf.  26), S. 356

34  Philosophische  Untersuchungen,  a.a.O.  S. 356, Fussnote.

35  ibid.  S. 349, Fussnote

36 gr.  “sym”- zusammen/ “phonein” – tönen, schallen

Rätsel der Kommunikation – Über das Verstehen, Missverstehen und Nicht-Verstehen von Sprache

3. Vorlesung

Über Sprache als handelnde Kraft des Denkens und als Möglichkeit der Kommunikation, zugleich als “behandelte”  Sache wird heute abend nochmals mit den von Ludwig Wittgenstein zuerst im “Tractatus”, anschliessend in den “Untersuchungen” und in weiteren Werken gesammelten Fragen und Erkenntnissen    durch das Gespräch vertieft und erweitert werden. Es geht einerseits um die Bedeutung und Funktion der Subjekthaftigkeit der Sprache, andererseits um die Bedeutung des Sprechens über die Sprache resp. um Sprache als Objekt. Wie ich am vergangenen Abend angekündigt habe, meine ich dabei die Bedeutung dessen, was “Übersetzung” heisst. Dass unter Sprache nicht allein Worte und Sätze zu verstehen sind, sondern ebenso die Vielfalt von Ton und von Farbe erarbeitet Wittgenstein in der letzten Phase seines Lebens mit zunehmender  Gewissheit.

Wittgenstein verbindet damit in jeder Lebensphase je eigene, persönliche Aufgaben. Nach meiner Deutung setzte bei ihm Übersetzen in der ersten Phase mit dem Ordnungssystem der Grammatik ein, die sich beim Schreiben von Zeichen – von Buchstaben, die sich zum Wort und von Worten, die sich zum Satz zusammenstellen  lassen – auf ihre Richtigkeit prüfen lassen.  In der späteren Phase verband er die Untersuchungen  der Sprache immer mit der Aufgabe – später mit der Chance -, der Komplexität des inneren Lebens – sowohl der psychischen Prozesse wie der intellektuellen,  die mit allen körperlichen Erfahrungen, jenen der Sinne ebenso wie jenen der Sinnlichkeit konnotiert sind – Ausdruck zu geben. Tragend hierfür ist einerseits die Angst vor dem falschen Wort, vor dem Missverstehen und Nicht- Verstehen,  andererseits das Bedürfnis nach Klarheit, schliesslich, in der letzten Lebensphase, nach einem Gefühl von Heimat in der Sprache:  nach Gewissheit.

Eine  “Menge  von Landschaftsskizzen, die auf den langen  und verwickelten Fahrten entstanden sind “37

  1. a) Die frühe Phase:

Zusammenfassend scheint mir wichtig, nochmals festzuhalten, dass während vielen Jahren die Sprache für Wittgenstein dem Gebot des Schweigens unterworfen war, wenn sie nicht als Vermittlerin logisch korrekter Erkenntnisse  eingesetzt werden konnte.  Misstrauen hegte Wittgenstein gegen jede Art von unkritischem Nachsprechen, das die Klärung von Worten  – oder eines Wortes – übergeht.  Bevor er auf die Erkenntnis des Sprachspiels kam, d.h. in der ersten Phase seiner sprachphilosophischen Arbeit – in der Zeit des “Tractatus” -, erachtete er daher die Alltagssprache  als wissenschaftlich  uninteressant und ungenügend.  Er bezeichnete sie als den Forderungen der Logik nicht genügend, eventuell gar als unwahr:  als eine Art Naturphänomen,  das in erster Linie die Skepsis herausfordert.  So hält er fest:  “Der Mensch besitzt die Fähigkeit,  Sprachen zu bauen,  womit sich jeder Sinn ausdrücken lässt,  ohne eine Ahnung davon zu haben,  wie und was jedes  Wort bedeutet.  (. . .) Die Umgangssprache ist ein Teil des menschlichen Organismus und nicht weniger kompliziert als dieser.  Es ist menschenunmöglich,  die Sprachlogik aus ihr unmittelbar zu entnehmen. Die Sprache verkleidet den Gedanken.  Und zwar so,  dass man nach der äusseren Form des Kleids nicht auf die Form des bekleideten Gedanken schliessen kann; weil die äussere Form des Kleides nach ganz anderen Zwecken gebildet ist als danach,  die Form des Köpers erkennen zu lassen38.

Das, was Wittgenstein in jener Zeit unerbittlich  suchte, war die täuschungsfreie philosophische Klarheit. Jede Art von Aussage, die nicht den Regeln der Logik, wie sie damals für ihn galt, genügt, stellte er – buchstäblich  – in Frage. Während Jahren bestand in dieser bedingungsschweren kritischen Abgrenzung  ein Überlebensschutz  gegen das Nachsprechen  autoritär vorgegebener und als richtig erklärter, jedoch falscher Aussagen und verhängnisvoller  Weltansichten. Die Suche nach Sprache, welche das eigene Verstehen ermöglicht,  war für Wittgenstein  die zentrale Möglichkeit der Identifikation seiner selbst, die auf der Suche nach Identität eines langen Wegs bedurfte. Unter dem Titel “Eigene Sprache” gibt es zwei Zeilen von Hugo von Hoffmannsthal “, die dem frühen Entweder-Oder, das Wittgenstein prägte, sehr nahe kommen:    “Wuchs dir die Sprache im Mund, so wuchs in der Hand die Kette:  Zieh nun das Weltall zu dir! Sonst wirst du geschleift. “40

In jener Zeit durfte für Wittgenstein nur gelten, was “der Fall ist”41,  in der ganzen Bedeutung des Wortes “Fall”,  sinnverwandt mit fallen  (casus -cadere). Was aktuelle Bedeutung hatte als Fall,  hatte diese Bedeutung aus der Komplexität  der Verstrickung des “Fallens “,  das immer ein Fallen auf den Boden ist. Für Wittgenstein  war dies eine reale Tatsache- auch im abstrakten Entwurf des Denkens – und durfte daher innerhalb eines strengen Regelsystems von Realität beachtet werden.  In diesem Sinn begann er den “Tractatus”:  “Die  Welt ist alles, was der Fall ist’,42,  und so schloss er ihn ab: “Meine Sätze erläutern dadurch,  dass sie der, welcher mich versteht,  am Ende als unsinnig erkennt,  wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist.  (Er muss sozusagen die Leiter wegwerfen,  nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist) Er muss diese Sätze überwinden,  dann sieht er die  Welt richtig.  Wovon man nicht sprechen kann,  darüber muss am schweigen.”43

Die denkerische Arbeit im Bedürfnis, Sprache zu verstehen, verband Wittgenstein  in jener Zeit mit einem steten Müssen,  das er in Worten und Sätzen mitteilte und dadurch auf diejenigen, die – wie er annahm -, den “Tractatus”  lesen, auf analoge Weise übertrug. Allerdings verband er damit nicht ein Müssen im Nachsprechen,  im Gegenteil. Seine Überlegungen  und Erkenntnisse sollten nur wie eine Leiter benutzt werden, die wieder fallen gelassen werden kann, wenn der eigene Boden – die Welt,  die für jeden Menschen auf je persönliche  Weise erlebt und gesehen wird – erreicht werden kann.  Das Müssen betrifft somit das Selberdenken. Was durch die sprachliche Vermittlung  geweckt wird, sowohl im Sprechen,  Sehen und Hören wie im Schreiben und Lesen, d.h. in jeder Art von zwischenmenschlichem Austausch von Wahrnehmen  und Fragen, von Erkennen und Wissen, von Zweifeln, Fragen und erneutem Erkennen – in jeder Art von Kommunikation-, obliegt jedem einzelnen Menschen fortzusetzen, neu zu klären und selber in Sprache zu übersetzen, so wie sie ihm als richtig erscheint.

  1. b) Die spätere Phase:

Es war ab dem Jahr  1929, als Wittgenstein sich entschlossen hatte, in Cambridge  (England) gewissermassen seine eigene  Leiter wegzuwerfen,  dort zu leben und zu arbeiten,  zuerst  als Research Student,  dann als Fellow im Trinity  College,  schliesslich zehn Jahre später als Ordinarius  (in der Nachfolge von George  Edward  Moore), in der Zeit des zweiten  Weltkriegs

– ab 1940 bis  1944 – auch als medizinischer Helfer in Krankenhäusern, dass es ihm gelang,  in eine zunehmende Übereinstimmung mit sich selbst zu gelangen.

Die “Philosophischen Untersuchungen”, die in jener Zeit entstanden und die er nach  16 Jahren als abgeschlossen betrachtete, machen  deutlich,  dass er erkannte,  dass die Regeln der Logik allein nicht genügen,  ja,  dass die Eingrenzung von Sprache  durch diese engen Regeln  auch das Erkennen und Verstehen,  das Denken überhaupt eingrenzt  oder gar lähmt. 44 Er selber konnte die Sätze von früher überwinden und die Welt richtig sehen, d.h. anders richtig, entsprechend seinem  selber erarbeiteten, anderen  Blick auf die Welt.

Wittgenstein öffnete sich in Cambridge den Weg in die Vielfalt von Sprache.  In den “Philosophischen Untersuchungen” hält er fest:  Die Philosophie darf den tatsächlichen Gebrauch der Sprache in keiner Weise antasten,  sie kann ihn am Ende also nur beschreiben. Sie kann ihn auch nicht begründen.  Sie lässt alles,  wie es ist.  Sie lässt auch die Mathematik wie sie ist,  und keine mathematische Entdeckung kann sie weiterbringen(.. 45 “. Und er fährt fort:  “Es ist nicht Sache der Philosophie,  den Widerspruch durch eine mathematische, logisch-mathematische Entdeckung zu lösen.  Sondern den Zustand der Mathematik,  der uns beunruhigt,  den Zustand  v o r  der Lösung des Widerspruchs,  übersehbar zu machen.  (Und damit geht man nicht etwa einer Schwierigkeit aus dem Weg). Die fundamentale Tatsache ist hier: dass wir Regeln,  eine Technik, für ein S p i e l festlegen,  und dass es dann,  wenn wir den Regeln folgen,  nicht so geht,  wie wir angenommen hatten, Dass wir uns gleichsam in unseren eigenen Regeln verfangen. Dieses Verfangen in unseren Regeln ist,  was wir verstehen,  d. h. übersehen wollen.  Es wirft ein Licht auf unseren Begriff des Mein e n s.

Denn es kommt alles in jenen Fällen anders,  als wir es gemeint,  vorausgesehen,  hatten.  Wir sagen eben, wenn z.B.  der Widerspruch auftritt:  ‘So hab’ ich’s nicht  gemeint’.  Die bürgerliche Stellung des Widerspruchs,  oder seine Stellung in der bürgerlichen  Welt: das ist das philosophische Problem. “46

Wittgenstein wurde  sich im Lauf der Jahre, die mit einer Fülle von Fragen,  von Überlegungen und Erkenntnissen in den “Untersuchungen” festgehalten werden, zunehmend bewusst,  dass es nicht genügt, die Probleme der Sprache auf der abstrakten Ebene lösen zu wollen. Er kann eingestehen, dass die Sprache immer einer individuellen Bedingtheit von richtig oder falsch entspricht, dass die ursprüngliche Bedingtheit aus dem Erlernen der Sprache in der Kindheit heranwächst,  die einerseits von gesellschaftlichen Bedingungen eingezäunt ist – z.B. von jenen der “bürgerlichen  Welt”, andererseits beeinflusst ist von einem vielfältigen sinnlichen Erfahrungsregister ·und von Gefühlen.   “Das vertraute Gesicht eines Wortes, die Empfindung, es habe seine Bedeutung  in sich aufgenommen,  sei ein Ebenbild seiner Bedeutung – es könnte Menschen geben,  denen das alles fremd ist.  (Es würde ihnen die Anhänglichkeit  an die Worte fehlen).  – Und wie äussern sich diese Gefühle bei uns? – Darin wie wir Worte wählen und schätzen.  Wie finde ich das richtige  Wort?  Wie wähle ich unter den Worten? Es ist wohl manchmal,  als vergliche ich sie nach feinen  Unterschieden ihres Geruchs: dies ist zu sehr… , dies zu sehr...  – das ist das richtige. Aber ich muss nicht immer beurteilen,  erklären,  ich könnte oft nur sagen:  ‘Es stimmt einfach noch nicht’.  Ich bin unbefriedigt,  suche weiter. Endlich kommt ein Wort:  ‘Das ist es’. Manchmal kann ich sagen,  warum.  So schaut eben hier das Suchen aus,  so das Finden”.

In dieser offenen, sich vorweg wieder erneuernden Vermittlung von Sprache als Ausdruck von Wahrnehmen, Meinen, Empfinden, Fühlen, Fragen, Vermuten, Denken, Prüfen, Erklären, Benennen, Vergleichen,  Befehlen etc. etc. -, in dieser Mannigfaltigkeit von Worten, die mit bestimmten  Inhalten und Zwecken übereinstimmen  (oder nicht oder ungenügend übereinstimmen),   in deren Zusammenfügung  zu Sätzen versteht Wittgenstein, was er als Sprachspiel bezeichnet. Was am vergangenen Abend erläutert wurde, bedarf zusätzlicher Beispiele:  “Das  Wort  ‘Sprachspiel’ soll also hervorheben,  dass das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit,  oder einer Lebensform ,   7   Etwas weiter, zugleich verdeutlicht und erweitert, fährt er fort:  “Unsere klaren und einfachen Sprachspiele sind nicht Vorstudien zu einer künftigen Reglementierung der Sprache, gleichsam erste Annäherungen,  ohne Berücksichtigung der Reibung  und des Luftwiderstandes.  Vielmehr stehen die Sprachspiele da als  V e r g l e i c h s o b j e k t e,  die durch Ähnlichkeit und Unähnlichkeit ein Licht in die Verhältnisse unserer Sprache werden sollen. Nur so nämlich können wir der Ungerechtigkeit,  oder Leere unserer Behauptungen  entgehen,  indem wir das Vorbild als das, was es ist,  als Vergleichsobjekt – sozusagen als Massstab – hinstellen; und nicht als Vorurteil,  dem die Wirklichkeit entsprechen m ü s s e. /Der Dogmatismus,  in den wir beim Philosophieren  so leicht verfallen! “48

Ab nun ist für Wittgenstein  die Untersuchung der Sprache lebensnah. Die philosophische Arbeit entfernt sich von jeder Art dogmatischen Vorurteils, das, wenn es als Gebot befolgt wird, in die Leere führt.  Er versteht nun “die Arbeit des Philosophen  als ein Zusammentragen von Erinnerungen zu einem bestimmten Zweck”49

Mit dem Bild des Spiels wird die Sprache in ihrer Vielfalt zur Ü b e r s e t z u n g der komplexen inneren wie der äusseren Zusammenhänge  von Geschichte, von Lebensbedingung und von Lebensgestaltung.  So vergleicht er “Spiele”,  die trotz ihrer Unterschiedlichkeit  mit dem gleichen Wort bezeichnet werden:  “(. . .) Ich meine Brettspiele, Kartenspiele,  Kampfspiele,  Schachspiele,  Reigenspiele usw.  Was ist allen diesen Spielen gemeinsamr’r” Auch die Verwendung des Wortes Beispiel liesse sich in der Bedeutung von Spiel einfügen. Wittgenstein  führt die vergleichende Überlegung weiter:  “Ich kann die Ähnlichkeiten  nicht besser charakterisieren  als durch das Wort  ‘Familienähnlichkeiten’; denn so übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten,  die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen:  Wuchs,  Gesichtszüge, Augenfarbe,  Gang,  Temperament etc.  etc.  Und ich werde sagen; die ‘Spiele’ bilden eine Familie. 51

Wittgenstein  lässt die Klärung der Bedeutung von “Spiel” nicht mehr los.  “Wie ist denn der Begriff des Spiels abgeschlossen?” fragt er weiter.  “Was ist noch ein Spiel und was ist keines mehr? Kannst du die Grenzen noch angeben? Nein. Du kannst welche  ziehen: denn es sind noch keine gezogen.  (Aber das hat dich noch nie gestört,  wenn du das Wort  ‘Spiel’ angewendet hast)”52

Interessanterweise wird mit dem Wort  “ziehen”,  das kursiv gedruckt ist, die Verbindung mit dem, was unter “Erziehung” verstanden wird, geschaffen.  Erneut wird durch ein Wort die Frage geweckt, was ein Massstab für die Eigenverantwortung  ist, die sich als Werk zeigt.  So geht der Dialog leidenschaftlich und zugleich spielerisch weiter:  ”Aber dann ist ja die Anwendung nicht geregelt; das  ‘S p i e l’, welches wir mit ihm spielen,  ist nicht geregelt. – Es ist nicht überall von Regeln begrenzt; aber es gibtja auch keine Regel dafür,  z.B.  wie hoch man im Tennis den Ball werfen darf oder wie stark,  aber Tennis ist doch ein Spiel,  und es hat auch Regeln. “53

Wittgenstein kommt auf die Bedeutung von “Regel” und “Regeln” auf andere Weise als zur Zeit des “Tractatus”. Nun gilt für ihn: “Eine Regel steht da wie ein Wegweiser”.54   Auch mit einer Regel bleibt alles offen; selbst Zweifel sind zugelassen, ob die Regel richtig sei oder nicht. Wie lässt sich die Differenz klären?  “Der Wegweiser ist in Ordnung- wenn er, unter normalen  Verhältnissen,  seinen Zweck erfüllt”55.  Der Zweck stimmt mit jenem überein, den Wittgenstein beim Übersetzen seiner Empfindungen und seiner Gedanken, seiner Erinnerungen und seiner Erkenntisse in Worte als massgeblich erachtet: der Zweck ist, so verstanden zu werden,  dass das Verstehen gemäss der eigenen Identität ein richtiges Verstehen ist, nicht ein Missverstehen, unabhängig davon, ob für die Gesellschaft die Worte als richtig gelten. Massgeblich ist nicht zuletzt der “Satzklang”.

  1. c) Die letzte Phase: Über die Suche nach Gewissheit

Auf einen Teil der letzten Denkarbeit von Wittgenstein möchte ich noch eingehen. Bei Wittgenstein handelt es sich zuerst um Aufzeichnungen, die er in den letzten eineinhalb Lebensjahren im Zusammenhang  mit George Edward Moore’s “Defence of common sense” – Verteidigung des gesunden Menschenverstandes”  festgehalten hatte. Zum Teil wurden sie ohne Datum auflasen Blättern noch 1949 geschrieben (vermutlich anlässlich des letzten Aufenthalts in Wien, wohin er am 24. Dezember  1949 nach der Prostatakrebs-Diagnose, die einen Monat zurücklag, gereist war), zum Teil mit Vermerk des Datums in einem Notizheft bis kurz vor seinem Tod (der am 29. 04. 1951  erfolgte) notiert. Unter dem Titel “Über Gewissheit’v” wurden diese Aufzeichnungen durch zwei seiner nahen Freunde – G .E.M. Anscombe und  G.H. von Wright-herausgegeben.  (Beim Ehepaar von Wright wie bei G.E.M. Anscombe hatte Wittgenstein  auch während der letzten zwei Lebensjahre,  als seine Krankheit ihn bettlägrig machte und schwächte, teilweise gelebt, mit einem Unterbruch in Wien im Winter 1949/50 und in Norwegen im Herbst 1950).  Ob er einverstanden war, dass die Aufzeichnungen publiziert wurden, steht offen, doch es ist anzunehmen, dass dies der Fall war, d.h. dass davon ausgegangen werden kann, dass Wittgenstein zugestimmt hätte.

Mir scheint, dass in einer Aussage im Konjunktiv der Vergangenheit, in dieser Art der Eventualität von Wissen – …. dass davon  ausgegangen  werden kann,  dass Wittgenstein zugestimmt  hätte -,  das Maximum von sicherer Aussage bestand, das für Wittgenstein zustande kommen konnte.  Indem er sich über zwanzig Jahre zuvor das Sprachspiel zugestanden hatte,  ermöglichte er sich, der Eventualität von Wahrheit Ausdruck zu geben, immer mit der Möglichkeit,  diese wieder durch eine andere Eventualität in Frage zu stellen oder zu korrigieren. Erstaunlich  erscheint mir, dass er in philosophischer  Hinsicht bis kurz vor seinem Tod im 62. Altersjahr die intellektuelle  “Übersetzung” in Worte noch ständig offen liess und dem Zweifel den Platz, den er als richtig anschaute, einräumte. Nach wie vor galt für ihn, dass eine Erklärung nicht wahr sein musste, weil sie in einem wissenschaftlichen Lehrbuch steht; sie kann höchstens “einige Evidenz” nachweisen, aber “sie reicht nicht weit und ist von sehr zerstreuter Art. Ich habe Dinge gehört, gesehen, gelesen “58

Für ihn galt, dass jede Annahme von persönlicher  Art ist.  Am Ende aber verlasse ich mich auf diese Erfahrungen oder auf die Berichte von ihnen,  richte meine eigenen Handlungen  ohne jede Skrupel danach. Aber hat sich dieses Vertrauen nicht auch bewährt? Soweit ich es beurteilen kann – ja“59.

Das mag erklären, dass Wittgenstein Tatsachen, die mit ihm persönlich verbunden waren- so den Krankheitszustand seines Körpers, resp. den diagnostischen  Befund – als wahr annahm, und nicht meinte, dass er sich in dieser Annahme eventuell täusche. Er wusste um die Veränderungen  in der Aussage seines Körpers, er wusste auch um die Kürze der Zeit, die ihm noch zustand.  Dieses Wissen ertrug er in grosser Ruhe, wollte aber deswegen das dialogische Spiel, das er aufzeichnete, nicht blockieren. Beachtenswert erscheint mir die Überlegung,  die er am 22. April 1951  notierte.  Er teilt darin mit, dass selbst in persönlicher Hinsicht Vorsicht geboten sei, da immer  “die Gefahr” bestehe,  “die Bedeutung  (einer Aussage)  durch Betrachtung des Ausdrucks  und der Stimmung,  in welcher man ihn gebraucht,  erkennen zu wollen,  statt immer an die Praxis zu denken. Darum sagt man sich den Ausdruck so oft vor, weil es ist, als müsste man in ihm und in dem Gefiihl,  das man hat,  das Gesuchte sehen“60.

Der Bezug auf die eigene Erfahrung, gemäss welcher jede Empfindung mit persönlichem Handeln verbunden ist- mit der  Pr a xi s61  in jeder Bedeutung des Wortes-, ist sicherer. “Am Ende aber verlasse ich mich auf diese Erfahrungen oder auf die Berichte von ihnen, richte meine eigenen Handlungen  ohne jede Skrupel danach. Aber hat sich dieses Vertrauen nicht auch bewährt? Soweit ich es beurteilen kann – ja.62

Wesentlich erscheint mir, dass für Wittgenstein  Vertrauen möglich wird, letztlich  Vertrauen in die sich fortsetzende, klärende Kraft der  Skepsis – in der griechischen Bedeutung63   des Sehens und Betrachtens, des Untersuchens und Prüfens -, dank welcher dem Menschen immer wieder ein neues, sich erweiterndes Erkennen und Wissen zugestanden wird, letztlich ein unabschliessbares  Bedürfnis, ohne dass der Skrupel, die lähmende Kehrseite des Zweifels, sich als spitzer Stein – gemäss der lateinischen Bedeutung von “scrupus’i'” -, damit als gefährdendes  Hindernis dem Denken entgegenstellt,  als jenes stechende und ängstlich lähmende Gefühl, das in der Sprache religiöser Moral unter Gewissensbissen  verstanden wird und das mit dem Zweifel an Wahrheitserklärungen, die als absolut gültig erklärt werden, einhergehen kann, das in psychoanalytischer  Hinsicht den Wert des erkenntnisfähigen Ich mit beherrschenden  Bedenken besetzt halten kann.

In der gleichen letzten Zeitspanne entstanden mit denkspielerischer  Dichte Wittgenstein’s Aufzeichnungen “Über die Farben”65. Er begann damit im Januar 1950, damals zur Erholung im elterlichen Haus an der Alleegasse in Wien, und beendete sie im Frühjahr des gleichen Jahres. Farben regen zum Philosophieren an”, hatte er 1948 notiert, wie Ray Monk zitiert.66 Was ihn schon zur Zeit des “Tractatus beschäftigt hatte – etwa mit der Überlegung, dass der Satz  Grün ist grün“67, in welchem das erste Wort ein Substantiv, das zweite ein Adjektiv ist, die gleichen Worte mit ungleicher Bedeutung verwendet – setzte er nun mit einem Kommentar zu Goethes “Farbenlehre” fort, der im Sinn des Sprachspiels von zusätzlichen Überlegungen begleitet wird.

Wittgenstein wurde klar, dass in jedem ernsteren philosophischen Problem  die Unsicherheit bis an die Wurzeln hinab reicht.  Man muss immer daraufgefasst sein,  etwas ganz Neues zu lernen ,rf>B.    Es ist eine Erkenntnis, die sich einige Monate später, am 28. März 1950, verstärkte:  Man muss in der Philosophie nicht nur in jedem Fall lernen,  was über einen Gegenstand zu sagen  ist,  sondern  wie man über ihn zu reden hat. Man muss immer wieder erst die Methode lernen,  wie er anzugehen  ist.  – Oder auch: In jedem ernstem Problem reicht die Unsicherheit bis in die  Wurzeln hinab”. 69

Über die klärende philosophische Auseinandersetzung mit den Farben vermag Wittgenstein zu erkennen, dass nicht nur  e i n e, sondern eine Vielzahl von Erkenntnissen richtig sein kann, wenn sie als Antwort auf eine Frage formuliert wird. Immer geht es um eine je subjektive Erkenntnis, die wiederum einer Vielzahl von Einflüssen ausgesetzt ist, welche im Augenblick auf den Menschen einwirken.  So hält er fest, indem er die Farben mit den Tönen vergleicht:  Ein und dasselbe Thema hat in Moll einen anderen  Charakter als in Dur,  aber von einem  Charakter des Moll im allgemeinen zu sprechen  ist ganz falsch.  (Bei Schubert klingt das Dur oft trauriger als das Moll).  Und so ist es,  glaub  ich,  müssig und ohne Nutzen für das Verständnis der Malerei,  von den Charakteren der einzelnen  Farben zu reden.  Man denkt eigentlich dabei nur an spezielle  Verwendungen.  Dass  Grün als Farbe  einer Tischdecke die,  Rot jene  Wirkung hat,  lässt auf ihre Wirkung in einem Bild keinen Schluss ab.”70

Jede Wahrnehmung  von Farben fordert eine Benennung, doch jede Benennung hängt vom Umfeld und von den Umständen der Wahrnehmung  ab. Dabei sind viele Variationen möglich, die schwer benennbar sind; die Bezeichnung der Farbe ist unklar. Wittgenstein hält z.B.  fest: In meinem  Zimmer  um mich herum sind verschieden gefdrbte  Gegenstände.  Es ist leicht,  ihre Farben anzugeben.  Wenn ich aber gefragt würde,  welche Farbe  ich jetzt von hier aus,  an  d i e s e r  Stelle meines  Tisches etwa sehe,  so könnte ich darauf nicht antworten.  Die Stelle  ist weisslich (weil der braune Tisch hier von der hellen Wand aufgehellt wird), sie ist jedenfalls weit heller als das Übrige des Tisches,  aber ich könnte nicht aus Farbmustern eines auswählen,  das die gleiche Farbe hätte wie diese Stelle des Tisches”71.  Auch mag die eine Farbbezeichnung  richtig sein, jedoch allein weil sie sich auf etwas Bestimmtes und nicht auf etwas Anderes bezieht:  “Eine Farbe,  die als Farbe einer Wand ‘schmutzig’ wäre,  ist es darum nicht in einem Gemälde “72.  Gewiss, das leuchtet ein, kann jedoch  auch in Frage gestellt werden, z.B. wenn ein Gemälde beschmutzt wurde.

Über die Farben findet Wittgenstein  eine Zustimmung zum Recht, sich zu irren- zum Irrtum -, letztlich als “Übersetzung” jener Lust am Lernen, das vorweg sich vertieft und sich erweitert. Irren ist Teil des Lernens, das sich zu einem stärkenden Wissen um den geistigen Reichtum erweitert, der in der Sprache angesammelt ist und der sich im gelebten Leben umsetzen lässt.  “Dass ich eines Menschen Freund sein kann,  beruht darauf, dass er die gleichen oder ähnliche Möglichkeiten hat wie ich selbst. – Wäre es richtig zu sagen,  in unseren Begriffen spiegelt sich unser Leben?  – Sie stehen mitten in ihm. +Die Regelmässigkeit unserer Sprache durchdringt unser Leben”. 73

So mag deutlich werden, dass Wittgenstein in der letzten Phase seines Denkens in eine grosse Nähe der Übereinstimmung mit sich selbst gelangte: zum tatsächlichen Übersetzen und Umsetzen der Möglichkeiten, die in seinem monologischen und dialogischen Schreiben mit der ihn überwältigenden  Fülle von Sprache, von Sprachtönen und Sprachfarben, massgeblich waren.

37  Philosophische  Untersuchungen, a.a.O. Vorwort, S. 285

38 Ludwig Wittgenstein.  Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher  1914-1916. Philosophische Untersuchungen.  Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M.  1960. Absatz 4.002,  S. 25

39  war ein Freund im Wittgenstein’schen Familienzusammenhang gewesen,  15  Jahre älter als Wittgenstein,  gest. 1929.

40  in:   Über, o über dem Dom.  Gedichte aus 100 Jahren. Hrsg. Reiner Kunze.  S. Fischer Verlag. Frankfurt  a. M. 1986,S.25

41  Tractatus  logico-philosophicus, a.a.O., S.  11

42  ibid.  38)

43 Tractatus,  a.a.O.,  S. 83

44  Die Denkarbeit  der Zwischenjahre  – zwischen “Tractatus” und “Philosophischen Untersuchungen”  – finden sich in der von Rush Rhees 1969 erstmals veröffentlichten “Philosophischen Grammatik”.

45  a.a.O.  S. 345  (Absatz  124)

46  a.a.O.  S. 345 (Absatz  125)

47  Philosophische  Untersuchungen.  a.a.O.  S. 300, Absatz 23

48  a.a.O.  S. 346, Absatz  130 – 131

49  a.a.O.  S. 346, Absatz 127

50  a.a.O.  S. 324, Absatz 66

51   a.a.  0.   S. 324-325, Absatz 67

52  a.a.O.  S. 325, Absatz 68

53    a.a.O.   S. 325, Absatz 67

54a.a.O.   S. 333, Absatz  85

55  a.a.O.  S. 335, Absatz 87

56

57  Ludwig Wittgenstein. Über Gewissheit. Bibliothek   Suhrkamp (Bd. 250). Frakfurt a.M. 1989.  (Erste Ausgabe zweisprachig: Über Gewissheit. On Certainty.  Edited by G.E.M.Anscombe and G.H. von Wright. Basl Blackwell, Oxford  1969)

58  a.a.O. Nr.  600, S.  154/55

59  a.a.O.  nr.  603,  S.  156

60a.a.O.  Nr.  601  S. 154/55

61  abgeleitet vom gr. Verb “prassein” – vollbringen, ausführen, besorgen, verwalten

62  a.a.0. Nr.  603 S.  156

63  abgeleitet vom gr.  “skeptesthai / skopein”

64 lat  “scrupus”- spitzer Stein;  “scrupulosus-a-um” – steinig, schroff;  med. gefährlich; auch genau, sorgfältig

65  Ludwig Wittgenstein.  Bemerkungen über die Farben – Remarks on Colour.  Zweisprachig hrsg. von G.E.M. Anscombe. Verlag Basil Blackwell, Oxford  1977

66 Ray Monk. Wittgenstein. Das Handwerk des Genies.  Klatt-Cotta  1990.  S. 593

67 Tractatus logico-philosophicus, a.a.O.,  S. 22

68 Bemerkungen  über Farben, a.a.O.  S. 4

69  ibid.  s. 23

70 ibid.  S. 46

71   ibid.  s. 28

72  ibid.  s. 28

73  ibid. Punkt 301 / 302 / 303, S. 57

  1. Vorlesung / Uni Bern WS 2005-2006

Über die Bedeutung von “Liebe” im Leben und Werk Hannah Arendts[1]

1. Der Bezug zu Augustinus

Die sprachanalytische Klärung der Rätsel der Kommunikation mit der Frage, warum Verstehen so schwierig, warum Missverstehen so häufig und warum Nicht-Verstehen vielleicht eine Annäherung ans Verstehen ist, begannen wir mit Augustinus’ Auseinandersetzung mit den Worten, die ihm in der Kindheit gelehrt wurden und die er wiederholte, ohne zu wissen,  was deren Sinn ist. Diese Auseinandersetzung mit der sprachlichen Prägung in der Kindheit, die der klärenden Auseinandersetzung bedarf, damit es dem Menschen gelingt, sich selber besser zu verstehen, führte über Wittgenstein weiter, der die “Untersuchungen” mit einem Zitat aus den “Confessiones” von Augustinus beginnt. Nun gehen wir nochmals auf Augustinus zurück, um uns zum Abschluss mit der Klärung des im menschlichen Leben zentralen Wortes ” L i e b e ” zu befassen. Dabei findet sich über ca. 1550 Jahre[2] hinweg die Verbindung zwischen Augustinus und Hannah Arendt, eine zeitliche Distanz sowohl zwischen den Geburtsdaten wie zwischen den  Sterbedaten der zwei Menschen. Was über die geschriebene Sprache festgehalten wird, entzieht sich der berechneten und begrenzten Zeit. “Was immer Menschen tun, erkennen, erfahren oder wissen, wird sinnvoll nur in dem Mass, in dem darüber gesprochen werden kann”[3] – “gesprochen” und geschrieben -, wie Hannah Arendt mit 52 Jahren festhielt, als sie ihre Überlegungen zu “Vita activa” publizierte. Darauf werden wir eingehen.

Das Wort “Liebe” hat eine so vielfältige Bedeutung, dass das Bedürfnis zu verstehen ebenso wie die Furcht vor Missverstehen und die Abwehr von Nicht-Verstehen nicht grösser sein könnten. Augustinus hat sich sowohl in seinen “Confessiones”[4] wie im “Selbstgespräch” resp. in den “Soliloquia”[5], schliesslich in seiner grossen Auseinandersetzung über den “Gottesstaat” resp. “De civitate Dei”[6] mit den unterschiedlichen Bedeutungen von Liebe befasst. Es geht ihm dabei um die Aufarbeitung und Verarbeitung der verschiedenen Bereiche oder Stufen der Liebe, die er erlebt hat und auf welche er ausführlich eingeht. Noch im Zweiten Buch der “Confessiones” fragt er sich “Wer brächte es auseinander, dies heillos verwickelte Knotengewirr?”[7] Im Dritten Buch geht er auf das “schändliche  Liebestreiben”[8] in Karthago ein, wo er sich wie in einem “brodelnden Kessel” fühlte.  Er schildert, dass “amare et amari dulce mihi erat magis” – dass “es eine süsse Lust für ihn war, zu lieben und geliebt zu werden “, dass er sich damals “in ein Liebesverhältnis stürzte, nach dessen Fessel mich verlangte”[9]. Später bezeichnet Augustinus die geschlechtliche, sinnliche Liebe mit “allen Eisenruten der Eifersucht, des Argwohns, des Befürchtens, Zürnens und Zankens”[10] als belastende Manifestation der “cupiditas”, von welcher es sich zu befreien gilt, will der Mensch sich aus der Klammer der Zeitlichkeit befreien. Doch wie soll dies geschehen? Für Augustinus bedarf es der Suche nach einer anderen Nähe. Für ihn bedeutet “cupiditas” Teil des “appetitus”, des menschlichen Begehrens oder Strebens, das “bonum” oder “malum” sein kann – gut oder schlecht. Immer findet sich im “appetitus” eine Verbindung mit der Auflehnung gegen die Begrenztheit des menschlichen Lebens steht, mit einer triebhaften oder emotionalen, geistigen Auflehnung, durch welche vielfältiges Leiden – “passio” und “misercordia” – Leidenschaft und Mitleid – den Menschen beherrschen und fesseln. Auch Theater und Dichtung, hält Augustinus fest, seien dafür Ausdruck und Ansporn “voll des Zunders”. Daher erachtet er als höchstes Ziel der Liebe im Sinn von “appetitus”, die Angst vor der zeitlichen Begrenztheit, die Angst vor dem Lebensende, vor dem Tod, überwinden zu lernen.

Als zweite Stufe der Liebe gilt für Augustinus eine Liebe ohne Begehren, “caritas”, mit einem hohen Wert an Befreiung. Nicht nur wird die “cupiditas” überwunden, sondern viel mehr; die Zeitgebundenheit und Zeitabhängigkeit des Menschen in der Rastlosigkeit des Strebens als Begehren wird überwunden, so dass das Streben sich nach dem Sein ausrichtet. Es geht dabei um das In-der-Welt-Sein des Menschen unter den gleichen Bedingungen der Sterblichkeit wie alle anderen Menschen, und es geht gleichzeitig um das Geschöpfsein – Kindsein – Gottes. Was in der Menschenliebe die Menschen untereinander verbindet, ist, wie Augustinus ausführt, die göttliche Liebe, die in der Tatsache der menschlichen Geschöpflichkeit als schöpferische “caritas” – als Nächstenliebe – erhalten bleibt und die allen Menschen gebührt. Interessant erscheint mir, dass die augustinische “caritas”, die sich auf das in jedem Menschen zeitlose Göttliche beruft – auf die “psyche” -, in macher Hinsicht dem frühsozialistisch begründeten Streben nach Gerechtigkeit angesichts des gleichen Menschseinsnahe kommt, das nicht nur durch die gleiche Sterblichkeit gekennzeichnet ist, sondern auch durch die gleiche Tatsache der “Gebürtlichkeit”, wie Hannah Arendt formuliert. Darauf gehen wir später ein.

Die dritte Stufe der Liebe ist bei Augustinus ein Streben allein nach Gottesnähe, eine transzendente Liebe, die dem Ewigen nahe ist. Für ihn stimmen “sapientia” und “amor Dei” überein. Es ist über das Verstehen der Geheimnisse der Sprache, dass die Nähe zum Göttlichen sich öffnet. In den “Confessiones”, in den  “Soliloquia” wie in den 28 Bänden des “Gottesstaates” findet sich eine zugleich dichterisch-mystische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem tiefen Bedürfnis nach Verstehen des göttlichen “verbum” resp. “logos”, auf dessen zeitloses Sein jedes menschliche Werden zurückgeht. “Quid enim est, nisi quia tu es? Ergo ‘dixisti et facta sunt’ atque in ‘verbo’ tuo fecisti ea” – .“Was ist denn, ohne dass es wäre, weil Du bist? Also, nur ‘gesprochen’ hast Du, ‘und es ward’ und in Deinem ‘Wort’ hast Du es erschaffen”[11]. Da kein Bild und keine naturwissenschaftliche Begründung genügt, um das Verstehen des Nicht-Verstehbaren zu ermöglichen, geschieht über die Sprache – das Wort und das Wort und das Wort…-, ein nicht endendes Streben nach dem Eindringen in das Ewige, das zugleich anwesend und abwesend ist. Darin besteht diese äusserste und höchste menschliche Liebe. So wie das kleine Text-Zitat verdeutlicht, findet sich in ihr über die Sprache – über das Wahrnehmen und Denken, das Fragen und Erkennen, das Suchen nach Verstehen – die mit jedem Menschsein ausgesprochene Schöpfung ins Zeitliche hinein, das zugleich am Ewigen teilhat.

  1. “Kein Wort bricht ins Dunkel”[12]

1929 erschien im Springer Verlag, Berlin, Hannah Arendt’s Dissertation “Der Liebesbegriff bei Augustin”[13]. Sie war damals 23 Jahre alt; der Doktorvater war Karl Jaspers.  Das über die vielfache Bedeutung von Kommunikation, über Existenzphilosophie und politisches Denken geschaffene Tochter-Vater-Verhältnis, das in der Abschlusszeit des Studiums, inbesondere bei der Arbeit über den Liebesbegriff in Augustinus’ “Confessiones” erkennbar ist,  hielt mit Verehrung und Vertrauen, allmählich mit wachsender Anteilnahme und tiefer Freundschaft an bis zu Karl Jaspers’ Tod im Februar 1969[14].

Hannah Arendt hatte sich an Karl Jaspers gewandt, damals Professor in Heidelberg. Das Semester vorher hatte sie bei Edmund Husserl in Freiburg studiert,  das Studienjahr 1923-1924 bei Martin Heidegger in Marburg. Damals war sie 17 Jahre alt, eine auffallende und ungewöhnliche, intensive junge Denkerin, die im Milieu der Studierenden kaum Kontakt mit Gleichaltrigen hatte – ausser mit Hans Jonas und mit Günther Stern, beide nur wenige Jahre älter, beide ebenfalls aus jüdischen Familien und von lebenslanger Bedeutung für sie (s. später). Der Grund für das zurückgezogene Leben Hannah Arendt’s war die als Geheimnis gewahrte Liebe mit dem 17 Jahre älteren Martin Heidegger, für die junge Frau eine aufwühlende Liebe, für Heidegger selber, der verheiratet und Vater von zwei Söhnen war, eine animierende Bestätigung seines Selbstwertes (er war damals an der Niederschrift von “Sein und Zeit”), gleichzeitig ein Risiko seiner Karriere. Nach einem knappen Jahr wurde auf seinen Entscheid hin die Liebesbeziehung abgebrochen.

„Der Abend hat mich zugedeckt

So weich wie Samt, so schwer wie Leid.

                Ich weiss nicht mehr wie Liebe tut

               Ich weiss nicht mehr der Felder Glut

              Und alles will entschweben

              Um nur mir Ruh zu geben.

Ich denk an ihn und hab ihn lieb

Doch wie aus fernen Landen

Und fremd ist mir das Komm und Gieb

Kaum weiss ich was mich bangt.

               Der Abend hat mich zugedeckt

               So weich wie samt so schwer wie Leid

              Und nirgends sich Empörung reckt

             Zu neuer Freud und Traurigkeit.

Und alle Weite die mich rief

Und alles Gestern klar und tief

Kann mich nicht mehr betören.

               Ich weiss ein Wasser gross und fremd

              Und eine Blume die keiner nennt

             Was soll mich noch zerstören?

Der Abend hat mich zugedeckt

So weich wie Samt, so schwer wie Leid“[15]   

                  

Das Gedicht schrieb Hannah Arendt, als sie das Dilemma der verbotenen, aufwühlenden und sie beherrschenden Liebe durch den Abbruch, den sie geahnt hatte, verarbeiten musste. Nun wünschte sie zu verstehen, was sie die “Hingegebenheit an ein Einziges”[16] nannte, sie wünschte, aus dem Eingefangensein in Traurigkeit und Leid frei zu werden, sie wünschte, selbst den Abbruch als Teil der Liebe, wie diese für sie galt, in die Liebe zu integrieren. Als junge Intellektuelle versuchte sie, die Philosophie, mit welcher sie sich auseinandersetzte, für sich zu benutzen und im augustinischen Sinn eine Neuorientierung der Liebe zu finden, die den Zweifel am Sinn der Liebe nicht zuliess. Abbruch sollte in der zeitlichen Dimension zugleich Aufschub bedeuten. “Schlägt das Denken in sich selbst zurück und findet an der eigenen Seele seinen einzigen Gegenstand, wird es zur R e f l e x i o n”[17], hielt sie damals in einer Sammlung von Aufzeichnungen fest, die sie unter dem Titel “Die Schatten”[18] an Heidegger überwies. Die Sprache war ihr Halt; gleichzeitig aber spürte sie, dass die Worte “das Dunkle” in ihr nicht erreichten.

Hannah Arendt versuchte, mit diesen Aufzeichnungen, die sie vom Ich auf eine dritte Person – auf ein “sie” – übertrug, das Persönliche auf die Ebene des Allgemeinen zu versetzen, gewiss um ihr schwer leidendes Ich zu schützen, das aber zutiefst spürbar ist. “Alles Gute nahm ein böses Ende, alles Böse nahm ein gutes Ende. Schwer zu sagen, was unerträglicher war. Denn das gerade ist ja das Unerträglichste, das den Atem verschlägt, so man daran denkt in grenzenloser Angst, die die Scheu vernichtet und hindert, dass ein Solcher je sich heimisch fühlt -: zu leiden und zu wissen, in jeder Minute und Sekunde zu aufmerksam und zu höhnisch zu wissen, dass es auch für den bösesten Schmerz noch zu danken gilt, ja dass just dieses Leiden es ist, um dessentwillen es überhaupt noch gilt und sich lohnt.”[19]

Hannah Arendt suchte über das Denken und über das Schreiben zu bewältigen, was in analytischer Hinsicht der schwierige Prozess der Ich-Zustimmung über die Zustimmung zum Leiden als tiefschürfendem Teil der Ich-Erfahrung ist. Die Ursachen des Leidens, das sie als “Zerstörtheit” und als schwere “Bedrücktheit” erlebte, bemühte sie sich zuerst zu verdrängen; sie gestand sie sich nur zögerlich zu. “Ihre Zerstörtheit, die ihren Grund vielleicht nur in hilfloser, verratener Jugend hatte, äusserte sich in diesem Auf-sich-selbst-gedrückt-sein, und das so, dass sie selbst sich Blick und Zugang zu sich verdeckte und verstellte.”[20] Um im Gefühl von Zerrissenheit und Mangel ihren Selbstwert irgendwie zu wahren, wollte sie sich nicht als Opfer fühlen, nicht als Opfer von Missbrauch, nicht als Opfer von Willkür und von Betrug. Die Aufzeichnungen machen aber deutlich, dass es ihr auch darum ging, die Verdrängung zu lösen und Klarheit zu finden. So hielt sie fest: “Sie wusste um Vieles – durch Erfahrung und eine stets wache Aufmerksamkeit. Aber alles, was ihr so geschah, fiel auf den Grund ihrer Seele, blieb dort isoliert und verkapselt. Ihre Ungelöstheit und ihre Unaufgeschlossenheit verwehrten es ihr, mit Geschehnissen anders umzugehen, als in dumpfem Schmerz oder träumerischer, verwunschener Verbanntheit. (…) die Dinge waren recht eigentlich versunken: – eines verschollen, anderes dumpf aufbegehrend ohne Zucht und Ordnung.”[21] Dass sie in der Kindheit ihren Vater verloren hatte (s. später), dass das Trauma (gr. für Leck, Wunde) seines Todes nie verheilen konnte, dass der Mangel an väterlicher Führung und der Hunger nach Vaterliebe sie verführbar machte, dass ihr Lehrer Martin Heidegger diesen Hunger benutzte und missbrauchte – all dies wusste sie im Geheimen, doch gleichzeitig war es ihr nicht möglich, resp. konnte/durfte sie sich nicht zugestehen, Trauma und Retraumatisierung – Vaterverlust und Missbrauch – miteinander in Verbindung zu bringen. Sie wollte am Wert der Liebe festhalten.

Auf Anraten ihrer Freundin Anne Mendelssohn, die ihr seit dem 15. Altersjahr nahe stand und von ihrer Liebe zu Heidegger wusste, begann sie sich mit den Briefen, den Tagebüchern und mit der Geschichte Rahel Varnhagen’s zu befassen[22], einer Frau, die hundert Jahre früher “wie Wetter ohne Schirm” gelebt hatte und die ihr wie eine nahe Schwester erschien. Ihre Empfindsamkeit und Verletzbarkeit waren Hannah Arendt vertraut, ihr Akzeptieren von Enttäuschung und Rückweisung in der Liebe als Erfahrung des Lebens wurde für sie zum Vorbild. Auch die Schwierigkeit, jüdische Herkunft nicht als Einschränkung und nicht als Grund für Bedrohung und Entwertung zu erleben, fand sie schon bei Rahel Varnhagen. Auf erstaunliche Weise schrieb Hannah Arendt in ihren reifen Jahren als Kommentar zu einer Serie von Photos, die sie von Martin Heidegger gemacht hatte – “… dem ich die Treue gehalten habe und nicht gehalten habe, und beides in Liebe. Es ist eine Zustimmung zum zeitlosen Wert von Liebe, die für Hannah Arendt für jede Liebe und für jede Freundschaft galt, von der frühen Studienzeit an bis ins hohe Alter. Sie verteidigte dadurch ihr eigenes, als Siebzehnjährige empfundene Bedürfnis nach Liebe so, wie sie Liebe als Wert im philosophischen Kontext verstand, ohne zu bedenken, dass sie gleichzeitig dem Missbrauch ihrer selbst eine Rechtfertigung erteilte. Intellekt und Psyche verhalten sich oft in einem wechselseitigen Prozess von Abwehr, so dass Verstehen und Verdrängen zu einem missverständlichen Deuten führen.

Merkwürdig mutet auch an, dass Hannah Arendt die Liebe zu Heidegger selbst nicht durch dessen politisches Verhalten und durch ihre Erfahrungen als Jüdin während der Hitlerzeit als Irrtum beigelegt  hatte. Sie versuchte, Heideggers Anpassung an den Nationalsozialismus zu verstehen, sie trug ihm sein Mitläufertum nicht nach. Diese Haltung, die sich hinter ihrem Bekenntnis zur gleichzeitigen Treue und Freiheit in der Liebe zeigt, galt nicht nur für das Verhältnis zu Martin Heidegger, sondern für alle Verhältnisse, die für sie im Sinn von Liebe und von Freundschaft (im engeren und weiteren Sinn) Bedeutung hatten – nicht in Blindheit oder in kritikloser Benommenheit, sondern immer mit einer Akzeptanz  der Fehlerhaftigkeit und des teilweisen Ungenügens. Es war 1947, dass sie in einem Gespräch über Heidegger Karl Jaspers zustimmen konnte, der bemerkte, Heideggers Philosophie sei “ohne Liebe, daher auch im Stil unliebenswürdig”. Etwa um die gleiche Zeit schrieb sie in einem Aufsatz über “Existenz-Philosophie”, in welchem sie auf Heideggers “Sein und Zeit” einging, mit einem kritischen Blick, den sie früher abwehrte: “Der wesentliche Charakter dieses Selbst ist seine absolute Selbstischkeit, seine radikale Abtrennung von allen, die seinesgleichen sind. Dies zu erzielen war der Vorlauf zum als Existential eingeführt; denn in ihm realisiert der Mensch das absolute principium individuationis[23]. Allerdings hatte sie sich nie mit dem Heidegger’schen “Geworfensein” der Existenz begnügen können. Sie bemühte sich, einen eigenen Weg zu finden und diesen zu gehen. 1949, als Hannah Arendt im Auftrag der Jewish Cultural Construction  in Deutschland weilte, entschied sie sich zu einer neuen Begegnung mit Heidegger, auf welche ein – zum Teil intensiver – Austausch gegenseitiger Bewunderung führte[24].

Hannah Arendt’s Verhalten Heidegger gegenüber mutet in Vielem merkwürdig an. Auch wenn sie in philosophischer Hinsicht die kritische Beurteilung zuliess, unterliess sie diese in politischer Hinsicht. Urteilen verstand sie als das klare Unterscheiden von Recht und Unrecht, das nach ihrer Ansicht die Fähigkeit zum politischen Handeln begründet, das jedem Mensch selber obliegt. Dass gerade durch das politische Urteilen und Handeln, wie Heidegger es in Deutschland vertrat, menschliches Leben  in Millionenzahl – jüdisches und nichtjüdisches – der Entrechtung, der Erniedrigung und Vernichtung ausgesetzt wurde, dass das mangelnde kritische Urteil zur Mittäterschaft wurde, das verdrängte Hannah Arendt keineswegs, im Gegenteil. In vielen Aufsätzen und Kommentaren, die veröffentlicht wurden[25], nahm sie dazu Stellung. Sie tat es nicht in Bezug auf Heidegger. Sie ordnete ihn einer anderen “Kategorie” zu, nehme ich an, jener der Liebe, in welcher es nach ihren Überlegungen der Zustimmung zur Differenz und zur Besonderheit bedarf, um Unvollkommenheiten, ja selbst Enttäuschungen zu ertragen.

Es brauchte lange, bis Liebe und Skepsis sich in ihr als Band zwischen Fühlen und Denken halten konnte, und zugleich den Massstab für die moralische Beurteilung des Handelns bot. Von sich selber hielt sie im Gespräch mit Günter Gaus anlässlich des Fernsehgesprächs von  1964 fest: „Ich habe mich mit den Leute auseinandergesetzt, ich bin nicht sehr freundlich, ich bin auch nicht sehr höflich, ich sage meine Meinung“.  Ebenso sagte sie unmissverständlich, als sie auf Differenzen in psychischen und intellektuellen – auch in politischen – Belangen angesprochen wurde: “Wenn man diese Dinge miteinander verwechselt, wenn man also die Liebe an den Verhandlungstisch bringt, um mich einmal ganz böse auszudrücken, so halte ich das für ein sehr grosses Verhängnis”[26]. Im gleichen Gespräch sagte sie auch, in der Freundschaft und in der Liebe werde ein Mensch direkt, ohne Weltbezug, angesprochen, während die politischen Verhältnisse sich ausschliesslich im Weltbezug abspielen würden.

Gewiss, Hannah Arendt formulierte sich möglichst entschieden, ohne verhindern zu können, dass die Aussagen manchmal widersprüchlich erscheinen. Trotzdem gilt, meine ich, dass alle Verhältnisse sich innerhalb des Weltbezugs resp. der Welthaftigkeit bilden und realisieren.

  1. “Sofern wir im Plural existieren, hat nur das Sinn, worüber wir miteinander und wohl auch mit uns selbst sprechen können, was im Sprechen einen Sinn ergibt”[27]

Was Hannah Arendt unter Liebe verstand und welche Werte sie damit verband, ist ein grosses Thema. Es bedarf der weiteren Klärung.

Neben zahlreichen Briefen, die im grossen Briefwechsel mit Martin Heidegger, mit Heinrich Blücher, Mary McCarthy, Karl Jaspers, Kurt Blumenfeld und weiteren bedeutenden Menschen vorliegen, neben Gedichten und persönlichen Aufzeichnungen sind es drei von Hannah Arendts Werken, die ganz der Bedeutung von Liebe gewidmet sind. Auf die ersten zwei Werke, die im Rahmen der universitären Zusammenhänge entstanden sind, sind wir schon eingegangen. Sie geben wieder, was sie in ihrer Jugendzeit zu klären versuchte: einerseits die Untersuchung des Liebesbegriffs bei Augustinus – jenes „appetitus“, der letztlich dem Streben nach einem „Freisein von Angst“ -„metu carere“ – gerecht zu werden sucht, womit sie ihr Doktorat erlangte; andererseits die Darstellung von Rahel Varnhagen’s Lebensgeschichte,  jene „Entwicklung einer deutschen Jüdin aus der Romantik“[28], deren Briefe zu lesen und deren Geschichte nachzugehen ihr nach dem Abbruch mit Martin Heidegger von Anne Mendelssohn empfohlen worden war. Dass sie sich mit der Biographie Rahel Varnhagen’s ursprünglich zu habilitieren dachte und dass dies wegen der Zeitgeschehnisse nicht zustande kam, wurde ebenfalls erwähnt. Das Buch behielt für Hannah Arendt eine prioritäre Bedeutung. Sie schloss es in den USA ab, wo es noch vor der Übersetzung und Publikation in Deutschland veröffentlicht wurde. Was sie über die suchende, immer wieder enttäuschte Sehnsucht nach Verlässlichkeit in der Liebe darzustellen vermochte, über die Sehnsucht einer Frau, die zwischen traditionellem Rollenverständnis und Emanzipation, zwischen gesellschaftlich diskriminiertem Judentum und höfischem Leben einen persönlichen Weg zu gehen versuchte, war teilweise, ein Jahrhundert später, auch ihr Weg zwischen den Welten.

Einen anderen Teil von Hannah Arendts eigenem Weg findet sich im dritten Werk, das mir im Zusammenhang dessen, was sie unter Liebe versteht, wichtig erscheint. Es ist die Liebe zur Welt – „amor mundi“ –, der sie sich in „Vita activa oder Vom tätigen Leben“ in einem weiten Exkurs widmet, der zugleich in philosophiegeschichtlicher wie in zeitkritischer Hinsicht Beachtung verdient. Sie geht auf die vielfältige menschliche Bedingtheit ein, auf die Bedingungen der Zeitlichkeit, des öffentlichen und des privaten Raums, auf die Bedingungen von Eigentum und Arbeit, von Instrumentalisierung, Industrialisierung und Handel, schliesslich auf die zunehmende Weltentfremdung und die Umstülpung von Theorie und Praxis. Was sich in ihrem Eintreten für den „amor mundi“ manifestiert, verbindet sich auf eigenwillige Weise mit Augustinus’ komplexen Erklärungen von “caritas”.  Für Hannah Arendt findet sich hierin die unverbrüchliche Zustimmung zum Leben als Mensch unter Menschen, d.h. zur Existenz in der Welthaftigkeit. Existenz allein, ohne die Rückkoppelung in der Pluralität des Zusammenlebens, ist für Hannah Arendt sinnlos. Ihren Überlegungen gemäss definiert sich Existenz über die Freiheit; hierin zeigt sich der grosse Gegensatz zur Heidegger’schen Theorie. Freiheit wiederum konstituiert sich nur auf Grund der Pluralität.

Hannah Arendt versteht Freiheit daher als Gabe, die sich als schöpferische Potenz mit der Natalität –  der Gebürtlichkeit –  verbindet, der Tatsache der menschlichen Sterblichkeit – der Mortalität – zum Trotz. Mit jeder Geburt geht ein Neuanfang einher, dem die Möglichkeit zukommt, zum “inter-esse” – dem Zusammen-Sein – der Menschen untereinander und miteinander etwas von Bedeutung beizutragen. Trotz der Nichtwählbarkeit von Herkunft und Zeitzugehörigkeit findet sich in dieser mit der Geburt gegebenen persönliche Kraft die Möglichkeit der Wählbarkeit von Lebensgestaltung. Freiheit in Hannah Arendt’s Verständnis lässt sich daher als neuzeitliche Interpretation der augustinischen Liebeskraft in Verbindung mit “sapientia” interpretieren.  Während sie jedoch bei Augustinus vom “appetitus” über “caritas” auf das zeitlos Göttliche – den “amor Dei” – hin entfaltet wird, ist es bei Hannah Arendt der “amor mundi”, der die Wahlmöglichkeiten in jeder Art von Liebe lenkt. Von zentraler Bedeutung ist nach ihrem Ermessen dabei die Sprache. “Sofern wir im Plural existieren, und das heisst, sofern wir in dieser Welt leben, uns bewegen und handeln, hat nur das Sinn, worüber wir miteinander oder wohl auch mit uns selbst sprechen können, was im Sprechen einen Sinn ergibt.[29]  Die Sorge, die sie nach der weltweiten Zerstörung durch den Krieg und die Fortsetzung der wissenschaftlichen Zerstörungstechnik auch nach dem Krieg bewegte, beruhte u.a. auf der Tatsache, “dass wir uns in einer Welt bewegen, in der die Sprache ihre Macht verloren hat, die der Sprache nicht mächtig ist.”[30] An anderer Stelle hält sie fest, dass die Menschen ihrer Zeit “bereits in einer sprach-losen Welt leben”.[31]

Die zugleich von Leidenschaft und Leiden geprägte Zustimmung Hannah Arendts zur Existenz in der zeit- und geschlechterbestimmten Welthaftigkeit prägte jede Art von Zugehörigkeit und Verhältnis, das sie erlebte, ob sie es selber wählen konnte oder nicht.  Die Zustimmung galt zugleich ihrer jüdischen Herkunft, der deutschen Sprache und der Kulturgeschichte Europas. Vielleicht setzte sich diese Übereinstimmung am unmissverständlichsten in der Liebe zu Heinrich Blücher um. Um auch diese Liebe zu verstehen, bedarf es einer knappen, analytischen Klärung ihrer Kindheitsgeschichte, des Milieus, in welchem sie aufwuchs, der entscheidenden Bindungen, Vorbilder und Verluste. Und ebenso bedarf es der Darstellung von Hannah Arendts eigener Lebensentwicklung, in welcher sie die in der Jugend erarbeiteten Entwürfe des “amor mundi” umsetzte.[32]

  1. Über den Mut zur Besonderheit

Unbestritten prägte die am 14. Oktober 1906 geborene Hannah Arendt die Liebe ihrer Eltern für- und zueinander, beide gebildet und emanzipiert, beide auch Mitglied der – damals in Deutschland noch verbotenen – sozialistischen Partei. Es war eine so starke Beziehung, dass Martha Cohn, im Wisssen um die Jahre zurückliegende Syphilisinfektion Paul Arendts, beschloss, ihn trotz der Krankheit zu heiraten. Damals glaubte man, einen Syphilisinfekt durch eine sekundäre Infektion mit Malaria-Fieber zu heilen, und Paul Arendt unterzog sich dieser Therapie. Er war denn auch während einiger Jahre symptomfrei, bis die kleine Hannah zwei Jahre alt war. Als er 1914 starb, nach einem Leiden, das die Einlieferung in die psychiatrische Klinik von Königsberg nötig gemacht hatte, hatte die achtjährige Hannah eine Art fürsorglicher und zärtlicher Beziehung zu ihm aufgebaut, deren Ausgewogenheit ihre Mutter erstaunte. Ein Jahr zuvor war auch ihr Grossvater Max Arendt, den sie sehr liebte, aus dem Leben geschieden. Mit beiden so früh verlorenen Vaterfiguren war sie über Geschichtenerzählen, Spaziergänge, Kartenspielen und wieder Geschichtenerzählen auf persönliche Weise verbunden. Ich vermute, dass sowohl ihre Lebensmaxime – “put all your sorrows into a story and tell it” – wie ihre Liebe zu väterlichen Elementen des „masculini generis“, wie sie insbesondere Heinrich Blüchers Persönlichkeit bezeichnete, auf diese frühe Kindheitserfahrung zurückgehen.

Die Bindung an die Mutter und deren Vorbild als unerschrockene, emanzipierte Frau – ihr Rat war, sich nie zu ducken – war für die heranwachsende Hannah entscheidend gewesen, wobei sich im Lauf der Jahre zunehmend die Rollen vertauschten. Als der Nationalsozialismus Ende der 20er/Anfang der 30er Jahre immer bedrohlicher wurde, und als Hannah – damals Stern-Arendt  – 1933 beschloss, nach einer glimpflich abgelaufenen Verhaftung durch die Gestapo Deutschland über die grüne Grenze zu verlassen und mit Zwischenhalten in Prag und Genf nach Paris zu emigrieren, wohin Günther Stern sich nach dem Reichstagsbrand schon abgesetzt hatte, da schloss sich Martha Arendt der Tochter an, obwohl ihr zweiter Ehemann, Martin Beerwald, Königsberg nicht zu verlassen gedachte.[33]

Die Beziehung zu ihrer Mutter war für Hannah Arendt während Jahrzehnten eine nie in Frage zu stellende Sicherheit; sie wurde zum Modell für langdauernde, zärtliche und verlässliche Freundschaften mit Frauen – mit Anne Mendelsohn, Hilde Fränkel, mit Mary McCarthy und mit Lotte Köhler -, alle mit ihr in einem nahen Austausch über Gespräche und Briefe. Der frühe Tod des Vaters, Schmerz und Trauer, die verdrängt werden mussten, auch das liebevolle Bild, das den Mangel noch verstärkte, bewirkte in ihr das Bedürfnis nach „Ersatzvätern”, das ihr Leben prägte.

Die erste Liebe dieser Kategorie gehörte Rabbi Vogelstein. Der mit der Familie befreundete Hermann Vogelstein – auch er Mitglied der Sozialistischen Parte und Begründer der Königsberger Reformgemeinde – war nicht nur Hannahs Arendts Religionslehrer seit den frühesten Schuljahren, sondern auch der Mann, von dem die Neunjährige behauptete, sie würde ihn heiraten, wenn sie gross sei. Und als sie ihm mit 14 Jahren erklärte, sie glaube nicht mehr an Gott, fragte er gelassen, wer denn dies von ihr verlangt hätte.[34]

Eine andere Art „Vaterbeziehung“ bahnte sich mit Kurt Blumenfeld an, der ebenfalls mit den Eltern befreundet gewesen war und dem sie Anfang der Dreissigerjahre wieder in Berlin begegnete, einem Juristen, der als langjähriger Sekretär des Zionistischen Weltverbandes und als Präsident der Zionistischen Vereinigung für Deutschland Hannah Arendt eine Möglichkeit bot, sich dem wachsenden Antisemitismus gegenüber nicht hilflos zu fühlen. Sie trat der Zionistischen Vereinigung nicht bei, reiste jedoch als Studentin in deren Auftrag mit Aufklärungsvorträgen gegen den Antisemitismus in ganz Deutschland umher und engagierte sich in Berlin auch im Rahmen eines Forschungsauftrags  über Antisemitismus in Berufs- und Verbandsblätttern. Diese Tätigkeit in der Nationalbibliothek zog 1933, wie schon erwähnt,  die Verhaftung durch die Gestapo nach sich, einen einwöchigen Gefängnisaufenthalt in Berlin mit zahlreichen Befragungen, anschliessend die Flucht nach Paris.

Mit Kurt Blumenfeld, der 1933 ins damalige Palästina auswandern konnte, blieb sie bis zu dessen Tod in naher Verbindung, die, wie der 1995 veröffentlichte Briefwechsel beweist[35], herzlich, vertraut geschwätzig, und, wenn es um das Austragen von Meinungsverschiedenheiten ging, schonungslos offen war. In wichtigen Fragen, etwa in jenen, die das deutsche Judentum betrafen, insbesondere in Fragen der Assimilation und der Antisemitismusanalyse, war Hannah Arendt dankbar um die Unterstützung, die sie von dem älteren Freund bekam. Auch in Bezug auf Israel, auf das, was sie den Nationalismuskonflikt nannte, stimmten sie in vielem überein. Die grösste Differenz entstand nach Hannah Arendts Rapport über den Eichmann-Prozess und konnte nicht mehr geklärt werden, da Kurt Blumenfeld 1963, im gleichen Jahr, als das Buch erschien, starb, nachdem er dieses weder gelesen hatte noch sie anlässlich ihres Besuchs in Jerusalem sehen wollte.

Die jüdische Selbstkritik, die sie am Rand der aufwühlenden Untersuchung von Eichmann’s Schuld machte, wurde von vielen der langjährigen Freunde als Affront verstanden, etwa von Gershom Scholem, von Hans Jonas, auch von Robert Weltsch, so dass sie die Freundschaft mit Hannah Arendt abbrachen. Dies belastete sie stärker als der öffentliche „Krieg“, der ihr gegenüber von verschiedenen Seiten angetan wurde, insbesondere angestachelt durch Blumenfeld’s Freund Siegfried Moses, während Jahren auf erniedrigende Weise, eigentlich bis 1967, als mit dem Siebentagekrieg die Aufmerksamkeit nicht mehr auf Hannah Arendt gelenkt werden konnte.

Die Art der Beurteilung und „Bestrafung“ ihres Denkens aus den eigenen Kreisen war für Hannah Arendt unverständlich. Nicht nur sie fühlte sich davon verletzt, sondern zutiefst auch Heinrich Blücher, der sie in allem zu verteidigen suchte. Ihr wichtigstes Anliegen war, dass Menschen, die einander nahestehen, sich durch Meinungsverschiedenheiten nicht verlieren. Was sie Gershom Scholem geschrieben hatte, als er sich wegen eines noch während des Weltkriegs publizierten Artikels – “Zionism reconsidered”-, in welchem sie ihre Überzeugung eines föderalistischen, binationalen Staates mit rechtsichernder und friedensichernder Gleichberechtigung vertrat,  mit ihr überworfen hatte, drückt ihre Haltung aus: „Vielleicht können sie sich in diesem Fall entschliessen, es so zu halten wie ich: nämlich, dass Menschen mehr wert sind als ihre Meinungen, aus dem einfachen Grund, weil Menschen de facto mehr sind, als was sie denken oder tun.”[36]

Dieser Grundsatz der prinzipiellen Zustimmung, ohne dass es einer völligen Übereinstimmung bedurft hätte, erscheint mir für alle Beziehungen Hannah Arendts entscheidend. Er versteht sich, denke ich, aus ihrem Verständnis von Freiheit, das auch das Irren und Fehlen einschliesst. Eine Freundschaft, die auf Generosität gebaut ist, ist ohne dieses Verständnis von Freiheit ein konditionales Konstrukt. Hannah selbst war dieser Generosität rückhaltlos verpflichtet. Dazu kam als weiteres wichtiges Element für die Bildung langdauernder Freundschaft der sprachliche Austausch, insbesondere über die deutsche Sprache. Als sie nach dem Krieg, nach einem Unterbruch von 17 Jahren, das erstemal wieder nach Deutschland reiste, im Auftrag einer amerikanisch-jüdischen Organisation, die ihr auftrug, ein Inventar der nach der nationalsozialistischen Vernichtung noch bestehenden vorhandenen Kultgegenstände und -orte zu machen, und als sie nach ihrem Eindruck gefragt wurde, da sagte sie unumwunden, das stärkste Erlebnis sei gewesen, dass “auf der Strasse deutsch gesprochen wurde”. Und über die Wiederbegegnung mit Heidegger in Freiburg sagte sie, dass sie “durch ihn wie immer die deutsche Sprache in ihrer ganzen eigenartigen Schönheit wieder  empfing, als wirkliche Dichtung”.[37]

Auch Karl Jaspers – neben Kurt Blumenfeld, der den jüdischen „Vater” ersetzte –  war eine Art deutscher Vaterfigur in ihrem Leben, wie schon erwähnt Doktorvater und jahrzehntelanger Gesprächspartner[38]. Hannah Arendt verehrte ihn seit den Studienjahren in Marburg zutiefst nicht nur wegen seines Humanismus, sondern auch wegen seiner Sprache. “Wo Jaspers spricht, wird es hell”, antwortete sie mit lächelnder Ergriffenheit, als Günther Gauss sie im schon erwähnten Fernsehinterview auf diese Beziehung hin ansprach. Auch Jaspers gegenüber liess sie die verzeihende Generosität spüren, mit der sie die Beziehung zu Heidegger für sich rettete und die sie Scholem gegenüber verteidigte. Nie machte sie Jaspers den leisesten Vorwurf, dass er seine Stimme kaum gegen die Naziverbrechen erhoben hatte oder dass er in keiner Weise bei einer der Widerstandgruppen mitgewirkt hatte. Er war mit seiner jüdischen Frau Gertrud Mayer aus Deutschland emigriert und hatte sich in Basel niederlassen können, wo Hannah Arendt ihn nach dem Krieg fast jährlich besuchte. Die Gespräche, die sie mit ihm führte, waren für sie, wie sie immer wieder versicherte, ungetrübte Labsal.

Bevor ich auf Heinrich Blücher eingehe, will ich noch eine wichtige Freundschaft erwähnen: diejenige mit Walter Benjamin. Dieser grüblerische Aussenseiter unter den deutsch-jüdischen Denkern stand ihr in den Pariser Jahren nahe, nicht zuletzt, weil sie in ihm den „Paria” verkörpert sah, den sie innerhalb des Judentums als den „eigentlichen Menschen” betrachtete, wie sie mehrmals schrieb. Die antisemitische Verfolgungswelle, die auch das Leben in Frankreich zu einem Albtraum werden liess, hatte 1940 sowohl die Verhaftung Heinrich Blüchers wie die Internierung Hannah Arendts und ihrer Mutter in Gurs bewirkt, wobei die chaotischen Verhältnisse Ende 1940 sowohl Blüchers Entlassung wie die Freilassung Hannahs und Marthas aus dem Pyrenäenlager möglich machten. Walter Benjamin war gleichzeitig über Lourdes in die Gegend von Marseille gereist, der einzigen noch unbesetzten Zone Frankreichs, von wo aus er mit einer kleinen Gruppe anderer Flüchtlinge über das Gebirge nach Spanien zu gelangen dachte, um dann mit Hilfe eines Notvisums in die USA zu reisen. Aber an jenem Tag, als Benjamin in Spanien anlangte, wurden die französischen Transitvisa, die in Marseille ausgestellt worden waren, für ungültig erklärt. Walter Benjamin nahm sich das Leben, völlig erschöpft von der Menschenjagd, als deren Opfer er sich fühlte. Eine schwere Tasche mit Manuskripten hatte er über die Berge geschleppt, die irgendwo verschwand. Einen Koffer mit weiteren Manuskripten, darunter die Thesen „Über den Begriff der Geschichte”, hatte er Hannah Arendt anvertraut, die diese nach New York rettete und sich dort für deren Veröffentlichung einsetzte, in ständigem Kampf gegen die unfreundlichen Erschwernisse von Seiten Adornos.

  1. “In den Wüsten des Herzens, lass den heilenden Brunnen entspringen”[39]

Auch Heinrich Blücher hatte Hannah Arendt 1936 in Paris kennengelernt.  Sie arbeitete damals als „Sekretärin“ für die Jugend-Aliyah, dank welcher jüdische Jugendliche aus Deutschland ins damalige Palästina auswandern konnten, nachdem sie vorher in Frankreich versorgt, ausstaffiert und mit Herbäischkenntnissen versehen worden waren. Als Begleiterin einer dieser Jugendgruppen war es Hannah Arendt möglich, über Sizilien mit dem Schiff das erstemal ins damalige Palästina zu reisen und dadurch sowohl architektonische Zeugnisse der von ihr so sehr bewunderten griechischen Kultur kennen zu lernen wie die frühesten Kibbuzim. Blücher gehörte zu den ehemaligen Kommunisten, die einerseits durch die Gestapo verfolgt wurden, andererseits den totalitären Charakter des Stalinismus erkannten und daher warnend und aufklärend gegenüber beiden Systemen wirkten. Er war im Frühling 1934 aus Berlin über Prag nach Paris geflohen. Hannah Arendt begegnete ihm im Emigrantenkreis, den auch Walter Benjamin, Erich Cohn-Bendit (ein Rechtsanwalt, Daniel Cohn-Bendits Vater), Fritz Fränkel (ein Psychoanalytiker), Karl Heidenreich (ein “entarteter” Maler), Chanan Klenbort (ein aus Polen stammender Journalist) u.a.m. frequentierten. Blücher war kein Akademiker, sondern ein „Proletarier“, 1899 in Berlin geboren, Sohn eines Fabrikarbeiters, der an den Folgen eines Arbeitsunfalls früh gestorben war, und einer Wäscherin, die ihn allein aufgezogen hatte. Heinrich Blücher hatte an den Arbeiteraufständen von 1918 in Berlin auf Seiten der Spartakisten teilgenommen, deren führende Köpfe, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, am 15. 1. 1919 von aufs brutalste ermordet worden waren.

Heinrich Blücher war, wie Hannah Arendt ihn bezeichnete und liebte, ein „Mann der Tat”, Gründungsmitglied der 1918 gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands. Seine Leidenschaft galt dem Lesen und Lernen, dem Sprechen und Verstehen, insbesondere dem Diskurs. An der 1920 in Berlin gegründeten Hochschule für Politik hatte er Politische Theorie studiert. Diese Hochschule liess auch Studierende ohne Abitur zu. Seine Erfahrung mit dem Aufbau, dem Niedergang und dem Fall der Kommunistischen Partei Deutschland war für Hannah Arendt das Lehrbeispiel für eine  revolutionäre Bewegung, die nur Erfolg haben kann, wenn sie über ein gutes Netz von Arbeiterräten verfügte, wie sie immer wieder schrieb. Er war ein politischer Kopf, von dem Hannah Arendt sagte, dass sie dank ihm „politisch denken und historisch sehen gelernt habe, ohne deswegen davon abzulassen, sich historisch wie politisch von der Judenfrage her zu orientieren”. Alle grossen Werke Hannah Arendts – “Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft”, “Vita activa”, “Über die Revolution” u.a.m. – waren in enger Zusammenarbeit mit Blücher entstanden.

Dass Blücher noch in zweiter Ehe verheiratet war, als Hannah Arendt sich mit ihm 1936 befreundete, erfuhr sie erst 1937, als seine Frau, Natascha Jefroikyn, ebenfalls nach Paris flüchtete. Sowohl Blücher wie Hannah Arendt, die auch noch mit Günther Stern verheiratet war (der noch vor Kriegsausbruch in die USA emigrierte), liessen sich von ihren Ehepartnern scheiden und gaben sich auf einem Pariser Zivilstandsamt das Ja-Wort. Dies war die Voraussetzung, damit sie 1941 überhaupt gemeinsame Visa nach den USA beantragen konnten, deren Realisierung von Günther Stern ermöglicht wurde.

Im Blick von Elisabeth Young-Bruehl war Heinrich Blücher “flatterhaft und starrsinnig”, zugleich so kritisch und erbarmungslos und irgendwie so bestimmt in seinem Urteil über die Unzulänglichkeiten von Dingen, dass er für die einen unerträglich war, für die anderen erfrischend und von hohem Wert. Mit Martha Arendt, Hannahs Mutter, vertrug er sich nicht; sie fand ihn rüppelhaft und unerzogen. In den USA war das Leben anfänglich überhaupt schwierig. Während Hannah Arendt 1941 eine Stelle beim deutschsprachigen, jüdischen Magazin „Der Aufbau” fand, auch eine Stelle als Lektorin im Schocken-Verlag, wo sie u.a. die Bücher von Franz Kafka, Bernard Lazard, von Walter Benjamin und Gershom Sholem betreute, sodann eine Stelle als Forschungsleiterin der Commission on European Jewish Cultural Reconstruction und ein Jahr später einen Lehrauftag beim Brooklyn-College bekam, war es für Blücher sehr viel mühsamer, irgenwie Fuss zu fassen. Hannah und Heinrich lebten in einer ungleichen Realität, trugen aber gemeinsam die beklemmende Last der Nachrichten aus Europa über Hitlers „Endlösung”, das Entsetzen über das Schicksal der Menschen in den Lagern, die lähmende Ohnmacht.  Beide waren von Gefühlen der Verzweiflung besetzt. Ihnen wurde erst in New York verständlich, was Walter Benjamin in den Tod getrieben hatte. Hannah Arendt schrieb damals ein Gedicht, das sie dem toten Freund widmete.

“Einmal dämmert Abend wieder. Nacht fällt nieder von den Sternen, liegen wir, gestreckte Glieder, in den Nähen, in den Fernen

Aus den Dunkelheiten tönen sanfte kleine Melodien. Lauschen wir, uns zu entwöhnen, lockern endlich wir die Reihen.

Ferne Stimmen, naher Kummer: Jene Stimmen jener Toten, die wir vorgeschickt als Boten, Uns zu leiten in den Schlummer.”[40]

Hannah kämpfte im „Aufbau” in New York für die Idee einer jüdischen Armee, damit den Juden nach dem Krieg ein Platz in Europa gesichert wäre. Zugleich geriet sie in einen Gegensatz zu den zionistischen Kräften um David Ben Gurion, der einen jüdischen Nationalstaat anstrebte, wie zu Judah Magnes von der hebräischen Universität, der sich für einen Zwei-Völker-Staat im Rahmen einer arabischen Föderation einsetzte – ein Gegensatz, der sich auf der Biltmore-Konferenz von 1942 in New York zuspitzte und der ihr schliesslich ein Schreibverbot im „Aufbau” einbrachte. Was Hannah Arendt vorschwebte, war ein staatliches Gebilde, in dem es keine Unterschiede zwischen Majoritäts- und Minoritätsstatus geben sollte und welches Teil des britischen Commonwealth wäre. Sie war mit ihrer Auffassung jedoch isoliert. Es war für sie ein Glück, eine Forschungsstelle bei der „Conference on Jewish Relations” angeboten zu bekommen, auf Grund derer sie nachher in den „Jewish Social Studies” eine Liste – vorläufige Liste – der jüdischen Kulturgüter in den von den Nazis und den italienischen Faschisten besetzen Ländern erstellen konnte. Im Auftrag der daraus entstehenden “Commission on European Jewish Cultural Reconstruction” machte sie 1949 ihre erste Europareise, kam so auch das erstemal wieder nach Deutschland, wie ich schon erwähnt habe. (Heinrich Blücher wartete bis 1961, um erstmals  Deutschland  wieder zu besuchen).

Unter den vielen Bekannten und Freunden, die Hannah Arendt in den USA um sich scharte, möchte ich insbesondere kurz auf die Schriftstellerin Mary McCarthy eingehen. Die zwei Frauen waren einander 1944 an einer Party begegnet, und sie blieben, nach anfänglichen Missverständnissen, miteinander das Leben lang befreundet. Was sie verband, war eine ähnliche Liebesbereitschaft der Welt gegenüber, obwohl sie diese oft auch als feindlich empfanden; es war eine Mischung zwischen bewahrter Naivität und aufgeklärt-abgeklärtem „Pariatum”. „Was sie von anderen Schriftstellern auf  ihrem Gebiet unterscheidet“ – hielt Hannah Arendt im Zusammenhang ihrer Freundin fest – „ist, dass sie ihre Beobachtungen aus dem Blickwinkel und mit dem Staunen eines Kindes darstellt, das merkt, dass der Kaiser keine Kleider anhat”[41]. Der Briefwechsel zwischen den beiden Frauen, ein lebhafter, liebevoller Austausch, der 1995 in Englisch erschien, macht vor allem deutlich, dass bei aller Differenz der Lebensgestaltung die gegenseitige Verlässlichkeit von höchstem Wert war. Jeder Ratschlag, den die eine von der anderen brauchte, wurde eingehend brieflich diskutiert und ernstgenommen, und jede Möglichkeit, einander zu treffen, und sei es in Europa, und einige Zeit miteinander zu verbringen, wurde sorgfältig besprochen und realisiert – ob in den USA oder in Paris, in Venedig, Rom, in Griechenland oder in der Schweiz.

Mary McCarthy stand Hannah Arendt auch nahe, als Heinrich Blücher am 30. Oktober 1970 an einem Herzinfarkt starb, plötzlich und gleichzeitig in grosser Ruhe. Eine Art Weltverlorenheit begann damit für Hannah Arendt. Blüchers Tod war so eingetreten, wie sie es über zehn Jahre befürchtet hatte. Sie fühlte sich hilflos, als stände sie nicht mehr mit den Füssen auf der Erde, wie sie Mary McCarthy gestand. Die zwei so verschiedenen Menschen waren in den dreissig Jahren Ehe einander beinah symbiotisch nahe geworden. Beide teilten „die Fähigkeit, sich leidenschaftlich für einen Standpunkt einzusetzen und sich nicht darum zu scheren, ob man aufs falsche Pferd gesetzt hat – oder was es kosten könnte”[42], wie es ein amerikanischer Freund Blüchers, Dwight McDonald, formulierte.

Blücher, der nicht nur für seine Frau, sondern auch für zahllose Studierende – insbesondere im Bard College – zum grossen Lehrer geworden war, hatte in seiner letzten Vorlesung im Jahre 1968 über die Skala der menschlichen Beziehungen gesprochen, dabei auch über die Liebe im Alter, über das, was ihn und Hannah Arendt nach einem langen gemeinsamen Leben der Treue trotz einiger Eskapaden, nach Jahrzehnten des gemeinsamen Kämpfens und Für-einander-Einstehens verband: … „Der Eros ist überwunden. Er war am Anfang da, aber er ist überwunden worden und spielt keine Rolle mehr. Was jetzt zählt, ist die wechselseitige Einsicht zweier Persönlichkeiten, die einander als solche anerkennen, die letzten Endes zueinander sagen können: ‘Ich garantiere dir die Entwicklung deiner Persönlichkeit, und du garantierst mir die Entwicklung der meinen’[43]. Es war dies, was bei diesem Paar in dessen „Doppel-Monarchie“ vom Freundeskreis mit Staunen begleitet worden war. Ob der Eros allerdings überwunden war? Ich denke, dass im Sinn Hannah Arendts diese besondere lebendige Kraft das Geheimnis der sich erhaltenden Liebe war, auch in der Freundschaft, und dass er auch in den späten Jahren in der Beziehung zu Heinrich Blücher im Sinn des nicht erblassenden, wärmenden inneren Lichts erhalten blieb.

Hannah Arendt versuchte in den fünf Jahren, in denen sie Blücher überlebte, die “Vita contemplativa” fertigzustellen, ihre Bücher über das Denken, über das Urteilen und über das Wollen, aber sie kam immer langsamer voran. Zwar erhielt sie noch verschiedene Anerkennungen und Preise für ihr Werk, sie machte Reisen nach Europa, traf auch Martin Heidegger wieder, verbrachte in Begleitung von Freundinnen und Freunden wie früher mit Heinrich Blücher lange Ferienwochen im Tessin, in Tegna, aber die Welt „zog sich immer mehr von ihr zurück”, wie sie sich Mary Mc Carthy gegenüber äusserte. Eine der grössten Genugtuungen, die sie noch kurz vor ihrem Tod erlebte, war die Versöhnung mit alten Freunden – so mit Hans Jonas -, die sich von ihr nach dem Erscheinen des Eichmann-Buches abgewendet hatten. Der Historiker Walter Laqueur hatte 1979 in einer Besprechung des Buches festgehalten, dass die Angriffe auf Hannah Arendt eigentlich nicht auf dem beruhten, was sie gesagt hatte, sondern wie sie es gesagt hatte, dass sie eine Intellektuelle war, die vom Temperament her immer zu Übertreibungen neigte.

Hannah Arendt starb an einem Herzschlag am 4. Dezember 1975, nach einem Abendessen in ihrer Wohnung in New York mit einem befreundeten Paar. Am 8. Dezember fand eine ergreifende Trauerfeier für sie statt. Hans Jonas, der schon mit ihr in Heidelberg studiert hatte, schilderte sie, wie er sie damals erlebt hatte: “Scheu und in sich gekehrt, mit überwältigend schönen Zügen und einsamen Augen, ragte sie sofort als aussergewöhnlich, als einmalig heraus. Grosse Intelligenz war dort keine Mangelware. Aber hier war eine Intensität, eine innere Zielrichtung, ein Gespür für Qualität, ein Suchen nach dem Wesentlichen, ein Bohren nach Tiefe, die ihr etwas Magisches gaben. Man spürte eine absolute Entschlossenheit, sie selbst zu sein, gepaart mit zähem Willen, auch angesichts grosser Verletzlichkeit daran festzuhalten[44]. Und ihr amerikanischer Verleger, William Jovanovich, verabschiedete sich von ihr mit den Worten: “Sie war so leidenschaftlich, wie es jemand, der an die Gerechtigkeit glaubt, nur sein kann, und wer an die Barmherzigkeit glaubt, bleiben muss”.

Liebe im Leben und im Werk Hannah Arendts war all dies: ein grosser Reichtum an gelebter Zustimmung zu Menschen, zu Idealen und zu Ideen, in der Akzeptanz der Widersprüchlichkeit menschlichen Lebens,  immer im Wissen um die „unendlichen Möglichkeiten der Liebe, auch der unerwiderten Liebe”, wie sie einmal nachdenklich zu Mary McCarthy bemerkt hatte. Wenn sie bis zuletzt am „amor mundi” festhielt, so blieb sie auch bis zuletzt die mit Rahel Varnhagen „verwandte“ Frau, die sich dankbar zeigte für jede ihr entgegengebrachte Freundschaft und Liebe – beides zugleich: Fürstin und „Paria“.

[1] Hannah Arendt geb. 1906 in Hannover, gest. 1975 in New York

[2] betr. Geburtsdaten 1’560 Jahre (Augustinus 354 n. Chr.  / H. Arendt 1905), betr. Sterbedaten 1’545 Jahre (Augustinus 430 n. Chr. / H. Arendt 1975)

[3] Hannah Arendt. Vita activa oder Vom tätigen Leben. Piper Verlag, München 1967. S. 10 (Die amerikanische Ausgabe erschien 1958 unter dem Titel “The Human Condition” bei University of Chicago Press).

[4] Aurelius Augustinus. Confessiones / Bekenntnisse. Lateinisch-deutsche Ausgabe. Kösel-Verlag, München 1955

[5] Aurelius Augustinus. Selbstgespräche. Von der Unsterblichkeit der Seele. Lateinisch-deutsche Ausgabe. Artemis Verlag, München/ Zürich 1986

[6] Aurelius Augustinus. Vom Gottesstaat. Bd. I / Bd. II, Artemis Verlag, Zürich 1955

[7] cf. (75), S. 93

[8] ibid. S. 97

[9] ibid. S. 97

[10] ibid. S. 97

[11] Confessiones, 11. Buch, S. 612-613

[12] erste Zeile aus einem Gedicht von Hannah Arendt, Winter 1923/24, in: Elisabeth Young-Bruehl, a.a.O. S. 78

[13]  Eine sorgfältige Synopse findet sich in der ausführlichen Biographie von Elisabeth Young-Bruehl. Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit. S. Fischer Verlag, Frankfurt a .M. 1986. S. 650 bis S. 663. (Die deutsche Ausgabe ist eine Übersetzung der amerikanischen Ausgabe: Elisabeth Young-Bruehl. Hannah Arendt. For Love for the World. Yale University Press, New Haven / London 1982)

[14] cf. die eindrückliche Dokumentation im: Briefwechsel von Hannah Arendt und Karl Jaspers von 1926 bis 1969. Hrsg. Lotte Köhler und Hans Saner. Piper Verlag, München / Zürich 1985

[15] von Hannah Arendt 1926 / 27 verfasst

[16] Elisabeth Young-Bruehl, a.a.O. S. 100

[17] Hannah Arendt. Rahel Varnhagen.  Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. Piper Verlag, München / Zürich 1959. S. 21

[18] Die Aufzeichnungen unter dem Titel “Die Schatten” finden sich unter: Arendt Papers, Library of Congress, Washington.

[19] Elisabeth Young-Bruehl, a.a.O.  S. 95

[20] ibid. S. 95

[21] ibid. S. 95

[22] Karl Jaspers hatte ihr vorgeschlagen, die Studie über Rahel Varnhagen als Habilitation einzureichen; dies war nach 1933 nicht mehr möglich.

[23] Hannah Arendt. Sechs Essays.  (Von S. 48-80: Was ist Existenz-Philosophie?). Verlag Lambert Schneider, Heidelberg 1948, S. 72

[24] cf.  Hannah Arendt – Martin Heidegger. Briefe 1925-1975. Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt a.M.1998

[25] Hannah Arendt. Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Verlag Piper, München / Zürich 1986. – Hannah Arendt. Nach Auschwitz. Verlag Tiamat, Berlin 1989

[26] aus: Günter Gaus. Zur Person. Gespräch mit Hannah Arendt, München 1964, S. 19

[27]  Hannah Arendt. Vita activa oder Vom tätigen Leben. Piper Verlag, München 1967.  S. 11.  (Die amerikanische Ausgabe: The Human Condition, University of Chicago Press 1958).

[28] deutsch erstmals  erschienen beim Piper Verlag, München 1959.

[29] cf. Fussnote 100.

[30] ibid. S. 10

[31] ibid. S. 10

[32] für alle biographischen Präzisionen, auch für die Zitate aus Martha Arendts Tagebuch “Unser Kind” s. die hervorragende Biographie von Elisabeth Young-Bruehl. Hannah Arendt. Leben und Werk, Frankfurt a. M. 1986.

[33] Hannah Arendt war 14 Jahre alt gewesen, als ihre Mutter diese zweite Ehe eingegangen war, wodurch sie nicht nur einen Stiefvater, sondern auch zwei ältere „Schwestern“, Clara und Eva Beerwald, gewann. Clara, begabt und zugleich durch unglückliche Liebeserfahrungen schwer verletzt, nahm sich 1933 das Leben; Eva überlebte durch Emigration nach England. Martin Beerwald hatte das Glück, eines natürlichen Tods zu sterben, bevor er in Gefahr war, deportiert zu werden, während die Schwester von Martha Beerwald-Arendt, Margaret Fürst, die in Berlin lebte, deportiert und umgebracht wurde. Martha Beerwald-Arendt folgte ihrer Tochter nicht nur nach Paris, sondern schliesslich auch in die Emigration nach New York. Sie starb 1948, als sie auf dem Weg von den USA nach England war, wohin sie umzuziehen dachte, um bei Eva Beerwald zu leben. Es war die Zeit, als Hannah Arendt an der Abschlussarbeit von „Origins of Totalitarism“ war, überbeschäftigt und fern von ihrer Mutter.

[34] Rabbi Vogelstein konnte mit seiner Familie rechtzeitig aus Deutschland fliehen; auch er emigrierte nach New York, wo Hannah Arendt ihn wieder traf.

[35] Hannah Arendt / Kurt Blumenfeld. Die Korrespondenz… in keinem Besitz verwurzelt. Hrg. Ingeborg Nordmann und Iris Pilling. Hamburg 1995

[36] s. oben, S.373

[37] Friedrich Georg Friedmann. Hannah Arendt. Eine deutsche Jüdin im Zeitalter des Totalitarismus. München 1985. S.115

[38] s. den umfangreichen Briefwechsel, von Hans Saner herausgegeben. München 1985

[39] zwei Zeilen aus einem Gedicht von W. H. Auden, das Hannah Arendt oft zitierte, cf. Elisabeth Young-Bruehl, a.a.O. S. 518

[40] s. Elisabeth Young-Bruehl, a. a. O., S. 237

[41] s. Elisabeth Young-Bruehl, a. a. O., S.282

[42] ibdi., S.589

[43] ibid., S. 591

[44] ibid., S. 636

 

 

Ergänzung zu: Rätsel der Kommunikation: Verstehen, Missverstehen, Nicht-Verstehen.

Universität  Bern, Koordinationsstelle für Weiterbildung. Wintersemester 2005/06

Was geht mit der Suche nach dem “Paradies”  einher?1 – Philosophische und psychoanalytische Überlegungen

 

 

Einleitung

Gemäss  der aus dem Aramäischen ins Hebräische, ins Griechische und Lateinische, später in alle übrigen Sprachen übersetzten jüdischen und christlichen Schöpfungsgeschichten sowie anderer kultureller und religiöser Mythologien, die schriftlich  dokumentiert werden konnten, war den Menschen ursprünglich ein unbeschwertes, ja glückliches Leben ermöglicht gewesen, das durch den weiblichen Erkenntnishunger mit Sorgen und Ängsten,  mit Mangel  und Not belastet  wurde,  sodann  in der transgenerationellen Fortsetzung infolge der Liebes- und Machtkonflikte unter zwei Brüdern  mit Neid und Eifersucht, mit nicht mehr kontrollierbarer Gewalt,  später  durch die Masslosigkeit an Erwerb und Besitz,  an Unterwerfung und Herrschaft mit der Verwirrung und Verunmöglichung sprachlicher Kommunikation, dadurch mit dem Verlust  des wechselseitigen Verstehens und mit dem Anwachsen des Missverstehens, mit sich steigernder Missgunst und Feinderklärung, mit Kriegen  und noch mehr Kriegen  in ständiger  Steigerung der Verwüstung und Zerstörung der Natur sowie der von den Menschen geschaffenen Lebensbereiche, gleichzeitig mit der Verwundung (gr. “trauma”, Traumatisierung) und Vernichtung der Menschen selber, auch der völlig schuldlosen Kinder  und Kindeskinder.  Menschen leben weit vom “Paradies” entfernt unter stetem Mangel  an Glück, unter  steter Not und vielfältiger Angst.

“Dass der Mensch glücklich sei,  ist im Plan der ‘Schöpfung’ nicht enthalten “2 hielt Sigmund Freud in einem  seiner bedeutenden gesellschaftsanalytischen Texte  fest, die er schrieb,  als er beinah  74 Jahre zählte.  Freud, der in seiner letzten  kreativen  Phase  – selber begleitet  von bedrohlichen gesundheitlichen und gesellschaftspolitischen Zusammenhängen – sich zunehmend auch auf die Tora bezog  als einer bedeutungsvollen Fundgrube der Deutung  der Entwicklung des individuellen Menschseins im Zusammenleben mit einer vielfach unterschiedlichen,  sowohl  machthungrigen und regelüberschreitenden wie erkenntnishungrigen und zugleich  ohnmächtigen Menschheit,  Freud stellte fest, dass Glück” nur als episodisches Phänomen” erlebbar  ist, dass die Fortdauer einer vom Lustprinzip  ersehnten Situation nur ein Gefühl von lauem Behagen” ergebe.  ,, Wir sind so eingerichtet,  dass wir allein den Kontrast intensiv geniessen können,  den Zustand nur sehr wenig.  Er fasste damit die Komponenten des sowohl  existenz- wie kulturbedingten Unglücks zusammen:  die Körperlichkeit mit ihrer Triebhaftigkeit sowie mit der Anfälligkeit für Krankheiten und Leiden, letztlich die menschliche  Sterblichkeit,  sodann die Aussenwelt mit ihren unerbittlichen, zerstörenden  Kräften”, resp. die fremdbestimmten  oder externen, nicht zur Disposition stehenden Bedingungen unseres Lebens (darunter die klimatischen  und technologischen, politischen und gesellschaftlichen  Entwicklungen unserer Zeit), schliesslich  die Bedingungen, die sich aus den Beziehungen zu anderen Menschen,  aus dem Zusammenleben ergeben.

Die kritische Frage nach den Ursachen des menschlichen  Unglücks richtet sich in der Philosophie und Psychoanalyse  an die Menschen selber.  Sie steht nicht mehr im Konflikt der Aufklärung,  als sie noch anklagend und voller Aufbegehren  an den für die Schöpfung der “zerstörenden Kräfte” verantwortlichen Gott gestellt wurde, wie es zum Beispiel Voltaire noch tat, der festhielt:

Wie einen Gott sich denken,  der,  die Güte selbst, den Kindern,  die er liebt,  die Gaben spendet, und doch mit vollen Händen  Übel auf sie giesst?’3

Das “verlorene Paradies”, das als Thema für die heutige Tagung gewählt wurde, bietet ein weites Spektrum des Hinterfragens an, der Deutungen und Erklärungsversuche. Ich werde mich nicht mit den religiösen Fragen um den strafenden Gott befassen noch um die Schulderklärung des Mangels weiblichen Widerstands  gegen Verführung (in John Milton’s “Paradise Lost” von 1667 – wie in den meisten religiösen und literarischen Bibelinterpretationen), da die verhängnisvollen  patriarchalen   Zusammenhänge  dieser Schuldzuweisung in theologischer – insbesondere  in feministisch theologischer – Hinsicht genügend hinterfragt und teilweise auch korrigiert wurden. Ich werde mich in philosophischer und psychoanalytischer Hinsicht mit der Diskrepanz zwischen dem menschlichen Bedürfnis nach Glück und der gleichzeitig vom Menschen immer wieder erlebten und oft kaum tragbaren Fortsetzung von Unglück und von Angst vor weiterem Unglück befassen. Dabei stellen sich die Fragen der Wahlmöglichkeiten  resp. der Freiheit und der Verantwortung sowie der Bedeutung von Glück und Unglück, von Gut und Böse auf vielfältige Weise. Worauf ich mich bei der Klärung der Fragen beziehe, ist eine kleine Auswahl aus der Fülle von Quellen, die zur Verfügung stehen.

Der erste Teil meiner Untersuchungen bezieht sich auf die philosophische Unterscheidung dessen, was als “gut” und was als “nicht gut” resp.  als “böse” verstanden wird und worauf in psychoanalytischer Hinsicht das menschliche Unglück beruht, das in religiöser Hinsicht mit dem sogenannten  “Sündenfall” und dem Verlust des Paradieses einhergeht. Der zweite Teil befasst sich mit der philosophischen  Suche nach Werten, welche durch die Überzeugungskraft des Erkennens ein gutes Leben und Zusammenleben  ermöglichen könnten, wobei jedoch  die Nichtübereinstimmung von Denken und Tun – von Theorie und Praxis-, die seit jeher besteht, durch die Entwicklung, die “Fortschritt”  genannt wird, zunehmend folgenschwerer wird.  Im dritten Teil werden wir auf die psychoanalytisch-therapeutischen Möglichkeiten eingehen, dem Bedürfnis nach Glück, insbesondere dem Bedürfnis nach einem angstfreien Leben, unter den Bedingungen von heute näher zu kommen.  Es geht dabei um die Frage, wie die Umsetzung  von Grundbedürfnissen  die über Generationen fortgesetzte Realität der Mangel- und Leidenszustände,  der Entwürdigung und Gewalt zu korrigieren vermöchte,  so dass die Suche nach Glück sinnvoll bleibt. Wie diese Möglichkeit umsetzbar ist, so dass sie nicht eine Utopie ist, wird zu diskutieren sein.

1 ...  “wer aus Überhebung frevelt” – vom Mythos zur Philosophie

Das Bedürfnis, kraft des Denkens und der Sprache zu deuten, was das Leben der Menschen und das Zusammenleben  der Geschlechter unter den geheimnisvollen, dunkeln Bedingungen des vielfältigen Ordnungssystems  der Natur bedeutet- der vegetativen und animalischen, der klimatischen und astronomischen  –  , dieses Deutungsbedürfnis wurde während Jahrtausenden über das Erzählen der menschlichen  Geschichte fortgesetzt, wie es durch das indogermanische  “-my / mu”- “Ton, tönen”, das sich in “Mythos”,  “Mythologie”, aber auch in “Musik”,  “Mut”,  etc. findet, belegt wird. Mit dem Beginn der Zeichensprache,  allmählich der Schriftsprache begann die geschichtliche  Dokumentation  der menschlichen Klärungsbedürfnisse, die während Jahrtausenden  allein durch die Erinnerung getragen und weiter vermittelt worden waren. Die Anfänge der Philosophie fallen mit den Anfängen der Schriftreligionen zusammen. Beide handeln zuerst von der Trennung der Elemente- Erde, Feuer, Wasser Luft-, von der Trennung von Finsternis und Licht, von den Gestirnen, vom Kreislauf des Lebens, kurz, von den Ursprüngen  der Welt und des vielfältigen Lebens in der Welt.  Sie handeln noch nicht vom Guten, resp. vom Bösen. Zwar wird mit der hebräischen Silbe „ra ‘ah” alles bezeichnet, was nicht gut, was schlecht ist: die verdorbene Frucht, der unfruchtbare Boden, ein Tag, der Unglück bringt, eine Naturkatastrophe  etc. Schlecht ist eine Eigenschaft, die den Dingen oder eventuell auch den Menschen anhaftet, die Teil der Natur sind, eine Eigenschaft, die nicht weiter hinterfragt wird, die einfach auf die Wirklichkeit  verweist. Die Unterscheidung  des guten und des schlechten, eventuell schuldhaften Handelns folgt später.  Sie geschieht mit dem Erkennen der Folgen des Handelns, resp. mit dem Erkennen der Wahlmöglichkeit  von Handlungsentscheiden. Die Frage nach den verborgenen, nicht aussprechbaren Bedürfnissen, die das Entscheiden und Handeln beeinflussen, wird erst durch die Entdeckung des psychoanalytischen Klärungsprozesses  ermöglicht.

Ich verbleibe bei der philosophiegeschichtlichen Unterscheidung. Die Fragmente aus der vorsokratischen griechischen Philosophie weisen immer wieder auf die Widersprüchlichkeit der menschlichen  wie der göttlichen Handlungsentscheide, Verhaltensweisen,  Macht- und Ohrnacht hin.  Obwohl Massstäbe des richtigen Handelns erkannt werden, ist deren Nichtbeachten  und Übergehen eine Tatsache. Unkontrollierbare  Triebhaftigkeit,  Besitz-, Herrschafts- und Unterwerfungsansprüche, Gewalt und Rache wie Weisheit und Weitblick sind zugleich göttlich und menschlich. Dass Böses im Zufügen von Leiden besteht, findet sich meines Wissens bei den Vorsokratikern bei Xenophanes (589/77-485/80), und zwar in einer kleinen Geschichte, die er von Pythagoras, einem der grossen Zeitgenossen  (580-500), erzählt. Xenophanes’  Fragment 7 lautet:,, Und es heisst,  als er (Pythagoras) einmal vorbeiging ( und sah),  wie ein Hündchen misshandelt wurde,  habe er Mitleid empfunden und dieses Wort gesprochen:  ,Hör auf mit deinem Schlagen,  denn es ist ja die Seele eines Freundes,  die ich erkannte,  wie ich seine Stimme hörte’.” Die Geschichte verweist sowohl auf die Pythagoreische Seelenwanderungslehre, die bei Sokrates und Platon zur Lehre von der Göttlichkeit und daher Unsterblichkeit  der “psyche” – der menschlichen  Seele – wurde; doch der von Xenophanes überlieferte Satz drückt auch die klare Erkenntnis aus, dass das Misshandeln  eines Lebewesens ein nicht tragbares Zufügen von Leiden bedeutet und daher etwas Übles, etwas Böses ist, das es zu vermeiden gilt, dass von Zeus in den Tartaros  geworfen werde, wer aus Überhebungfrevelt”.  Von Heraklit (544-483),  dem bedeutenden Denker aus Ephesos, wird in Fragment  43 festgehalten, „ Überhebung soll man löschen mehr noch als Feuerbrunst”.  An anderer Stelle – im Fragment 13 3  – werden von Heraklit  „ böse Menschen als die  Widersacher der wahrhaftigen” beurteilt. Schon in diesen Zeitzusammenhängen wird in der Beurteilung des Verhaltens und der Handlungsentscheide einzelner  die wechselseitige  Abhängigkeit  der Menschen voneinander in Betracht gezogen:  als  “wahrhaftig” gelten diejenigen Menschen,  die sich um Übereinstimmung  von Erkennen  und Handeln bemühen,  deren Streben nach dem Guten jedoch die Überheblichkeit und Rücksichtslosigkeit,  insbesondere die Masslosigkeit  anderer Menschen entgegenwirkt  und zuleide wirkt.  So setzt sich eine stete menschliche Nichtübereinstimmung auf destruktive Weise fort.

Auf zunehmend  erkenntnistheoretische Weise wird das Gute und der Gegensatz zum Guten in Platons (427-347) Ideenlehre  erläutert.  Die monotheistische Glaubensentwicklung und die platonische Ideenlehre erscheinen  mir nah verwandt.  Das Gute wird Gegenstand des intellektuellen Erkenntnisprozesses.  Die Erkenntnis erfolgt nicht über Sinneswahrnehmungen, auch nicht über die Untersuchung oder Klärung von Lebenserfahrungen,  sondern über das reine Denken,  das, analog zum mathematischen  und geometrischen  Erkennen,  richtig und falsch zu unterscheiden  sucht.  Das Gute gilt als das Eine, damit als das Unteilbare, Wahre und Vollkommene.  Alles,  was nicht das Eine ist,  ist daher auch nicht das Gute.  Aber was ist es dann? Da es sich bei Platon  um eine „Seinslogik”,  eine Ontologie, handelt, ist es weder das Schlechte noch das Böse, sondern das Nicht-Wahre,  das Falsche,  d.h.  das, was im Bemühen um Klarheit, um Wahrheit „nicht übereinstimmt”, was irreführt und täuscht, was ebenfalsch ist.  Doch da es dem Guten,  resp. der Wahrheit entgegensteht,  ist das Falsche zugleich das Böse:  es verunmöglicht  das Gute.

Der Vergleich der Anfänge der Schriftdokumente ermöglicht die Annahme,  dass Religion und Philosophie  sich da trennen,  wo der Zustand der Welt nicht mehr der göttlichen Kosmogonie anheim gestellt wird, sondern das So- oder Anders-Handeln  der Menschen dafür verantwortlich gemacht wird.  Das menschliche Handeln wird dadurch Gegenstand der Ethik, d.h.  der  Philosophie vom guten Leben.  Damit wird auch das böse Handeln Gegenstand der Philosophie.  Es resultiert  aus der menschlichen Wahl des Entscheidens  und Handelns, jedoch immer noch im Gegensatz  zum Guten.  Überraschend ist bei Aristoteles (384/3-322/1), dass nicht mehr eine Idee,  sondern der Gute das Mass für das Gute darstellt.  Mit anderen Worten, was gut und was böse ist, resp. was tugendhaft und was schlecht ist,  misst sich am Menschen und am praktisch-tätigen Leben, am Handeln.   Dabei genügt es nicht,  dass die Handlung sittlichen Kriterien genügt,  dass sie zum Beispiel nicht-schädigend oder gerecht ist,  sondern der Handelnde (Frauen gelten noch nicht als sittliche Wesen) muss selber bestimmte Eigenschaften aufweisen,  um den Kriterien des Guten zu genügen. Aristoteles nennt drei Bedingungen:  der Handelnde  muss, erstens,  bewusst handeln; zweitens mit Vorsatz handeln, und drittens im Handeln sicher und ohne Schwanken sein.  Der Analogieschluss ist zulässig, dass, was für den Guten gilt,  in der Umkehrung auch für den Bösen gilt.  Nicht das – zufällig- gute oder schlechte Handlungsresultat ist entscheidend,  sondern Wissen,  Absicht und Unbeirrbarkeit des handelnden Menschen.  Somit liesse sich sagen,  dass auf dem Höhepunkt der griechischen Philosophie  von sittlichem Verdienst oder,  umgekehrt, von Schuld nur gesprochen werden kann,  wenn die von Aristoteles in der Nikomachischen  Ethik genannten Voraussetzungen  erfüllt sind.

Nicht erklärbar erscheint Aristoteles allerdings, weshalb die einen Menschen gut und tugendhaft sind,  die anderen böse und schlecht.  Aristoteles mutmasst,  dass dies entweder von Natur aus so sein könnte,  oder eventuell durch Gewöhnung,  eventuell durch Belehrung geschehe; andernorts  führt er noch den Zufall und die göttliche Fügung ein.  Auf diese zwei letztgenannten Erwägungen einzugehen ist hier nicht möglich. 3 Wichtig ist festzuhalten,  dass es bei Aristoteles letztlich immer um einen Entscheid geht,  der in Konfliktsituationen,  d.h.  in bestimmten Momenten  des praktischen Lebens gefordert wird, auch dass der antike Denker schon drei entscheidende  mögliche Einflüsse auf die moralische Entwicklung,  resp. auf das Handeln der Menschen  in Betracht zieht,  die der modernen Forschung gar nicht so  sehr widersprechen. Was er als „ von Natur aus” nennt, könnte heute als Einfluss genetischer Faktoren bezeichnet  werden; was bei ihm „ Gewöhnung” heisst,  liesse sich durch die Begriffe ,,Sozialisation” und „Beziehungserfahrungen” übersetzen; und was er als „Belehrung” bezeichnet,  könnte sich sowohl mit den Welt-, Gesellschafts- und Erziehungstheorien decken, mit denen ein Mensch  schon als Kind konfrontiert wird, wie auch das Über-Ich meinen,  d.h. die innere Stimme,  die sich als „Gewissen” äussert und welche die internalisierten Verbote, Gebote und Vorbilder,  resp. den frühen Einfluss der Vater und Mutter-Vorbilder widergibt.

Tugenden,  an denen sich, gemäss Aristoteles, das Gute, resp.,,der Gute” am stärksten misst, sind Gerechtigkeit, Klugheit  und Freigebigkeit. Diese sind die Voraussetzungen  für ein gutes Leben und Zusammenleben der Menschen. Die Nicht-Erfüllung  dieser Tugenden kennzeichnet somit auf unmissverständliche Weise den sittlich schlechten Menschen. Nur, was ist mit der Erfüllung  resp. der Nicht-Erfüllung dieser Tugenden gemeint? Aristoteles sagt diesbezüglich,  dass „was wir tun können, nachdem wir es gelernt haben,  das lernen wir, indem wir es tun”.  Dabei gibt er nicht nur klar zu verstehen,  dass jede Theorie sich durch die Praxis bestätigt; er geht auch davon aus, dass es für dieses „Tun” materieller Voraussetzungen  bedarf, resp.  dass ohne Geld weder Gerechtigkeit noch Freigebigkeit gepflegt werden können.  Der Rang der Tugendhaftigkeit  ist somit, bei Aristoteles,  ein Standesprivileg. Andererseits stellt er fest,  dass die Ausübung jeglicher  Tugend von der Klugheit  ausgehe,  da nur das tugendhafte Handeln zum Ziel führe, das im „ guten Leben”, resp. im Glück,  in der Glückseligkeit – ,, eudaimonia der tugendhaft  Tätigen bestehe.

Um diesen ersten Teil abzuschliessen,  darf eine kulturell wichtige Ergänzung  nicht vergessen werden,  resp. eine Wiederholung  dessen, was ich schon erwähnt habe:  Die Nikomachische Ethik ist, trotz des erstaunlich Neuen,  das sie mit dem Praxisrekurs bietet,  eine Art Verhaltenskodex  für besitzende,  freie Männer.  Es handelt sich dabei nicht um eine Lehre vom guten Leben,  gemäss welcher das menschliche Tun des Guten und das Tun des Bösen generell unterschieden und untersucht  werden könnte. Das Glück – “eudaimonia” – steht nur einer Elite zu. Dass die Grundbedürfnisse des Menschseins,  auch das Grundbedürfnis nach einem guten, glücklichen Leben,  die gleichen sind, trotz unterschiedlicher Herkunfts- und Zeitbedingungen,  dazu kam es erst sehr viel später.  Wir werden darauf eingehen; allerdings besteht bis in unsere Zeit eine enorme Diskrepanz zwischen Erkenntnis und Praxis.

Die Beurteilung  des gelingenden  oder nicht gelingenden  “guten” Lebens richtete sich seit frühester Zeit in starkem Mass nach Wertekriterien  aus. Wir begeben uns damit auf die Ebene des praktischen Lebens.  Eine knappe Zusammenfassung der Wertekategorien erscheint mir im Zusammenhang  der heutigen Thematik von Nutzen:

  1. II. Werte – Von den Paradoxien zum kategorischen Imperativ

Die Frage ist,  nach welchen Kriterien wird etwf�ls wertvoll, resp. als gut, und etwas and�res als weniger wertvoll oder als wertlos, als untauglich oder als schlecht angesehen.   Auch diese Frage führt in die Ursprünge  der menschlichen  Kultur zurück, und die Veränderung des Wertebegriffs geht einher mit der Entwicklung der Kultur überhaupt. Materielles und Immaterielles  vermischt  sich ineinander.  Der Wertebegriff muss entstanden sein,  als erste Formen der Selbstversorgung nicht mehr genügten,  als der Tauschhandel und damit die Arbeitsteiligkeit  begannen,  als mit dem Abtausch resp.  mit der Abtretung von Produkten, Gegenständen  oder Leistungen, über welche die einen Menschen verfügten,  ohne deren zu bedürfen,  gegen andere,  die als gleichwertig  empfunden wurden oder galten.  Schon sehr früh wurden Waren oder Leistungen  im Tauschhandel  durch die symbolische Gleichwertigkeit  von Münzen,  resp. von Geld abgelöst, bis das Geld, der Geldbesitz und die Anhäufung von Geld mit der Entwicklung  des Kapitalismus zum Wert an sich wurde.

Obwohl  der ursprüngliche  Gütertausch per definitionem an materielle Güter gebunden war, schloss er immer schon etwas Immaterielles  mit ein:  ein Abwägen und Erwägen,  eine Vorstellung von Wert,  die an Begriffe wie Nützlichkeit, Dringlichkeit,  Unverzichtbarkeit gebunden war und für welche ohne Zweifet schon sehr früh eine Prioritätenordnung und damit die Erfordernis eines Entscheides  galt, der einerseits Gewinn,  andererseits Verzicht bedeutete.  Der Entscheid für das eine Gut schloss ein anderes aus. Und so muss der Wertebegriff sich auch für immaterielle Güter, für Werte der persönlichen Lebensführung,  des Verhaltens und der Organisation des Zusammenlebens durchgesetzt haben.  Was an Geboten und Verboten, später an Gesetzen entstand, beruhte auf der Fortsetzung von Werte-Erfahrung hinsichtlich eines Zwecks. Die Überlegung  von Nutzen oder Schaden ging damit einher.

Zum Beispiel bedeutete  der Entscheid,  einen Feind zu schonen,  statt ihn zu töten,  als Abtausch die Gewähr,  selber geschont und nicht getötet zu werden.  Oder der Entscheid,  zu verzeihen statt Rache zu üben, zieht als Gegenwert die Aussicht nach sich,  dass auch eigene Fehler verziehen und nicht mit Strafe geahndet werden.  Oder der Entscheid,  ein gegebenes Versprechen zu halten,  berechtigt zur Erwartung von Gegenseitigkeit.  So entwickelten sich aus dem Abwägen von Werten und aus dem Entscheid für einen bestimmten Wert in einer Rangordnung  von Werten bestimmte wertorientierte  Regeln des Verhaltens, welche durch die wiederholte Einhaltung internalisiert wurden und zu einem Werte- und Regelbewusstsein führten,  das sich wiederum im persönlichen  Gewissen ausdrückt:  dem “guten Gewissen”, bei Beachtung der internalisierten Wertekategorien  und bei Einhaltung der Regeln,  dem ”schlechten Gewissen” bei deren Nichtbeachtung und Übertretung.  Die Entwicklung  des eigenen Urteilsvermögens und der eigenen Handlungsverantwortung führt zu einer Veränderung  der sozialisierten und internalisierten Wertevorstellungen und Regelcodices.

Das übernommene  oder persönlich entwickelte Werte- und Regelbewusstsein  entspricht der persönlichen Moral eines Menschen, während unter Ethik ( ethos / Sitte, Brauch) die Auseinandersetzung um die obersten Grundsätze der verschiedenen Moralen verstanden werden kann, mit dem Ziel ein gutes Leben im Zusammenleben der Menschen zu sichern. Allerdings ist bezüglich des guten Lebens Verschiedenes und Ungleiches gemeint:  das diesseitige gute Leben,  oder das jenseitige  gute Leben,  oder das gute Leben einer bestimmten Gruppe von Menschen  (wie eben z.B.  der freien Männer in der griechischen Antike und noch während Jahrhunderten  in den Systemen des Patriarchats,  oder der Arier im Nationalsozialismus,  oder aller Menschen,  auf Grund einer reziproken Anerkennung des gleichen Menschseins  und einer konsensfähigen Wertehierarchie u.a.m.).  Damit wird deutlich,  dass jede Ethik ein bestimmtes Menschenbild  voraussetzt, und eine bestimmte Zeit widerspiegelt.

Es ist eine Tatsache,  dass im Lauf der Menschheitsgeschichte sowohl die Prioritätenordnung der Werte wie die daraus abgeleiteten Regeln zumeist autoritär bestimmt wurden,  häufig nicht im Sinn einer möglichst breiten Konsensfindung, nicht in Hinblick auf das grösstmögliche “bien commun” sondern in Hinblick auf partikuläre Vorteile derjenigen,  die sich die Definitionsmacht für die Rangordnung der Werte und Regeln zubilligten, um dadurch die danach handelnden Menschen  zu kontrollieren,  ob dies Fürsten, Potentaten, religiöse Autoritäten,  Arbeitgeber,  politische Führer,  die sogenannte  “öffentliche Meinung” usw. war oder noch immer ist.  Auch gehörte eine gleichzeitige Vielzahl von Wertordnungen,  die untereinander rivalisierten,  im Lauf einer komplexer werdenden Welt zu den sich bietenden Orientierungsmöglichkeiten. Daraus entstanden jene Orientierungskonfusionen, jene Paradoxien,  auf die ebenfalls schon Aristoteles in seiner “Nikomachischen Ethik”  hinwies, und jene Gewissenskonflikte,  die wir zum Teil auch heute kennen, deren Ursprung  in der Nichtübereinstimmung eventuell gleichrangiger  Werte oder Handlungsregeln  liegt, die aber verschiedenen  Ordnungen  entstammen,  d.h.  in der Tatsache,  dass das eine oder das andere, was man tun oder unterlassen sollte resp. müsste,  sich widerspricht. Nach wie vor erscheint es mir wichtig,  sich der  schon vton Aristoteles erarbeiteten Paradoxien bewusst zu sein und sich zu ermöglichen,  nach einer Lösung zu suchen, oft nicht im Entscheid des Entweder-Oder, sondern durch den Mut,  einen dritten – oder weiteren – Weg zu erwägen und zu wählen.

Ich will kurz auf die aristotelischen  Paradoxien eingehen; sie mögen heute noch von Belang sein.  Es handelt sich um drei Bereiche von Entzweiungspositionen,  resp. von Entscheidungskonflikten, von denen jeder Bereich wiederum eine Menge von widersprüchlichen Situationen beinhaltet.

–   Der erste Bereich  betrifft die Paradoxien,  die sich durch das Aufeinanderprallen von

Urteilen, Meinungen und Lehren von “Weisen”  (resp. Intellektuellen, Philosophen/Philosophinnen, Lehrern/Lehrerinnen etc.) und von Menschen  einer bestimmten, herkunftsbedingten  Alltagsorientierung ergeben.  Aristoteles erklärt, dass diese Paradoxa unausweichlich  seien, und dass es keine Position gäbe, welche die Wahrheit für sich beanspruchen  könne, ja dass häufig keine der antithetischen Positionen zustimmungswürdig sei, etwa bei den Fragen  ”Muss man seinem Vater oder dem  Weisen gehorchen?” oder ”Muss man tun,  was gerecht oder was nützlich ist?” oder auch ”Muss man eher Unrecht leiden als Unrecht tun?”

– Der zweite Bereich bezeichnet  nicht-übereinstimmungsfähige Positionen,  die durch die Zugehörigkeit  zu unterschiedlichen philosophischen  Schulen (Theorien, Ethiken,  z.B.  einer konfessionellen Ethik und einer Berufsethik,  ev.  auch zwischen verschiedenen Wirtschaftstheorien  oder Religionen etc.) entstehen und mit denen die nicht-philosophische Bevölkerung  konfrontiert wird.

– Mit dem dritten Bereich thematisiert Aristoteles Widersprüche  im einzelnen Menschen selbst, wobei er die Widersprüche  zwischen den geheimen Wünschen und den ausgesprochenen Grundsätzen  meint.  “Die  Wünsche stimmen ja oft nicht zu den  Worten”,  sagt er deutlich,  “sondern man hält die schönsten Reden und will doch nur,  was vorteilhaft erscheint”.

Das schon von Aristoteles festgehaltene Erkennen der häufigen Nichtübereinstimmung von Gesagtem und Gedachtem,  von Theorie und Praxis verweist auf eine Fülle von Betrug und von Enttäuschungen,  von Zweifel und von Leiden,  welche das Leben und Zusammenleben der Menschen belastet.  Aristoteles erwähnt mehrmals die Nutzlosigkeit  aller Theorie und allen Lehrens von Regeln, wenn nicht das gelebte, vorgelebte Vorbild der Lehrenden,  der “Weisen”  damit einhergehe.  Neben  dem kritischen und warnenden Aspekt  dieser Überlegungen lässt sich davon  ableiten,  welch  hoher Wert menschliche Verlässlichkeit bedeutet,  insbesondere wenn  sie mit selbstkritischer Bescheidenheit einhergeht, gleichzeitig mit  Sorgfalt und Respekt  vor jedem  Fragen  und Erkunden  von Klarheit.  Es ist dieses Bemühen um Verlässlichkeit, das im privaten wie im gesellschaftlichen Zusammenhang Vertrauen ermöglicht.

Die Frage  stellt sich,  woran es liegt,  dass so bedeutende Erkenntnisse während Jahrhunderten kaum beachtet wurden.  Liegt  dies tatsächlich an der Nichtübereinstimmung von Theorie und Praxis? – oder an der Tatsache,  dass so oft von einem autoritären Elfenbeinturm universitärer, religiöser oder staatlicher Funktionen aus Erkenntnisse gelehrt  oder Regeln  diktiert  werden, ohne dass die Komplexität des Alltags und die schwierigen,  zwischenmenschlichen Machtstrukturen,  die damit  einhergehen,  beachtet werden?

Die Frage stellt sich auch im Zusammenhang von Immanuel  Kants4  kritischer Philosophie,  in welcher  die Absage  an die herkömmlichen  metaphysischen Tugendlehren mit dem Rekurs  auf die menschliche Vernunft – auf die Freiheit,  auf das Se/herdenken und auf die Selbstverantwortung,  gleichzeitig mit dem Rekurs  auf die Praxis einhergeht und so  die menschliche Befähigung anerkennt,  selber unterscheiden zu können,  was gutes und was schlechtes  oder böses Handeln  ist.  Dabei bietet  Kant Maximen  an, die hinsichtlich der individuellen Rechte  und menschlichen Werte,  die dadurch  im Zusammenleben zentrale Beachtung finden,  so einleuchtend  sind, dass sie als generelle  Stützen dienen könnten.

Man könnte  sagen,  dass Kant zugleich  einen  egoistischen und einen altruistischen Ansatz vorschlägt, bei dessen Befolgung der kategorische und der praktische  Imperativ wegweisend sein können:  der kategorische Imperativ  besagt,  dass die Handlungsentscheide so zu treffen seien,  dass sie zum allgemeinen Gesetz  erklärt  werden  könnten,  und der praktische  Imperativ hält fest,  dass zur Erreichung eines bestimmten Zweckes  nie ein Mensch  zum Mittel  gemacht resp. benutzt  oder gar missbraucht werden  darf, dass nie ein Mensch  wie eine Sache,  wie ein Ding eingesetzt werden  darf,  dass der Mensch immer selber Zweck  sein muss.  In der Umkehrung lässt sich somit sagen, dass ein Handeln,  dessen Folgen für den Menschen selbst abträglich oder unerträglich wären,  weil sie Leiden  verursachen,  von diesem Menschen nicht zum allgemeinen Gesetz  erklärt werden  könnte.   Dazu gehört jede  Art der Instrumentalisierung und damit  der Verdinglichung von Menschen, jede  Art der Entwürdigung und der menschlichen Entwertung.  Gemäss Kant’s Überlegungen und Begründungen menschlicher Vernunft  und Urteilskraft sollten diese Maximen so überzeugend sein, dass sie im  Sinn des Imperativsdes von der Vernunft  begründeten Gebots befolgt werden  sollten.  Wieder  stellt sich die Frage,  warum  dies nicht der Fall ist.  Warum  der Wert des wechselseitigen Respekts  mit Kant’s  Angebot der freien Entscheidungsmöglichkeit in der vielseitigen Abhängigkeit der Menschen von einander  nicht als zwischenmenschliche Grammatik des gleichen  Subjektwertes  angenommen und umgesetzt wird. Was bedeutet  letztlich  “freie Entscheidungsmöglichkeit”?

Gewiss,  der Kant’schen Ethik liegt das Menschenbild der Aufklärung  zugrunde,  eine – so erstmals  säkular definierte  – Gleichheit der Menschen  auf Grund des gleichen  Menschseins (der gleichen  “Menschheit”)  in jedem  Menschen – mit der Einschränkung allerdings,  dass damals,  Ende  des  18.  Jahrhunderts, weder  die Sklaverei  abgeschafft war noch die Emanzipation ( d.h.  die rechtliche Gleichstellung) der Juden und schon gar nicht der Frauen oder gar der Kinder erreicht war.  Es fanden Revolutionen statt,  die sich auf hohe Doktrinen menschlicher Gleichheit und Gerechtigkeit beriefen, jedoch die traditionellen  Machtsysteme nicht durch die Überzeugungskraft dieser Doktrinen veränderten,  sondern durch Gewalt vernichteten und durch neue Machtsysteme  mit noch grösserer Gewalt ablösten.  Gleichzeitig setzte – mit dem Beginn der Industrialisierung  – die systematische Ausbeutung einer faktisch rechtlosen,  ganz und gar vom Arbeitgeber abhängigen Arbeiterschaft ein,  die durch die Fliessbandarbeit  anonymisiert,  des “Produkts”  entfremdet und ausschliesslich  zur Mehrwertsteigerung des Kapitals missbraucht, resp. instrumentalisiert wurde, trotz des von Kant erarbeiteten praktischen Imperativs.  Und trotz dessen steigerte sich auch gleichzeitig das System des Imperialismus,  das sich im Lauf des 19.  Jahrhunderts zu einem globalisierten Herrschaftssystem ausweitete  und festigte,  mit Kriegen und bürokratisierten administrativen, militärischen und wirtschaftlichen Unterwerfungssystemen, bei denen der Herrschaftsanspruch der “Mutterländer”  durch die “Unentwickeltheit”  und “Minderwertigkeit” der kolonialisierten  “Objekte”  in Afrika,  Asien etc.  legitimiert wurde. Damit setzte sich weltweit der systematische Rassismus der “Herrenvölker”  und “Herrenrassen”  durch,  der in die verhängnisvolle  Geschichte  des eben vergangenen Jahrhunderts  mit seinen menschenverachtenden Ideologien und Diktaturen hineinführte, in den Ersten und in den Zweiten Weltkrieg,  in Hunderte  weiterer Kriege,  so dass dieses Jahrhundert – trotz Aufklärung und Emanzipation, trotz wissenschaftlichem  “Fortschritt”  – zum blutigsten und schuldbeladensten aller Zeiten wurde.  So kommt es, dass die Suche der Menschen nach Glück auf kaum mehr tragbarem  Unglück beruht.  Sie gleicht der Suche verdurstender  Menschen nach Wasser.

 

JII. Die Suche nach Glück – Erfüllung der Grundbedürfnisse

Wo stehen wir heute? Gewiss, eine grosse Hoffnung verband sich mit dem Aufklärungsprozess der Modeme,  als die bislang verallgemeinerungsfähigste Ethik zustande kam, die sich auf den Respekt  vor dem gleichen Menschsein in jedem Menschen  abstützte. Von John Milton’s  “Areopagitica” von 1644 zu den Habeas Corpus Akten von 1679 zur englischen “Bill ofR.ights”  zehn Jahre später,  weiter von Voltaire’s “Lettres Anglaises” von 1733-34 (die öffentlich verbrannt wurden) zu Montesquieu’s  “Esprit des Lois” von 1748 bis zur französischen  “Declaration des Droits de l’Homme”  von 1791,  die in der patriarchalen Einschränkung der Rechte  mit grossem Mut5  von Olympe de Gouges durchschaut und mit der “Declaration des droits de la femme et citoyenne” korrigiert wurde,  schliesslich von Kant’s kritischer Philosophie  in allen Bereichen und zu einer weiteren grossen Anzahl von Werken bedeutender Denkerinnen und Denker,  die Menschen ihrer Zeit zu überzeugen vermochten – all diese bedeutenden  Dokumente  des Denkens vermochten nicht, die Zeitentwicklung  von Gewalt, von menschlicher  Entwertung und menschlichem Unglück zu befreien.

Selbst nach dem Zweiten Weltkrieg verband sich mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte  eine Hoffnung,  obwohl jegliche Hoffnung erschöpft zu sein schien.  Mit der übergeordneten  normativen Erklärung der menschlichen Würde und der menschlichen Rechte,  sollte eine die Staaten verpflichtende  Korrektur menschlichen Zusammenlebens  zustande kommen.  Hoffnung im Sinne Ernst Bloch’s6  sollte tragendes Prinzip der Erneuerung  sein. Doch erneut kam es zu keiner Übereinstimmung  von Theorie und Praxis. Neue nationale und globale Diktaturen,  eine Steigerung der Umsetzung von Gewalt,  erneute  menschliche Entrechtung, Entwertung und Unwerterklärung setzten  ein und setzten  sich durch.  Die technologischen Entwicklungen des digitalen  und virtuellen Kommunikationssystems führten dazu, wechselseitiges Misstrauen und Angst  als Zeitdiagnose zu verbreiten.  Zunehmend setzte sich Globalisierung als Marktdiktatur durch.  Die  Diskrepanz zwischen  menschlicher Ohnmacht und menschlicher Allmacht wuchs  ins Masslose an.  Heraklit’s Warnung  vor menschlicher Masslosigkeit hatte  prophetische Bedeutung.   Wieder  stellt sich die Frage: Warum können  grosse  Erkenntnisprozesse nicht ins Zusammenleben der Menschen umgesetzt werden?  Warum  kommt  keine Übereinstimmung zwischen den Grundsätzen des guten Lebens und der tatsächlichen Realität zustande?

Wichtig  erscheint  mir,  nicht  beim gesellschaftsanalytischen Blick  auf das “verlorene Paradies”  zu verharren.  Der Blick  auf den einzelnen  Menschen macht  deutlich,  dass die Suche nach Glück auf einer Ahnung  beruht,  was gutes Leben bedeuten könnte,  wobei  die Ahnung immer wieder durch Mangelerfahrungen in Leidenszustände, ja in die Verzweiflung führt. Es ist ein Mangel  in der Erfüllung von Grundbedürfnissen,  der bewirkt,  dass, was nicht erreichbar  ist,  Gegenstand utopischer Sehnsucht wird. Grundbedürfnisse kennzeichnen die menschliche Bedürftigkeit und gleichzeitig den menschlichen Lebenswert in der vielfältigen, reziproken  Abhängigkeit jedes Menschen von anderen  Menschen. Grundbedürfnisse sind komplementär und sind zentral,  wie jene  nach Sicherheit und nach Freiheit,  nach Wissen  und nach Nahrung,  nach Nähe  und nach Liebe.  Mangelerfahrungen wirken sich in vielfachem, unterschiedlichem Leiden  aus, in  Hungerkrankheiten”,   wie der Basler  Psychiater Raymond Battegay” die mit psychischen oder physischen  „ Unerttlichkeiten verbundenen Ersatzversuche von Menschen bezeichnet.

Sigmund Freud  hatte  schon in „Unbehagen in der Kultur”8  auf die menschliche Gefährdung durch existentielle  Ersatzbefriedigungen” aufmerksam gemacht  (resp.  auf die Hilfskonstruktionen”, wie er Theodor Fontane  aus dessen Roman  „Effi Briest” zitiert).  ‘Das Leben,  wie es uns auferlegt ist,  ist zu schwer für uns,  es bringt uns zu viele Schmerzen, Enttäuschungen,  unlösbare Aufgaben.  Um es zu ertragen,  können wir Linderungsmittel nicht entbehren.  (. . .) Solcher Mittel gibt es dreierlei: mächtige Ablenkungen,  die uns unser Elend gering schätzen lassen.  Ersatzbefriedigungen,  die es verringern, Rauschstoffe,  die unsfür dasselbe unempfindlich  machen. Irgend etwas dieser Art ist unerlässlich”.  Und etwas weiter, nachdem  er die „ ungezählte Male gestellte Frage nach dem Lebenszweck” aufgenommen hat, bemerkt  er,  dass die Menschen einfach  nach dem Glück streben:  Es ist,  wie man merkt, einfach das Programm des Lustprinzips,  das den Lebenszweck setzt.  Dies Prinzip beherrscht die Leistung des seelischen Apparates  vom Anfang an. An seiner Zweckdienlichkeit kann kein Zweifel sein,  und doch ist sein Programm im Hader mit der ganzen  Welt,  mit dem Makrokosmos eben sowohl wie mit dem Mikrokosmos. Es ist überhaupt nicht durchführbar, alle Einrichtungen  des Alls widerstreben ihm.  Hier kommt er zum Schluss,  den ich schon zitiert habe,  “dass der Mensch  ‘glücklich’ sei,  JK!li im Plan der ‘Schöpfung’ nicht enthalten.

Freuds  Feststellung,  die  Schicksalsfrage der Menschenart scheine es zu sein,  ob und in welchem Masse es ihrer Kulturentwicklung gelingen werde,  der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden”,  gilt heute noch immer.  Unabdingbar erscheint  mir,  dass die Gefühle  der Ohnmacht angesichts  der überwältigenden  Unglücksbedingungen durch das Stärken von Vertrauen in die eigenen psychischen Kräfte  gemindert werden,  sowohl in die emotionalen und kommunikativen,  wie in die praktischen und theoretischen.  Hoffnung und Vertrauen sind sich ergänzende psychische Kräfte,  die in Kenntnis  und im Bewusstsein der Not-,  Mangel  und Leidensursachen den Zweifel  am Wert  zu leben nicht überhandnehmen lassen.  Sie aktivieren den Mut,  auf Werte  zu achten,  die dem Wert  zu leben gerecht  werden.  Machtübergriffen und Marktdiktatur,  welche ungezählte Menschen zu  Überzähligen” stempelt,  können  nur die Menschen selber entgegenwirken, indem sie sich entschliessen,  auf ihre  Suche nach Glück so zu achten,  dass sie sich nicht betören lassen.  Es ist möglich,  mit dieser  Sorgfalt einen Beitrag zu leisten zu einer Veränderung des Zusammenlebens, bei welchem der wechselseitige menschliche Respekt als partizipative soziale  “Grammatik”  umsetzbar wird, bei allen Schwierigkeiten im Zusammenhang von Paradoxien,  die immer wieder  der Klärung  und der Lösungsmöglichkeiten bedürfen.

Interessanterweise ging die französische Philosophin Simone Weil,  die  1943,  nach der Flucht aus Frankreich,  im Exil in London  an den Folgen  einer sich über Jahre  fortsetzenden Anorexie starb”  – einer Hungerkrankheit,  die keinen  Ersatz  für die “Nahrung”,  deren sie bedurfte, zuliess  -, in ihrem  letzten, kurz vor dem Tod abgeschlossenen Werk  .Enracinementi auf eine Untersuchung der Bedeutung der Grundbedürfnisse ein,  die beachtenswert ist.  Gemäss Simone Weil betreffen die Grundbedürfnisse das körperliche und das psychische Leben jedes Menschen,  sowohl  als Individuum wie als Teil einer  Sozietät. Das Bedürfnis nach Sinnhaftigkeit und Integration,  nach Schönheit und nach verlässlicher Zuwendung sind ebenso  prioritär wie dasjenige  nach körperlicher Ernährung und nach einem Dach über dem Kopf,  und dieses wiederum ebenso  unverzichtbar wie jenes nach Freiheit  und nach einer zustimmungsfähigen Ordnung.  In der Befriedigung der Grundbedürfnisse sind alle Menschen aufeinander angewiesen.  Es ist eine wechselseitige Abhängigkeit,  deren Bedeutung die Beziehungen untereinander erwärmt  und deren Anerkennung die Voraussetzung für gerechte Verhältnisse des Zusammenlebens schaffen könnte.  Simone Weil stellt fest,  dass die Nichterfüllung der Grundbedürfnisse,  insbesondere der affektiven Grundbedürfnisse,  die auch jene nach Gerechtigkeit und nach Frieden  sind, immer Ursache  ist von grossem  Leiden  ist, das durch die Summierung des Mangels nicht mehr tragbar  wird.  Wenn  der Hunger  nach psychischer und körperlicher,  nach affektiver und intellektueller Nahrung unerfüllt  bleibt, führt  er,  gemäss  Simone  Weil, zum Tod.

Ich komme  zum Abschluss:  Ein zentrales menschliches Grundbedürfnis ist,  angstfrei  leben zu können.  Im heutigen  “Klima der Angst” 11, das durch die wirtschaftliche und technologische, militärische und ideologische Entwicklung der Grossmächte resp. Grossfirmen geschürt  wird, gehört für den einzelnen Menschen das Hinterfragen der Angst zu den dringlichen Aufgaben. Beim Hinterfragen wird  deutlich  werden,  dass Angst  sehr unterschiedliche Bedeutungen hat.

Als warnende Kraft  kommt  der Angst eine schützende Funktion  zu. Sie hängt  mit momentanem Erschrecken zusammen,  dessen Ursachen erklärbar  sind.  Sie stärkt  das Bewusstsein eigener  Schutzmöglichkeiten und kann somit als Erfahrung im positiven  Sinn verstanden werden  kann.   Diese  Art von Angst, bei welcher  dem einzelnen Menschen die Ursachen sowie die Abwehr-,  Rettungs-  und Sicherheitsmöglichkeiten bekannt sind, hat eher die Bedeutung von Furcht.

Beruht  die Angst jedoch auf wiederholten,  fortgesetzten Erfahrungen der Verlassenheit,  der Wehrlosigkeit gegenüber Willkür  und Täuschung,  Missbrauch und Gewalt,  so geht es dabei um Erfahrungen,  die mit der Infragestellung des Existenzwertes, des Lebenswertes, des Ich- Wertes einhergehen.  Diese  Angst  aufzuarbeiten,  die mit zahlreichen seelischen Mangelprägungen verbunden ist,  sowohl mit der Tatsache eigener,  persönlicher Hilflosigkeit wie gleichzeitig mit der Tatsache  der bedrohlichen Macht  anderer Personen,  die in der rücksichtslosen Undurchschaubarkeit   als Übermacht oder gar Allmacht  erlebt wurde, als  Kälte und Härte, dies ist schwieriger. Die Aufarbeitung leitet einen Heilungsprozess ein, doch jeder Heilungsprozess bedarf der Zustimmung.  Diese geht einher mit der Möglichkeit, nicht länger Opfer zu sein, sich nicht mehr zu ducken  und zu schweigen;  gleichzeitig mit dem Bedürfnis,  bei anderen  Menschen selber nicht Angst zu verursachen.  Der eigene Mut – die Kraft  des “Herzens” – eine Neuorientierung zu ermöglichen und Werte,  die einen Halt bedeuten,  tatsächlich umzusetzen,  vermag,  die Angst  als lähmende,  negative  Kraft zu lösen. Neue Beziehungserfahrungen können  so erlebt werden,  sowohl  in der Beziehung zu sich selbst wie  in jener zu anderen  Menschen.  Es kann erlebt werden,  dass Angstbesetztheit keiner Fortsetzung bedarf,  dass sie korrigierbar ist.  Die Aktivierung des Grundbedürfnisses nach Freiheit, das einhergeht mit dem Grundbedürfnis nach persönlichem Wert und nach Lebenssicherheit, findet  eine Unterstützung durch diese neue Erfahrung,  die zu Erinnerung wird.  Die Suche nach Glück  schafft sich einen Boden,  und langsam beginnt  ein Vertrauen  gegenüber der Zukunft  zu keimen  und zu wachsen.Durch diese Zustimmung zum Wert des Lebens  auch unter  anderen,  begrenzteren Bedingungen lassen  sich neue Möglichkeiten der Erfahrung menschlicher Verlässlichkeit erleben,  lassen  sich neue Möglichkeiten der Kommunikation – des Verstehens und des Verstandenwerdens – finden.

Was Anna Freud  als privaten Kompass der Psyche  versteht,  ist eine das Unbewusste mit dem Bewusstsein verbindende Intuition  des richtigen Weges.  Damit der „private  Kompass” und dadurch  eine persönliche Weisheit  zustande  kommt,  bedarf es der sich fortsetzenden zwischenmenschlichen,  der aufmerksamen und wohlmeinenden affektiven Beachtung sowohl des leidvollen Mangels in der Erfüllung der Grundbedürfnisse wie der individuellen Fähigkeiten.  Wer andere beachtet, wird selber beachtet und erlebt Achtung vor dem eigenen Wert zu leben.  Es ist die wechselseitige vielfache,  stärkende  Reziprozität, die vermag,  dem Unheil  der Verlorenheitsgefühle entgegenzuwirken.  Es geht in der Suche nach Glück nicht mehr um das “verlorene Paradies”,  auch nicht um das Streben nach  eudaimonia.  Was bei der Suche erlebt wird,  mag tatsächlich schon Glück sein:  eine innere  Sicherheit,  dass die begrenzte Zeit und der vielfache Mangel,  der das Leben begleitet,  gut ertragen werden  kann.  Es ermöglicht, einen Halt zu kennen  und selbst das Flüchtige als sinnvoll  zu erleben.

2  Sigmund Freud. Das Unbehagen in der Kultur. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien 1930

3  Im Zusammenhang des grossen kollektiven Unglücks des Erdbebens von Lissabon von 1755  geschrieben.

3  Der  Rekurs  auf  die  „göttliche Fügung”  findet  sich  in der Prädestinationslehre wieder,  und  es wurde  damit ebensoviel Unheil angerichtet wie mit der späteren biologistisch-rassistischen Vererbungslehre.  Was andererseits bei Aristoteles  mit dem „Zufall”  gemeint wurde, verbindet  sich mit dem über Jahrhunderte  benutzten  Bezug auf das Schicksal. Nach  meiner  Deutung  könnte  damit das Unberechenbare gemeint  sein, das sich im Wirken  des Unbewussten  zeigt.

4  cf.   “Grundlegung  der  Metaphysik  der  Sitten”  von  1785,  “Kritik  der  praktischen  Vernunft”  von  1788  und schliesslich  “Metaphysik der Sitten” von 1797,  die in die “Rechtslehre”  und in die “Tugendlehre”  aufgeteilt.

5  Von Robespierre zur Tötung auf dem Schaffott verurteilt,  cf.  Olympe de Gouges.  Oeuvres.  Mercure  de France. Mille et une femmes.  Paris   1986

6  3  Bde.  1954-57

7    Raymond Battegay.  Hungerkrankheiten.  Unersättlichkeit als krankhaftes Phänomen.  Fischer Taschenbuch, Frankfurt  a.M.   1992;  Erstausgabe  Verlag  Hans  Huber,  Bern  1982.  (Gemäss  Battegay:  Anorexia  nervosa, Adipositas, der „Hunger”  nach Fusion bei  narzissstisch Gestörten,    die unersättliche, destruktive Tendenz zu einer totalen Fusion mit einem Objekt und dessen Zerstörung,  Herz-Kreislauferkrankungen bei behindertem Tatenhunger,   der  emotionale  Hunger  bei  lebensbedrohenden   Krankheiten  und  weitere  mehr.   Auch  die „ Unersättlichkeit  der  Workaholics   mag  dazugehören,  oder jene  der  Medikamenten-,  Konsum-,  Kauf-  und Sammelsüchtigen, vor allem der ungezügelte, masslose Machthunger).

8  Sigmund Freud. Das Unbehagen in der Kultur (1929/30).  Studienausgabe Bd.9,  S.  Fischer Verlag, Frankfurt a. Main 1974

9  cf.  Maja Wicki.  Simone Weil – Eine Logik des Absurden.  Haupt Verlag, Bern  1983    –  M.W.  Handlungen  die wie Hebel hin zu mehr Wirklichkeit sind.  Wie funktioniert das?” oder Warum hungerte  Simone  Weil zu Tode? S.  151-169  in:  Imelda  Abt!Wolfgang  W.  Müller.  Simone  Weil.  Ein  Leben  gibt  zu  denken.  Eos  Verlag,  St. Ottilien  1999.

10   Simone  Weil.  Enracinement.  Prelude  a une  declaration  des devoirs  envers  l’etre  humain.  Hrg.  von  Albert Camus. Editions  Gallimard, Paris 1948.

11    Wole  Soyinka.  Klima  der angst.  (Übersetzung  aus dem englischen:  Gerd Meuer).  Ammann  Verlag,  Zürich 2005 Originalausgabe: The Climate of Fear. The Reith Lectures 2004. Profile Books Lim.  London 2004.

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