“Nur das Unausgesprochene bleibt genau das, was es mir bedeutet – ” Einführung zu Erica Pedrettis Werk anlässlich der Vorstellung ihres neuen Romans “Valerie oder das ungezogene Auge”

“Nur das Unausgesprochene bleibt genau das, was es mir bedeutet. “

Einführung zu Erica Pedrettis Werk anlässlich der Vorstellung ihres neuen Romans “Valerie oder das ungezogene Auge”

Der Satz steht in Erica Pedrettis Roman “Heiliger Sebastian”. Andere Sätze gehen ihm voraus:

“Lacht nur, lacht mich aus: Ich wills für mich behalten, etwas, wofür mir nur drei oder vier Wörter einfallen,

nicht aussprechen, nicht auf eine der bekannten Variationen reduzieren.” Und dann: “Nur das Unausgesprochene bleibt genau das, was es mir be­deutet.”

Grosse Vorsicht der Sprache gegenüber zeigt sich,  “Vor­Sicht”, so wie das Wort es meint. Die Dichterin sieht sich vor: Das hat in der Tat mit Sehen zu tun, mit Sehen und Zögern, mit einem Erfassen der Distanz zwischen Bedeutung und Ausdruck, zwischen dem Erlebten, dem Gewussten mit den fein verästelten Zusammenhängen zwischen sinnlichen und seelischen Vibra­tionen, tiefen und zitternd hohen, und der Mitteilung, die normiert ist, auf Wörter angewiesen, verbrauchte und abge­tragene Wörter, die sich der Bedeutung entgegenstellen, nur noch Lärm sind, wenn gesprochen, nur noch Zeichen ohne Bezeichnetes, wenn geschrieben.

Und doch: Die Sprache hat kein anderes Material zur Verfügung, um Bilder, Bildabläufe, Gerüche, Geräusche mit allen Schwin­gungen, Gefühle, Empfindungen, Gedanken und das, was Sinnen­erfahrung, Seelenerfahrung und Denkerfahrung zusammenhält und deutet, das Verstehen, verständlich zu machen.  “Verstehen” aber, sagt Erica Pedretti in einem Diskussionsbeitrag “ist immer eine Frage der Sprache.” Und sie fügt bei, es brauche nicht allein verbale Sprache zu sein.

Nicht allein verbale Sprache? Auch die Farben des Malers sind Sprache, die Form und das Material des Bildwerks ist Sprache, in der gesprochenen  Sprache ergänzen Blick, Gesten und Schweigen die Aussage. Beim Schreiben ist das averbale

Sprachelement reduziert auf die Auslassung, auf das Nicht­-Gesagte, auf den Leerraum zwischen den Wörtern.

Der Wechsel aber von Worten und Verschwiegenem, von Ausge­sprochenem und Unausgesprochenem macht mehr als den Rhythmus der Sprache aus, mehr als ihre Dichte, ihr Gefälle. Das macht ihren Atem aus, ihre Substanz, ihre Tragfähigkeit. Wäre “Wahrheit” nicht ein so schweres und zugleich so abge­griffenes Wort, so liesse sich sagen, dass in dieser Sprachökonomie die Wahrheit eines Textes liegt, das, was ihn hält, was ihn nicht reissen lässt, wenn er dem Gewicht der Fragen ausgesetzt ist, was seine Kongruenz ausmacht mit der Textur des Wissens und der Textur des Lebens, Uebereinstimmung also mit einem Gewebe, in dem keiner der vertikalen und horizontalen Fäden zufällig oder über­ flüssig ist, auch keine der ungezählten, aber genau fest­ stellbaren Ueberschneidungen, Kreuzungen, Knotenpunkte, wo die vertikalen  Handlungsabläufe,  die Abläufe in der Zeit, die nie anders denn als Vergangenheit  erfasst werden können, die, streng genommen, nur erinnert werden können, mit den horizontalen Linien zusammenfallen, welche, scheinbar, zeitenthoben sind, als ob es das in den Z­usammenhängen unseres Weltdaseins überhaupt gäbe, aber doch zeit-­unverdächtiger, flächiger und räumlicher, Deskription und Reflexion. Im Zusammenfallen der Linien wird das Wort zur Notwendigkeit. Wie schwierig aber, dieser Notwendigkeit standzuhalten! Wie schwierig, ihr gerecht zu werden, nicht in Flüchtigkeit aus­zuweichen, nicht in Geschwätzigkeit zu fliehen!

Die wenigsten vermögen es. Erica Pedretti wohl. Sie stellt sich ihr, sie weicht nicht aus. “Die Schwierigkeit, mit etwas fertigzuwerden” (auch in “Heiliger Sebastian”). “Immer wieder aufs Gleiche zurückkommen zu müssen, auf nichts Grosses, auf einen Satz etwa, ein Wort, das im Moment, als es ausgesprochen wurde, nichtssagend schien, sich später aus der Distanz aber als beunruhigend erweist, als Frage oder als ungelöste Aufgabe.”

Das Wort als Aufgabe,  ob es zu setzen ist oder als gesetztes, als gesprochenes zu verarbeiten ist, das Wort als Ausdruck von Bedeutung, die wiederum Teil eines ganzen Bedeutungs­ geflechts ist. “Immer wieder aufs Gleiche zurückkommen zu müssen”… oder: “Warum erzählt man sich Geschichten, die man schon kennt?” oder: “Nun reisen wir hin und her, kreisen immer rundum, immer die gleiche Strecke, unter sorgfältiger Vermeidung ganz bestimmter Punkte, auf die zu treffen schmerzhaft, vielleicht unerträglich wäre. Doch” fügt sie bei “ich vermute fürchte, es sind diese Punkte, die uns anziehen, uns wider Willen in den alten Spuren herumtreiben und keine neuen Wege finden laissen.”

Worin besteht dieses “immer wieder” bei Erica Pedretti? Ich will einfach aufzählen, worauf ich bei der wieder­holten Lektüre ihrer Bücher “immer wieder” gestossen bin, Bilder, Spuren, Worte: Abschied, Abschiede, Flucht durch die Gärten, durch die Felder, Droschkenfahrt, Bahnfahrten, Bahnhöfe, Ankünfte, Anfänge, Schluss, Endstationen; Gärten, Gärten, Mauern, Gärten, um die eine Mauer gebaut wird , Gärten mit Unkraut, mit Blumen, mit Stauden, Wiesen mit Blumen; immer wieder “da sein, wo man nicht sein will”, an diesem Ort oder vielleicht an einem ganz anderen Ort; gehen, das gute Gefühl beim Gehen, der Körper, der kranke Körper, ausgeliefert der Macht der Aerzte, der Macht der Maschinen; der Riss in der Mauer, der Spalt in der Mauer; die Beharrlichkeit;  das Spiel, Mann und Frau, immer wieder, Mann, Malen, Mann, Jäger, Frau, Frau und Bruder, Frau und andere Frau; Sternberg, New York, London, Paris, Häuser, die Berge, der See, ein anderer See, Sümpfe; Träume der Angst, Angst vor dem Tod? Bilder der Bedrohung, das beissen­de Ross, die wild sich vermehrenden, zahllos getöteten Kaninchen, Frösche; der Schuster, der Liliputaner, Kinder, das Kind und “wie sich zum Kind verhalten?”, vergessen, sich zu erinnern suchen; und “bin ich es”, die hier liegt, geht, sieht, träumt? und Lärm, Motorenlärm, Stimmenlärm, bohrender Lärm, Ohnmacht dem Lärm gegenüber, Ohnmacht der Zerstörung gegenüber, den Maschinen gegenüber; dem Tod gegenüber? und immer wieder die Beharrlichkeit des Blicks, des Sehens; das Schauen und Wissen, Sehen und Wider­geben, immer wieder die Intensität des Wissens aus der deutli­chen Sicht der Einzelheiten, der Zusammenhang, Sinnzusammen­ hang aus der Kontinuität des Sehens, Sammelns; immer wieder die Hoffnung, noch etwas Zeit zu haben,”wie viel Zeit hat man?” was ist das aufgegebene Pensum Zeit?  ist das Schrei­ben, das Malen Auflehnung gegen die Zeit?  Fixierung dessen, was nicht mehr ist in der Zeit, über die Zeit hinaus, als Zeitliches der Zeit entzogen, “auch wenn meine Gefühle sich längst verändert haben, bleibt deine Empfindung, bleibt das Wesentliche deiner Beziehung im Bild, ewig oder solange es das ­Bild, diese Bilder gibt, über deine Liebe hinaus, über deinen Tod hinaus wird auf einen Blick deine alte Liebe zu sehen und nachzufühlen sein” (aus “Valerie”), Auflehnung gegen den Verlust,Beharrlichkeit der Auflehnung, Beharrlichkeit  für die Erhaltung des Lebendigen, des Wachsenden: Eine grosse Archi­­tektur immer gleicher Elemente und immer gleicher Oeffnungen ins Verschweigen und Verbergen der Elemente, ins Nichtsagen, ins Nichtwissen bei aller Beharrlichkeit der sehenden, wissenden Ausgesetztheit, bei aller Steigerung dieser Ausgesetztheit. “Verletzt merke ich mehr” (in “Heiliger Seba­stian”), “ich sehe dann genauer, plastischer, wie um die Erscheinungen, Personen, auch Zustände herum, sehe ihre Rückseite, was in ihnen und hinter ihnen ist, was durch ihr Bild verdeckt wird. Selten, nur einen Moment lang: wenn ich selber bin, als hätte man mir die Haut abgezogen, erscheint auch alles um mich ohne Schale. ­ Und später? ­ Später fügt es sich wieder zum gewohnten, bekannten Bild zusammen, ist nur, was es scheint. ­ Und du vergisst, was du gemerkt hattest? Es ist nicht mehr zu fassen, nur noch beinah zu fassen.” Die Sprache entzieht sich, da wo sie Notwendigkeit ist, der Kampf ums Wort.

Nichts weiter mehr. Keine Einführung darf mehr sein als eben Vorbereitung, Einstimmung auf den Text selbst, darf nicht Ausführung werden über den Text. Der Text, Erica Pedrettis neuer Roman, der Mitte März ausgeliefert werden soll, ist das, was Gegenstand unserer Aufmerksamkeit ist: “Valerie oder Das unerzogene Auge”. Es geht in diesem Roman um das intensive, drängende Beziehungsgeschehen zwischen dem Maler und seinem Modell, zwischen Mann und Frau, zwischen dem fordernden Künstler und der sich den Forderungen ergebenden und sich ihnen entziehenden Frau, “Kannst du Glück malen?”, um ihr Wissen, um ihre Beziehung zu ihrem Körper, zu ihrem Kind, zur zerstöreri­schen Krankheit, um das Mass des Sehen-­und Verstehen­könnens, der Durchsicht und der Einsicht, um immer wieder geht es um die Möglichkeiten und Grenzen, diesem Wissen Ausdruck zu geben.

Zur Autorin: Erica Pedretti ist 1930   in Sternberg, Nordmähren (der heutigen Tschechoslowakei) geboren, flieht vor Ausbruch des Kriegs mit ihren Geschwistern in die Schweiz, zieht weiter nach New York, London, Paris, heiratet den Maler Gian Pedretti, hat fünf Kinder, lebt in La Neuveville.

1970   “Harmloses, bitte”, 1977   “Veränderung”, 1973   “Heiliger Sebastian”, 1986  “Valerie”.

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