Für welche Zukunft, für welchen Staat und für welche Menschen soll eine neue Verfassung gelten? – Beitrag zur Verfassungsdiskussion am 1. Oktober 1995 im Schauspielhaus Zürich

Für welche Zukunft, für welchen Staat und für welche Menschen soll eine neue Verfassung gelten?

Beitrag zur Verfassungsdiskussion am 1. Oktober 1995 im Schauspielhaus Zürich

 

 

Auch die Schweiz und ihre Bevölkerung sind auf dem Weg ins nächste Jahrtausend. Für die Aufarbeitung der in der jüngsten Vergangenheit zurückgelegten Etappen, für eine Befragung der Gegenwart und für den Zukunftsentwurf bleiben gerade ein halbes Jahrzehnt, das zugleich in den nächsten drei Jahren mit der Vorbereitung auf die Feierlichkeiten zum 150. Jahr des Bestehens des Schweizerischen Bundesstaates und damit der Bundesverfassung besetzt ist. Deren Erneuerung, seit langem ein unerledigtes Traktandum, soll bis zur Wegmarke von 1998 abgeschlossen sein. Für die Bevölkerung, die sich in ihrer Mehrheit mit Veränderungen schwertut, hat der Bundesrat nun einen Verfassungsentwurf vorbereitet, der einer offiziellen Versicherung für die nationale Kontinuität jenseits der mythischen Zeitschwelle gleichkommt. Es handelt sich ausdrücklich um eine Nachführung der bestehenden Verfassung – mit wenigen inhaltlichen Veränderungen. Die wichtigsten dieser Veränderungen tangieren merkwürdigerweise gerade einen Kernbereich der schweizerischen Demokratie – die Volksrechte. Darüber wird am meisten debattiert werden. Auch ich bedauere deren vorgesehene Erschwerung, die einer Beschneidung gleichkommt. Ich plädiere für eine Veränderung, die im Gegenteil eine Stärkung und Erweiterung der Volksrechte anstrebt. Warum ich dies als nötig erachte, führe ich später aus.

Doch ich möchte nicht in den einzelnen Titeln und Artikeln des bunderätlichen Entwurfs steckenbleiben. Ich verstehe die mir gestellte Aufgabe nicht im Sinn einer Kommentierung dieses Entwurfs, sondern im Sinn eines Beitrags zum Konzept einer neuen Verfassung unter den Bedingungen unserer Zeit. Die Fragen, die ich mir stelle, sind:  Für welche Zukunft, für welchen Staat und für welche Menschen soll eine neuen Schweizerische Verfassung Geltung beanspruchen?

Bevor ich versuche, Antworten zu formulieren, ist es nötig, die Bedingungen unserer Zeit, die Bedingungen dieses ausgehenden 20. Jahrhunderts, zu nennen. Es sind

(1) Bedingungen der Trauer. Ein Jahrhundert geht zu Ende, das sich durch eine unbeschreibbare Blutspur des Verrats an den Idealen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeite (resp. Gechwisterlichkeit oder Solidarität) charakterisiert hat, durch systematischen Verrat an jenen Idealen, die als Erbgeschenk und Erbauflage der Französischen Revolution alle im 19. und 20. Jahrhundert entstandenen Verfassungen normativ prägten und die eigentlich eine Entwicklung zu mehr Humanität hätten gewährleisten sollen, nicht zur Barbarei in all ihren Ausgestaltungen der Menschenverachtung, der systematischen Quälerei, des Völker- und Massenmords. Die Trümmer der Geschichte, auf denen wir stehen, sind zugleich Trümmer des Verfassungsglaubens. Die Öffentlichkeit, die im 19. Jahrhundert geschaffen worden war, um Macht zu kontrollieren und deren Missbrauch zu denunzieren oder, besser noch, zu verhindern, die zu diesem Zweck über politische Errungenschaften  – die allgemeine Schulbildung, die Pressefreiheit, die politischen Rechte – verfügen konnte, hat versagt. Zunehmende Delegation der ihr eigentlich zustehenden Aufgaben an Parteien und Interessenverbände, Konsum- und Unterhaltungshunger haben zu einem wachsenden Desinteresse an den Aufgaben des Gemeinwohls geführt, damit zu einer wachsenden Überforderung, bei wichtigen Volksentscheiden mit geübtem politischen Urteilsvermögen mitzubestimmen. Populistische, Ängste schürende, von kapitalistischen Interessen gesteuerte Propaganda, selbst rassistische Aufhetzung konnten immer mehr Einfluss gewinnen, allen verfassungsmässigen Grundrechtsdeklarationen zum Trotz.

Diese pessimistische Bilanz, zu der ein unbeschönigter Rückblick führt, geht zugleich einher (2) mit der Anerkennung politischer Fortschritte in einzelnen Segmenten unserer Gesellschaft: Seit 1971 sind die Staatsbürgerinnen stimm- und wahlberechtigt, und die – vor allem nun in den letzten Jahren – spürbar stärkere feministische Präsenz beginnt allmählich, nicht nur einen kritischen Macht- und Herrschaftsspiegel zu bedeuten, sondern auch andere Optionen und Schwergewichte fürs politische Handeln zu setzen: zum Beispiel mit überparteilichen Vernetzungen, um endlich Lohngleichheit und Gerechtigkeit bei den Sozialversicherungen zu erlangen, um der Forderung nach sozialer Sicherheit statt nach sogenannt “innerer Sicherheit”, das heisst nach einer Garantie der Existenzsicherung für alle Menschen statt nach mehr Polizeistaat Nachdruck zu verleihen, und mehr Rechte und mehr Lebensqualität für Flüchtlinge und MigrantInnen zu erlangen, etc. Als Fortschritt ist auch die in breiten Bevölkerungsschichten angewachsene Kritik an einem ungehemmten technologischen Fortschritt zu werten. Dazu gehören das in den letzten Jahren erstarkte ökologische Verantwortungsgefühl, die Kritik an möglichen Missbräuchen in der Gentechnologie oder die Einsicht in den notwendigen Abbau der Militärausgaben.

Diese Bilanz ist allerdings unvollständig ohne (3) eine Auflistung der gegenwärtigen Aufgaben, resp. der politischen, kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Herausforderungen von heute: Ich denke dabei an den schwierigen Prozess der europäischen Einigung, an die Zerfallserscheinungen und noch unsicheren Neuorientierungen im riesigen ehemaligen Sowjetreich, an die wachsende Kluft zwischen den immer ärmeren Zweidritteln und dem immer reicheren Drittel der Menschheit mit den gleichzeitig erscheinenden Gründen und Folgen dieser Kluft – Ernährungsproblemen, Versteppung, Vergiftung oder Erosion der Böden, zunehmende klimabedingte Naturkatastrophen als Folge von Zivilisationsspätfolgen, Massenarbeitslosigkeit, neue Formen und Weiterbestehen der ewig gleichen Formen der menschlichen Ausbeutung, Gewalt, Kriege und Bürgerkriege, Neuaufflammen von Rassismus und Ethnisierung der Konflikte, religiöse Fanatisierung, Migrations- und Massenfluchtbewegungen, wachsender Analphabetismus, neue Kolonisierungsformen durch Markt und Technologie und mehr. In der Schweiz eine wachsende Angsthaltung auf Grund der schon erwähnten politischen Überforderung, eine sich verstärkende Tendenz zur Abschottung und zur Desolidarisierung sowie zur mythischen Verklärung eines “Sonderfalls”, intern eine Zementierung des Grabens zwischen den grossen Städten und den Landregionen, zwischen einer ökonomischen, politischen und kulturellen “Oberschicht” und einem immer breiteren Teil der Bevölkerung, die sich als chancenlos und ausgegrenzt vorkommt: die gefährliche Zementierung einer neuen Klassengesellschaft und damit der zunehmende Verlust einer demokratischen Kultur, die nur als lebendige und widerspruchsfähige Kommunikation zwischen allen Gliedern und allen Schichten der Gesellschaft entwicklungsfähig ist.

Was muss angesichts dieser Zeitbedingungen und Herausforderungen eine neue Verfassung leisten? Worin bestehen ihre Aufgaben? Kann eine Nachführung diesen Aufgaben genügen?

Es wäre falsch anzunehmen, eine neue Verfassung könnte von einem Tag auf den anderen eine Erneuerung des gesellschaftlichen Bewusstseins und der politischen Realität schaffen. Was es anzustreben gilt, ist ein Prozess der Erneuerung, der mit  einer – möglichst breiten – Verfassungsdiskussion gestützt und gefördert werden kann. Diese Verfassungsdiskussion könnte sich im besten Sinn als kulturelle Kommunikation etablieren.

Was soll die Verfassung leisten? Sie soll die demokratische “Ordnung des Profanen” garantieren, wie Walter Benjamin die Regeln und die Geschäfte des Zusammenlebens nennt. Das heisst, sie muss unter Berücksichtugung der Bedingungen der Zeit und angesichts ihres  Zukunftsauftrags mit den Mitteln der politischen Vernunft den verpflichtenden rechtlichen Rahmen schaffen, der für die massgeblichen Verhältnisse, die das Zusammenleben  bestimmen,  eine Garantie der Entwicklung, Realisierung, Bewährung und Korrektur bedeutet,  im Sinn der Gleichheit, resp. Der Unantastbarkeit der gleichen Menschenwürde, im Sinn von Freiheit und Solidarität, im Sinn des Respekts vor der kulturellen Differenz.

Die Verhältnisse, um die es sich handelt, sind die vielfältigen menschlichen und institutionellen Beziehungen, die das generationenübergreifende, das herkunfts- und klassenübergreifende Netz bilden, das Zeitgenossenschaft bedeutet. Für die Verfassungsgebung sind drei Gruppen von Verhältnissen massgebend:

(I) Das Verhältnis zwischen Staat, Gesellschaft und Individuum. Bei diesem Verhältnis geht es um die Fragen der Macht, der Machtteilung und der Machtkontrolle. Das heisst, es geht um die Fragen der Demokratie und der Kultur. Demokratie und Kultur können nicht voneinander getrennt werden, sie sind interdependent. Beide machen auf vergleichbare Weise die Qualität des Zusammenlebens aus, sie prägen die Fragen der politischen und sozialen Verantwortlichkeit der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Medien, die Fragen des öffentlichen Schulwesens sowie der Bildung und Weiterbildung, die Fragen der allgemein zugänglichen Gesundheitsversorgung und der Altersvorsorge. Dabei geht es bei all dieen Fragen zusätzlich um das Verhältnis zwischen einheimischer und ausländischer Bevölkerung sowie um das Verhältnis der verschiedenen Sprach- und Religionsgemeinschaften zueinander. Eine entscheidende Rolle kommt bei all diesen Zusammenhängen der Übersetzung und der Vermittlung über Literatur und über die darstellenden Künste zu. Massgebend für jedes Segment, für jede einzelne Ausgestaltung dieser Verhältnisse ist das Menschenbild. Am Menschenbild misst sich letztlich jedes Segment der politischen und gesellschaftlichen Realität. Am Menschenbild misst sich auch die Verfassungswahrheit. Daher muss die Unantastbarkeit der Würde jedes Menschen, unbesehen seines Geschlechts, seines Alters, seiner Stellung, seiner Herkunft, seines Passes, kurz unbesehen aller individueller Merkmale auf gleiche Weise unbedingt gewährleistet sein. Das bedeutet den ungeschmälerten Respekt vor der Subjekthaftigkeit und Unverfügbarkeit auch der Kinder, der Fremden sowie der kranken, der funktionsbeeinträchtigten und der alten Menschen. Das bedeutet auch die Garantie der Existenzsicherung eines jeden Menschen. Wenn diese prioritäre  Forderung an die Verfassung klar ist, stellt sich die Frage, ob es noch der Präambel – “Im Namen Gottes des Allmächtigen” – bedarf. Entweder ist Gott in jedem Menschengesicht erkennbar und diese Tatsache verpflichtet zum gegenseitigen unbedingten Respekt und damit zur Wahrung der verfassungsrechtlichen Grundsätze, womit die Präambel hinfällig wird, oder er ist es nicht, wodurch sie zur blossen Worthülse wird. Ich plädiere daher dafür, dass die Frage der Präambel diskutiert werde.

Für eine wirksame Machtkontrolle bedarf es einerseits öffentlich-rechtlicher Institute und Instrumente, zum Beispiel der Volksrechte, die nicht erschwert und beschränkt, sondern weiter ausgebaut werden müssen. Nur dank der Volksrechte kann die macht- und mehrheitskorrigierende Funktion der Öffentlichkeit aktiviert werden. Es bedarf aber auch, was bis anhin fehlt und in einer neuen Verfassung vorgesehen sein muss, eines Verfassungsgerichts sowie einer vorgelagerten unabhängigen und weisungsberechtigten, öffentlich-rechtlichen Ombudsstelle, die menschenrechtswidrige oder verfassungswidrige Volksbegehren vor deren Unterbreitung zur Abstimmung als ungültig erklären könnte. (Dank einer solchen Ombudstelle hätte eine Gesetzesvorlage wie diejenige der Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht gar nicht zustandekommen können). Machtkontrolle bedarf andererseits einer urteilsfähigen Zivilgesellschaft, das heisst einer kritischen, aktiven privaten Öffentlichkeit mit einer vielfältigen, freien und verantwortlichen Medienpräsenz. Das impliziert, dass auch eine verfassungsmässige Schranke gegen den Missbrauch der Pressefreiheit vorgesehen sein muss. Nicht nur muss die im letzten Jahr von der Schweiz ratifizierte UNO-Konvention gegen Rassismus dank dem entsprechenden Strafrechtsartikel konsequent umgesetzt werden, damit rassistische, politische und kulturelle Aufhetzung auch wirklich geahndet werden. Missbrauch der Pressefreiheit bedeutet zudem die gezielte und systematische Verdummung der Bevölkerung auf Grund ausschliesslicher – medienmässiger – Marktvergrösserungsabsichten. Die politischen Folgen dieses Missbrauchs sind unabsehbar – Konsumismus, politische Indifferenz, Manipulierbarkeit, Autoritätsgläubigkeit, Intoleranz grosser Teile der Bevölkerung – und noch weit mehr. Da diese Folgen klar antifreiheitlich und antidemokratische sind, muss den Ursachen gewehrt werden.

(II) Die zweite Gruppe von Verhältnissen meint jene  zwischen eigenständiger Nation, Europäisierung und Globalisierung. Drängende Probleme der Souveränität, der Bündnispolitik und der Kooperation müssen in diesem Zusammenhang eine Lösung finden, so die Frage der Ratifikation wichtiger interntionaler Vereinbarungen (zum Beispiel der Sozialcharta oder der Konvention über Kinderrechte), der Mitarbeit in der EU, in der UNO und in weiteren transnationalen Organisationen, der Mitverantwortung für wirtschaftliche und ökologische Handlungsfolgen und Schadensprävention auch jenseits der eigenen Grenzen, überhaupt die Fragen der Grenzen, der Migrations- und Flüchtlingspolitik, der Armee und ihrer Funktion und Bedeutung. Gerade was die Flüchtlingspolitik betrifft, darf die Verfassung nicht zu einem Persilschein degradiert werden, indem sie zum Beispiel das Non-Refoulement von Flüchtlingen garantiert, jedoch keine Massnahmen vorsieht, welche die Umsetzung dieser Garantie kontrollieren oder welche die alltäglichen Verletzungen sanktionieren. Alle Fragen  dieser zweiten Gruppe von Verhältnissen können nur im Sinn einer verpflichtenden Solidarität und einer verpflichtenden Friedensoptik gelöst werden. Die Art und Weise, wie sie gelöst werden, entscheidet über die mittel- und längerfristigen Bedingungen des Zusammenlebens von Generationen, die selbst von den Enscheiden ausgeschlossen sind. Ich schlage daher vor, dass in der neuen Verfassung nicht nur die paritätische Vertetung von Frauen und Männern in allen legislativen, exekutiven und judikativen Gremien auf Bundes-, Kantons- und Gemeinde- resp. Bezirksebene festgehalten wird, sondern dass auch ein quotenmässiger konsultativer Einsitz der Jugend vorgesehen wird. Deren Beitrag zur Entscheidfindung in allen Fragen, die das Gemeinwohl betreffen, ist notwendig, auch wenn er vielleicht unbequem, dissonant oder ungestüm fordernd ist. Er muss auch auf verpflichtende, demokratisch korrigierbare Weise berücksichtigt werden, damit bei der Jugend – und einem Teil der Erwachsenen – nicht das Gefühl sich breitmacht, Politik sei ein Spiel mit gezinkten Karten. Auch in allen staatsrechtlichen, völkerrechtlichen und menschenrechtlichen Fragen muss die verfassungsmässig garantierte Demokratie und der ihr zugrundeliegende Pluralismus  glaubwürdig sein. Glaubwürdigkeit stellt sich her durch Übereinstimmung von Prinzipien und  Praxis, respektive durch die wirkliche Umsetzung der in der Verfassung garantierten Grundsätze.

(III) Das dritte Verhältnispaket beinhaltet die Verhätnisse zwischen der Geschichte, den Herausforderungen der Gegenwart und dem Zukunftsauftrag. Die damit anvisierten Zusammenhänge verlangen einerseits die Würdigung dessen, was sich bewährt hat, etwa der pluralen und föderalen Strukturen oder der direkten Demokratie, andererseits jedoch eine Korrektur alter Zöpfe. So schlage ich vor, dass mit der neuen Verfassung eine Änderung der offiziellen Bezeichnung unseres Landes einzuführen sei: anstelle von “Schweizerischer Eidgenossenschaft” (womit eigentlich nur die Gründerkantone gemeint sind, ein Grossteil der anderen Kantone, insbesondere jene des Welschlands, jedoch ausgeschlossen ist) soll es einfach “Schweizerischer Bundesstaat” heissen, und anstelle der Abkürzung CH soll CS eingeführt werden (Confederatio Svizzera/Confédération Suisse, da im alltägliche Verständnis unklar ist, ob die “Confoederatio Helvetica” sich auf die Helvetik oder auf die Helveter). Einer jungen Generation von Historikern und Historikerinnen ist zu verdanken, dass in den jüngsten Jahren die Aufarbeitung unserer Geschichte genauer, furchloser und dadurch weniger falsch erfolgt. Deren Arbeit darf auf keinen Fall geschmälert werden. Andererseits sollen – wozu in der Schweiz Gefahr besteht – vor lauter Historisierung die Gegenwartsanalyse und der Zukunftsentwurf nicht beeinträchtigt werden. Für diese Aufgaben – Aufgaben der eigentlichen, breit verstandenen Kulturförderung –  müssen vom Staat genügend, das heisst mehr Mittel garantiert werden. Sie sind dringend erfordert, damit schwelende Konflikte durch präventive und konstruktive Massnahmen gelöst werden können, damit die latente Versuchung zur Gewalt gemindert, damit die wachsende Polarisierung zwischen den wenigen Entscheidungsträgern und -trägerinnen und einem vor allem konsum- und sicherheitsorientierten und zum grossen Teil frustrierten Volk ausgeglichen wird, auch jene zwischen den immer zahlreicheren Armen und den wenigen Reichen, zwischen den – nach Kriterien der Effizienzgesellschaft – wirtschaftlich Nützlichen und den sich überflüssig fühlenden ausgegrenzten Arbeitslosen, zwischen den rechtlich und wirtschaftlich privilegierten Einheimischen und den rechtlosen Immigranten und Immigrantinnen. Damit Massnahmen zur Gewaltverhinderung, das heisst Massnahmen der Konfliktintegration und Konfliktlösung jedoch zukunftsfähig sind, dürfen sie nicht durch eine Zunahme der Repression (gemäss einem, wie mir scheint, gefährlichen Konzept der sogenannten “inneren Sicherhiet”) gekennzeichnet sein. Sie müssen durch eine bessere Verteilung der Rechte, der Arbeit, der politischen und kulturellen Partizipation und damit der Lebenssinnchancen zu einer Stärkung der gesellschaftlichen Integration und damit der politischen Vernunft führen. Dazu bedarf es neuer Projekte zur Verteilung der vorhandenen Arbeit, zur Wertung der Arbeits-, Sozial- und Freizeit sowie zum Ausgleich von Pflichten und Rechten für alle Menschen – Einheimische und Fremde -, die in unserem Land leben. AusländerInnenstimmrecht und erleichterte Einbürgerung müssen erneut im Sinn dieser konstruktiven Verhältnisdynamik diskutiert und generös entschieden werden.

Damit nähere ich mich dem Ende meines Beitrags. Sie sehen, dass ich für alle drei Verhältnisgruppen wichtige – wenngleich ungleich-wichtige – Änderungen vorschlage. Ich fasse sie  zusammen: die Einführung eines Verfassungsgerichts und einer vorgelagerten Ombudsstelle, die paritätische Vertretung von Frauen und Männern in allen legislativen, exekutiven und judikativen Gremien sowie den quotenmässigen konsultativen Einbezug der Jugend in allen Entscheidungsfindungskommissionen, eine Diskussion über die Aufrechterhaltung oder Streichung der Präambel, die Änderung der offiziellen Bezeichnung der Schweiz und eine konsequente Förderung der breit verstandenen Kulturarbeit im Sinn der Gewaltprävention resp. der emanzipatorischen Konfliktlösung.

Vielleicht lässt sich nun die Frage beantworten, für welche Zukunft, für welchen Staat und für welche Menschen eine neue Verfassung gelten soll?

– Für eine Zukunft, in der politische und gesellschaftliche Konflikte durch präventive und kulturell integrierende Massnahmen gelöst werden, in der die Schweiz durch historische Entschlackung vom perfektionistischen “Sonderfalldenken” abrückt, in der nicht Ängste vor Veränderungen überwiegen, sondern die Chancen, die Veränderungen bieten, im Sinn der politischen Vernunft und einer gelebten Humanität genutzt werden.

– Für einen Staat, der zur entschlackenden Entmythologisierung bereit ist, der bereit ist, mehr Transparenz  und mehr Demokratie zuzulassen und der die Verpflichtung zu einer grenzübergreifenden Solidarität als  mitverantwortlicher Akteur bei der Arbeit an einer – letztlich unumgänglichen – Friedensperspektive ernstnimmt, sowohl im europäischen wie im weltweiten Rahmen.

– Für Menschen, die das Menschenrechtsverständnis, das sie für sich selbst beanspruchen, nämlich den zivilen Respekt – den Respekt vor der Person und der Differenz -, das Bedürfnis nach Glück, den Schutz der Privatheit und die politische Vollberechtigung, allen anderen Menschen im gleichen Mass zugestehen, ohne Erwartung von Assimilation oder gar Unterwerfung, Menschen, .die sich wieder für das Gemeinwohl interessieren, die Ausgrenzung und Armut als einen Skandal verstehen, den sie ablehnen, die das Wohlergehen der vielen als Garantie für das eigene Wohlergehen verstehen.

Damit bin ich nun wirklich am Ende meines Beitrags. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

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