Behinderte als Blickfang – eine Kampagne wirft Fragen auf – TV-Dienstags-Club, 2. Januar 2001

Behinderte als Blickfang – eine Kampagne wirft Fragen auf

TV-Dienstags-Club, 2. Januar 2001

 

  • Meine Überlegungen:

 

  • Menschen mit körperlichen Beschwerden werden von der öffentlichen Gesellschaft als „Behinderte“ bezeichnet. Ein Teil ihrer Besonderheit, ihrer individuellen Geschichte und menschlichen Existenz wird als Massstab benutzt, um sie in eine gesellschaftliche Rangordnung zu versetzen und um sie zu definieren. Die ganze Vielfalt ihrer menschlichen Fähigkeiten wird dadurch als zweitrangig, wenn nicht gar als bedeutungslos klassifiziert. Das tiefste und dringlichste Bedürfnis jedes Menschen, Respekt zu erfahren und das Recht auf Erfüllung aller wichtigen Grundbedürfnisse nicht nur zu fordern, sondern tatsächlich zu erleben, wird dadurch nicht gesichert.

 

  • Ich fürchte, dass die mit den Plakaten erfolgte Darstellung sportlicher und sexueller Attraktivität einer jungen Frau und eines jungen Mannes nicht dazu führt, dass Menschen mit körperlichen Beschwerden in psychischer oder in rechtlicher Hinsicht gestärkt werden. Die Bilder widerspiegeln nicht die Komplexität deren Alltagsrealität, die Schwierigkeiten der schulischen oder der beruflichen Entwicklung, die Gefährdung beim Überqueren von Strassen, die Erschwernisse im Strassenverkehr, beim Reisen etc. Die Photographien mögen dem individuellen erotischen oder aesthetischen Bedürfnis Einzelner entsprechen, aber ich befürchte, dass dadurch das, was zur persönlichen Intimität gehört, unter den Druck marktmässiger Kriterien gesetzt wird, und dass es als dringlich erachtet wird, sich diesen Marktkriterien anzupassen, um einen Platz in der Gesellschaft zu haben.

 

  • Pro Infirmis ist eine Organisation („organum“ – Werkzeug, Organ), resp. eine „Firma“, welche den lateinischen Begriff „In-firmitas“ benutzt, um im Konkurrenzkampf der Firmen einen eigenen Platz zu besetzen, auch wenn sie mit „Pro Infirmis“ ihren Namen mit einem Unterstützungszweck von so bezeichneten Menschen verknüpft. Im Lateinischen bedeutet „firmare“ befestigen (auch „Firmament“ ist davon abgeleitet, bedeutet ursprünglich der über der Erde „befestigte Himmel“). Die Frage, ob diese Plakate eher dem Marktzweck der Firma dienen als der psychischen und rechtlichen Stärkung von Menschen ist berechtigt, daher auch die Befürchtung, dass Menschen zum Marktzweck missbraucht wurden. Das wäre nicht zu befürchten gewesen, wenn z.B. menschliche Gesichter oder Alltagsmomente – etwa in der Strassenbahn oder beim Überqueren der Strasse – das, worum es den Menschen selber geht, widergegeben hätten.

 

  • Die kritische Frage empfinde ich als berechtigt, was der Slogan bedeutet „Wir lassen uns nicht behindern“ und mit welcher Absicht er gewählt wurde. „Ich lasse mich nicht behindern“ könnte auch jemand sagen, der z.B. die Verkehrsregeln nicht beachtet, weil er beweisen möchte, dass er schneller als alle anderen Autofahrer vorankommt, oder jemand, der immer schreit und flucht, weil er sich vorstellt, so besser beachtet zu werden. Warum wurde nicht ein unmissverständlicher Slogan gewählt? – z.B. „Wir lassen uns nicht entrechten“ – oder „Wir lassen uns nicht entwerten und lassen uns nicht zu uns fremden Zwecken benutzen“.

 

  • Mein Anliegen ist, dass Menschen sich „nicht behindern“ lassen in ihrem Widerstand gegen Entrechtung oder gegen Missbrauch zu fremden Zwecken, ob dies sexueller Missbrauch sei oder Missbrauch zu Marktzwecken oder zu politischen Machtzwecken, dass sie sich immer wieder ermutigen, ihre kreativen Fähigkeiten zu wecken und diese zu ihrer eigenen Stärkung zur persönlichen Entfaltung umzusetzten. Ich meine damit sowohl Menschen mit körperlichen Gebrechen oder Beschwerden, wie Menschen, die in grosser Armut leben, geprägt von Arbeitslosigkeit und Sozialdienstabhängigkeit, wie Menschen, welche unter Wertlosigkeit und Kälte aufwuchsen und auf Grund hilfloser psychischer Besetztheit „straffällig“ wurden, wie auch Menschen, die aus der lebensbedrohlichen Gewalt in ihren Herkunftsländern in die Schweiz flohen und hier nun als Asylsuchende oder als Flüchtlinge unter totaler Rechtlosigkeit leiden. Ich möchte sie alle – ob sie Kinder, Jugendliche, Erwachsene oder alte Menschen seien, ob Frauen oder Männer – in ihrem Widerstand gegen lebensbehindernde Entrechtung stützen, letztlich in ihrem Bedürfnis, nicht ein angstbesetztes, sondern ein glückliches Leben zu leben.

 

„Sexualität“

gehört zum Menschsein, „sexus“ bedeutet „Geschlecht“: Weiblichkeit und Männlichkeit. Die Entwicklung des Menschseins – die „Fortpflanzung“ (ein naturhafter Begriff) – wird durch die Sexualität geschaffen. Die Ehe wurde in frühester Zeit als Ordnungsstruktur für das Zusammenleben von Frauen und Männern mit den durch sie gezeugten und geborenen Kindern geschaffen.

So einfach ist es jedoch nicht. Sexualität ist als Begriff – und als Tatsache – verbunden mit intensiven Fragen, mit guten oder mit überaus belastenden Erfahrungen, auch mit einer unzählbaren Vielfalt von Theorien, die je nach der Zeit und je nach der Kultur oder Religion grosse Differenzen aufzeigen, z.B. eine generelle Zensur (ausser bezüglich geregelter Fortpflanzung in der Ehe, durch welche die Frauen jedoch auch in Unterwerfungsstrukturen gezwungen wurden).

Das Machtverhältnis zwischen Männern und Frauen ist im Zusammenhang der Sexualität konstant, generell zwischen sexuell Begehrenden und Objekten des Begehrens, sowohl in dem, was als „erotische Aesthetik“ bezeichnet wird wie vor allem in der körperlichen Befriedigung sexueller Lust.

In der Kindheit ist Sexualität verbunden mit Neugier; der damit verbundene sexuelle Missbrauch von Kindern durch Jugendliche oder durch Erwachsene ist entsetzlich häufig, insbesondere von kleinen Mädchen, aber auch von kindlichen Knaben

In der Pubertät und im Erwachsenenalter hat Sexualität eine analoge Bedeutung wie der Durst oder der Hunger nach Nahrung und das Bedürfnis nach einer guten, lustvollen Befriedigung dieses Bedürfnisses. Im Gegensatz zum Nahrungshunger und Durst aber ist Sexualität nicht konnotiert mit Überlebensfragen. Sie ist konnotiert mit aufwühlenden Folgen der sexuellen Erfahrung auf das Empfinden des Selbstwertes. Allein das dem sexuellen Akt zustimmende Empfinden des gleichen menschlichen Wertes wirkt sich lustvoll stärkend aus.

Menschen, die sich nicht gegen sexuelle Benutzung wehren können, sei es, weil ihr Alltagsleben in irgend einer Form von der Unterwerfung abhängig gemacht wird, sei es, weil sie durch Gewalt und Brutalität als Opfer zum Zweck der mit extremen Machtbedürfnissen gekoppelten männlichen Sexualität missbraucht werden, leiden unter schwerwiegenden Leidensfolgen. Die Gefahr der Zerstörung des Ich-Wertes, des Lebenswertes ist enorm bedrohlich. Nur wenn eine gute, sorgfältige Therapie möglich ist, kann eine Heilung der extremen Selbstwertverletzung im Selbstwertempfinden erlebt und im alltäglichen Leben, z.B. im Zusammenhang mit Beziehungen, umgesetzt werden.

 

Empfehlenswerte Literatur: Michel Foucault. 3 Bde. Sexualität und Wahrheit. Bd.I: Der Wille zum Wissen. Bd.II:  Der Gebrauch der Lüste. Bd.III. Die Sorge um sich. suhrkamp tb 716-18.

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