Top Dogs – Podiumsdiskussion im Theater zum Neumarkt am 28. Juni 1996

Top Dogs

Podiumsdiskussion im Theater zum Neumarkt am 28. Juni 1996

 

Begrüssung / Vorstellung der Gäste und meiner selbst

 

Im letzten Jahrhundert, zur Zeit der grossen revolutionären Gesellschaftsumwälzungen, hiess es, die Revolution fresse ihre Kinder. Heute, im Lauf des scheinbar ungebrochenen kapitalistischen Siegeszugs, frisst der Kapitalismus seine Kinder. Während der Kapitalismus selbst scheinbar keine rivalisierenden Systeme mehr zu befürchten hat, führt der  – scheinbare – Zwang zur Rationalisierung und zur immer stärkeren Rivalisierung innerhalb des Systems – unter den Vorzeichen der Globalisierung – in den traditionellen Wohlstandsländern weltweit zu Millionen von Entlassungen und zu wachsenden Zahlen von Arbeitslosen (der Weltkonzern IBM z.B. hat innerhalb von 10 Jahren sich von 440 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auf 220 000 „verschmälert“, der Oerlikon-Bührle Konern hat von 1991 bis 1995 rund 6000 Stellen gestrichen,  bei der CIBA wurden von 1991 bis 1995 rund 4000, seit der Fusion mit Sandoz zu Novartis erneut 3500 Stellen abgebaut, im gleichen Zeitrahmen hat ASCOM 4800 Stellen,  Swissair rund 3000 und in diesem laufenden Jahr zusätzliche 1200 „wegrationalisiert“ usw.). In der Schweiz weist das Bundesamt für Gewerbe und Industrie BIGA für den Monat März – die letzte offizielle Erhebung – 165’305 Arbeitlose auf, worunter die weitaus grösste Zahl sogenannte „Fachfunktionen“ (78’812), sodann 67’291 „Hilfsfunktionen, 10’487 Lehrlinge und Studierende und schliesslich 8’030 Kaderfunktionen betreffen. Welches sind die Folgen von Entlassung und Erwerbslosigkeit? Ohnmachtsgefühle, Wut, Sinnkrisen, Orientierungskrisen, Zukunftsängste und häufig auch Beziehungsdramen – für alle Opfer der heutigen Wirtschafts – und Strukturkrise (wir werden zu ergründen versuchen, worum es sich handelt).

 

An Volker Hesse:

– Warum, Herr Hesse, haben Sie sich – gemeinsam mit Urs Widmer und den Schauspielern und Schauspierinnen – gerade für entlassene Kaderleute interessiert? – und warum reden Sie gar von „Königsdramen“? Was soll dieser „monarchistische“ Vergleich im Zusammenhang einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung? Sind nicht gerade die „Rationalisierungsopfer“ aus den höheren Etagen im Vergleich zu anderen privilegiert, da sie ja, wie das Stück es schildert, die Dienste und die Betreuung von quasi therapeuthischen Organisationen, sog. „Out-placement“-Büros in Anspruch nehmen können, resp.in einem viel geringeren Mass ausschliesslich auf sich zurückgeworfen werden?

 

– Als eine der stärksten Szenen erschien mir die Szene der Eheleute vor dem Psychiater. Da wird ein Teil des Dramas verständlich gemacht, „überzählig“ geworden zu sein, keine Tagesstruktur mehr zu haben, vor der Gesellschaft, etwa der Nachbarschaft oder dem Bekanntenkreis, das Gesicht zu verlieren, die nächsten Angehöriogen, hier eben die Ehefrau, mit in das Drama hineinzuziehen und mehr. Warum nimmt diese psychologische Tiefendimension  – die Frage nach dem Wert der menschlichen Existenz, wenn die prestigegebundenen Attribute wegfallen – sonst so wenig Platz im Stück ein?

 

– Eine weitere Frage, die für mich offen bleibt, ist, warum die gesamtökonomischen, gesamtgesllschaftlichen Zusammenhänge keinen dramaturgischen Ort in Ihrer Inszenierung finden, was verhindern würde, dass die Personen wie – mehr oder weniger zufällige –  Opfer firmeninterner Willkür erscheinen? – warum Sie statt der ursächlichen Zusammenhänge zum Schluss eine Art ritualisierter apokalyptischer Endzeitbeschwörung wählen?

 

An HansRudolf Schupisser und Hans Jakob Mosimann:

– Was ist unter „Deregulierung“, Rationalisierung und „Globalisierung“ tatsächlich zu verstehen? Stehen hinter diesen Begriffen, die wie Schlagworte zumeist unhinterfragt in aller Mund sind, verantwortbare Konzepte oder dienen die Begriffe zur Verschleierung scheinbarer „Sachzwänge“, die den liberalen Grundvorstellungen eigentlich widersprechen?

 

– Bedeutende Kenner der liberalen Marktwirtschaft – so etwa Lester Thurow, Professor an der Yale-University (in seinem Buch „The future of capitalism“) oder Ralf Dahrendorf z.B. in seinem Buch „Die Chancen der Krise“) sprechen warnend von der Patt-Situation, in die der Kapitalismus sich hineinmanövriert, da er den Wettbewerb zwar als notwendiges Systemelement voraussetzt, auf der Makro-Ebene jedoch jeden Wettbewerb mit anderen Systemen ausgeschaltet hat. Tatsache ist, dass Wachstumsprognosen ständig nach unten korrigiert werden müssen, ja dass, mit einem verräterischen Ausdruck, heute von „negativem Wachstum“ gesprochen wird. Was halten Sie von diesen Tatsachen?

 

– Gemäss Hannah Arendt, der 1975 verstorbenen klarsichtigen Analytikerin der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse im westlichen Kulturbereich, kennzeichnen sich totalitäre Systeme dadurch, dass sie Menschen überzählig machen und für wertlos erklären. Muss der Kapitalismus, wie er sich heute als scheinbar allmächtiges und globales Gesetz des Marktes gegen die Menschen und ihr Recht auf Würde durchsetzt, nicht als Totalitarismus verstanden werden? Bedarf es nicht dringend einer ebenso weltweiten Opposition dagegen, eines innovativen Gegenentwurfs, einer Gegenstrategie?

 

– Die Schwächung der Gesellschaft durch die zunehmende Zahl von Arbeitsentlassenen und Erwerbslosen sowie wachsende Zukunftsängste führen zu einer Schwächung der Konjunktur. Die Märkte sind übervoll, aber es wird nicht mehr gekauft und immer weniger investiert; neben Privatkonkursen häufen sich auch Firmenkonkurse. Zugleich wird von Seiten der Wirtschaft der Abbau der staatlichen Sozialleistungen, resp. die Privatisierung des Sozialstaates gefordert, ja der oberste Chef der Arbeitgeber, herr Guido Richterich,  hat vor zwei Tagen gar die Sozialpartnerschaft aufgekündigt. Beide Elemente führen zu einer – wie mir scheint bedrohlichen – Schwächung der  gesellschaftlichen Stabilität und damit zu einer Schwächung des sozialen Friedens, d.h. der befriedigenden Lebensqualität der vielen in einem Staat. Was wird aus einer Gesellschaft, in der wenige immer reicher und viele immer ärmer werden (nicht nur an materiellen Mitteln, sondern Mitsprache- und Partizipationsmöglichkeiten). Sind Sie mit Herrn Richterich einig, Herr Schupisser? Oder sehen Sie die Möglichkeit einer konstruktiven Veränderung dieser Tendenzen? Und Sie, Hans Jakob Mosimann?

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