“Solche Schismen gibt es nur, wo es sich um einen Glauben handelt” – Die spannende Geschichte der uneinigen Schulenbildung in der Nachfolge C.G. Jungs

            “Solche Schismen gibt es nur, wo es sich um einen Glauben handelt”

                            Die spannende Geschichte der uneinigen Schulenbildung in der Nachfolge C.G. Jungs

 

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Über dem “Seehof” in Küsnacht bauen sich Wolken auf und treiben wieder weg, ein Himmelspalast aus Seifenblasen. Der Föhn bläst, kobaltblau leuchtet der See, die Wellen klatschen an die Holzpfähle vor dem Schilf.  Die Waldflanke am anderen Ufer überbordet vor Grün, dschungelgleich. Gegen Westen, zur Zehntenscheune hin, überragt turmhoch ein Kastanienbaum das Anwesen, auf der Ostseite wirft ein Spitzahorn Filigranschatten auf Rosenrabatten. Das Vogelgezwitscher ist kakophon. Im Frühling blühen hier Fliederbüsche und Tulpen, Gelbmohn und Akelei..

Im April 1979 zog das C.G. Jung Institut Zürich von der Gemeindestrasse 27 in Hottingen in den “Seehof” und hat seither hier seinen Sitz, mietweise. Eigentümerin des 1627 erbauten Hauses ist die Gemeinde Küsnacht, die auch veranlasst hat, dass es 1957 unter Heimatschutz gestellt wurde. Bis 1831 war es im Besitz von Offiziersfamilien, ursprünglich der Lochmanns, die sich Geld und Rang in französischen, holländischen und schweizerischen Diensten geholt hatten. Dann setzte eine neue Periode ein: Thomas Scherr, ein aus Würtemberg stammender ungewöhnlicher Erzieher, der jahrelang die Armen-, Blinden- und Taubstummenschule in Zürich geführt hatte (deren Schüler  übrigens auch Gottfried Keller war), leitete in diesem Haus von 1832 an das erste Kantonale Lehrerseminar, bis er 1840 nach dem Sturz des liberalen Regimes entlassen wurde. Fast drei Jahrzehnte später, im Frühjahr 1868, zogen Conrad Ferdinand Meyer und seine Schwester Betsy in den “Seehof” und lebten hier während vier Jahren, eine “schöne Zeit”, wie Betsy als alte Dame im Rückblick schrieb. Oberst Lochmanns sogenanntes “Prunkzimmer” mit dem bemalten Turmofen und dem Nussbaumtäfer, das heute vom “Institut” als Examenszimmer benutzt wird, diente ihr als “Stübchen”, und ein Teil des “Festsaals” mit den grossen Fenstern zum See hin war des Dichters Schlafzimmer. Hier, in der ländlichen Geborgenheit seines “Klosters”, schrieb er hochgemut “Bis in der grünen Kühle, der schöpferischen Stille, ich leise wachsend fühle, was Gottes Wink und Wille”, hier vollendete er “Huttens letzte Tage”. Wieder erlebte das Haus Handwechsel und neue Bestimmungen. Bevor 1961 die Gemeinde Küsnacht das Besitztum erwarb, war es während fünfzig Jahren durch den Arzt Theodor Brunner als privates Sanatorium benutzt worden.

Dieser vielfältigen Geschichte des “Seehofs” fügt das C.G. Jung Institut nun seine eigene Geschichte hinzu. Etwa 400 Studierende sind zur Zeit immatrikuliert, wovon rund vierzig Prozent Schweizerinnen und Schweizer sind; von den sechzig Prozent Ausländerinnen und Ausländern kommt ein Drittel aus den USA, der Rest aus unterschiedlichen Ländern. Zwei Drittel aller Studierenden (Durchschnittsalter um die vierzig) sind Frauen. Der Unterricht wird sowohl in Deutsch wie in Englisch von 250 bis 270 Lehranalytikern und -analytikerinnen erteilt. Pro Jahr schliessen rund 40 Studierende ihr Studium ab. Seit fünf Jahren sind die Zahlen stabil, sagt Hans Rudolf Kuhn, der adminsitrative Leiter des “Instituts”.

Mit Erstaunen nehme ich diese Zahlen zur Kenntnis und überlege, wie einerseits die vielen Lehrangebote und andererseits die vielen Studierenden in der Privatheit dieses Hauses Platz finden. Sechs Büroräume stehen zur Verfügung, ein kleiner Raum unter dem Dach mit dem Bildarchiv, eine Bibliothek mit rund 12’000, zum Teil archivierten Bänden, zwei Säle, die jedoch an Wochenenden der Gemeinde Küsnacht für eigene Anlässe oder zur weiteren Vermietung zur Verfügung stehen (der Saal im ersten Stock, wo sich C. F. Meyers Schlafzimmer befand, ist für Hochzeiten beliebt). Das ganze Haus, von den honigfarbenen Fliessen in den Gängen bis zu den kapitellartigen Türeinfassungen, emaniert bürgerliche Aisance und Privilegiertheit. C.G.Jung hätte das Haus zweifellos gepasst, er selbst war ja Küsnachter Ehrenbürger und wohnte mit seiner Familie von 1908 an bis zu seinem Tod im Jahr 1961 an der Seestrasse 228, kaum viel mehr wie einen Steinwurf vom heutigen “Institut” entfernt.

Es ist offensichtlich, aus diesem Umfeld sind materielle Nöte und Lästigkeiten ausgeblendet. Wer wenig Geld hat, kann hier nicht studieren. Acht Semester sind die durchschnittliche Studiendauer, die Semestergerbühr beträgt  2’400.- Franken, für Auswahlgespräche, Urlaubsgenehmigungen und Examen (zusätzlich für Examensänderungen, -verschiebungen und -wiederholungen) sind noch einige tausend Franken dazuzurechnen, eine persönliche Analyse umfasst mindestens 300 Stunden und kommt durchschnittlich auf  35’000.- Franken zu stehen, weiter sind etwa 80 Stunden Supervision zum gleichen Tarif erfordert, also zusätzlich noch  rund 10’000 Franken, dazu kommen Lebenskosten, Bücher und so weiter. “Studierenden, die kurz vor dem Abschluss in finanzielle Schwierigkeiten geraten, können wir eine kleine Kostenreduktion anbieten”, sagt Hans Rudolf Kuhn, “sonst aber müssen wir sagen, es tut uns leid. Denn das ‘Institut’ arbeitet ohne staatliche Subventionen und finanziert sich allein durch die Semesterbeiträge und durch Donationen”.

Im vergangenen Jahr liess das Gerücht eines “Schismas” innerhalb des C.G.Jung-Instituts Zürich die Öffentlichkeit aufhorchen. Tatsächlich gründete am 8. März 1994 eine kleine Gruppe von Analytikern und Analytikerinnen um Marie-Louise von Franz ein separates “Zentrum” – das “Forschungs- und Ausbidungszentrum für Tiefenpsychologie” -, das sich mit einer eigenen analytischen Ausbildung und einem eigenen Diplom vom bestehenden grossen “Institut” in Küsnacht abspaltete.

Die inhaltlichen Gründe und Hintergründe der Abspaltung machten mich neugierig, auch wenn es angesichts der numerischen Kleinheit des neuen Lehrbetriebs übertrieben sein mag, von “Schisma” zu sprechen. Den Begriff allerdings habe ich von Jung ausgeliehen, der 1912, im Jahr seiner Trennung von Freud, schrieb, dass es “solche Schismen nur geben kann, wo es sich um einen Glauben handelt”. Was dagegen  seine eigene Abkehr von Freud betreffe, so würde man zu Unrecht vermuten, fuhr Jung damals fort, “seine Stellung bedeute ein Zerspaltung der psychoanalytischen Bewegung”, da es sich bei der Psychoanalyse “nicht um einen Glauben, sondern um Wissen und um dessen wechselnde Formulierung” handle[1].

Bevor ich jedoch dem Zürcher “Glaubensschisma” auf den Grund gehen wollte, schien es mir dringlich zu fragen, ob es überhaupt je eine einheitliche Jung’sche “Schule” gab oder ob es eine solche gibt. Zur Beantwortung dieser Frage steht nicht nur eine Fülle von Literatur zur Verfügung. Eine Anzahl von C.G.Jungs eigenen Analysandinnen und Analysanden sind noch am Leben und können seit den Anfängen berichten, so dass die Fragen um die “Spaltung” des vergangenen Jahrs in einen breiteren und zugleich authentischen  Zusammenhang gestellt werden können.

Tatsache ist, dass, verteilt auf alle fünf  Kontinente, einige tausend “Jungianer” und “Jungianerinnen” therapieren und publizieren, allein in der Schweiz rund 260, und eigentlich sollte dies genügen, um eine Jung’sche “Schule” nicht in Frage zu stellen. Doch weder bezüglich der Benennung der Jung’schen Nachfolge noch bezüglich der Tatsache einer “Schule” herrscht Einigkeit. Gemäss Andrew Samuels [2] sollte ohnehin eher von “Postjungianern” und “Postjungianerinnen” gesprochen werden. Unter diesen stellt er die Entstehung von drei verschiedenen “Schulrichtungen” fest: Einerseits die “Londoner Schule”, die vor allem den entwicklungspsychologischen Zugang betont und die Analyse der frühen Kindheit anhand von Übertragung und Gegenübertragung ausbaut; andererseits die “Klassische Schule”, die keine Modifikationen der auf Jung selber beruhenden Tradition zulässt und das Hauptgewicht auf das Verstehen der Träume und auf die Offenheit für das “Numinose” legt. Sodann drittens die von James Hillman begründete “Archetypische Psychologie”, die  alle psychogenetischen Zusammenhänge gänzlich ausseracht lässt und eine therapeutische Wirkung ausschliesslich von der Stimulierung des Bildhaft-Imaginären erwartet. Trotz der Unterschiede berufen sich jedoch alle, auch die vielen einzelnen Ausbildungsinstitute in den USA und in Grossbritannien, in Deutschland, Italien und in den weiteren Ländern, auf  C.G. Jung und auf dessen – vielfacettiertes und zum Teil in sich selbst widerstrebendes – Lebenswerk.

Fazit: bei C.G.Jungs Erbverwalterinnen und -verwaltern herrscht eine schier unübersichtliche Vielfalt der Positionen. Andrew Samuels, ein hervorragender Kenner dieser Vielfalt, sagt zu Recht: “Jeder Versuch also, die Existenz von Schulen zu ignorieren oder ihre Bedeutung herunterzuspielen, ist im historischen Sinn fragwürdig und bezieht sich – ein nostalgisches Unternehmen – auf eine längstvergangene und von grösserer Einheitlichkeit gekennzeichnete Periode”[3].

Mit der von “grösserer Einheitlichkeit gekennzeichneten Periode” sind zweifellos die Jahrzehnte von Jungs eigener Tätigkeit im Rahmen des 1916 gegründeten “Psychologischen Clubs” oder des 1948 eröffneten “Instituts” gemeint. Der “Psychologische Club” wurde dank der Initiative und Finanzierug einer reichen amerikanischen Analysandin  C.G. Jungs, Mrs. Mc Cormick, als Ort des sozialen Zusammenhangs der Analysanden und Analysandinnen gegründet, als eine Art Debattierclub, der sich zuerst in einem grossen Haus an der Löwenstrasse Nr. 1 in Zürich befand. Nach der Rückkehr von Mrs. Mc Cormick in die USA verkaufte Jung das “grosse Haus” und erwarb das kleinere Haus an der Gemeindestrasse 27 in Hottingen, das heute noch besteht, und in welchem sich 1948 auch das “Institut” etablieren konnte. Cornelia Brunner, selbst Analysandin C.G. Jungs, die den “Psychologischen Club” von 1952 bis 1975 leitete, betont, wie sehr der “Club” ein Ort des wissenschaftlichen Austauschs war, “kein Ort des Kults, auch wenn das Gegenteil behauptet wird”. Die noch vorhandenen Jahresberichte geben über die Aktivitäten wie über die Mitglieder des “Clubs” und dessen Vorstand Auskunft, ebenso über die Namen der “statutarischen Gäste”. In allen drei Bereichen zeigt sich die – für die damalige Zeit – erstaunliche Präsenz der Frauen. Zum Beispiel bestritten im Jahr 1934/35 vier Frauen unter Toni Wolff (Jungs langjähriger Freundin) als Präsidentin den fünfköpfigen Vorstand; unter den Mitgliedern waren 26 Männer und 29 Frauen. Acht Vorträge wurden von Männern, darunter einer von C.G.Jung gehalten, ein einziger jedoch von einer Frau, nämlich von Toni Wolff, die über den “Individuationsprozess der Frau” sprach. Die übrigen Themen behandelten “Bilder aus dem unbewussten Seelenleben” (G.R.Heyer), “Psychische Wirkungen nationaler Bedrängnis am Beispiel des Judentums in vorchristlicher Zeit” (A.Oeri), “Glaubenskampf in Deutschland – Umsturz oder Umbruch?” (Wilhelm Laiblin), “Psychologische und phänomenologische Analyse der Macht” (Prof. Vycheslavzeff), “Die Geschichte vom indischen König mit dem Leichnam” (H.Zimmer), “Die historischen und psychologischen Grundlagen ds Gnostizismus” (Kurt v. Sury), “Über die Archetypen des kollektiven Unbewussten” (C.G. Jung), “L’expérience mystique chez les primitifs” (Prof. Lévy-Bruhl) – eine in ihrer Diversität typische Themenpalette, die durch speziell geladene, prominente  Referenten oder Referentinnen noch aufgewertet wurde. Cornelia Brunner hält mit Genugtuung fest, dass zu “ihrer Zeit” selbst berühmteste Wissenschafter wie Gershom Scholem, Karl Kerenyi oder  Mircea Eliade ihrer Einladung zu einem Vortrag im “Club” gefolgt seien.

Der “Psychologische Club” bestand also mehr als dreissig Jahre, bevor das “Institut” 1948 gegründet wurde. Laut Cornelia Brunner hätte Jung die Bezeichnung “Institut für Komplexe Psychologie” vorgezogen, doch habe der “Club” auf der Bezeichnung “C.G. Jung Institut Zürich” beharrt. Mario Jacoby, Kuratoriumsmitglied im heutigen Zürcher C.G.Jung-Institut und Analysand von Jolande Jacobi, einer von Jungs frühen Mitarbeiterinnen, der eigentlichen Promotorin der Institutsgründung, hält fest, Jung selbst habe dem “Institut” gegenüber eine ambivalente Haltung eingenommen. Einerseits habe er befürchtet, dass die Institutionalisierung seiner psychologischen Erkenntnisse zu deren Erstarrung führe; andererseits aber habe er sich geschmeichelt und stolz gefühlt. Anfänglich waren es zehn oder zwölf Studierende. Der Unterricht lag vor allem in den Händen von Frauen – eine Tatsache, die, nach Mario Jacoby, zugleich einen emanzipatorischen wie einen Unterwerfungsaspekt beinhaltete. “Einige von ihnen, etwa Toni Wolff oder Marie-Louise von Franz oder Aniela Jaffé widmeten Jung ihr ganzes Leben. Die Männer dagegen hielten seine wuchtige Art schwer aus, dieses besondere Charisma, und Jung selbst hatte grösste Mühe, deren Übertragungen zu tolerieren”. (Wie weit Jung eventuell einer eigenen homoerotischen Komponente mit massiver Abwehr begegnete, ist ein – offener – Streitpunkt).

Mario Jacoby, der Jung als alten Mann, wenige Jahre vor dessen Tod  kennenlernte und in Seminarien noch erlebte, fühlte sich vom Neuen in dessen Werk fasziniert, vom inter- und transdisziplinären Ansatz, bei dem Psychoanalyse, Psychologie, Religionswissenschaft, Kunstbetrachtung, Anthropologie und noch mehr Wissenschaften einbezogen wurden. Zwar war Mario Jacoby, als jüdischer Flüchtlinge in St.Gallen aufgewachsen, zuerst auf  Jungs massive antisemitische Äusserungen aufmerksam geworden, die dieser bei mehreren Gelegenheiten gemacht hatte, etwa in einem Radiointerwiev im Juni 1933, dann in seinem “Geleitwort” zum “Zentralblatt für Psychotherapie”, das im gleichen Jahr in Leipzig erschien (neben einem nationalsozialistischen Manifest des Psychiaters Matthias Göring, einem Vetter des berüchtigten Hermann Göring), oder etwa im peinlich völkischen, unmissverständlich antijüdischen Aufsatz “Zur gegenwärtigen Lage der Psychotherapie” von 1934, mit dem Jung  sich klar in den Trend der Zeit einreihte, obwohl ihm bekannt sein musste, dass am 10. Mai 1933 Freuds Bücher öffentlich verbrannt worden waren[4]. Aber gerade gegen Freud, den einstigen hochverehrten Lehrer, und gegen Adler, den Rivalen, richtete sich ja die Spitze von Jungs Äusserungen, während er sich gleichzeitig um die Rechte und die Rettung mit ihm befreundeter jüdischer “Schüler”, Kollegen und Mitarbeiterinnen, etwa von Erich Neumann, von Gerhard Adler, James Kirsch oder von Aniela Jaffé tatkräftig bemühte. Auch gründete Jung, als er zum Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Psychotherapie gewählt wurde, eine neue Internationale Gesellschaft für Psychotherapie, um den jüdischen Kolleginnen und Kollegen, die aus der Deutschen Gesellschaft ausgeschlossen wurden, den Eintritt in die Internationale Gesellschaft zu ermöglichen: Unvereinbarkeiten, die Jung schon damals zugleich belasteten wie teilweie entlasteten und die er selbst nachdem Krieg zu glätten versuchte.

Allerdings wurde gleichzeitig mit Jungs “Rettungsbemühungen” ein “numerus clausus” für den “Psychologischen Club” beschlossen, wie sich Cornelia Brunner erinnert: “Als Erich Neumann 1933 wieder in die Schweiz kam, freuten wir uns, da er ja verfolgt war. Doch gleichzeitig fürchteten wird, dass nun auch alle seine Schüler kämen, und so beschlossen wir, einen ‘numerus clausus’ einzuführen. Gewiss, das war verkehrt, da wir damit die jüdischen Neuankömmlinge ausschlossen. Auch Rivka Kluger-Schaerf und Aniela Jaffé, die wir liebten, konnten daher  nicht als Mitglieder, sondern nur als statutarische Gäste im ‘Club’ mitmachen, bis Jung sich persönlich für die zwei begabten Frauen einsetzte”. Aniela Jaffé hat Mario Jacobi erzählt, Jung habe gedroht, selbst aus dem “Club” auszutreten, wenn sie und Rivka Kluger-Schaerf nicht Mitglieder würden. (Übrigens wurde auch Jolande Jacobi, vor der sich scheinbar die meisten Mitglieder fürchteten, erst in den fünfziger Jahren durch Cornelia Brunner in den “Club” aufgenommen).

Cornelia Brunner, dieses Jahr 90 Jahre alt, ist eine glühende Verehrerin C.G.Jungs. Sie bezeichnet ihn, wie ihr dies durch die Hellseherin Gloria Karpinski mitgeteilt wurde, als Reinkarnation von Lao Tse und als höchste menschliche Inkarnation in diesem Jahrhundert. Über ihre Lippen kommt kein kritisches Wort. Sie erklärt, Jungs zentrales Bestreben habe darin bestanden, die jeder Seele innewohnenden gegengeschlechtlichen und damit gegensätzlichen Kräfte (den männlichen “Animus” bei der Frau, die weibliche “Anima” beim Mann) in Einklang mit dem Selbst zu bringen, vor allem durch Bewusstwerdung in der Übertragung. Aus diesem Anliegen erklärt sie das so auffällig unterschiedliche Verhältnis Jungs zu seinen “Schülerinnen” einerseits und zu den “Schülern” andererseits. Jungs aussergewöhnliche Fähigkeit und Bereitschaft habe es den Frauen erlaubt habe, “ihren Animus auf ihn zu projizieren, vom Vaterbild bis zum Gottesbild, während die Männer ihre Anima nicht durch die Übertragung auf Jung entwicklen konnten. Andererseits war Jung empfänglich für die Anima jeder Frau”[5].

So edel und so therapeutisch harmlos dies klingen mag, in der gelebten Realität konnte sich Jungs “Übertragungsbereitschaft” tragisch auswirken, zumal er die Theorie seines Patienten Otto Gross teilte, Männer seien polygam und müssten daher ihre Anlage ausleben. Insbesondere die Liebesgeschichte mit seiner Patientin Sabina Spielrein (die später in Moskau als bedeutende Kinderanalytikerin arbeitete und vermutlich 1941 in Rostow  ermordet wurde, zusammen mit ihrer Tochter und ihrer Schwester, als die Deutschen die Rostower jüdische Bevölkerung in die Synagoge trieben und dort erschossen) war viel weniger eine “heimliche Symmetrie” und “Poesie”, wie Sabina Spielrein selbst schrieb[6], als eine grobe “Assymetrie”[7], deren Beendigung Jung selbst Freud gegenüber gar als “eine durch die Angst eingegebene Schufterei” bezeichnete[8].

Tatsächlich befanden sich in der ersten Generation – in der Generation von Jungs eigenen Analysanden – zwar zahlreiche Ausländer, jedoch zunächst nur wenige Schweizer Ärzte. Ausser  Franz Riklin und Kurt Binswanger, die schon gestorben sind, war dies Carl Alfred Meier, der in diesem Frühsommer 90 Jahre alt wurde. C.A. Meier war Jungs eigentlicher “Nachkomme”, “der einzige”, nach seinen eigenen Worten, “der – und den – Jung ertrug”. C.A. Meier wurde 1948 von Jung zum ersten Direktor des neugegründeten “Instituts” ernannt; und etwa gleichzeitig wurde er auch dessen Nachfolger auf dem Lehrstuhl an der ETH. Im Zusammenhang mit der Institutsgründung verkrachte sich C.A.Meier mit Jolande Jacobi, der eigenständigsten und dynamischsten der “Damen”, an der er kein gutes Haar lässt. Jolande Jacobi habe die Absicht gehabt, ein grösseres Projekt zu realisieren, und um dieses zu verhindern, hätten dann C.G. Jung, Toni Wolff und er das “Institut” an der Gemeindestrasse im Haus des “Clubs” gegründet, erklärt er.

Das schwierige Verhältnis Jungs zu seinen männlichen Studenten bestätigt auch C.A.Meier. Er erklärt die Gründe hierfür allerdings anders. “Jung konnte brutal intolerant sein,  sein Urteil über Kollegen war furchtbar, wenn er zum Schluss kam, dass diese die ‘grundlegenden Sachen’ nicht begriffen, nämlich das kollektive Unbewusste. Mit Frauen kam er besser zurecht, da er in ihnen seine Animae erkannte”. Er selbst habe sich schon als Kind im Jung’schen Haus bewegt, da er mit einer der Töchter, “Nannerl” (Marianne) Jung, befreundet  gewesen sei. Als 19jähriger Student sei er vor die Wahl gestellt worden, sein Zoologiestudium abzubrechen, um das Institut für Meeresbiologie in Rovigno d’Istria zu leiten. In seiner Unschlüssigkeit habe er Jung um Rat gefragt, und da habe “dieser Hexenmeister, dieser Magier an Hand seiner Kindheitsträume das Programm für sein ganzes Leben bestimmt”. Sofort habe er sich dann an die Realisierung dieses Programm gemacht, habe Medizin und anschliessend Psychiatrie studiert, seine Assistenzzeit am “Burghölzli” verbracht, eine Analyse bei Jung gemacht, sei dessen Assistent geworden und habe anschliessend als Analytiker gewirkt, wobei Jung ihm gesagt habe, er könne zwanzig Franken pro Stunde verlangen – für die damalige Zeit ein enormes Honorar. So sei er, seit er mit C.G. Jung bekannt geworden sei, immer seinem Unbewussten gefolgt, wodurch ihm alles, was er habe, beschert worden sei, auch seine Professur.

Mario Jacoby erinnert sich, dass es in den ersten Jahren  des Instituts rund zehn von Jung anerkannte Analytiker gab, die – mit Ausnahme von C.A.Meier – alle von den “Damen” ausgebildet worden waren (neben Jolande Jacobi, Toni Wolff und Marie-Louise von Franz weiter Linda Fierz, Emma Jung, Barbara Hannah, sowie, später, Cornelia Brunner, Liliane Frey und weitere). Die Anerkennung als Analytiker, das “Diplom”, hat in einem handgeschriebenen Brieflein bestanden, das Jung für die Betreffenden ausstellte. Das hat er während Jahrzehnten so gepflegt. “Tatsächlich hat Jung mit seinem Werk nicht bezweckt, eine “Schule” aufzubauen. Jungs Werk ist kein Lehrgebäude, es besteht lediglich aus ‘Tatbeständen’, nach Jungs eigenen Worten. Mit Ausnahme der Vorlesungen und Vorträge sind Jungs Bücher eigentlich private Schriften, gewissermassen Zeugnisse seiner Selbstheilungsgeschichte”, schliesst Mario Jacoby. “Jung rang ununterbrochen mit seinen Dämonen”.

Schon seit Beginn auch der “einheitlicheren Phase” hat sich also eine Diversität von “Richtungen ” abgezeichnet, nicht zuletzt in den so völlig unterschiedlichen Persönlichkeiten der “Schülerinnen” und “Schüler” C.G. Jungs, die sich schon damals als “Jungianer” bezeichneten, sehr zum Ärger Jungs, der wiederholt  gepoltert habe, es gebe nur einen einzigen Jungianer, und das sei er selbst. Die von C.A.Meier so sehr verabscheute Jolande Jacobi etwa strebte eine weltoffene Dynamik des breiten wissenschaftlichen Austauschs an, wie sie in dieser Tradition seit rund 15 Jahren wieder vom C.G. Jung-Institut Zürich in Küsnacht gepflegt wird und wie sie sich auch in anderen Ausbildungsstätten in Europa und in Übersee widerspiegelt. Marie-Louise von Franz stellte und stellt dazu einen Gegenpol dar. Ihr zufolge muss tiefenpsychologische Forschung als Religion, als Introspektion, als ausschliessliche Befassung mit dem Unbewussten, das heisst mit Träumen, Mythen, Alchemie und Märchen verstanden werden. Allerdings veschont C.A.Meier auch Marie-Louise von Franz nicht mit hähmischer Kritik. Jungs “mouth piece” nennt er sie, “sie hat sich völlig mit C.G.Jung identifiziert, redet wie Jung. Unheimlich. Ein schlechtes Zeichen, dass diese Leute so auf sie hereinfallen, ein schlechtes Zeichen, diese Zentrumsgründung”. Aber es sei insgesamt festzustellen, dass der “Jungianismus” an Bedeutung verliere, meint er.

Gotthilf Isler ist einer der vier Promotoren des neuen “Zentrums”. Er ist von dessen Notwendigkeit überzeugt, da er in der Art und Weise, wie das C.G.Jung Institut Zürich in Küsnacht sich undifferenziert für alle psychologischen Forschungsrichtungen öffnet, die eigentlichen Anliegen C.G. Jungs gefährdet sehe, wirklich die Anliegen seiner Lehre, nicht etwa eine – fälschlicherweise behauptete – Jung’sche Theorie.”Die Erkenntnisse, die Jung in seinen Schriften niedergelegt hat, wurden von seinen Schülern und Schülerinnen zur Theorie erklärt”, sagt Isler. “Lehrmeinungen sind nur ein vorläufiges Netz, um etwas zu ordnen. Jung hat nicht eine Theorie vertreten, sondern ein Anliegen: jeden Menschen zu sich selbst zu führen”.

Gotthilf  Isler kam 1965 als 35ähriger Doktorand ans C.G.Jung Institut, wo er ein Jahr später zu studieren begann, seine Ausbildung machte und Lehranalytiker wurde. Während 24 Jahren war er in Analyse bei Marie-Louise von Franz, die er von Anfang an zutiefst verehrte. “Jolande Jacobi war ohne Zweifel gescheit, brillant, aber völlig extravertiert. Ich habe das Gefühl, dass sie keine wirkliche Beziehung zum Unbewussten hatte, dass sie nur darüber redete. Bei Marie-Louise von Franz war es gerade umgekehrt: Das Wichtigste war bei ihr immer die religiöse Beziehung zum Unbewussten, zur innersten, verborgenen Instanz des Menschen, zum Selbst und damit zum Gottesbild in der Seele”. Gotthilf  Isler ist überzeugt, dass eben dies der Kern von Jungs “Lehre” ist.  Er beteuert, dass es nur darum gehe, auf die Psyche zu hören, das heisst auf die Träume. Denn “der Traum ist, was er ist”, zitiert er Jung, “wir haben ihn nicht gemacht”. Weil es allein um diese Treue zu C.G.Jungs “zentralem” Anliegen gehe, seien die dem “Zentrum”, das heisst ihm und den anderen Initianten entgegengebrachten Vorwürfe, sie seien “Sektengründer” und “Abweichler”, falsch. Wenn schon jemand “abgewichen” sei, so sei es das “Institut”. Ihre Absicht dagegen sei klar: “Bei dem bleiben, was von Anfang an das Wichtigste war”. Auch der Vorwurf, sie würden sich der wissenschaftlichen Entwicklung entgegenstellen, sei falsch. Ihre Forschungsarbeit ginge einfach nicht in die Breite, sondern in die Tiefe; ihr Gegenstand seien die archetypischen und alchemistischen Zusammenhänge, wie sie zum Beispiel in der Gnosis, in der Mystik und in der Alchemie, in Mythen und Märchen Ausdruck gefunden hätten.

Die Trennung in eine introvertierte und eine extravertierte “Schule” hat sich nach Isler schon seit 1969 abgezeichnet, als das “Institut”, noch bevor es nach Küsnacht zog, wegen der Folgen einer internen Liebesgeschichte eine Krise durchmachte. Doch trotz der Destabilisierung brauchte es noch einige Jahre, bis die Zeit reif war. Gotthilf  Isler erwähnt die Gründung der “Stiftung für Jung’sche Psychologie” im Jahre 1974, die von der “Marie-Louise von Franz-Stiftung für Grundlagenforschung in analytischer Psychologie” gefolgt wurde. Dank der Unterstützung durch diese beiden Stiftungen sei schliesslich am 8. März 1994 in Zürich durch Eva Wertenschlag-Birkhäuser, Theodor Abt, Hansueli F.Etter und ihn das “Forschungs- und Ausbildungszentrum für Tiefenpsychologie nach Carl Gustav Jung und Marie-Louise von Franz” gegründet worden. Marie Louise von Franz ist dessen Ehrenpräsidenten. “Es war ein gefühlsmässiger Entscheid von uns allen, ein Entscheid für das Wichtigere”, sagt Isler. “Als der Entscheid für uns aktuell wurde, wurde dessen Richtigkeit durch die Träume, die wir vorweg analysiert haben, bestätigt”.

Mit Genugtuung erwähnt Gotthilf Isler die 20 Anmeldungen für das erste Ausbildungsprogramm des “Zentrums”, das Anfang April 1995 in einem zehntägigen Blockkurs angeboten wurde, und das in einem eigenen Diplom kulminieren soll. “Unsere Absicht ist es, klein zu bleiben. Auch Marie-Louise von Franz hat bemerkt, es wäre besser für uns, keinen Erfolg zu haben, um nicht der Versuchung der Macht zu verfallen”. Ob erfolgreich oder nicht, das Zentrum hat sich etabliert..

Für die Leitung des C.G.Jung Instituts Zürich in Küsnacht ist diese Entwicklung bedauernswert. Paul Brutsche, der jetzige Präsident des Kuratoriums, hat lange zu vermitteln gesucht. Er hat zum Beispiel den Promotoren des “Zentrums” angeboten, dass sie ihre Kurse innerhalb des Instituts als eigenes Seminar oder als Post-Graduate Seminar führen könnten. Doch diese mehrmaligen Angebote wurden abgelehnt. Angesichts einer spürbaren Verunsicherung innerhalb des Instituts wurden am 30. September 1994 und am 3. Februar 1995 alle Analytiker und Analytikerinnen zu einer Aussprache eingeladen, an welcher die Hintergründe und Fragen im Zusammenhang mit der Trennung besprochen wurden. Paul Brutsche betont, dass diese Trennung ja gerade Jungs Vorstellung einer lebendigen Ausbildungsstätte widerspreche. Immer seien am “Institut” verschiedene Tendenzen gleichzeitig vertreten worden. Befruchtend sei gerade die damit verbundene Spannung und die dadurch geforderte gegenseitige Beachtung und Kooperation. Dass diese Spannung durch die Mitglieder des “Zentrums” nicht länger ausgehalten werden könne, dies sei der grosse Verlust.

Paul Brutsche räumt ein, dass in gewissen Ausbildungsfragen, so zum Beispiel in der Frage der Eignung von Studierenden, zwischen der “Instituts”-Leitung und den beiden “Zentrums”-Vertretern Meinungsverschiedenheiten beständen. Während das “Institut” bei der Eignungsbewertung von Bewerbern und Bewerberinnen und deren  späteren Diplomierung an der Beratungsfunktion von Mitgliedern einer Auswahlkommission festhält (bestehend aus Lehranalytikern oder -analytikerinnen, die nicht mit der Analyse des Kandidaten oder der Kandidatin befasst sind), will das “Zentrum” den Entscheid weitgehend dem persönlichen Analytiker oder der Analytikerin der Studierenden überlassen (in Absprache mit der Schulleitung des “Zentrums”). Für Paul Brutsche bedeutet dies eine unzulässige Machtkumulation und zugleich eine Befangenheitssituation, die weder der Analyse noch der Eignungsbeurteilung zugute komme. Doch Gotthilf  Isler und Theodor Abt bestehen auf ihrer Meinung, dass die Träume eine absolut sichere Beurteilungsinstanz seien, und dass es daher nicht zusätzlicher Leute bedürfe, um die Eignung zu prüfen. “Träume sind nur ein Instrument unter anderen, auch in diesem Zusammenhang”, stellt Paul Brutsche fest. “Wenn sie zum objektiven Orakel erklärt werden, nimmt dies wahnhafte Züge an”.

Dass die Etablierung des “Zentrums” und damit das offene, wenngleich bedeutungs- und zahlenmässig unverhältnismässig hochgespielte “Schisma” gerade jetzt und nicht schon früher erfolgt ist, hängt nach Paul Brutsche mit der Zuspitzung der Meinungsverschiedenheit in der Frage des Eignungsentscheids zusammen. Im vergangenen Jahr war es zu einigen – von den Initianten des “Zentrums” beanstandeten – Abweisungen von Kandidaten und Kandidatinnen gekommen, was den Abspaltungsprozess bechleunigt hat.. Andererseits ist das Insistieren des “Zentrums” auf einem eigenen Diplom nicht mehr mit einer offiziellen Mitarbeit am “Institut” vereinbar. Die bedauerliche Folge ist, gemäss Paul Brutsche, dass die Mitglieder der “Zentrums”-Leitung auf Ende Sommer 1995 die Berechtigung verlieren werden, sich weiterhin als Lehranalytiker am C.G.Jung Institut Zürich in Küsnacht zu bezeichnen.

“Solche Schismen gibt es nur, wo es sich um einen Glauben handelt”, hatte C.G. Jung festgestellt. Etwas weiter in der gleichen Apologie seiner eigenen Trennung von Freud fuhr er fort: “Dergleichen Einseitigkeiten kommen in der Geschichte der Wissenschaft immer wieder vor. Damit soll kein Tadel ausgesprochen sein: wir müssen im Gegenteil froh sein, dass es Männer gibt, die den Mut der Masslosigkeit und Einseitigkeit haben. Sie sind die, denen wir Entdeckungen verdanken. Bedauerlich ist bloss, wenn jeder seine Einseitigkeit leidenschaftlich verteidigt[9]. Allerdings findet sich in Jungs Brief an Freud vom 3. Dezember 1912, der etwa zur gleichen Zeit verfasst wurde, eine weniger vornehme Erklärung des gleichen Tatbestandes.  Jung leitet den Brief mit einer Warnung ein: “Dieser Brief ist ein unverschämter Versuch, Sie an meinen Stil zu gewöhnen. Also Vorsicht!” Nachdem er sich dann beklagt, dass Freud seine Arbeit “sehr viel unterschätze”, thematisiert er den Abbruch ihrer gemeinsamen Arbeit: “Unsere Analyse hat seinerzeit ein Ende gefunden bei Ihrer Bemerkung, ‘Sie könnten sich, ohne Ihre Autorität zu verlieren, nicht analytisch preisgeben’. Dieser Satz hat sich mir ins Gedächtnis gegraben, als ein Symbol alles Kommenden. Ich bin aber nicht zu Kreuze gekrochen”[10]. Warum auch hätte Jung “zu Kreuze kriechen” sollen? Marie Louise von Franz sagte in einem Interview im September 1982[11] : “Die Jung’sche Therapie ist für mich so schön, weil sie keine Einmischung (ist) – jede Therapie ist so eine Einmischung. Aber sie ist die Minimaleinmischung. Wir haben keine Theorie. Wir denken nicht, der Mensch sollte – wir denken nicht einmal, der Mensch sollte normal sein. Wenn er lieber neurotisch bleiben will, hat er das Recht. Jung hat mir einmal gesagt: ‘Jeder Mensch hat das Recht zu seiner Neurose. Wenn er lieber neurotisch bleiben will, hat er auch noch das Recht dazu. Wir sind in einer Demokratie. Fertig!’ Nur was die Träume wollen. (…) Der Mensch ist neurotisch, wenn er nicht so ist, wie er von Gott gemeint ist, dass er sein sollte”[12].

Andrew Samuels wird in der nächsten Auflage seiner grossen Übersicht über die Nachfolge Jungs das neue “Zentrum” wohl einfach unter Gruppe 2 (Annäherung ans Numinose) einreihen. Nochmals: “Jeder Versuch also, die Existenz von Schulen zu leugnen oder ihre Bedeutung herunterzuspielen, ist im historischen Sinn fragwürdig”. Die Historie geht weiter – mit bedeutender therapeutischer und wissenschaftlicher Arbeit, mit Menschlichkeiten, mit Bündnissen und Trennungen, mit Föhnklarheit und scharfen Schatten, nicht anders als zu Jungs eigenen Zeiten..

 

[1] C.G.Jung. Versuch einer Darstellung der psychoanalytischen Theorie. 2. Auflage, Zürich 1955

[2] Andrew Samuels. Jung und seine Nachfolger. Neuere Entwicklungen der analytischen Psychologie. Stuttgart 1989

[3]  a.a.O. S.49

[4] Mario Jacoby. Antisemitismus – ein ewiges Schattenthema. In: Analytische Psychologie. Hgs. H.Dieckmann, Berlin; C.A.Meier, Zürich. Verlag S. Karger AG, Basel 1992.

[5] Cornelia Brunner. Die Anima als Schicksalsproblem des Mannes. Rascher Verlag.Zürich / Stuttgart 1963 (mit einem ausführlichen Vorwort von C.G.Jung).

[6] Sabina Spielrein. Bd.I. Tagebuch einer heimlichen Symmetrie”. Hrsg. Von Aldo Carotenuto, mit einem Vorwort von Johannes Cremerius. Bd.II Sämtliche Schriften. Kore Verlag, Freiburg i.Br. 1986.

[7] Bruno Bettelheim. Themen meines Lebens. Esssays über Psychoanalyse, Kindererziehung und das jüdische Schicksal. Dtv, Stuttgart 1990.

[8] Brief C.G.Jungs an S. Freud vom 21. 6. 1909, s. (6).

[9] a.a.O., S.30-31.

[10] Sigmund Freud – C.G. Jung. Briefwechsel. Hrsg. Von William McGuire und Wolfgang Sauerländer. Frankfurt a.M. 1984. Die Kursivsetzung findet sich im Original.

[11] Im Filmportrait von Françoise Selhofer. Der transkribierte Text findet sich in: Jungiana. Bieträge zur Psychologie von C. G. Jung. Reihe A, Bd.2. Verlag Stiftung für Jung’sche Psychologie, Küsnacht 1989.

[12] Kursivsetzungen gemäss Originaltext.

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