“Handlungen, die wie Hebel hin zu mehr Wirklichkeit sind. Wie funktioniert das?” – Was ist Bildung?

“Handlungen, die wie Hebel hin zu mehr Wirklichkeit sind. Wie funktioniert das?”

Vortrag IAC, Zürich am 18. Juni 1997 zur Frage: Was ist Bildung?

 

 

Am 14. April 1997 starb in Bern eine Freundin an den Folgen einer Krebserkrankung. Sie hinterliess einen Abschiedsbrief (mit dem Datum des Todestages), in welchem sie vom Glück ihres erfüllten Lebens schrieb (sie hatte während Jahrzehnten fürs Rote Kreuz gearbeitet), von ihrer Liebe zu ihrem Lebenspartner und von ihrem Kampf gegen die tödliche Krankheit – von einem Leben, das, wie sie festhielt, “lebenswert, spannend, interessant, herausfordernd, manchmal einfach schön, oft auch bitter war, traumatisierte Jahre, aber immer wieder gut und positiv”. An ihre Freunde und Freundinnen gewandt, fügte sie bei, sie sollten “wenn möglich, bewusster, wenn möglich freudiger” sein, um “auch ein kleines Rädchen in der Gesellschaft zu bewegen”.

Der verstorbenen Freundin sind meine heutigen Überlegungen gewidmet. Ihren Rat, “bewusster und freudiger” zu leben, nehme ich zum Anlass, das mir für den heutigen Abend gestellte Thema – die “Bedeutung der Bildung für eine gelingendes Leben” – mit der Tatsache der Flüchtigkeit des menschlichen Lebens zu verknüpfen, aber auch mit dem Bedürfnis, dem May kurz vor ihrem Tod Ausdruck gab, “ein kleines Rädchen in der Gesellschaft zu bewegen”. Ist dies durch ein “bewussteres, freudigeres” Leben, wie sie schreibt, möglich? Was kann Bildung dazu beitragen?

Die Frage verweist unmittelbar auf ein anderes früh verlöschtes Leben:

Am 24. August 1943, mitten im Krieg, starb in einem Sanatorium der englischen Stadt Ashford eine junge Frau, Simone Weil. 34 Jahre alt, Philosophin aus Paris, jüdische Emigrantin, an den Folgen einer durch akute Mangelernährung verursachten Tuberkulose. Sie hinterliess ein Werk, das sich weniger durch theoretische Systematik auszeichnet, als durch eine ergreifende Tiefe der subjektiven Auseinandersetzung mit Fragen der religiösen Erkenntnis, der existentiellen, sozialen und politischen Widersprüche sowie der zwischenmenschlichen Ethik. Sie selbst, trotz ihrer genialen Begabung im Erkennen, trotz ihres enormen Wissens, und trotz ihres glühenden Engagements für die an den Rand gedrängten Unglücklichen, sie selbst konnte diese Widersprüche nicht aushalten, sie zerbrach und zerbrannte daran buchstäblich. Trotzdem war ihr Leben ein zutiefst erfülltes Leben. Dank der Bildung? resp. Was brauchte es zusätzlich zur Bildung? War es jene Kraft des Mitfühlens, des Mitleidens (das “sym-pathein”), die ihrer Kommilitonin an der Sorbonne, Simone de Beauvoir, auffiel? In ihren “Memoiren einer Tochter aus gutem Haus” hielt sie fest, dass eines Tages, als die Nachricht durch die Presse ging, dass in China eine grosse Hungersnot herrsche, Simone Weil in Schluchzen ausgebrochen sei. “Diese Tränen”, schrieb Simone de Beauvoir, “zwangen mir noch mehr Achtung ab als ihre Begabung für Philosophie. Ich beneidete sie um ein Herz, das imstande war, für den ganzen Erdkreis zu schlagen:”

Der Satz, den ich über meine heutigen Ausführungen stelle – “Handlungen, die wie Hebel zu mehr Wirklichkeit sind. Wie funktioniert das?” – , ist Simone Weils “Arbeitsheft 3” vom Frühling 1941 entnommen. (Zwischen dem Exodus aus Paris in die unbesetzte Zone von Marseille im Juni 1940 und der Einschiffung nach Marokko und den USA im August 1941 füllte sie 11 sog. “Cahiers”, “Arbeitshefte”, mit Anmerkungen zu ihrer philosophischen Lektüre, mit Überlegungen und Fragen. Diese Hefte stellen für meine eigene philosophische Arbeit einen unerschöpflichen Fundus an Anregungen dar). Es war also in der Wartezeit zwischen Exodus und Emigration, dass sich Simone Weil mit der Anwendung des physikalischen Hebelgesetzes für Belange des Erkennens, Verstehens – und Handelns befasste. Diese knappen Notizen bilden den Anstoss, die Frage nach dem Wert der Bildung anders zu stellen, oder, wie mir scheint, richtig zu stellen.

Um nicht in die konventionelle Bildungsfalle zu fallen, die sich öffnet, sobald die Frage nach dem Wert der Bildung gestellt wird, setze ich Bildung voraus – Bildung, wie ich sie verstehe: Bildung als Bedürfnis, als das – unstillbare – Bedürfnis zu lernen, sich Wissen anzueignen, dieses an der Erfahrung zu messen, wieder zu verwerfen, zu erweitern, es anzuwenden in spezifischen wie in allgemeinen Belangen, um festzustellen, dass mit dem Lernen wieder neu zu beginnen ist, unabschliessbar. So verstehe ich “Bildung” als Weg des Bewusstwerdens des Ungenügens im Erkennen und Wissen, resp. als Weg, der an Grenzen führt, die zu verschieben, auszudehnen, wenn nicht zu überschreiten jedoch ständiger Ansporn ist. Bildung weist somit über die Bildung hinaus auf das gelebte Leben, weist über das eigene Ich hinaus auf die Beziehung zu den anderen Menschen und zur Welt. Bildung ohne diese Verweisungen, ohne dass sie in den gelebten Beziehungen auf die Probe gestellt wird, ist nichts wie eine Summierung von Wissen. Dies ist meine Ausgangsthese, der entlang ich den konventionellen Bildungsbegriff zwar dekonstruieren werde, jedoch auch erläutern werde, wie Bildung zugleich zur Voraussetzung für ein gelingendes Leben werden kann.

Um welche Notizen Simone Weils handelt es sich? In drei Schritten hielt die damals 32jährige Philosophin fest: “Begriff des Hebels auf das innere Leben angewandt (dem Begriff der Energie entsprechend). – Wenn kein Hebel da ist, verändert man auf der gleichen Ebene, anstatt in Richtung auf einen grösseren Wert umzugestalten. Hebel und Blindenstock[1].” Etwas weiter: “Zusätzliche (ausserhalb der lebenswichtigen) und unstete Energie, Schlüssel zum menschlichen Leben. (Wenn man will, kann man sie als sexuelle bezeichnen). (…) Verhältnis zum Gegenstand. Hebel. Wie verlagert man sie?[2] Dann, wiederum zwei Seiten weiter: “Selber durch seine Handlungen einen Schirm (einen weiteren Schirm) zwischen sich und der Wirklichkeit schaffen. Wie funktioniert das? – Oder, im Gegenteil, Handlungen, die wie Hebel zu mehr Wirklichkeit sind. Wie funktioniert das?[3] (Zu ergänzen ist, dass sie an einer anderen Stelle in den “Cahiers” Freude als “Gefühl für die Wirklichkeit”, Traurigkeit als “Mangel an Wirklichkeit” definiert).

Zum Hebel: Simone Weil bedient sich eines Vergleichs aus dem Bereich der Physik, um dem Geheimnis der qualitativen Veränderung durch Erkenntnis auf die Spur zu kommen. Da, wo es sich um den Einsatz von physikalischer Energie, von Kraft handelt, kommt dank dem Hebel eine Übersetzung und vielfache Steigerung der Wirkung zustande, ohne dass der Aufwand vergrössert werden müsste. Die Frage ist, ob dieses Gesetz auf den Bereich der geistigen Energie übertragbar sei. Simone Weil stellt fest, dass, solange Wissen an Wissen addiert wird, d.h. solange “kein Hebel da ist”, Veränderungen höchstens linear, “auf der gleichen Ebene”, erfolgen, im Sinn einer Summierung von Wissen, dass jedoch kein Mehrwert entsteht, durch den eine qualitative, eine exponentielle Veränderung und dadurch etwas Neues entstände. Sie überlegt sich, welche Form der Energie diese Hebelwirkung auslösen könnte. Ist es jene “zusätzliche, unstete Energie”, fragt sie sich, die den “Schlüssel zum menschlichen Leben” darstellt, die, wie sie einräumt, als “sexuelle Energie” bezeichnet werden kann? (Interessant ist, dass sie sich hier nicht fürchtet, diese Kraft so zu benennen, nachdem sie ihre eigene Geschlechtlichkeit, ihre Weiblichkeit, ebenso in Bann gehalten hat wie ihr Judentum. Diese – angstbesetzten – Verweigerungen im Zusammenhang mit ihrer tödlichen Anorexie zu untersuchen, ist hier jedoch nicht der Ort). Wenn sie also unter der “zusätzlichen, unsteten Energie” die Kraft des Verlangens versteht, des Verlangens nach grösstmöglicher Nähe zum Gegenstand des Verlangens, eventuell des Verlangens nach Neuschöpfung (Prokreation), so bedeutet die Veränderung des” Verhältnisses zum Gegenstand”, die sie knapp erwähnt, das, was bei Freud “Sublimation” heisst. Sublimation bedeutet tatsächlich Verlagerung auf eine andere Ebene, in einen anderen Bereich, ohne dass die Energie ihre eigentümliche, auf Erfüllung ausgerichete Zielstrebigkeit verlöre. Anstelle der biologischen Prokreation tritt ein Werk der Innerlichkeit (bei Simone Weil die “décréation”, die “Entschöpfung”) – das zugleich nach Aussen wirkt. Das mag vieles sein – Erkenntnis, ein künstlerisches Werk, ein politisches oder soziales Engagement. Was es auch sei, es bedarf, damit es gelingt, dazu immer der qualitativen Veränderung, resp. der Verlagerung des ursprünglichen Verlangens – des schöpferischen Willens, des Wissensdurstes ebenso wie des Handlungsbedürfnisses – auf eine andere Ebene

Diese Verlagerung bedeutet Verzicht auf unmittelbare, schnelle Befriedigung, bedeutet aber zugleich, in den Worten Simone Weils, “mehr Wirklichkeit”, psychoanalytisch gesprochen den Schritt vom Unbewussten ins Bewusstsein. Interessanterweise überlistet sich Simone Weil dabei selber. Einerseits hegt sie Freud und der Psychoanalyse gegenüber grösste Skepsis, wie sie mehrfach in ihren “Cahiers” festhält. In der eben zitierten Stelle aber stellt sie die “Handlungen, die wie Hebel zu mehrWirklichket sind” jenen entgegen, die “einen Schirm (einen weiteren Schirm) zwischen sich und der Wirklichkeit schaffen”. Das Unbewusste hat tatsächlich eine Schirmfunktion, d.h. es stellt mehrere Schichten eines Schirms dem Ich zur Verfügung und stimuliert zu Handlungen, die kompensatorischen, verhüllenden, hemmenden oder abwehrenden Charakter haben, die in grosse Unruhe oder in bleierne Lähmung stürzen etc. Eben diese Zustände sind der “Schirm”, den Simone Weil meint. Der Schirm kann jedoch so dicht und undurchdringlich werden, dass er zur Kapsel wird und zur Abkapselung führt. Obwohl der Verzicht auf den “Schirm” zumeist Leiden bedeutet, kann allein so Wirklichkeit erfahren werden. Das Gefühl der Wirklichkeit aber vermittelt Freude, während die abgewehrte Wirklichkeit zu einem quälenden Gefühl der Traurigkeit führt. Dies stellte Simone Weil in einer Notiz in ihren “Cahiers” fest. Unabhängig von Simone Weil kam May Beck angesichts der Tatsache der nicht mehr heilbaren Krankheit und des Bewusstseins, unmittelbar an der Schwelle des Todes zu stehen, zum gleichen Schluss: für ihre Freunde und Freundinnen hielt sie fest, dass das Leben für sie “lebenswert war, manchmal einfach schön, manchmal bitter und traumatisierend, jedoch immer wieder gut und positiv” war.

Bildung allein bedeutet keine Garantie für ein gelingendes Leben. Unter den Menschenschindern und den Schreibtischmördern der Nazizeit gab es zum Teil hochgebildete Menschen, und auch heute finden sich unter den kalten Bürokraten, die ungerührt Menschen in materieller, psychischer oder rechtlicher Not drangsalieren und demütigen, nicht selten Hochschulabgänger und -abgängerinnen. Auch in privaten Beziehungen leiden Menschen häufiger unter emotionaler Kälte, unter Zynismus und Gewalt als unter Bildungsmangel im konventionellen Sinn. Gegen die Versteinerung der Herzen kann Bildung nichts ausrichten. Genügt somit die Hebelwirkung, resp. die Verlagerung der Energie, durch welche das “Verhältnis zum Gegenstand” verändert wird, nicht? Interessanterweise erwähnt Simone Weil im ersten zitierten Eintrag vom Frühling 1941 neben dem Hebel den Blindenstab.

Wozu dient der Blindenstab den Blinden? Wofür steht er als Metapher? Den Blinden dient er als Mittel, um Distanz und Nähe abzuschätzen, um einen Gegenstand, der sich auf dem Weg dem/der Gehenden als Hindernis entgegenstellt, rechtzeitig wahrzunehmen, um ev. Grösse, Festigkeit, Härte oder Weichheit des Gegenstandes zu erahnen. Der Blindenstab taucht bei Simone Weil in allen “Cahiers” als erkenntnistheoretische Metapher immer wieder auf, nicht aus eigener Erfindung, sondern als Anleihe aus den “Meditationen” von René Descarte (der, etwa gleichzeitig mit Spinoza, nach Montaigne und vor Kant, als einer der grossen Skeptiker die unumstösslichen Wahrheitsgebäude der Schulphilosophie zu befragen und zu dekonstruieren begonnen hat). Für Descartes – wie über 400 Jahres später für Simone Weil -, braucht der Mensch, der sich auf den Weg der Erkenntnis macht, zur Unterscheidung von Wahrem und Falschem einen “Blindenstab”. Dies ist die Vorstellungskraft (“imagination”), die letztlich eine ganz nahe, unbegriffliche Erkenntnis ermöglicht, eine intuitive Erkenntnis, die Verstehen bedeutet. Die Vorstellungskraft vermag, das – sonst blinde – Erkennen “sehend” zu machen.

Was Simone de Beauvoir bei Simone Weil bewunderte, die Kraft der Empathie (oder, mit einem Weil’schen Ausdruck, des “sym-pathein”), d.h. jene Kraft, die sie befähigte, trotz grösster Distanz den Hunger und das Leiden von Menschen so mitzufühlen, dass sie in Erschütterung und Trauer verfiel, oder die sie befähigte, ihre Lehrstelle für Philosophie aufzugeben und das Los der Fliessbandarbeiterinnen zu teilen, dieses “sym-pathein” ist als die schonungslose, “schirmlose”, aber sorgfältige und zugleich intensive Wirkung des inneren “Blindenstabs” zu verstehen, jenes mitfühlenden, nahen Spürens und Verstehens, das z.B. im psychoanalytischen Prozess vom Analytiker/von der Analytikerin gefordert ist, damit beim Klienten/bei der Klientin der Schritt vom Unbewussten ins Bewusstsein möglich wird, damit dieser Schritt nicht ängstigt und nicht sofort wieder – mit einem “Schirm” – abgewehrt wird.

Dieses – sorgfältige, achtsame, vielleicht sogar untrügliche – Verstehen setzt den Verzicht auf vorgefasste, eigenwillige, resp. mit eigenen Gefühlen bepackte Deutung voraus, auf “lecture”, wie es bei Simone Weil heisst. Der Verzicht auf “lecture” bedeutet Zurücknahme des erkennenden Subjekts dem Objekt des Erkennens gegenüber, bedeutet Verzicht auf Übertragung der eigenen Gefühle und Vorstellungen auf das Objekt des Erkennens, d.h. Verzicht auf Bemächtigung des Objekts, damit Verzicht auf jegliches Verlangen dem Objekt gegenüber – auch hier ein Vorgang der Sublimation. Dieser Vorgang lässt das Objekt des Erkennens selber zum Subjekt werden, versetzt es in seine ihm eigene Würde und Freiheit, so dass sich ein subjektparitätisches, dialogisches Verhältnis konstituieren kann. Damit dies geschieht, müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Worin bestehen diese? Simone Weil spricht von “foi, justice, sens de juste disposition intérieure[4]“, d.h. von “Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit, Sinn für innere Geneigtheit”, worunter sie jenen “juste rapport de manifestation propre à chaque apparence[5]” versteht, nämlich das richtige Verhältnis zu dem, was sich, indem es erscheint, offenbart, d.h. sich unverhüllt, “ungeschirmt” zeigt. Diese “innere Geneigtheit”, diese “Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit” sind somit die ethische Voraussetzung im Prozess des Erkennens, der jenes “sym-pathein” entstehen lässt, das wiederum Indifferenz und unbedenkliches Handeln unmöglich macht, und so, gleichzeitig, zu einem Prozess des wirklichen Gesprächs wird. Es ist dieses Gespräch, denke ich, das vermag, ein “Rädchen in der Gesellschaft zu verändern”.

Was hat all dies mit Bildung zu tun, mögen Sie fragen. Ich denke, dass es viel Bildung braucht, um Bildung vergessen zu können. Dass es viel Bildung braucht, um das Ich von jeglicher Ein-Bildung zu lösen und um es zu einer Funktion im Gespräch werden zu lassen: zu einer Funktion des Verstehens und damit der Offenheit für mehr “Wirklichkeit”, die eben nicht nur dem verstehenden Ich zuteil wird, sondern zugleich jedem anderen Menschen, der ins Gespräch einbezogen ist und der in dieser Weise auch wieder befähigt wird, zu verstehen und das Gespräch weiterzuführen. Könnte so, in der Konsequenz des Hebelgesetzes, eine Kultur der Solidarität entstehen?

Ich will kurz erläutern, was ich darunter verstehe: Unter den nachgelassenen Fragmenten Hannah Arendts findet sich eine Schlussbemerkung zu einer Vorlesung, die sie im Frühjahr 1955 an der Universität von Berkeley hielt. Sie gibt darin ihrer Klage über das “Anwachsen von Weltlosigkeit” Ausdruck, über die “sich ausbreitende Wüste in der Welt”. Beides, “Wüste” und “Weltlosigkeit”, sind Metaphern für die Bedrohung des Zusammenlebens der Menschen durch Gewalt, durch jede Form von Gewalt, physische und verbale Gewalt, bürokratische, strukturelle und wirtschaftliche Gewalt, Metaphern für die Bedrohung jener Räume des Zusammenlebens, die, gemäss Hannah Arendt, das verbindliche “Bezugsgeflecht” (das inter esse), resp. “Welthaftigkeit” bedeuten. Diese Räume des Zusammenlebens sind grösser als der Interessenbereich des Privaten, grösser als der Bereich der eigenen unmittelbaren Bedürfnisse, Interessen und Rechte, sie gewähren und garantieren den Respekt für die Bedürfnisse und Rechte auch der anderen Menschen, für die Entfaltung deren Verschiedenheit. Sie setzen gegenseitige, wechselseitige Aufmerksamkeit und Behutsamkeit voraus und tragen dazu zur Verhinderung von Gewalt, von Grausamkeit, von Ausgrenzung und Leiden bei. Der Ausschluss von Menschen aus dem Zusammenleben – durch Armut und Arbeitslosigkeit, durch Xenophobie und Rassismus, durch Verachtung wegen mangelnder Effizienz (resp. Markttauglichkeit) etwa bei Menschen mit körperlichen Behinderungen, bei kranken und alten Menschen, bei Kindern (die immer noch vor allem als Objekte, über die verfügt wird, und kaum als eigene Rechtssubjekte anerkannt werden) – all dies ist unvereinbar mit dem, was ich als Kultur der Solidarität verstehe und was Hannah Arendt “Welthaftigkeit” nennt.

Die tatsächlichen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse, in denen wir leben und für deren Mitgestaltung wir mitverantwortlich sind, muten allerdings im Vergleich zur Vorstellung einer Kultur der Solidarität wie ein Hohn an. Steuerflucht und Steuerbegünstigung der Reichen, Kürzung der öffentlichen Budgets für Erziehung und Bildung, für die Integration von Ausländerinnen und Ausländern, eine immer restriktivere Asyl- und Flüchtlingspolitik, eine zunehmende Resignation und/oder Radikalisierungsbereitschaft unter einem Teil der Jugend wie der Erwachsenen, für welche keine Erwerbsarbeit und damit kein nützlicher Platz in diesem Land mehr offensteht – kurz, eine wachsende Entsolidarisierung und soziale Polarisierung bewirken immer weniger “Wirklichkeit” (im Sinne Simone Weils) für immer mehr Menschen.

Die Frage stellt sich, ob Bildung in der vorher erwogenen Bedeutung, ob die Erprobung von Bildung als zwischenmenschliche Ethik zu einer politischen Ethik führen könnte, gemäss welcher jene politischen und wirtschaftlichen Entscheide, die alle treffen, die zusammenleben, resp. die im gesellschaftlichen Sinn in irgend einer Weise untereinander im Gespräch sind, nach den Folgen bedacht werden, die diese Entscheide für die schwächsten Stimmen im Gespräch, für die fast unhörbaren bedeuten – für die Kinder, für die Fremden, für diejenigen, die in materiellen oder in psychischen Existenznöten leben? Könnte dies eventuell sogar mehr, wie “ein Rädchen in der Gesellschaft bewegen”? Könnte dies, um die Frage des IAC abschliessend an Sie zu stellen, der Beitrag der Bildung zu einem “gelingenden Leben” sein, in der Gesellschaft und in der Welt von heute?

 

[1] S.W. Cahiers. Aufzeichnungen. Erster Band., Carl Hanser Verlag, München/Wien 1994, S. 212

[2] a.a.O. S. 213

[3] a.a.O. S.215

[4] S.W. Cahiers II, nouvelle édition, Plon, Paris 1972, S.204

[5] a.a.O, édition 1972, S.108

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