Staat – Individuum – Markt: Soziale Arbeit im Dilemma?

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Staat – Individuum – Markt: Soziale Arbeit im Dilemma?

Eröffnungsfeier der Fachhochschule für Soziale Arbeit beider Basel 14. August 2000

 

In den vergangenen Jahren erleben wir, wie Abertausende von Menschen durch propagandageschürte Gewalt aus ihren Häusern und aus ihren Ländern hinausgetrieben werden – aus Bosnien, aus Ruanda, aus Kosova -, als wären sie Insekten. Erschöpft und verängstigt gelangen sie schliesslich in angrenzende und in weitere Länder, in denen sie hoffen, zur Ruhe zu kommen, aus denen sie jedoch nach einiger Zeit erneut ausgewiesen und zurückgeschickt werden, ob sie dazu in der Lage seien oder nicht. Als der Bundesrat im 1998 auch die letzten Gruppen bosnischer Jugendlicher sowie alleinerziehender Frauen und Kinder auswies, wehrten sich diese gegen die „erneute Deportation“, wie sie schrieben, und begründeten ihren Widerstand mit dem Grundrecht auf Würde. Sie wollten nicht länger Objekte machtpolitischer Fremdbestimmung sein, sondern ihr Leben und das ihrer Kinder nach Massgabe ihrer grundlegenden Bedürfnisse selber gestalten.

In der selben Zeit wurden grössere und kleinere Unternehmen rationalisiert, fusioniert und restrukturiert, selten infolge tatsächlicher wirtschaftlicher Notlagen, zumeist zum Zweck einer maximalen Steigerung des shareholder-Mehrwerts sowie einer maximalen Verringerung der sog. Humankosten. Zu Abertausenden wurden Menschen entlassen, für überflüssig und für unnütz erklärt, ausgegrenzt – wie störendes Material. Viele von ihnen wehren sich gegen die Massnahmen, selbst wenn ihnen Geldentschädigungen bezahlt werden, sie empfinden die Entlassungen als unerträglich. Andere haben keine Kraft, sich zu wehren,sie verlieren ihre psychische kraft und sind in zunehmendem Mass von Sozialhilfe abhängig. Doch der Sozialstaat wird zunehmend eingeschränkt, die Sozialmittel werden in allen Bereichen gekürzt, die gesellschaftliche Entsolidarisierung nimmt zu, den „Nicht-Erfolgreichen“  gegenüber, den „Schwierigen“, den Ausländerinnen und Ausländern, insbesondere den rechtlosen Flüchtlingen  gegenüber. Der Neoliberalismus hat zu einer extremen Spaltung zwischen reichen und ausgegrenzten, „überflüssigen“ Menschen geführt, gleichzeitig zu einem perspektivelosen, zugleich aber rassistischen Anpassungsdruck.

Es handelt sich dabei um mehr als um eine subjektive Empfindung der Unerträglichkeit, es handelt sich um eine gefährliche gesellschaftspolitische Entwicklung. Die Verletzung eines grundlegenden ethischen Gebots, das Kant ausformuliert hat, liegt dieser Entwicklung zugrunde. Der sog. „praktische Imperativ“ hält fest, dass die „Menschheit in jedem Menschen“, resp. die „vernünftige Natur Zweck an sich selbst ist“ und höchsten Respekt verlangt. Daraus folgt, dass kein Mensch zu einem ihm fremden Zweck missbraucht werden darf – weder zu Gewinnmaximierungszwecken noch zu politischen Zwecken.

Im „Praktischen Imperativ“ besteht auch der ethische Kern von Marx’s früher Kapitalismuskritik. Es geht Marx um die Kritik der „Verknechtung“ oder „Versklavung“ der Menschen unter das Produkt der Arbeit, unter die Ware und den Warengewinn, damit um die Gleichsetzung des Menschen mit seinen Produktivkräften und dessen Entwertung bei Minderung oder Schwächung dieser Kräfte. „Innerhalb des kapitalistischen Systems vollziehen sich alle Methoden zur Steigerung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit auf Kosten des individuellen Arbeiters; alle Mittel zur Entwicklung der Produktion schlagen um in Beherrschungs- und Exploitationsmittel des Produzenten, verstümmeln den Arbeiter zum Teilmenschen, entwürdigen ihn zum Anhängsel der Maschine“… heisst es im „Kapital“ (was allerdings auch im marxistischen Totalitarismus nicht respektiert wurde).

Was für die Industrialisierung in der ersten Blüte des Kapitalismus galt, gilt in vermehrtem Mass für die Digitalisierung in der heutigen Zeit der uneingeschränkten Herrschaft der Finanzmärkte: Menschen werden allein nach deren Massgabe für wertlos, oder für nützlich und brauchbar erklärt. In dieser Instrumentalisierung liegt nicht nur die Unerträglichkeit der persönlichen Kränkung, sondern auch der ethische Skandal.

„Menschliche Würde“, wie sie in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ von 1948 als Grundrecht, unabhängig von Herkunft, Schicht, Hautfarbe, Geschlecht, Alter, Nationalität und was es weiter an Eigenschaften gibt, deklariert wird, als Grundrecht aller Menschen und nicht als Privileg einiger weniger, bedeutet dies: nicht missbraucht werden dürfen. Die entsetzliche Steigerung menschlichen Missbrauchs, menschlicher Entwertung und Wertloserklärung durch den Nationalsozialismus hat nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs diese Grundrechtedeklaration nötig gemacht, damit die Welt wieder für Menschen und durch Menschen bewohnbar werden konnte. Sie war zur „Wüste“ geworden, wie Hannah Arendt schrieb, nicht nur in materieller, sondern auch in moralischer Hinsicht.  Doch die Welt wurde seither nicht besser, Kriege und Ausbeutungsverhältnisse, Waffengewalt und Menschengewalt verringerten sich nicht, im Gegenteil.

Was sich verändert hat, ist das Bewusstsein des Unrechts. Hierin liegt ein Grund zur Hoffnung. Überall in der Welt entstehen Bewegungen gegen das Unrecht menschlicher Entwürdigung, überall vernetzen sich Menschen und kämpfen dafür, dass andere Menschen nicht als austauschbare oder wertlose Ware gehandelt, versorgt und entsorgt werden, sondern als Menschen in der ganzen Breite der Verschiedenheit, in gleicher Würde leben dürfen. Diese Vernetzungen zu stärken, macht Sinn.

 

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