BAG LADY – Marion Lindt in einem Stück von Mark Jarvis

BAG LADY

Marion Lindt in einem Stück von Mark Jarvis

Regie: Rosalinde Renn  Regieassistenz: Eva-Maria Adam

Theater an der Winkelwiese

 

Existenzphilosophie auf der Bühne

“Sich fallen lassen. Es ist leichter, als Sie denken, leichter als denken. Ein Schritt hinaus: ein frischer Wind streift über die Haut, er bläst das Gewicht aus Ihnen heraus. Noch ein Schritt: Sie fallen, rundum das Blau, die Erde so tief, als gäbe es nur noch den Himmel. Aber sie fallen bodenlos tief. Kopfvoran stürzen Sie und fangen sich nicht mehr auf. Angst vor dem Aufprall, Angst vor dem Schmerz, und schneller als sie denken, prallen Sie auf. Bag Lady”.

Wann fängt es an, dass man sich fallen lässt? Wann wird die Freiheit zur Falle?  Das Publikum erfährt es nicht, das Stück hat keinen Anfang: Scala, die Schauspielerin, die zur Bag Lady wurde, zählt die Tüten und ist mitten am Erinnern und Erzählen, wie das Publikum sich zu ihr gesellt. Wie kam es, dass sie “kopfvoran stürzte“? Wie weit entscheidet man selbst, wer man ist, und wie weit wird man “gemacht”? Und wann beginnen diese Machenschaften, Manipulationen, Rollenspiele und Verwandlungen? Schon in der Kindheit? War die Kindheit schrecklich oder süss? Welche Erinnerung ist richtig, welche ist falsch, oder ist die Erinnerung einfach jene “Hoffnung, die jeder und jede in sich trägt“, wie Scala für sich feststellt?

Wo sind die Menschen, die man liebte? Was bleibt vom vergangenen Erfolg? Letztlich nur der eigene Name, der nicht abgelegt wird wie die wechselnden Rollen? Scala? Scala als gefeierte “Pippa” und Scala als “gefallene” Bag Lady sind dieselbe Scala. Vieles kommt abhanden, vieles wird geklaut oder man wird seiner überdrüssig: am Schluss bleibt nichts wie die Intensität des gelebten Lebens, das über die Sprache Konturen gewinnt, starke, fliessende, zugleich erkennbare und verwischte.

Packend und präzise, in beispielhafter Dichte spielt Marion Lindt die Verwandlungen der Scala – ein grossartiges Spiel, Existenzphilosophie auf der Bühne: die schauspielerische Umsetzung jener so verfänglichen individuellen Anarchie, die in die Einsamkeit führt, dabei über die Sprache sich einflicht in die individuellen Geschichten, in die Träume und geheimen Albträume des Publikums. Gebannt folgt es dem Spiel von Absturz und Hoffnung, um gewahr zu werden, wie gross die gegenseitige Nähe beider ist, und wie sehr die Freiheit, jenen “Schritt hinaus” zu tun, zugleich anzieht und ängstigt.

 

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