Ein Plädoyer für das Gewährenlassen des Unvollkommenen – Zur Ausstellung “Anne Frank und wir”

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Ein Plädoyer für das Gewährenlassen des Unvollkommenen

Zur Ausstellung “Anne Frank und wir”

 

Vor einigen Wochen erfuhr ich, dass eine Gruppe bosnischer Flüchtlinge – eine Familie mit Kindern -, an der Grenze in Chiasso durch Grenzbeamte zurückgewiesen worden seien. Ich wurde gefragt, ob ich wüsste, wohin sie gehen, wo sie leben sollten. Einer sogenannt “ethnisch zu säubernden” Volksgruppe angehörend,  waren sie aus ihrem Haus durch bewaffnete Soldaten und Nachbarn vertrieben worden. Das Haus wurde sofort durch weitere Nachbarn beschlagnahmt. Es mutet schon wie ein Wunder an, dass es ihnen gelang, beisammen zu bleiben, durch das Kriegsgebiet hindurchzukommen, sich nach Kroatien, dann nach Italien zu retten, von wo sie versuchten, auf legale Weise in die Schweiz zu gelangen Hier arbeiten und leben seit Jahrzehnten Verwandte. Der Versuch gelang nicht, auch ein zweitesmal wurden die Flüchtlinge zurückgewiesen. Ein “passeur” führte sie in der Folge auf einem Bergpfad über die Grenze. Einige Zeit lebten sie versteckt, als Illegale, in einem Wochenendhaus von Bekannten der Verwandten, die sie auch mit dem Nötigsten versorgten, in vorläufiger Sicherheit, aber in krankmachender Abhängigkeit und Abgeschlossenheit, immer mit dem Gefühl, völlig rechtlos zu sein, mit der Angst, entdeckt und abgeschoben zu werden. Sie meldeten sich schliesslich bei der Fremdenpolizei, um der Angst ein Ende zu setzen.

Eine Geschichte von heute, von hier. Nicht gleichzusetzen der Situation der von Erschiessung und von Deportation in die nationalsozialistischen Vernichtungslager bedrohten Familie Frank und der mit ihr untergetauchten Leidensgenossen in Amsterdam, nicht gleichzusetzen der beklemmenden Eingeschlossenheit der jüdischen Verfolgten unter den unsäglichen Bedingungen des Kriegs, der Bombenangriffe, des Hungers und der ständigen Angst vor Verrat, nicht gleichzusetzen der Erfahrung tiefster individueller und kollektiver Verhöhnung und Enwertung, mit dem Leiden von Millionen von Menschen, denen durch andere Menschen das Menschsein abgesprochen wurde. Nach zwei Jahren illegaler Existenz im Hinterhaus an der Prinsengracht 263 hielt Anne Frank am 11. April 1944, nachdem die Eingeschlossenen eben einer unmittelbaren Gefahr, entdeckt zu werden, entgangen waren, in ihrem Tagebuch fest: “Wir sind sehr stark daran erinnert worden, dass wir gefesselte Juden sind, gefesselt an einen Fleck, ohne Rechte, aber mit Tausenden von Pflichten. (…) Einmal wird dieser schreckliche Krieg doch vorbeigehen, einmal werden wir doch wieder Menschen und nicht nur Juden sein! Wer hat uns das auferlegt? Wer hat uns Juden zu einer Ausnahme unter allen Völkern gemacht? Wer hat uns so leiden lassen?”[1]

Anne Frank stellt die Frage Hiobs, die Frage all jener, die nicht lediglich unter den natürlichen Konditionen menschlicher Existenz – Krankheit, Sterben und Tod – leiden, sondern unter den Folgen menschlichen Handelns – menschlicher Niedertracht und menschlicher Tüchtigkeit. Kein Leiden ist einem anderen Leiden gleichzusetzen, doch was nicht gleichgesetzt werden kann, ist trotzdem vergleichbar. Auch die Frage nach dem Warum wird immer wieder neu gestellt. Ich will probieren, einer Antwort näherzukommen, die erlaubt, für Ungleiches nach dem Vergleichbaren zu suchen, d.h. nach Erklärungsmöglichkeiten, die zugleich der Besonderheit des nationalsozialistischen Antisemitismus wie den heutigen ethnischen Säuberungen im Jugoslawienkrieg wie den latenten und offenen Rassismen und  Überfremdungstheorien bei uns, den pauschalen Ausschaffungslegitimationen und anderen kaltblütigen Effizienzen gerecht werden: Annäherung an eine Antwort, die es erlaubt, anschliessend auf spezifische Weise weiterzufragen. Daher sollen nicht erneut die historischen und soziologischen Gründe für das Zustandekommen von Antijudaismus und Antisemitismus erfragt, noch soll das Versagen der Aufklärung generell thematisiert werden. Das Augenmerk gilt den Motiven der Handelnden. Denn keine noch so menschenverachtende Ideologie kann Erfolg haben, wenn nicht Menschen sie zum Massstab ihres Handelns machen, wenn nicht die ideologischen Vorgaben ins Verhalten einzelner Menschen als Tugenden, als Bürgertugenden integriert werden. Ich möchte daher zuerst bestimmte Bürgertugenden zum Thema meiner Überlegungen machen.

Theodor Adornos “Studien zum autoritären Charakter”, bald nach Kriegsende als Auswertung einer grossen Anzahl von Befragungen publiziert, weisen nach, dass bei Menschen, die offen rassistisch und antisemitisch handeln, ein Potential an Wünschen, Bedürfnissen und gefühlsmässigen Impulsen vorhanden ist, das zwar  Resultat persönlicher Prägungen und eigener sozialer Erfahrungen ist, das sich jedoch bei aller individuellen Verschiedenheit auf ähnliche Weise äussert. Es äussert sich in erster Linie als Anlehnungsbedüfnis an einfache dualistische Strukturen von Gut und Böse, von Freund und Feind, auch von Befehlenden und Gehorchenden, äussert sich damit als Einordnungs- und Unterordnungsbedürfnis in und unter autoritäre Strukturen. Diese Strukturen bieten den Vorteil, für das individuelle Handeln, selbst für primitive Triebhandlungen und für mitleidlose Grausamkeit eine Art Legitimationsfolie liefern zu können, welche die  Gewissensfunktion ersetzt. Adorno belegt mit seinen Studien, dass diesem Anlehnungsbedürfnis an Autorität nicht zuletzt Kompensationsbedürfnisse für Frustrationen und für Minderwertigkeitserfahrungen zugrundeliegen, die gekoppelt sind mit – häufig unbewussten  – Rachebedürfnissen, für deren Erfüllung stellvertretend Sündenböcke herhalten müssen. Hannah Arendt stellte 1960 im Rahmen des Prozesses gegen Adolf Eichmann fest, in welchem Mass sich diese Erkenntnisse bewahrheiteten. Sie kam zum Schluss, dass Eichmann, dieser wegen seiner tadellosen Amtsführung zu höchster Verantwortung aufgestiegene perfekte Organisator der Massentransporte in die Vernichtungslager, kein besonderer “Abenteurer oder Zyniker oder Nihilist” gewesen sei, dass sich “sein Gewissen umso leichter beruhigen konnte als er ja sah, mit welcher Befliessenheit und mit welchem Eifer die ‘gute Gesellschaft’ allenthalben genauso reagierte wie er. Er brauchte nicht, wie es im Urteil hiess, ‘sein Ohr der Stimme des Gewissens zu verschliessen’; nicht, weil er keines gehabt hätte, sondern weil die Stimme des Gewissens in ihm genauso sprach wie die Gesellschaft , die ihn umgab”[2]. Auf Grund dieser Einsicht kam Hannah Arendt dazu, von der “Banalität des Bösen” zu sprechen. Die “gute Gesellschaft” – vielleicht nicht einmal Hitler selbst – war für Adolf Eichmann und für viele der zudienenden und ausführenden Einzelnen im grossen Getriebe der so gut funktionierenden Entrechtungs- und Vernichtungsstruktur die Autorität, deren Normen genügten, um das Handeln zu rechtfertigen. Dieses bedurfte daher keiner weiteren Prüfung, und sei es nur vor dem inneren Spiegel der Vorstellungskraft, in welchem der lebendige, angstgepeinigte Blick der “Juden”, die aus Wohnungen und Kellern geprügelt, in Waggons gepfercht, auf Rampen gejagt, mit Nummern tätowiert, durch Schläge oder Gas oder Hunger oder Gewehrkugeln getötet, als Blick von Menschen erkannt und wiedererkannt worden wäre, von Menschen nicht anders als der oder als die sich Befragende selber  – was ja zwingend zum inneren Verbot des Handelns im Sinn der Gesellschaft hätte führen müssen. Denn in diesem Spiegel wäre der Schutz des gleichen Menschseins – und nicht dessen Verhöhnung und Preisgabe oder gar die Vernichtung – gefordert gewesen.

Adornos “Studien” finden eine aufrüttelnde Ergänzung in Walter Benjamins Reflexionen zum “Destruktiven Charakter”, einem kurzen Text des nach Paris geflohene Denkers[3]. Wenn gemäss Adorno Bürgertugenden wie Zuverlässigkeit in der Amtsführung, Unauffälligkeit in der Gesetzesbefolgung, emotionslose und widerspruchslose Durchführung von Befehlen näher befragt werden müssen, insofern sie immer zugleich auch Ausdruck defizienter Mündigkeit sein können, nimmt Walter Benjamin den Ordnungs- und Sauberkeitswahn unter die Lupe. Ich will einige seiner Feststellungen im Wortlaut zitieren: “Der destruktive Charakter kennt nur eine Parole: Platz schaffen; nur eine Tätigkeit: räumen. Sein Bedürfnis nach frischer Luft und freiem Raum ist stärker als jeder Hass. – Der destruktive Charakter ist jung und heiter. Denn Zerstören verjüngt, weil es die Spuren unseres eigenen Alters aus dem Weg räumt; es heitert auf, weil jedes Wegschaffen dem Zerstörenden eine vollkommene Reduktion (…)  seines eigenen Zustandes bedeutet. Zu solchem apollinischen Zerstörerbilde führt erst recht die Einsicht, wie ungheuer sich die Welt vereinfacht, wenn sie auf ihre Zerstörungswürdigkeit geprüft wird. (…) Das ist ein Anblick, der dem destruktiven Charakter ein Schauspiel tiefster Harmonie verschafft. – Dem destruktiven Charakter schwebt kein Bild vor. Er hat wenig Bedürfnisse, und das wäre sein geringstes: zu wissen, was an Stelle des Zerstörten tritt. Zunächst, für einen Augenblick zumindest, der leere Raum, der Platz, wo das Ding gestanden, das Opfer gelebt hat. Es wird sich schon einer finden, der ihn braucht (…) – Der destruktive Charakter tut seine Arbeit, er vermeidet nur schöpferische. So wie der Schöpfer Einsamkeit sich sucht, muss der Zerstörende fortdauernd sich mit Leuten, mit Zeugen seiner Wirksamkeit umgeben. (….) – Der destruktive Charakter verwischt sogar die Spuren der Zerstörung. – Der destruktive Charakter steht in der Front der Traditionalisten. Einige überliefern die Dinge, indem sie sie unantastbar machen und konservieren, andere die Situationen, indem sie  sie handlich machen und liquidieren. Diese nennt man die Destruktiven. – Der destruktive Charakter hat das Bewusstsein des historischen Menschen, dessen Grundaffekt ein unbezwingbares Misstrauen in den Gang der Dinge und die Bereitwilligkeit ist, mit der er jederzeit davon Notiz nimmt, dass alles schief gehen kann. Daher ist der destruktive Charakter die Zuverlässigkeit selbst”.

Klingt dies nicht auf erschreckende Weise vertraut? Finden nicht auch bei uns Menschen mit sogenannt “hoher Durchschlagskraft”, mit “kompromissloser Effizienz” im “Räumen” und im “Entfernen” von “Störfaktoren” und “Störenfrieden” breiteste Anerkennung und Zustimmung? – gehören sie nicht zum Kern der “guten Gesellschaft”, da sie ja für eine “saubere” Stadt, für eine “saubere” Schweiz, für “Ruhe und Ordnung” sorgen? – ob es um die Entfernung der Drogensüchtigen, um die Ausschaffung von Fahrenden oder von sogenannten “illegalen” Asylsuchenden gehe, ob um die Internierung verdächtiger, eventuell andersfarbiger, andersgläubiger, eventuell krimineller Ausländer oder um die Internierung auffälliger und störender “Spinner”, ob um die Ausschaltung überflüssig gewordener Arbeiter und Arbeiterinnen, ob um die Verhinderung der Pflege von aufwendig zu betreuenden, schwer behinderten Kindern oder um die Ghettoisierung der alten Menschen? Werden nicht einseitig und daher bedenkenlos Mittel für neue Gefängnisse und Internierungsanstalten, für Repression, Ausschaffung und Ausmerzung des und der sogenannt “Störenden” bereitgestellt? – dagegen immer weniger für die Korrektur der Ursachen von Kriminalität und Migration oder für die Integration der scheinbar Störenden? Ist ferner nicht auch hier bei uns das “Kompagniegefühl” und der Gruppenapplaus eine geläufige Handlungsverstärkung, wenn es ums “Durchgreifen” und “Räumen” geht? – Geschehen die bei uns bekanntgewordenen Angriffe auf Fremde und deren Unterkünfte, oder auf Einheimische, die sich für Menschenrechte einsetzen, nicht auch im Rekurs auf traditionalistische Werte? – Wohlverstanden, Benjamins Reflexionen bieten nicht einen Schlüssel zu allen rassistischen und menschenverachtenden Gewaltakten. Sie erlauben jedoch, die aktuellen Zusammenhänge der Ausgrenzung von Menschen anders zu befragen, anders zu untersuchen und eventuell zu korrigieren. Auch sollen sie, indem ich sie zitiere, nicht zur Unzuverlässigkeit generell auffordern, lediglich zur genauen Prüfung dessen, was scheinbar zwingend zu tun gefordert ist – zur Prüfung vor dem inneren Spiegel der Vorstellungskraft, in welchem die Konsequenzen für das Menschsein – für die Menschheit in jedem einzelnen Menschen – erkennbar werden. Dazu gehört die Einsicht, dass nur in der wechselseitig zugestandenen Unvollkommenheit eine Chance besteht, das eigene Anderssein, die eigene Besonderheit als ebenbürtig, als gleich glücksberechtigt, als gleich lebensberechtigt respektiert zu wissen.

Nicht wenige möchten vielleicht einwenden, der Sprung von der kritischen Befragung dieser Bürgertugenden zur Anklage der eventuellen Beihilfe zur Verfolgung und zur Tötung von Menschen sei unverhältnismässig. Ich fürchte, dass dies nicht so ist, dass dieser Gedankensprung im Kopf gemacht werden muss, auch wenn er “stört” (resp.verstört). Ich fürchte, dass das widespruchslose und bedenkenlose Jasagen zu irgendwelchen autoritär geforderten Handlungen ebenso wie das bedenkenlose Wegräumen, das ungeduldige und kompromisslose Entfernen und zum Verschwindenbringen all dessen, was scheinbar im Wege steht, tatsächlich  eine vorbereitende oder abgeschwächte Form des Ausmerzens, des Tötens und Vernichtens sein kann. “Befehl ist Befehl”, einen “sauberen Tisch” machen, “klare, saubere  Verhältnisse schaffen”, dem “Gesetz zum Durchbruch” verhelfen, “internieren”, “ausschaffen” –  das Vokabular war sowohl während des letzten Kriegs geläufig und salonfähig, als bekannt war, dass das Zurückweisen und Ausschaffen den sicheren Tod bedeutete; es ist es auch heute, wie die eingangs erzählte, alltägliche Geschichte es belegt. Dieses Vokabular findet sich in politischen Programmen der Vergangenheit wie unserer Gegenwart, und sogenannte “Objektivität” und Zuverlässigkeit im Vollzug, Härte, unbeirrbare Gesetzestreue werden tatsächlich auch heute als Bürgertugenden hochgehalten. Dabei setzt die Ästhetik der “sauberen Verhältnisse” eine mit Sicherheitsgründen legitimierte Grammatik der systematischen Kontrolle voraus, damit definiert werden kann, was und wer stört. Diese Kontrolle ist der kalte Firnis aller rechtsradikalen Politik, die vor der Eliminierung von Menschen letztlich kaum zurückschreckt: die Erschütterung über den von der Schweiz geschaffenen J-Stempel, über den vor einigen Jahren eingeführten R-Stempel (“refoulé”, ein Eintrag in die Pässe abgewiesener Asylsuchender), das Ausmass des Fichenskandals sitzen uns noch in den Knochen. Unsere Gegenwart und das, was morgen sein wird, ist zugleich voll von Vergangenheit. Dass die Spuren antimenschlichen Handelns nicht verwischt werden dürfen, dass sie erinnert werden müssen, muss als Aufgabe verstanden werden: einerseits im Sinn des Protests, andererseits als Ansatz für ein anderes Modell des Zusammenlebens. Sichtbar- und Hörbarmachen und Sichtbar- und Hörbarsein sind für den Menschen wichtigste Voraussetzungen für die Wahrnehmung und Anklage von Rechtsverletzungen wie fürs Geltendmachen von Rechten.

Hierin liegt die Bedeutung der Anne Frank-Ausstellung. Erinnerung ist die subjektive Abrufbarkeit und Benennbarkeit von Erfahrungen, von Erlebnissen und Geschehnissen, von Tun und Leiden. Erinnern können sich jedoch nur Menschen, die selbst erlebt haben, was geschehen und was vergangen ist, nur die Lebenden. Die Toten können es nicht mehr. Für die Nachlebenden ist das Gedenken die Aufgabe: Gedenken mit Hilfe der Spuren und Zeugnisse, die von den Toten erhalten sind. In ihrem Eintrag vom 5. April 1944 vermerkt die vierzehnjährige Anne Frank: “Oh ja, ich will nicht umsonst gelebt haben wie die meisten Menschen. Ich will den Menschen, die um mich herumleben und mich doch nicht kennen, Freude und Nutzen bringen. Ich will fortleben, auch nach meinem Tod”. Das vom 12. Juni 1942 bis zum 1. August 1944 geführte Tagebuch des Mädchens Anne Frank, die Fülle der schriftlichen Dokumente und der Bildzeugnisse aus der noch kein Menschenleben zurückliegenden Zeit der Shoa müssen daher Anstoss sein, jeder auch nur vorbereitenden Wiederholung einer gesellschaftlichen Entwicklung, durch welche Menschen entrechtet, gejagt und eliminiert werden, entgegenzuwirken. Anne Frank hielt am 3. Mai 1944, rund drei Monate, bevor ein deutscher SS-Mann und drei holländische Helfer das Versteck der Untergetauchten an der Prinsengracht stürmten und diese abführten, in einem Eintrag fest: “Ich glaube nicht, dass der Krieg nur von den Grossen, von den Regierenden und Kapitalisten gemacht wird. Nein, der kleine Mann ist ebenso dafür. Sonst hätten sich die Völker doch schon längst dagegen erhoben. Im Menschen ist nun mal ein Drang zur Vernichtung, ein Drang zum Totschlagen, zum Morden und Wüten, und solange die ganze Menschheit, ohne Ausnahme, keine Metamorphose durchläuft, wird Krieg wüten, wird alles, was gebaut, gepflegt und gewachsen ist, wieder abgeschnitten und vernichtet, und dann fängt es wieder von vorne an”.

Eine “Metamorphose”? Ein Wandel? Wo beginnen? Bevor ich abschliesse, will ich dazu zwei Vorschläge formulieren:

(1) In den Erziehungs- und Bildungsbelangen muss erste Priorität die Förderung der Vorstellungskraft und des schöpferischen Gestaltens haben, bei den Auszubildenden wie bei den Ausbildenden. Lernen und Lehren, Lehren und Lernen müssen diesbezüglich in einer ständigen und unabschliessbaren Wechselwirkung, in einem nicht hierarchisch gebremsten Austausch stehen, im Sinn einer “éducation permanente”. Diese setzt den ungeschmälerten Respekt der Erwachsenen vor den Kindern, der Kinder vor den Erwachsenen, den Respekt zwischen den Erwachsenen und zwischen den Kindern voraus und zieht diesen nach sich. Wenn es für den gegenseitigen Respekt keine andere Begründung als die Notwendigkeit der Gegenseitigkeit gibt, folgt daraus, dass Herkunft oder Religion, Geschlecht oder Alter, Aussehen, Hautfarbe oder welche Eigenschaften auch immer kein Diskriminierungsgrund sein können. Allzu lange wurde das Hauptgewicht auf ausschliessliche Verstandesschärfung, auf Unter- und Überordnungsfähigkeiten, auf Präzision und genauen Nachvollzug, auf widerspruchslosen Gehorsam und Befehlsvollzug, auf Anerkennung von autoritärer Hierarchie auch ohne Prüfung deren menschlichen Kompetenz, auf abschliessbare Lernprozesse und damit auf nicht mehr hinterfragbare Perfektion gelegt. Dies alles hat ja seit Generationen in immer engere, immer kontrolliertere und lebensfeindlichere Strukturen und Engpässe geführt, in denen die Kategorien des Zulässigen und Nichtzulässigen immer noch genauer und einschränkender definiert wurden und werden. Denken wir nur an die Entwicklung des nun europaweiten Systems der sogenannten “inneren Sicherheit” mit ihrem Gesetzeskatalog von Kennzeichnungen, Identifikationen, Zwangsmassnahmen, Ausschlüssen, Ausgrenzungen  und Entrechtungen, oder an die Entwicklung der Gentechnologie oder an jene der durchdigitalisierten Produktion, Telekommunikation etc. Ich plädiere für die Förderung des Gegenteils, für die Förderung des Gewährenlassens und Duldens alles Unvollkommenen, des eigenen wie des fremden, und für die Förderung der schöpferischen, der vorstellungsbedingten Möglichkeiten, die es Menschen erlauben, sich einerseits in die Bedürfnisse anderer Menschen so einzufühlen wie in die eigenen, sich andererseits in der Unvollkommenheit dieser Welt, zu der auch die Schweiz gehört, vorweg einzurichten und zuzulassen, dass auch die anderen Menschen dies tun.

(2) Angesichts der ins Uferlose anwachsenden Spezialethiken, der Berufsetiken, Standesethiken usw., die zu einer zunehmenden Verwirrung in Bezug auf das richtige Handeln führen, plädiere ich für eine Rückbesinnung auf die Massstäbe des eigenen Gewissens, respektive auf die eigene Mündigkeit, die ja nur in der  Spiegelbefragung des eigenen Menschseins vorweg entsteht und sich vorweg bewährt. Die Förderung der Vorstellungskraft, für die ich eben eintrat, ist die Grundbedingung für die Entwicklung der persönlichen Urteilsfähigkeit, die dasselbe bedeutet wie Mündigkeit. Sie setzt voraus, dass der begründete Widerspruch, das begründete Neinsagen zugelassen, geübt, ja sogar gefordert wird, auf allen Ebenen. Nur so nämlich kann das Nein zum menschenverachtenden Handeln so eindeutig werden, dass dessen letzte Konsequenz, die Tötung von Menschen, mit dem eigenen Selbstverständnis, d.h. mit dem Verständnis des eigenen Menschseins, unvereinbar wäre. In einem kurzen Text Theodor W. Adornos von 1966 [4]heisst es: “Die einzige wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie (…), die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen”. Ich gehe mit dem ungarischen Denker György Konrad einig, festhielt, dass “eine kohärente Ethik sich nur auf einer bedingungslosen Achtung vor dem Leben und auf einer bedingungslosen Ablehnung  des Tötens aufbauen lässt”[5], eine Einsicht, die der deutsch-belgische Schriftsteller Jean Améry, ein Überlebender von Verfolgung, Folter und KZ, ähnlich formulierte. “Würde”, schrieb Jean Améry, “ist das von der Gesellschaft vergebene Recht auf Leben”[6]. Ich würde sogar sagen: Würde ist das von der Gesellschaft ausnahmslos zu garantierende Recht auf Leben: auf das in seiner Unvollkommenheit und Mangelhaftigkeit unverfügbare Leben. Letztlich lassen sich alle zehn Gebote und alle komplizierten zivilen und penalen Codices in diesem einen Gebot zusammenfassen, sofern darin auch alle vorbereitenden und verwandten Handlungen eingeschlossen sind, im Sinn der oben gemachten Überlegungen. Und falls eine – ebenso unbedingte – Ausnahme sich aufdrängen würde, etwa der Tyrannenmord, würde die Rechtfertigung eben gerade in der unbedingten Ausnahme liegen. Die Regel aber muss sein, dass kein Mensch wegen seiner persönlichen Besonderheiten und Unvollkommenheiten, wegen seines Aussehens oder seiner Herkunft oder Abstammung oder politischen Überzeugung oder Religion, weswegen auch immer, geplagt, verfolgt und gejagt werden darf, dass niemand infolge menschenverachtender Gesetze und menschenverachtenden Handelns in Rechtlosigkeit und Todesnot versetzt oder in die Illegalität gezwungen werden darf. Kein einzelnes Menschsein ist keinen Augenblick des Schutzes der Gesellschaft sicher, wenn dieser Schutz von bestimmten Konditionen – etwa von einem bestimmten So- und Nichtanderssein, von einem bestimmten Pass, wovon auch immer –  abhängig gemacht wird, wenn er nicht auf unbedingte Weise universal garantiert ist. Diese Einsicht, denke ich, müsste Konsequenzen haben – nicht zuletzt für unser Ausländer-, Asyl- und Migrationsrecht, nicht zuletzt für unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, nicht zuletzt für unsern je einzelnen Beitrag zur Gesellschaft, in der wir leben, für unser je einzelnes alltägliches Handeln – indem wir das Unvolkommene gewähren lassen.

 

[1] Anne Frank. Tagebuch. Fischer Verlag. Frankfurt a.M. 1992

2 Hannah Arendt. Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Pieper Verlag, München 1986

[3]  Walter Benjamin. Illuminationen. Verlag Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1977

[4] Theodor W. Adorno. Erziehung nach Auschwitz, in: Erziehung zur Mündigkeit. Suhrkamp Verlag. Frankfurt a.M. 1970

[5] György Konrad. Der Srandpunkt des Opfers. In: Stimmungsbericht.  Suhrkamp Verlag. Frankfurt a.M. 1988

[6] Jean Améry. Jenseits von Schuld und Sühne. Verlag Klett-Cotta. Stuttgart 1977

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