„Erfindungen, die schon im Absturz gemacht werden“ Paul Virilio, Urbanist, Geschwindigkeitstheoretiker, Philosoph, Humanist, leitet in Paris die „Ecole spéciale d’Architecture“. Interview von Maja Wicki

Loader Wird geladen …
EAD-Logo Es dauert zu lange?

Neu laden Dokument neu laden
| Öffnen In neuem Tab öffnen

Download [162.00 B]

 

Loader Wird geladen …
EAD-Logo Es dauert zu lange?

Neu laden Dokument neu laden
| Öffnen In neuem Tab öffnen

Download [162.00 B]

 

„Erfindungen, die schon im Absturz gemacht werden“

Paul Virilio ist Urbanist, Geschwindigkeitstheoretiker, Philosoph, Humanist. Er leitet

in Paris die „Ecole spéciale d’Architecture“, die 1865 aus dem Kreis der Saint-Simonisten

heraus gegründet worden war. Das ursprüngliche Motif für die Gründung, den sozial-utopistischen

Ideen  eine innovative städtebauliche Gestalt zu geben, entsprechend den Erfordernissen der Zeit,

leitet auch heute noch die Arbeit Paul Virilios an. Als luzider Analytiker und zugleich als

warnender Visionär versucht er, das menschliche Zusammenleben insbesondere in den grossen

Städten vor dem Diktat einer schrankenlos gewordenen, entmenschlichten Technologie zu erhalten.

Maja Wicki hat mit Paul Virilio ein Gespräch geführt.

 

Sie stehen der „Ecole spéciale d’Architecture“ vor, bezeichnen sich selbst aber – nach einer durch Sie geschaffenen Bezeichnung – als „Dromologen“, als Geschwindigkeitstheoretiker. Gleichzeitig erscheinen Sie in Ihren Büchern als luzider Zeitanalytiker, mithin als Philosoph und als Humanist. Als was verstehen Sie sich selbst?

In erster Linie bin ich Urbanist. Die Stadt gab es lange vor der Philosophie. Die Stadt bildete sich aus dem Zusammenschluss der ursprünglichen Bevölkerungseinheiten, dem Paar und der Familie. Sie bildete sich um Orte des Warenaustauschs und der Kommunikation, um den Hafen, den Markt, das Arsenal, eventuell später auch um eine Kirche oder um eine Universität. Aber wie sie auch entstand, immer war die Stadt der Ort der Geschwindigkeit. In sie hinein und aus hier heraus führten Wege. Wer über die Geschwindigkeit und über die damit zusammenhängenden Mittel  verfügte, über Schiffe, Läufer (im Griechischen “dromoi”), Pferde, später über dampfbetriebene und sonstwie motorisierte Mittel, verfügte über Macht.

In meinem jüngsten Buch “La vitesse de la libération”[1] zitiere ich eine Stelle aus einem Brief Kafkas an Milena: „Die Menschheit hat (…), um möglichst das Gespenstische zwischen den Menschen auszuschalten und den natürlichen Verkehr, den Frieden der Seelen zu erreichen, die Eisenbahn, das Auto, den Aeroplan erfunden, aber es hilft nichts mehr, es sind offenbar Erfindungen, die schon im Absturz gemacht werden, die Gegenseite ist viel ruhiger und stärker, sie hat nach der Post den Telegraphen erfunden, das Telephon, die Funkentelegraphie. Die Geister werden nicht verhungern, aber wir werden zugrundegehen“.

Was lässt sich Zusätzliches sagen?  – höchstens, dass wir seither noch das Fernsehen und den Raum der virtuellen Realität erfunden haben, der uns Interaktionen auf Distanz erlaubt, unabhängig davon, wie weit unser Nächster entfernt sei.

Die Tatsache, dass die Geschwindigkeitssteigerung in der Kommunikationstechnologie heute die Lichtgeschwindigkeit erreicht hat, bezeichnen Sie in Ihren Texten immer wieder als Gefahr für die Demokratie. Was meinen Sie damit?

Während Jahrhunderten war es nötig, dass die Menschen sich zueinander hinbewegen, um sich zu verständigen. Dies ist überflüssig geworden. Die „Geister“, die Kafka in seiner Hellsichtigkeit als Bedrohung des direkten Austauschs unter Menschen bezeichnet, haben mit dem Erreichen der Lichtgeschwindigkeit in der Telekommunikation gesiegt. Mit den Simulationstechniken kann die Realität, können Nähe, Begegnungen und Widerstände durch virtuelle Realität abgelöst werden. Es braucht die Stadt nicht mehr. Diese gewaltigste Steigerung der Geschwindigkeit verkehrt den Fortschritt in sein Paradox: die Menschen bedürfen keiner Fortbewegung mehr, um sich zu sprechen, um einander zu hören und um einander zu sehen, es genügt, dass sie sich vor ihren Bildschirm setzen, um sich an irgend einem Punkt der Erde zu befinden. Die Menschen sind überzählig geworden.

Wie wurden Sie zum Menschen, der Sie heute sind?

Ich kam 1932 zur Welt. Die Armut und der Krieg waren meine erste Erfahrung, dadurch wurde ich geprägt. Im Zusammenhang mit der Kriegführung zeigt sich die gesamte technologische Entwicklung auf exemplarische Weise – von der schlagenden Hand über deren Verlängerung in Form einer Waffe zum Pferd, dann zur Kanone, zum Einsatz von Strassen, Eisenbahnen und Luftraum bis zur Laserwaffe und zur Atombombe. Selbst die Entwicklung der virtuellen Realität fand im Zusammenhang mit dem Golfkrieg statt, wurde jedoch lange vorher als Mittel täuschender Propaganda vorbereitet.

Wie entstanden aus diesen Einsichten in die Gesetze des Kriegs ihre architektonischen und urbanistischen Theorien?

Ich habe mich immer für Philosophie und für Physik interessiert, konnte jedoch mein Studium nicht auf systematische Weise absolvieren. Seit den sechziger Jahren gehörte ich zu einer Arbeitsgruppe, die sich “Architecture principe” nannte. Zwischen 1963 und 1966 habe ich als Architekt ein erstes Gebäude gebaut: eine Kirche, die einem Bunker gleicht, nicht irgendwo, sondern in Nevers, das Ihnen aus dem Film “Hiroshima, mon amour” bekannt sein wird.

Warum gerade eine Kirche?

Sie müssen wissen, dass ich 1950, mit ungefähr achtzehn Jahren, ein mystisches Erlebnis  hatte, durch welches ich zum Christen wurde. Ich stehe der Bewegung von Abbé Pierre nahe, den Arbeiterpristern, das heisst dem gelebten Christentum an der Basis, dem es um die Anliegen und Bedürfnisse der zutiefst Benachteiligten geht.

Sind aus diesem Implus heraus Ihre sozialen Projekte entstanden, etwa die “Überlebensbojen” für Obdachlose?

Gewiss, ich bin ja Mitglied des noch von Präsident François Mitterand eingesetzen “Hohen Ausschusses für Wohnraum für benachteiligte Menschen” (Haut Comité pour le Logement des Défavorisés). Das Projekt, das Sie erwähnen, betrifft die Notwendigkeit, Menschen, die nirgendwo mehr zuhause sind, wenigstens wieder eine Adresse zu geben, wo sie für offizielle und private Mitteilungen erreichbar sind, die es ihnen auch erlaubt, ihre politischen Rechte wahrzunehmen, zum Beispiel das Stimm- und Wahlrecht. Solche “Überlebensbojen” sollten überall im Weichbild der Städte errichtet werden, dort, wo die Menschen sich aufhalten, nicht an den Peripherien.

Darf ich nochmals auf meine Frage zurückkommen, warum die Entwicklung der Kommunikationstechnologie die Demokratie gefährde? – oder, anders gefragt, warum Sie die Krise der Urbanität mit der Multi Media-Entwicklung in Verbindung bringen?

Als ich Mitte der sechziger Jahre über Urbanismusprobleme zu publizieren begann, zeichnete sich die Krise der grossen Städte schon ab. Ich war ja nicht der einzige, der sich damit befasste, es gab damals eine Bewegung von Städtebau-Utopisten, zu der ich mich zählte. Wenn ich zu Beginn unseres Gesprächs festhielt, dass die Stadt der Ort der Geschwindigkeitsentwicklung war, so heisst dies zugleich, dass sie dadurch zum Ort der sozialen Hierarchien wurde. Der Verfügungsmöglichkeit über Mittel zur Fortbewegung, über Mittel zur Geschwindigkeitserzeugung entsprachen Reichtum und Macht. Dieses Verhältnis  besteht heute noch, mit dem Unterschied, dass, wer heute nicht am Geschwindigkeitswettbewerb partizipieren kann, wer sich nicht ins Internet einschalten kann, von Information und Kommunikation ausgeschaltet bleibt. Das bedeutet einerseits, dass ein Grossteil  der Bevölkerung von den Mitsprachemöglichkeiten zunehmend ausgeschaltet, dass andererseits diejenigen, die über die technologischen und materiellen Voraussetzungen zur Mitsprache verfügen, sich selbst zur Trägheit, zur Immobilität vor dem Bildschirm, zur Abkoppelung von der Urbanität verdammen. Die Menschheit geht grossen Unfällen entgegen. Die Gründe hierfür liegen nich zuletzt in einer totalen Entfremdung auf der einen wie auf der anderen Seite.

In welchen Bereichen ist denn noch Fortschritt möglich?

Da mit der Lichtgeschwindigkeit eine absolute Grenze erreicht ist, die nicht überschritten werden kann, wird sich Fortschritt in Zukunft nur noch im virtuellen Raum abspielen. Die Virtualität wird das Tummelfeld technologischer Weiterentwicklung sein. Was dagegen nie virtuell ist, sondern volle, nicht veränderbare Realität bleibt, ist das Leiden des einzelnen Menschen. Und ebenso real bleibt die Gewalt. Die moderne Technologie dekonstruiert die Stadt, sie löst sie auf: “Erfindungen, die im Absturz gemacht werden”. Wenn der soziale Friede gerettet werden soll, muss die Stadt gerettet werden. Das ist ein Imperativ.

Welches sind die wichtigsten Schritte und Massnahmen?

Wichtig ist, dass wir im voraus ankündigen und beim Namen nennen, was wir anprangern. So habe ich mich seit langem in der Antiatomwaffenbewegung engagiert, auch habe ich schon 1986, sieben Jahre vor dem Golfkrieg, in einer Fernsehsendung auf alle Waffen hingewiesen, die dann in diesem Krieg zur Anwendung kommen sollten, dem ersten Krieg, der in voller Gleichzeitigkeit in den amerikanischen Kommandozentralen, im Irak und auf den privaten Bildschirmen stattfand. Seit dem Ersten Weltkrieg hat das Kino der Kriegführung als Munition gedient, das Kino und heute die Videotechnik. Kino beruht ja auf Geschwindigkeit, “kinein” heisst “bewegen”. Wir bedürfen heute dringend eines haushälterischen Umgehens mit der Geschwindigkeit. Wissen muss Bildung werden. Albert Einstein hatte Abbé Pierre gegenüber einmal die Bedrohung durch drei “Bomben” erwähnt. Zusätzlich zur atomaren und zur demographischen Bombe nannte er die Informatikbombe. So wie es der Präventivmassnahmen gegenüber den beiden ersten bedarf, so auch gegenüber der dritten.

Ist es nicht schon zu spät dafür?

Es ist dafür noch Zeit. In demographischer Hinsicht geht es um die Wiederentdeckung der Bedeutung des Paars. Das Paar ist die eigentliche Bevölkerungseinheit. Dass Paare  so schnell auseinanderbrechen, dass das, was sie verbindet, so kurzlebig ist, mag mit der enormen Geschwindigkeitssteigerung zu tun haben. Die Ereignisse, die früher vielleicht ein ganzes Leben ausfüllten, geschehen heute in einem Jahr oder noch schneller. Das nützt ab. Um dieser Abnützung entgegenzuwirken, bedarf es eines neuen Rhythmus. Man müsste die Rhythmologie erfinden, ja die Intelligenz für den Rhythmus entwickeln. Es gibt zu wenig Genie – für den Rhythmus der Zeit, die soziale Zeit. Wenn ich sage, es bedürfe eines neuen Rhythmus, so bedeutet dies zugleich, dass wir den Sinn fürs Mass wiederfinden müssen, zur Intelligenz des Masses. Ich spreche nicht aus Verzweiflung. Ich muss jedoch darauf hinweisen, dass sich die Menschheit auf einen Weg begeben hat, der Angst macht.

Mit Paul Virilio sprach Maja Wicki, Philosophin und Publizistin, Zürich.

 

 

[1] La vitesse de la libération. Editions Galilée, Paris 1995

Write a Reply or Comment