“Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns” – Zur Bedeutung von Aleksandar Tisma’s Werk

“Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns”

Zur Bedeutung von Aleksandar Tisma’s Werk

Rede anlässlich des Besuchs von Aleksandar Tisma in Zürich am 5. 4. 1995

 

Sehr geehrte Damen und Herren

Verehrter Aleksandar Tisma

Ich begrüsse Sie an zweiter Stelle, obwohl Ihnen der erste Platz gebührt, weil ich mich zuerst an Sie wenden möchte. Ich bitte Sie, mir zu gestatten, nur wenig über Sie, d.h. nur wenig über Ihre Biographie und über den Inhalt Ihrer Bücher zu sprechen. Ich bin der Meinung, dass es genügt, Ihre Bücher zu lesen, und ich werde erklären, weshalb ich dieser Meinung bin, weshalb ich denke, dass weder Ihr Leben noch Ihre Bücher meiner Erklärungen bedürfen. Dass Sie vor rund 70 Jahren in der Vojvodina zur Welt kamen, im Dorf Horgos in der Nähe der ungarischen Grenze, dass Ihre Heimat die Stadt Novi Sad ist, die auch Ujvidék und Neusatz heisst, in jenem nördlichen Teil des ehemaligen, nun erneut von Krieg und Gewalt zerstörten Jugoslawien, wo sich seit Jahrhunderten die Völker und Kulturen, die Religionen und Sprachen mischten, dass Sie dort aufwuchsen, mit einem zugleich jüdisch-ungarischen und serbisch-othodoxen Familienhintergrund, dass Sie in den letzten zwei Kriegsjahren die jüdische und die serbische Verfolgung selbst erleben mussten, die damals schon unter dem unsäglichen Begriff “Säuberungsaktion” lebende Menschen als Unrat deklarierte, den es zu beseitigen und zu vernichten galt, dass Sie als Zwanzigjähriger in ein Zwangsarbeitslager nach Transsylvanien verschickt wurden und später sich zu den Partisanen durchschlugen, dass Sie trotz der erlebten Verluste und Schrecken seit dem Ende des letzten Kriegs in diesem kosmopolitischen Teil Jugoslawiens lebten, in welchem Sie aufgewachsen waren, ein dicht gelebtes Leben, dass sie dort Ihr grosses lyrisches und erzählerisches Werk schrieben, bis von neuem das Unwort “ethnische Säuberung” blutige Wirklichkeit wurde und  Sie 1992 zwang, nach Paris zu ziehen, von wo Sie jedoch im Januar dieses Jahres wieder nach Novi Sad zurückkehrten – dies alles kann nur gerade angetönt werden. Und selbst wenn ich eine Stunde oder mehr über Ihr Leben sprechen würde, bliebe alles nur angetönt.

Was ich nicht nur antönen möchte, worauf ich eingehen möchte, auch wenn die verfügbare Zeit wiederum nur Hinweise dazu erlaubt, betrifft die Bedeutung Ihres Werks. Darüber zu sprechen, gestehe ich ein, macht mich nicht verlegen, da fürchte ich nicht, die Subjekthaftigkeit Ihres Hierseins und Ihrer eigenen Sprache und Ihrer eigenen Aussagen zu verletzen, da fürchte ich nicht zu interpretieren, was letztlich “einfach”, das heisst ohne – mehr oder weniger gescheite – Zusatzerläuterung, ohne “Übersetzung” aufgenommen und verarbeitet werden muss, auch gegen die Widerstände der Seele und des Intellekts, gegen das Bedürfnis, Überforderung anzumelden und auszuweichen.

Über die Bedeutung Ihres Werks sprechen heisst, den Unterschied zwischen wichtigen und weniger wichtigen oder überflüssigen Büchern deutlich machen, bin ich doch überzeugt, dass Bücher wie “Der Gebrauch des Menschen”, “Die Schule der Gottlosigkeit” wie auch das eben erschienene “Buch Blam” wichtige, ja äusserst wichtige Bücher sind, ja dass sie zu jenen seltenen Büchern gehören, die der Forderung entsprechen, die Franz Kafka in einem Brief an Oskar Pollack (am 27. Januar 1904 ) aufgestellt hat. Wie lautet diese Forderung? Kafka schreibt: “Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beissen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie Du schreibst? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben. Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder  verstossen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Das glaube ich”.

Einiges erschreckt mich in Kafkas Forderung, ich muss gestehen,  in einem Mass, dass ich Widerspruch anmelde, dass ich dazu Nein sage, und ich kann es nur Kafkas Jugend zuschreiben – er war gerade 21 Jahre alt, als er den Brief an Pollak schrieb -, dass er den Bogen der Vergleiche überspannt. Soweit ich seine Biographie kenne, hatte er damals noch nicht den Tod oder den Selbstmord eines Menschen hinnehmen müssen, der ihm lieber gewesen wäre als er sich selbst, er wusste noch nichts vom Abgrund der Verzweiflung, nichts von der nie heilenden, peinigenden Leere, die ein solcher Tod aufreisst. Ich möchte daher soweit nicht gehen, jedoch  wiederholen, was auch für mich gilt: Dass ein Buch nur dann wichtig ist, eigentlich nur dann wert, gelesen zu werden, wenn es “beisst und sticht”, wenn es “wie ein Faustschlag” wirkt, wenn es uns aufscheucht aus der bequemen Behaglichkeit, wie wenn wir “in Wälder verstossen würden”, wie wenn wir heimatlos würden und damit unausweichlich in die Notwendigkeit versetzt, uns die wichtigsten, die grundsätzlichen Fragen zu stellen, die unser Leben betreffen, uns neu orientieren zu müssen. Auch für mich gilt, dass ein Buch die als Selbstschutz aufgebaute Indifferenz, die Kälte der Empfindungen und Urteile, die Abstumpfung der Gefühle, die Zubetonierung der Gewissensregungen, die mit formalistischen Rechtfertigungen erreichten Verhinderungen des Nachdenkens über die Gründe und Folgen des eigenen Handelns, über Schuld, über verursachtes und über erlittenes Leid, über den Sinn und den Wert der Existenz aufbrechen und aufbrennen muss. Dass es erreichen muss, dass wir die Einsamkeit durchstehen, in die es uns aussetzt und zugleich einschliesst, unausweichlich und drängend. Dass es tatsächlich sein muss “wie die Axt für das gefrorene Meer in uns”.

Wie viele oder wie wenige Bücher mögen dieser Forderung entsprechen? Sie als Lesende, verehrte Damen und Herren, werden selbst versuchen, eine Liste zu machen. Für mich steht fest, dass diejenigen Bücher, die auf diese Liste zu stehen kommen, den Rang von grosser Literatur, von Weltliteratur haben. Aleksandar Tisma’s Bücher gehören dazu. Doch ich will dies nicht einfach so feststellen, sondern versuchen klar zu machen, warum dies für mich feststeht, warum die Bücher Aleksandar Tisma’s unverzichtbar sind, warum sie gelesen werden müssen. Warum sie diese Aufwühlung anrichten, diese Verstörung und Atemlosigkeit, diese Entwurzelung aus allen scheinbaren Sicherheiten, die Kafka fordert.

Gewiss, die Wirkung hat mit der Sprache zu tun, mit der Architektur und dem Rhythmus der Geschichten, mit dem literarischen Können, mit der Fähigkeit, Erinnerung und Dichtung und philosophisches Fragen zu verschmelzen und wiederum unvermittelt nebeneinander zu stellen, all dies ist unbestreitbar. Bei  Aleksandar Tisma scheint mir diese Meisterschaft sowohl  in den Erzählungen wie in den Romanen gross zu sein, diese Art der erlebten und der geschichtlichen, der philosophischen, der psychischen und der dichterischen Spurensicherung, die häufig fast ohne deskriptive Verschnaufpausen auskommen muss. Doch die Kunst der Sprache allein genügt nicht; viel tiefer, viel gründlicher geht ja die Wirkung von Aleksandar Tisma’s Büchern, als sie allein kraft literarischer, das heisst kraft formaler oder aesthetischer Kriterien gehen könnte.

Warum, fragte ich mich beim Lesen, warum kommt diese Wirkung zustande? Hat sie nicht damit zu tun, dass Aleksandar Tisma es vermag, mich in meiner Subjekthaftigkeit zu treffen? –  in diesem auf nichts und auf niemanden delegierbaren Ich, das sein Handeln und sein Unterlassen verantworten muss, diesem Ich, das zugleich mein individuelles Ich meint und das Ich jedes einzelnen Menschen: das, was das Unverfügbare des Menschseins, was “Menschheit” bedeutet. Indem ich so getroffen werde, unausweichlich, in dieser kaum aushaltbaren Ausgesetztheit  vor den doppelten Spiegeln von Tisma’s Werk und meinem Bewusstsein, ob das Ich sich als übereifriger Vollzugsbeamter wiedererkenne, der zugleich besorgter Familienvater und niedriger, erbarmungsloser Folterknecht und Mörder ist, ob als stumm gewordenenes, zu Tode misshandeltes Opfer, ob als angstgelähmter, widerstands- und handlungsunfähiger Familienvater in den langen Stunden vor der Deportation in die Gaskammer, ob als zutiefst verunsicherter Überlebender wie Schneck der jahrlang, auf der Flucht vor dem Tod und vor sich selbst, versucht hatte, “einer zu werden, der er nicht war” , ob als gejagter Widerstandskämpfer wie Cutura, ob als Opfer von Denunziation und Gewalt wie Esther, ob als Überlebender wie Miroslav Blam, für den das gerette eigene Leben und die die Wege, die er noch geht, nur dünne Hülsen sind, hinter und unter denen sich Abgründe öffnen, ob als handelndes, ob als schuldiges oder als schuldloses Ich – immer stellt sich bohrend die Frage nach dem Grund der Schuld, die Frage nach dem Grund des Bösen, nach dem Grund des Leidens, die Frage nach Gott – so wie sie sich Blam stellt, wie er in Novi Sad zum Ort der ehemaligen, nun verschwundenen Judengasse kommt und er “nahe daran ist, mit der Stirn die Erde zu berühren und zu schluchzen, nicht wegen des schlimmen Geschicks der Alten (…), sondern wegen ihres Glaubens, der, so scheint es Blam, der Glaube einer ganzen untergegangenen Welt ist, sein eigener Glaube, weil er das Überbleibsel dieser Welt ist. Dieser Glaube hat sich als ärmlich und erfolglos erwiesen, denn die Menschen, die mit ihm lebten, sind ermordet und vergessen, die Zeit und die neuen Asphaltstrassen sind über sie hinweggegangen, er ist nun sein letzter Zeuge, Kenner und Erklärer, aber nur für sich selbst”. Warum?

Aleksandar Tisma’s grosse Kunst besteht darin, keine Antwort zu geben und zugleich über das Erzählen zur Antwort hinzuführen. Wie denn? Indem er es nicht zulässt, dass ich seinem Erzählen folgen kann, ohne dass ich gezwungen bin zu fragen und immer weiterzufragen: Zu fragen, warum Gewalt und Leid das menschliche Leben vorweg zerstören, von Generation zu Generation. Was es denn so schwer macht, den Nächsten zu lieben “wie mich selbst”? Kann ich es mir so einfach machen, das Gebot zu leugnen, wie der Folterer, der scheinbar der göttlichen Strafe entgeht und daher Gott für nicht-existent erklärt? Verhält es sich nicht ganz anders? Ist die Frage nach Gott nicht die Frage nach mir selbst? Und hängt diese Frage nicht mit der Frage nach dem Verhältnis zusammen, das ich zu mir selbst habe, mit der Frage nach meiner Liebe zu diesem Ich, das als Mass für die geforderte Nächsten- oder Fremdenliebe gelten soll? – für dieses Ich, das so selten als liebenswert, so häufig jedoch als mies und schwach und verachtenswert gehalten wird? Und ist nicht diese so geringe Selbstachtung, dieses eigene Unwertgefühl der Grund für die schwer aushaltbare Frustration, die sich Luft schafft in Gewalt, in nicht endender Gewalt, seit die Geschichte der Gewalt mit der Geschichte von Kain und Abel begann? Wie aber kann die sich fortsetzende und sich fortzeugende Folge von Gewalt durchbrochen werden? – diese Geschichte von menschlicher Verachtung und von nicht aushaltbarem Leiden, die auch unsere gegenwärtige Zeit kennzeichnet, die auch uns in unserer Zeitgenossenschaft mittrifft und mitverantwortlich macht? Was zeichnet denn die Gerechten aus, die vom Unrechthandeln absehen? Ist Blam ein Gerechter? – ist er tatsächlich, wie einer seiner Freunde sagt, “der einzige unter uns, der ohne Schuld ist”? Ist Verzeihen möglich? – Verzeihen ohne Vergessen? Liegt hierin die Freiheit und könnte diese Freiheit die Chance eines Neubeginns bedeuten? – Neubeginn im Sinn der Zustimmung zum Leben, wie sie in den Briefen Lilis zum Ausdruck kommt oder wie Blam sie spürt, als er “die feuchte, vom frischen Erdgeruch gesättigte Luft tief einatmet” und fühlt, dsss es “sich gelohnt hat, dass das Leben köstlich, heiter, duftend, greifbar, interessant ist, dieses Lebens, das er als unwiderstehlichen Anreiz  in der kalten Berührung der Regentropfen an seinem Hals spürt, an  den frierenden Händen, die in den Manteltaschen nach der eigenen Wärme suchen”.Was braucht es, damit Hoffnung kein leeres Wort sei?

Auch ich will bei den Fragen stehen bleiben, die Fragen müssen vorweg neu gestellt werden. In ihrer Unausweichbarkeit liegt die Bedeutung von Aleksandar Tisma’s Werk: dessen Bedeutung als grosse Literatur. Ich möchte nichts mehr beizufügen, ausser, ganz kurz, zweierlei: an Sie, verehrte Damen und Herren, die Einladung, dass sie sich von Aleksandar Tisma’s Büchern “beissen und stechen” lassen, dass Sie sich diese Atemlosigkeit, diese packende, grosse Erfahrung nicht versagen. Und an Sie, Aleksandar Tisma, den Ausdruck meiner Freude, dass Sie unter uns sind und dass ich Ihnen nun das Wort übergeben darf.

Danke.

 

Maja Wicki / Zürich 1995

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