“Es ist Feigheit zu wünschen, der Einsamkeit zu entkommen”

“Es ist Feigheit zu wünschen, der Einsamkeit zu entkommen”

 

Schon seit einigen Jahren ist die 1943 im Londoner Exil verstorbene Philosophin Simone Weil auch im deutschen Sprachraum keine Unbekannte mehr. Heinz Abosch kommt das Verdienst zu, schon in den achtziger Jahren ihre politischen Schriften übersetzt zu haben (1). Dazu gehörte einerseits ihre Analyse der deplorablen Situation der deutschen Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung angesichts der wachsenden nationalsozialistischen Propaganda und Einschüchterung kurz vor Hitlers Machtübernahme. Simone Weil stellte 1932 während ihres Aufenthalts in Berlin fest, dass “je härter die Krise das kapitalistische Regime schüttelt, umso ängstlicher die deutschen Gewerkschaften sich an den einzigen Stabillitätsfaktor, den Staatsapparat, klammern”. Sie beobachtete auch, dass “die SPD-Funktionäre Menschen sind, die in den grossartigen Büros der reformistischen Organisationen ebenso natürlich hausen wie die Austern in ihrer Schale, zufriedene, wichtige Leute, Partner der Inhaber üppiger Büros in den Ministerien und der Industrie, die dem Proletariat ganz entfremdet sind”.

Im gleichen Band hat Heinz Abosch auch Simone Weils theoretische Schriften versammelt, in denen die ursprünglich überzeugte Marxistin, die zur Anarchistin wurde, den Kommunismus in seiner antifreiheitlichen, stalinistisch-bürokratischen Ausformung einer ungeschminkten Kritik unterzog. “Nie war der einzelne dem blinden Kollektiv so uneingeschränkt ausgeliefert, und nie waren die Menschen unfähiger, ihre Aktionen dem Denken zu unterwerfen, ja überhaupt zu denken” hielt sie 1934 in ihrer Studie “Reflexionen über die Ursache der Freiheit und der sozialen Unterdrückung” fest. Sie fuhr fort, dass “Begriffe wie Unterdrücker, Unterdrückte, Klassen dabei sind, jegliche Bedeutung zu verlieren, so offenkundig sind die Ohnmacht und Angst aller Menschen angesichts der gesellschaftlichen Maschine, die Herz und Geist vernichtet, Unbewusstheit, Korruption, Trägheit und vor allem Schwindelgefühl erzeugt”.  Simone Weil war sich bewusst, dass da, wo die Menschenwürde verletzt wird, der Kampf der Gehorchenden gegen die Befehlenden notwendig und legitim ist, unabhängig von den Eigentumsverhältnissen an den Produktionsmitteln.

Indem Simone Weil den Marxismus als “den höchsten geistigen Ausdruck der bürgerlichen Gesellschaft” durchschaute, der diese nicht nur enthüllt, sondern zugleich legitimiert, durchschaute sie auch den trügerischen Charakter der marxistischen Revolutionsidee. Wie sollten Menschen, die nur Unterwerfung und Knechtung kannten, “die an Händen und Füssen gefesselt waren”, da deren Arbeitsbegriff jede Würde vermissen liess, wie sollten sie ein Regime der Freiheit errichten, wenn Freiheit ihnen fremd war? Nicht Machtlose, sah sie voraus, konnten einen radikalen Machtwechsel herbeiführen, sondern nur Menschen, die schon an der Macht teilhatten. Daher, folgerte sie, würde nicht  die Arbeiterklasse den Platz des Kapitalismus einnehmen, sondern die Klasse der Techniker und Bürokraten. Trotzdem hielt sie daran fest, dass der revolutionäre Geist nicht verloren gehen durfte, sollten die Lügen, mit deren Hilfe die systematische Erniedrigung der Mehrzahl verschleiert werden, nicht vermindert oder beseitigt werden. “Der revolutionäre Geist ist so alt wie die Unterdrückung selber, und er wird auch so lange vorhanden sein wie sie, sogar noch länger. Denn sollte selbst die Unterdrückung je verschwinden, müsste der revolutionäre Geist fortbestehen, um ihre Rückkehr zu verhindern”.

Angesichts der jüngsten Geschichte kommen Simone Weils Analysen prophetische Luzidität zu.

Ein wirklicher Gewinn im Bedürfnis nach genauerer Kenntnis der Weil’schen Schriften, vor allem hinsichtlich ihrer Entstehung, bedeutet die ab 1992 erfolgten deutschsprachigen Ausgaben der vollständigen “Cahiers” (2). Diese “Cahiers” entsprechen in keiner Weise herkömmlichen Tagebüchern. Es sind Notizhefte  oder Sudelhefte, die Simone Weil während ihrer Arbeit an grösseren Aufsätzen und Artikeln sowie an Lektüre- und Lehrvorhaben benutzte. Sie begann damit im Jahre 1933, also mit 24 Jahren, und führte sie, mit etlichen und zum Teil langen Unterbrüchen, bis ins Todesjahr 1934 weiter.

Die „Cahiers“ dokumentieren auf nachvollziehbare Weise Simone Weils persönliche Arbeit des Denkens, ihre spirituelle und politische Entwicklung. Während die frühen Aufzeichnungen noch Spuren ihrer „klassischen” französischen Philosophieausbildung sowie ihres politischen Engagements sind – wiederholte Auseinandersetzungen mit dem Cartesianismus, mit Spinoza und Hegel, mit Algebra und Geometrie, sodann vor allem mit dem Begriff der Arbeit, des Werkzeugs, der Maschine, des Fortschritts -, verdichten sich die weiteren immer mehr zur Suche nach Gotterkenntis, nach Wahrheit und nach wahrhaftig gelebter Existenz. Dabei steht – wie ein doppelter roter Faden – die Frage nach dem Bösen und nach dem Guten sowie nach dem Sinn von Unglück und Leiden im Mittelpunkt. “Die Grösse des Menschen ist es immer, sein Leben neu zu schaffen. Neu zu schaffen, was ihm gegeben ist. Genau die Dinge zu schmieden, denen er ausgesetzt ist. In der Arbeit erzeugt er seine eigene materielle Existenz. In der Wissenschaft schafft er die Welt mit Hilfe von Symbolen neu. In der Kunst schafft er das Bündnis zwischen seinem Körper und seiner Seele neu… Hervorzuheben ist, dass jede dieser drei Schöpfungsarten, für sich und ausserhalb ihrer Beziehung zu den beiden anderen betrachtet, etwas Armes, Leeres und Vergebliches ist. Vereinigung der drei: “Arbeiter”-Kultur (da kannst du lange warten)”. Wenig später hält sie fest, dass “die Entwertung der Arbeit das Ende der Zivilisation ist. Das ist der eigentliche Materialismus. Die Form der Ausbeutung ist kein materielles Phänomen. Was an der Geschichte materiell ist, das ist die Technik, nicht die Ökonomie”.

Im Lauf ihrer Entwicklung zeigt sich bei Simone Weils immer drängender das Bedürfnis nach Vorbildern und Masstäben, um ihr eigenes Handeln und Urteilen auf genügende Weise auf das Ziel der Harmonie, der Reinheit und der umfassenden Erkenntnis hin ausrichten zu können. Dabei finden die Erfahrungen im Spanischen Bürgerkrieg und die unmittelbare Nähe des Todes ebenso ihren Niederschlag wie die Auseinandersetzung mit Freundschaft und Einsamkeit. “Der Wert der Einsamkeit besteht in der Möglichkeit einer höheren Aufmerksamkeit” hält sie fest.

Aufmerksamkeit – das „Auge der Seele”, wie sie im Sinne Spinozas definiert -, setzt immer einen Entscheid voraus, Selbstprüfung und auch auch Verzicht. Simone Weil ist sich der Bedeutung bewusst. Sie stellt für sich eine “Liste der Versuchungen” auf. “Warten… Nichts Unreines annehmen… Vielmehr gar nichts” schreibt sie auf, und kurz vorher: “Denn die Zeit ist die wichtigste Grenze, die einzige, in verschiedenen Erscheinungsformen. Na gut! diese Grenze annehmen. Ich muss es schaffen, mich in dieser Hinsicht selbst einer Prüfung zu unterziehen”. Dann, später, die lapidare Feststellung: “Es ist Feigheit zu wünschen, der Einsamkeit zu entkommen”, wiederum später: “Man hat Furcht, wenn man allein ist, aber man hat unrecht. Die Furcht hat einen anderen Ursprung. Die absolute Einsamkeit ist ohne Schrecken. Wer sollte mir Böses antun? Abhaya, Nicht-Schrecken, Nicht-Angst, Friede, Glück”.

Im Streben nach Erkenntnis geht Simone Weil über die europäischen Quellen hinaus. Sie lernt Sanskrit, um die Upanishaden zu lesen und übersetzt während der Wartezeit in Marseille verschiedene Abschnitte (die Übersetzungen finden sich im Anhang der “Cahiers”); sie versuchte, immer tiefer in die Weisheitslehren der altindischen Kultur einzudringen. Dass sie gleichzeitig die Quellen ihrer eigenen – jüdischen – Herkunftskultur kaum zu verstehen versucht, ja deren Nähe sogar leugnet, macht die besondere Tragik ihres epistemologischen und existentiellen Weges aus. Die “Cahiers” legen auch davon Zeugnis ab.

 

(1) Simone Weil. Unterdrückung und Freiheit. Politische Schriften. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Vorwort versehen von Heinz Abosch. Rogner & Bernhard bei Zweitausendundeins. Frankfurt a.M. 1975/1987.

(2) Simone Weil. Cahiers. Aufzeichnungen. Erster Band, dann Band I-IV. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. Carl Hanser Verlag. München/Wien, ab 1992 bis 1996. (Der Herausgeberin und dem Herausgeber kommt ein grosses Verdienst zu – vor allen in Anbetracht der fragmentarischen, nicht auf Veröffentlichung hin angelegten Art und Weise der Aufzeichnungen sowie der schwierigen editorischen Voraussetzungen, zumal deren Übersetzung vorsichtig und präzise ist, die begleitenden Erläuterungen und Kommentare ebenfalls. (Simone Weil hatte 1942, kurz vor ihrer Abreise aus Marseille, wohin sie nach der deutschen Besetzung von Paris mit ihren Eltern geflohen war, dem katholischen Laientheologen Gustave Thibon ihre bis dahin verfassten “Cahiers” anvertraut; die später in Casablanca, New York und London festgehaltenen Aufzeichnungen kamen nach ihrem Tod in die Hände ihres Bruders, sodass es bis anhin verschiedene Bearbeitungen und Ausgaben gab). Die damit verbundenen Mängel werden nun endlich durch die vollständigen französischen und deutschen Ausgaben korrigiert).

 

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