Der Liebesbegriff in Augustinus’ „Confessiones“

Der Liebesbegriff in Augustinus’ „Confessiones

 

“Liebe” ist ein Wort. Das Wort hat eine so vielfältige Bedeutung, dass das Bedürfnis zu verstehen ebenso wie die Furcht vor Missverstehen und die Abwehr von Nicht-Verstehen nicht grösser sein könnten. Augustinus hat sich sowohl in seinen “Confessiones”[1] wie im “Selbstgespräch” resp. in den “Soliloquia”[2], schliesslich in seiner grossen Auseinandersetzung über den “Gottesstaat” resp. “De civitate Dei”[3] mit den unterschiedlichen Bedeutungen von Liebe befasst. Es geht ihm dabei um die Aufarbeitung und Verarbeitung der verschiedenen Bereiche oder Stufen der Liebe, die er erlebt hat und auf welche er ausführlich eingeht. Noch im Zweiten Buch der “Confessiones” fragt Augustinus sich “Wer brächte es auseinander, dies heillos verwickelte Knotengewirr?”[4] Im Dritten Buch geht er auf das “schändliche  Liebestreiben”[5] in Karthago ein, wo er sich wie in einem “brodelnden Kessel” fühlte.  Er schildert, dass “amare et amari dulce mihi erat magis” – dass “es eine süsse Lust für ihn war, zu lieben und geliebt zu werden “, dass er sich damals “in ein Liebesverhältnis stürzte, nach dessen Fessel mich verlangte”[6]. Später bezeichnet Augustinus die geschlechtliche, sinnliche Liebe mit “allen Eisenruten der Eifersucht, des Argwohns, des Befürchtens, Zürnens und Zankens”[7] als belastende Manifestation der “cupiditas”, von welcher es sich zu befreien gilt, will der Mensch sich aus der Klammer der Zeitlichkeit befreien. Doch wie soll dies geschehen? Für Augustinus bedarf es der Suche nach einer anderen Nähe. Für ihn bedeutet “cupiditas” Teil des “appetitus”, des menschlichen Begehrens oder Strebens, das “bonum” oder “malum” sein kann, gut oder schlecht. Immer findet sich im “appetitus” eine Verbindung mit der Auflehnung gegen die Begrenztheit des menschlichen Lebens, mit einer triebhaften oder emotionalen, geistigen Auflehnung, durch welche vielfältiges Leiden – “passio” und “misercordia” – Leidenschaft und Mitleid – den Menschen beherrschen und fesseln. Auch Theater und Dichtung, hält Augustinus fest, seien dafür Ausdruck und Ansporn “voll des Zunders”. Daher erachtet er als höchstes Ziel der Liebe im Sinn von “appetitus”, die Angst vor der zeitlichen Begrenztheit, die Angst vor dem Lebensende, vor dem Tod, überwinden zu lernen.

Als zweite Stufe der Liebe gilt für Augustinus eine Liebe ohne Begehren, “caritas”, mit einem hohen Wert an Befreiung. Nicht nur wird die “cupiditas” überwunden, sondern viel mehr; die Zeitgebundenheit und Zeitabhängigkeit des Menschen in der Rastlosigkeit des Strebens als Begehren wird überwunden, so dass das Streben sich nach dem Sein ausrichtet. Es geht dabei um das In-der-Welt-Sein des Menschen unter den gleichen Bedingungen der Sterblichkeit wie alle anderen Menschen, und es geht gleichzeitig um das Geschöpfsein, das Kindsein Gottes. Was in der Menschenliebe die Menschen untereinander verbindet, ist, wie Augustinus ausführt, die göttliche Liebe, die in der Tatsache der menschlichen Geschöpflichkeit als schöpferische “caritas” – als Nächstenliebe – erhalten bleibt und die allen Menschen gebührt. Interessant erscheint mir, dass die augustinische “caritas”, die sich auf das in jedem Menschen zeitlose Göttliche  – auf die “psyche” – beruft, in mancher Hinsicht dem frühsozialistisch begründeten Streben nach Gerechtigkeit angesichts des gleichen Menschseins nahe kommt, das nicht nur durch die gleiche Zeitlichekeit im Sinn der Sterblichkeit gekennzeichnet ist, sondern auch durch die gleiche Tatsache der “Gebürtlichkeit”, wie Hannah Arendt formuliert. Darauf gehen wir später ein.

Die dritte Stufe der Liebe ist bei Augustinus ein Streben allein nach Gottesnähe, eine transzendente Liebe, die die Zeitlichkeit überwindet und dem Ewigen nahe ist. Für ihn stimmen “sapientia” und “amor Dei” überein. Es ist über das Verstehen der Geheimnisse der Sprache, dass sich für Augustinus die Nähe zum Göttlichen öffnet. In den “Confessiones”, in den  “Soliloquia” wie in den 28 Bänden des “Gottesstaates” findet sich eine zugleich dichterisch-mystische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem tiefen Bedürfnis nach Verstehen des göttlichen “verbum” resp. “logos”, auf dessen zeitloses Sein jedes menschliche Werden zurückgeht. “Quid enim est, nisi quia tu es? Ergo ‘dixisti et facta sunt’ atque in ‘verbo’ tuo fecisti ea” – .“Was ist denn, ohne dass es wäre, weil Du bist? Also, nur ‘gesprochen’ hast Du, ‘und es ward’ und in Deinem ‘Wort’ hast Du es erschaffen”[8]. Da kein Bild und keine naturwissenschaftliche Begründung genügt, um das Verstehen des Nicht-Verstehbaren zu ermöglichen, geschieht über die Sprache – das Wort und das Wort und das Wort -, ein nicht endendes Streben nach dem Eindringen in das Ewige, das zugleich anwesend und abwesend ist. Darin besteht für Augustinus die äusserste und höchste menschliche Liebe. So wie das kleine Text-Zitat verdeutlicht, findet sich in ihr über die Sprache – über das Wahrnehmen und Denken, das Fragen und Erkennen, das Suchen nach Verstehen – die mit jedem Menschsein ausgesprochene Schöpfung ins Zeitliche hinein, das zugleich am Ewigen teilhat.

 

[1] Aurelius Augustinus. Confessiones / Bekenntnisse. Lateinisch-deutsche Ausgabe. Kösel-Verlag, München 1955

[2] Aurelius Augustinus. Selbstgespräche. Von der Unsterblichkeit der Seele. Lateinisch-deutsche Ausgabe. Artemis Verlag, München/ Zürich 1986

[3] Aurelius Augustinus. Vom Gottesstaat. Bd. I / Bd. II, Artemis Verlag, Zürich 1955

[4] cf. (75), S. 93

[5] ibid. S. 97

[6] ibid. S. 97

[7] ibid. S. 97

[8] Confessiones, 11. Buch, S. 612-613

 

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