Der Blick auf den anderen Menschen – Über den Wert der Besonderheit durch das Anderssein und über die Gefährdung des Andersseins durch das eigene Sich-fremd-Sein. Individualität – das ständig in Frage gestellte primäre Grundrecht des Menschseins

lies auch “Recht auf Verschiedenheit” 1995:

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Der Blick auf den anderen Menschen –

Über den Wert der Besonderheit durch das Anderssein und

über die Gefährdung des Andersseins durch das eigene Sich-fremd-Sein.

Individualität – das ständig in Frage gestellte primäre Grundrecht des Menschseins

 

Schatten der Vergangenheit und die Last der Bilder

Nationale Tagung Rassismus gegen Schwarze in der Schweiz

Mittwoch, 20. März 2002 Universität Bern

 

„Sie reden Schnee –

Das Stundentuch mit allen vier Weltzipfeln

Trägt sie herein

Krieg und Sternenflug hocken beieinander

Suchen Schutz dort wo die Nacht

Voll Muttermilch überquillt

Und mit schwarzem Finger winkt

Wo die Neuentdeckungen für die Seelenfahrer harren

Funkelnd in Finsternis

Tief unter dem Schnee“[1]

 

 

Verehrte Anwesende

 

Sie mögen sich fragen, weshalb ich mit einem der späten Gedichte von Nelly Sachs beginne, wenn es um den Rassismus in den Köpfen „oben „ und „unten“ gegen Fremde geht, deren Haut- und Haarfarbe eventuell dunkler (oder einfach anders) ist als die eigene. Wie erklärt sich diese spezifische Xenophobie (aus dem griechischen „xenos“ / fremd, Fremder und „phobos“ / Angst), die sich zumeist allein schon durch den Blick einstellt, resp. durch die Wahrnehmung eines Menschen als eines „Anderen“?

Das Gedicht widerspiegelt mit knappen Bildern, was Menschen, die mit einem Stempel bezeichnet werden, erleben: die Kälte der weissen Erdhaut (mit dem Namen „Schnee“), die in der weggleitenden Zeit, gemäss dem „Stundentuch“, diesem knapp zugestandenen Lebenskleid, in der vorweg anwachsenden Vergangenheit von Norden nach Süden, von Osten nach Westen auf allen Weltteilen liegt, als quälende Besetzung, die „Krieg“ und „Tod“ heisst, welche die Suche nach Schutz dringlich macht; zugleich wissen sie – die „weissen“ Menschen – um die das Dunkle darstellende nachtverhüllte, stärkende Wärme, die „mit schwarzem Finger winkt“, wie auch um die sinnlich nährende, die psychisch erregende, „funkelnde“ Lust, die „voll Muttermilch überquillt“. Schliesslich kommt die Ahnung zum Ausdruck, dass hier die „Neuentdeckungen für die Seelenfahrer harren“, die psychoanalytischen und die gesellschaftsanalytischen, dass sie sich finden lassen in der dunkeln Verborgenheit des Erdendaseins, im Durchdringen der erstarrten Kälte, „tief unter dem Schnee“.

Es geht um den äusseren und den inneren Blick auf die verborgene Geschichte der Entfremdung der Menschen von sich selbst und von den anderen Menschen, es geht um die Tatsache der Kälte auf dieser Erde, durch welche Krieg – Symbol jeder Art der menschenverachtenden, destruktiven Gewalt – und Masslosigkeit im technologischen und utopischen Beherrschungswunsch – dem „Sternenflug“ – überhaupt umgesetzt werden. Es geht auch um die erdnahe, regenerierende Kraft der Wärme, welche einerseits durch die winkende schwarze Hand, die anzieht, symbolisiert wird, welche andererseits durch den nachtähnlichen Weg des Erkennens, durch welchen die Ursachen der weissen Kälte – des „Schnees“  – auf der Erde zum funkelnden Licht in der Finsternis werden.

Von Gedicht zu Gedicht lässt Nelly Sachs jede theoretische Erklärung hinter sich zurück und geht im Erkunden der sich fortsetzenden Entwertung von Menschen durch Menschen weiter, sie, die 1939, knapp vor Kriegsausbruch, damals 48 Jahre alt und jüdischer Herkunft, d.h. von anderer, fremder Geschichte-Haut, mit ihrer Mutter aus Berlin und aus der tödlichen Bedrohung des rassistischen Wahns fliehen konnte und in Schweden als Flüchtling zu überleben suchte, unter Bedingungen täglicher Herabsetzung und Existenznot. Die Fragen nach den Ursachen menschlicher Kälte und menschlichen Hasses hat sie in Bildern formuliert, mit einer Wortknappheit, die aus der Übersetzung der Empfindung in Sprache geschieht. Immer ist ein Entsetzen spürbar, dass der Mensch sich selber fremd ist, und dass er die Gefühle der Angst vor dem eigenen Ich, eventuell gar der Dunkelheit und Nicht-Akzeptanz des eigenen Selbst, d.h. des eigenen Ich-Bildes, auf diejenigen überträgt, die als „anders“ definiert werden.

Worauf gründet die sich über Generationen fortsetzende Verweigerung des Erkennens der Ursachen der Xenophobie, d.h. des krankhaft angstbesetzten inneren Blicks auf das, was dem Menschen in sich selbst fremd ist und was aus dem Unbewussten in den äusseren Blick übertragen wird, so dass es zur kalten Abwehr und Herabsetzung der dunkeln Menschen, die das Fremde repräsentieren, kommt, eventuell gar mit der Wiederholung einer von Kälte getragenen Vernichtungshaltung, die auf die menschliche Urschuld zurückgeht? Worauf gründet die sich fortsetzende tragische Fortsetzung dieses Blicks, resp. die sich während Jahrhunderten wiederholende Verweigerung einer Korrektur des Blicks? Warum auch hier im kleinen, von Aussen geschützten Haus des menschlichen Zusammenlebens, das „Schweiz“ heisst? Warum geht die über Generationen weitergetragene Geschichte der Ahnen, deren Heroentum, wie in anderen Ländern, mit erlebtem oder angetanem Leiden wie auch mit Schuld verbunden ist, bis in die Jetztzeit weiter und wird zur kollektiven Idiosynkrasie dem eigenen Fremden gegenüber(aus dem griechischen „idios“ / eigen, für sich, und „synkrasis“ / Mischung mit etwas), die zur Überempfindlichkeit und Abneigung, zu Angst und zu Hass allem Fremden gegenüber wird, insbesondere dem dunkeln Fremden gegenüber, das gleichzeitig anziehende Wärme repräsentiert? Eine verhängnisvolle Spaltung bewirkt der „Schnee“ – Bild für die Idiosynkrasie – in den Menschen auf dem weissen Erdteil.

Was Nelly Sachs durch ihre Gedichte vermittelt, ist, dass nicht wissenschaftliche Theorien, dass nicht religiöse oder politische Ideologien eine Korrektur bewirken können, sondern allein das aus dem eigenen Leiden erwachsende Erkennen und die Zustimmung zum Erkennen – diese schwerste Schule sowohl in der individuellen wie in der kollektiven Entwicklung der Zeit. Denn der rassistische Wahn, diese destruktive menschliche Idiosynkrasie, gründete immer auf der Definition des/der Anderen als des/der „Nicht-Gleichen“ in der Nähe der Lebensgleichzeitigkeit, wobei darunter nicht nur die selbstverständliche Besonderheit jedes Individuums – die Individualität – verstanden wurde/wird, sondern ein „nicht-gleicher“, „ungleicher“ Wert des Menschseins überhaupt. Dass jeder Mensch als Kind zur Welt kommt, das weder seine innere genetische Besonderheit noch die äussere Besonderheit des Aussehens wählen kann, dass sogar innerhalb der eigenen Familie und innerhalb der eigenen kulturellen Kollektivität jede Differenz und Besonderheit ein Aufsehen oder gar eine Ablehnung bewirkt, ist eine Tatsache. Tatsache ist daher auch, dass jede persönliche und kulturelle Besonderheit in der kaum zählbaren Fülle des Menschsein gefährdet ist, wenn der Mensch die eigene Besonderheit zur allein geltenden erklärt, resp. wenn er die Erkenntnis verweigert, dass auch er/sie in seiner/ihrer Besonderheit von der Akzeptanz durch die Anderen abhängig ist.

„ … Auch wir hinterlassen

unser Einsamstes den Neugeburten –

Einer dreht sich um

und sieht in die Wüste –

die Halluzination öffnet

die Wand der Sonnenwildnis

wo ein Ahnenpaar

die Sprache des enthüllten Staubes spricht

muschelfern unterm Siegel -…[2]

Was ist das „muschelferne“ Siegel, das Nelly Sachs meint? –welches Siegel, das vor Milliarden von Jahren geprägt wurde? In einer alten Märchensammlung aus dem „Schwarzen Amerika“, aus welcher ich meinen Kindern vorlas, geht die erste Erzählung auf die Schöpfungsgeschichte ein, damit auf die Frage, wie und warum die Menschen als Schwarze und als Weisse entstanden. Es heisst dort, dass die ersten Menschen – Adam und Eva – Schwarze waren, wie auch ihre ersten Kinder, darunter die Söhne Kain und Abel. Kain aber sei böse gewesen, streitsüchtig, rücksichtslos, gewinnsüchtig und eifersüchtig. Warum er dies war, wird nicht geschildert. Eines Tages, bei einem Streit auf dem Acker um die beste Wassermelone, habe er seinen Bruder Abel getötet. Als daraufhin der Herr und Schöpfer von hinten auf Kain zugegangen sei und ihn gefragt habe, wo sein Bruder sei, habe Kain grossspurig geantwortet, dass er nicht seines Bruders Hüter sei; er habe ihn nicht in die Tasche gesteckt. Als der Herr und Schöpfer nochmals fragte, wo der Bruder sei, habe Kain sich umgewandt und vor sich den Herrn gesehen. Da sei er vor Schreck erblasst, sein Haar sei glatt geworden und sein Gesicht, ja sein ganzer Körper bleich und weiss – wie Schnee.

So schildert das Märchen, dass das „Siegel“, unter welchem „die Sprache des enthüllten Staubes“ liegt, bei den Menschen mit „schwarzer“ Haut die Urtrauer um den verlorenen, ermordeten Bruder verdeckt, bei jenen mit „weisser“ Haut die Urschuld und die Angst vor der Rache, daher die Kontroll- und Beherrschungssucht den „Schwarzen“ gegenüber. Dieses „Siegel“ ist die einsamste genetische Weitergabe an jedes neugeborene Kind, die darauf harrt, geöffnet und geklärt zu werden.

Olympe de Gouges, diese mutige Kritikerin des mangelhaften Erkennens ihrer Zeit – der Zeit der französischen Revolution -, unter deren fundamentalistischen Folgen auch sie auf dem Schaffot das Leben verlor, sie hielt 1788 in einem Aufsatz klagend fest[3]: „… dass das blut- und goldgierige Europa die glückliche Welt gebrochen hat. der Vater hat dem Kind die Anerkennung verweigert, der Sohn hat den Vater der Opferung ausgesetzt, die Brüder haben gegeneinander gekämpft und die Besiegten wurden auf dem Markt zum Kauf angeboten. Was sage ich? – es wurde zu einem Markt in allen vier Teile der Welt, ein Menschenhandel – grosser Gott! – und die Natur erzittert nicht?[4]“ Aus der Urschuld ging/geht die Fortsetzung der Schuld und des Leidens weiter, geht weiter, weil sie verdrängt wird. All dies prägt den Blick der „schwarzen“ Menschen auf die „weissen“, den Blick der Trauer, der Angst und der Rache, prägt auch den Blick der „weissen“ Menschen auf die „schwarzen“, in der Fortsetzung der herabsetzenden, destruktiven Macht, welche die Sehnsucht nach dem Wert der naturnahen Urliebe überdeckt. Dass der Streit zwischen den ungleichen Brüdern bis zur Tötung des einen durch den anderen weitergeht, dass sowohl Neid und Schuld, Trauer und Angst sich fortsetzen und in jedem Blick spürbar werden, ist die Tragik der Generationen überdauernden Verweigerung zu lernen, das Andersseins in der gleichen Menschheitsfamilie zu akzeptieren.

Über die psychoanalytische Klärung menschlicher Geschichte wissen wir, dass alles, was nicht aufgearbeitet wird/werden kann, sich tatsächlich auf folgenschwere Weise wiederholt, wie dies die „Kriege“ – jede Art von herabsetzender, leidenverursachender, todbringender Gewalt – beweisen, alle „Kriege“, die im privaten und im öffentlichen Raum in Afrika selber, in Europa, in den USA und in den anderen Teilen der Erde geschehen, in Asien und in Russland, auch in den Inselwelten. Nach welcher „Hautfarbe“ Täter und Opfer sich unterscheiden, bestimmen dabei narzistische Machtgestalten im Namen von Religion und Gewinn. Viele Bilder trage ich in mir, bis zurück in meine Kindheit, aus allen Erdteilen Bilder, deren Geschichten ich erzählen könnte, was Tage, Nächte und Monate bräuchte, während welcher durch den Blick der Zuhörenden neue Geschichten erzählt würden.

Das Wichtigste im so schwer umsetzbaren Erkennen dessen, was dem Menschen im eigenen Ich fremd ist und was er beim Betrachten des anderen Menschen als fremd erachtet, ist der grosse Wunsch nach Respekt vor der nicht selber gewählten, über die Generationengeschichte geschaffenen Individualität, es ist der Wunsch nach dem Recht auf das eigene Ich- und Anderssein, das jedem Menschen auf gleiche Weise zustehen sollte, unabhängig davon, ob er/sie mehr oder weniger schwarz oder weiss sei, ohne einer Vordefinition als „gut“ oder als „böse“, im Erkennen der nicht aufhebbaren, gegenseitigen und wechselseitigen Abhängigkeit von einander. Endlich sollte doch die Urgeschichte dem Erlernen von „Frühlingen“ dienen, d.h. dem Erlernen des Wertes des Andersseins als Wert der individuellen Besonderheit, anstelle der Wiederholung von Schuld.

„Wo nur finden die Worte                                                      für deine entzündete Himmelfahrt

die Erhellten vom Erstlingsmeer                                            die Worte

die Augen-Aufgeschlagenen                                                  die ein zum Schweigen gesteuertes Weltall

die nicht mit Zungen verwundeten                                         mitzieht in deine Frühlinge“[5]

die von den Lichter-Weisen versteckten

 

[1] Nelly Sachs. Glühende Rätsel, in: Späte Gedichte, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1961, S. 178

[2] Nelly Sachs, a.a.O. S. 179

[3] Olympe de Gouges. Oeuvres. Edition Mercure de France, Paris 1986, S. 83: Réflexions sur les Hommes Nègres (Février 1788).

[4] „Le père a méconnu son enfant, le fils a sacrifié son père, les frères se sont combattus et les vaincus ont été vendus comme des boeufs au marché. Que dis-je? – c’est devenu un Commerce dans les quatre parties du monde. Un commerce d’hommes …grand Dieu! Et la nature ne frémit pas“ (Übersetzung durch maw).

[5] Nelly Sachs. a.a.O. S. 190

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