“Den toten Punkt überwinden” – Zionistische Auseinandersetzungen um den Zionismus

“Den toten Punkt überwinden”

Zionistische Auseinandersetzungen um den Zionismus

 

Kurz nach der Ermordung Yitzhak Rabins durch einen jungen Israeli wurde der Schriftsteller Amos Oz, ein entschiedener Vertreter eines politisch und wirtschaftlich autonomen Palästinenserstaates, nach dem Selbstverständnis Israels gefragt sowie nach dem Verhältnis Israels mit den Palästinensern[1]. Im Lauf des Gesprächs betonte Oz mehrmals, es sei “falsch und gefährlich, Zionismus mit Kolonialismus gleichzusetzen, schlagwortartige Begriffe würden unser analytisches Bewusstsein verengen”. Amos Oz trat in diesem Interview, wie seit Jahren schon, sowohl für das Recht auf nationale Selbstverteidigung ein wie für das Recht eines Volkes auf Frieden, für beide Seiten. Die Option eines dauerhaften Friedens lasse sich, seiner Ansicht nach, aus dem common sense begründen: “Feinde müssen sich nicht lieben, um in Frieden zu leben. Sie müssen pragmatisch sein und einen Weg finden, um das Töten zu beenden. (…) Ich weiss, dass in einem Konflikt Fanatiker auf beiden Seiten sich gegenseitig Kraft geben. Weil Hass mehr Hass gebiert, Verzweiflung noch mehr Verzweiflung, Gewalt nur Gewalt.” Und etwas weiter fährt er fort, dass Wut leichter zu verkraften sei als Angst. “Die jüdischen Fanatiker haben nicht nur Angst vor Arabern, sie fürchten die ganze Welt, vor allem jene Juden, die mutig für eine Aussöhnung eintreten. Der feige Mord an Yitzhak Rabin ist die logische Folge dieser Angst.”

Um “Aussöhnung” geht es Amos Oz, d.h. um eine politische Lösung mit gegenseitig garantierten Rechten, Rücksichten und Pflichten – der einzigen Gegenoption zu Angst, Fanatismus und Gewalt. Amos Oz wiederholt und bekräftigt dadurch eine Haltung, die seit Beginn der zionistischen Bewegung von bedeutenden, weitsichtigen Zionisten und Zionistinnen vertreten wurde. Einer der bekanntesten unter diesen ist Martin Buber, doch nicht der einzige. Schon 1891 schrieb der Gründer des Kulturzionismus, Achad Ham[2], nach seiner Rückkehr aus Palästina nach Russland warnend: “Wenn einmal die Zeit kommen wird, wo sich das Leben unseres Volkes in Palästina so weit entwickelt hat, dass sich die Landesbevölkerung mehr oder weniger beengt fühlt, dann wird sie uns auch nicht leichthin ihren Platz räumen.”

Die “arabische Frage” stand in der Folge in zahlreichen Reden, Aufsätzen, Tagebucheintragungen und Briefen, sogar in der Belletristik im Mittelpunkt von politischen und kulturellen Erwägungen, von Sorge, Hoffnungen, ja von Selbstbezichtigungen. 1913 schrieb der Schriftsteller Mosche Smilansky[3]: “Nach dreissig Jahren des Siedelns sind wir, die wir den Arabern blut- und rassemässig nahestehen, ihnen fremd geblieben. (…) Wir waren ihnen und ihren Nöten fremd, solange sie unterdrückt waren, wir sind ihnen und ihrer Freude fremd geblieben, als ihnen die Sonne der Freiheit aufging. (…) Während der dreissig Jahre unseres Hierseins sind nicht sie uns, sondern wir ihnen fremd geblieben.”

In der Klage schwingt Ratlosigkeit mit, prallte doch der Wunsch dieser frühen Zionisten nach guten Nachbarschaftsbeziehungen – über Handel, Gewerbe, den Austausch von Dienstleistungen, z.B. medizinischen, von landwirtschaftlichen Fertigkeiten und Gütern – immer wieder am heftigen arabischen Widerstand gegen die Errichtung einer “jüdischen nationalen Heimstätte[4]” ab, wie Achad Haam es vorausgesehen hatte. Sehr klarsichtig hielt 1921 Zeev Jabotinsky[5], der “politische Mentor” Menachem Begins, wie ihn Paul R. Mendes-Flohr nennt, fest: “Heutzutage bilden die Juden eine Minderheit, in weiteren zwanzig Jahren könnten sie durchaus bei weitem in der Mehrheit sein. Wenn wir Araber wären, würden wir dem auch nicht zustimmen. Und auch die Araber sind gute Zionisten, wie wir. Das Land ist voll von arabischen Erinnerungen. Ich glaube nicht daran, dass sich der Abgrund zwischen uns und den Arabern durch Geld, Geschenke und gute Worte überbrücken lässt. Man hat mir vorgeworfen, ich lege der arabischen Bewegung zu viel Bedeutung bei. Meine Bewunderung für diese Bewegung sei ungebührlich. Aber die Bewegung existiert.”[6] Selbst Ben Gurion, dem häufig – u.a. auch von Hannah Arendt – nationalistische Sturheit vorgeworfen wurde, hielt am “Weltkongress für das arbeitende Palästina”, 1930 in Berlin, in einer Rede fest, es müsse “bei aller Unbequemlichkeit, die dies für uns mit sich bringt”, klar sein, “dass eine grosse Anzahl Araber jahrhundertelang in Palästina gelebt hat, dass ihre Väter und Vorväter dort geboren und gestorben sind und dass Palästina ihr Land ist, wo sie auch in Zukunft leben wollen. Dieser Tatsache müssen wir liebevolles Verständnis entgegenbringen und alle notwendigen Schlüsse daraus ziehen. Dies stellt die Grundlage für eine echte Verständigung zwischen uns und den Arabern dar”[7].

Diese Einsicht, die einer idealistischen Perspektive entsprach, kollidierte mit den realen Bedürfnissen und Interessen beider Bevölkerungsteile, sowohl der ansässigen arabischen wie derjenigen des Jischuw[8]. Jizchak Ben Zvi[9], welcher der zweite Präsident des Staates Israel sein wird, hielt 1922 in einer Rede fest, dass “übergrosse Rücksichtsnahme, aus moralischen Motiven, auf die Gefühle und Interessen der arabischen Bevölkerung sich leider als unvereinbar mit der Förderung der Bedürfnisse und Anliegen des Zionismus erweise, nämlich freier jüdischer Einwanderung und Niederlassung in Palästina”[10]. Diese zwei zionistischen “Bedürfnisse und Anliegen” wiederum waren nicht einfach ein Machtkonstrukt, sondern entsprachen einerseits einer nie in Frage gestellten Verbundenheit der Juden im Exil mit Israel, der angesichts des seit Beginn des 20. Jahrhunderts in allen europäischen Ländern anwachsenden Antisemitismus eine neue Relevanz zukam, und andererseits war mit der im November 1917 erfolgten Balfour-Deklaration das Recht des jüdischen Volkes auf Palästina durch die westlichen Staaten und den Völkerbund festgehalten und bekräftigt worden, worauf dann im April 1920 die Allierten beschlossen, die Balfour-Deklaration solle auch die Rechtsgrundlage für das Palästinamandat sein, mit dem Grossbritannien betraut wurde.

Wenn jedoch zwei Völker ihr je eigenes Recht auf dasselbe Land als Grundrecht vertreten, bedürfte es von beiden Seiten grössten politischen Geschicks, kluger Zurückhaltung und einer langen Frist des Verhandelns, damit die “Gleichberechtigung beider Nationen”, wie Chaim Weizmann[11], der Präsident der zionistischen Weltorganisation, am 17. Januar in einem Brief festhielt, nicht in einer Handlunsaporie enden würde. “Die Araber sind die glücklichen Besitzer, während wir das Recht derer zu wahren haben, die stets im Unrecht sind. (…) Während wir den Grundsatz der Gleichheit zwischen Juden und Arabern in dem künftigen Staat Palästina anerkennen, drängen die Araber auf die sofortige Errichtung jenes Staates, denn zur Zeit würden ihnen die Umstände erlauben, daraus ein arabisches Dominium zu machen, von wo kein Weg zurück zu wirklicher Gleichheit führt. (…) All die arabischen Einwände gegen das, was wir im Laufe der letzten zehn Jahre in Palästina gemacht haben, laufen letzten Endes auf eine einzige Tatsache hinaus: dass wir gekommen sind, dass wir weiterhin kommen und dass wir vorhaben, in noch grösseren Mengen zu kommen. (…) Wenn unsere nationale Heimstätte in Palästina jemals erstehen soll, wenn das Recht auf freien Zugang zum Land aufrechterhalten werden soll, wenn die Vorstellung von den Rechten beider Nationen gelten soll, ist klar, dass derjenigen Hälfte der Bevölkerung, die sich bereits an Ort und Stelle befindet und die entschlossen ist, die andere Hälfte draussen zu halten, weder freie Bahn noch Rechte eingeräumt werden dürfen, die nur der Gesamtbevölkerung zukommen. (…) Ich sage es ganz deutlich und im vollen Bewusstsein meiner Verantwortung: Ich werde unsere nationale Hoffnung oder die Grundlagen unserer Existenz nicht für einen Strohhalm preisgeben. (…) Wir dürfen weder wider das Recht sündigen noch die Zukunft unseres Volkes verraten”[12].

Alle oben genannten Voraussetzungen für eine mögliche gütliche Regelung des Konflikts – politisches Geschick, kluge Zurückhaltung und eine lange Frist des Verhandelns – waren nur sehr eingeschränktermassen gegeben. Die “andere”, die arabische Seite war wirklich entschlossen, die Juden “draussen zu halten” und machte dies immer wieder mit gewaltsamen Ausschreitungen gegen die jüdischen Siedlungen deutlich; während der Jischuw an der Schaffung eines fait accompli arbeitete – durch die Errichtung eines eigenen Schulsystems, einer eigenen Selbstwehr, der Hagana, einer institutionellen Struktur für die Selbstregierung, eines Netzes von landwirtschaftlichen Siedlungen sowie einer Förderung der Einwanderungsbewegung in Europa, wo die beängstigende politische Entwicklung die Alija zu einer rettenden, zukunftsweisenden Option machte, vor allem für junge Menschen aus Russland, Polen, Deutschland etc. Auf Grund dieser komplexen Bedürfnislage wurde der wachsende Konflikt in Palästina von den Zionisten einerseits nach aussen heruntergespielt, mit Anpassungsproblemen der Araber erklärt und mit der Hoffnung, dass diese geringer würden, da die Araber ja die Vorteile der jüdischen Besiedlung einsehen würden. Andererseits wurde intern, d.h. innerhalb der zionistischen Bewegung, vor allem aber innerhalb des Jischuw, von einem “tragischen” Konflikt gesprochen, gegen welchen eine entsprechende Realpolitik aufzubauen sei.

Martin Buber[13] lehnte beide Haltungen ab, sowohl die Vertuschung des Konflikts wie dessen Dramatisierung. Er vertrat die Meinung, dass die Probleme offen angeschaut und akzeptiert werden müssen, bis eine für beide Seiten gerechte Lösung gefunden werde. Der Zionismus solle nicht die realpolitische, sondern die moralische Frage ins Zentrum seiner politische Arbeit, seines Denkens und Handelns stellen. Buber war überzeugt, dass sich die arabische Gegnerschaft gegen das zionistische Projekt aus Angst aufgebaut hatte, dass daher die moralische Aufgabe darin bestand, die arabischen Ängste aufzulösen, ohne die zionistischen Bedürfnisse zu verraten. Er sah klar ein, dass es einer gegenseitigen Anpassung der Interessen bedurfte, und dass dies auf friedliche, entgegenkommende Weise geschehen musste, im Sinn des “pazifistischen Zionismus”[14], dessen Hauptanliegen die Vertrauensbildung bei den Arabern und der Abbau ihrer Ängste war.

Eine wichtige Unterstützung fand Buber bei seinem Freund Robert Weltsch[15], der im August 1925, am Vorabend des XIV. Zionistenkongresses, in einem Artikel schrieb: “Es gibt ein Volk ohne Land, aber es gibt kein Land ohne Volk (…) Palästina wird stets von zwei Völkern bewohnt sein, von Juden und Arabern. (…) Das Land kann nur gedeihen, wenn zwischen den beiden Völkern ein Verhältnis gegenseitigen Vertrauens besteht. Ein solches Verhältnis aber kann nur entstehen, wenn diejenigen, die neu hinzukommen – und das sind in diesem Fall wir -, mit dem ehrlichen und aufrichtigen Willen kommen, mit dem anderen Volk zusammenzuleben, auf der Basis gegenseitigen Respekts und selbstverständlicher Achtung aller menschlichen und nationalen Rechte.”[16].

Den Vertretern der sog. Realpolitik hielt Martin Buber immer wieder entgegen, dass ihr Handeln kurzsichtig sei. Langfristig – und dies sei die einzige Perspektive, die zähle – sei seine “prophetische Politik” realistischer. Er war sich bewusst, dass alle politischen Entscheide mit Unrecht verbunden sein würden. “Zur Zeit unseres Siedlungswerkes, das faktisch eine – zwar friedliche – Eroberung war, haben die Besten unter uns nie dem Gefühl völliger Unschuld hingegeben in diesem Kampf um diese unsere nationale Existenz, um unseren zukünftigen Generationen Raum zu sichern, waren wir gezwungen, den Raum für die zukünftigen Generationen der Araber einzuschränken. Aber wir waren darauf bedacht, nicht mehr Unrecht zuzufügen, als unser Vorhaben uns auferlegte”[17].

Für Buber bedeutete gerade die Einsicht in das nicht zu verhindernde Unrecht “die Gnade des Menschseins”, nämlich die Verpflichtung zum moralischen Handeln. Mit dieser “Verpflichtung” war seiner Ansicht nach jeglicher Terror unvereinbar, aber auch jeglicher politische Verrat. Als nach Hitlers Machtergreifung 1933 die jüdische Einwanderung in Palästina bedeutend zunahm, reagierten militante arabische Kreise darauf zuerst, 1936, mit einem Generalstreik, darauf, eigentlich bis 1939, mit offenem Aufstand und mit bewaffneten Angriffen auf Siedlungen, auf Kinder und unbewaffnete Erwachsene. Obwohl die Führung des Jischuw darauf mit Zurückhaltung reagierte, begann der Irgun, die jüdische Selbstverteidigungsorganisation, auf eigene Faust mit Vergeltungsschlägen. Die Reaktion der englischen Mandatsregierung wiederum war ein “Weissbuch, in welchem sie faktisch von ihrer Verpflichtung Abstand nahm, die Errichtung eines “nationalen jüdischen Heimstätte” zu fördern.In mehreren Schriften kritisierte Buber sowohl den britischen Treuebruch, gerade in einem Moment der akuten Bedrohung jüdischer Menschen, wie den Terror. Er warnte davor, in irische Verhältnisse zu geraten. “Der Kampf darf weder nach arabischem noch nach irischem Muster geführt werden. (…) Wir dürfen in diesem Kampf nichts tun, was die Bande zwischen uns und England zerschneidet, nichts, was ein künftiges Übereinkommen mit den Arabern unmöglich macht, nichts, was das Leben der Siedlung in Gefahr bringt”[18].

Als unvereinbar mit der Verpflichtung zum moralischen politischen Handeln erschien Buber auch das Projekt eines Nationalstaates. Buber grenzte sich gegen jeden Nationalismus scharf ab, da dieser “stets Gefahr laufe, der Machthysterie zu verfallen”[19], so wie sich dies seit dem 19. Jahrhundert, insbesondere aber mit der Katastrophe des Ersten Weltkriegs gezeigt habe. Er plädierte für einen binationalen Staat oder für eine Föderation der Staaten des Nahen Ostens.

Diese zwei Optionen aber hatten seit der Biltmore-Konferenz im Mai 1942 in New York keine Chance mehr, wobei diese eine Reaktion auf das britische “Weissbuch” sowie auf die Massenverfolgung, die Massendeportationen und schliesslich, was erst allmählich klar wurde, die Massenvernichtung der Juden in Europa war. David Ben Gurion setzte an dieser Zionisten-Konferenz im Hotel Biltmore durch, dass angesichts der tödlichen Bedrohung der europäischen Judenheit das Mandat für die Errichtung einer “nationalen Jüdischen Heimstätte” in Palästina nicht länger Grossbritannien überlassen werden konnte, sondern an die Jewish Agency übergeben werden musste. Das an der Konferenz erarbeitete Programm schloss mit den Worten. “Die Konferenz erhebt die dringende Forderung, die Tore Palästinas zu öffnen, der Jewish Agency die Kontrolle über die Einwanderung nach Palästina und die zum Aufbau des Landes notwendigen Vollmachten zu übertragen (…) und Palästina als ein jüdisches Gemeinwesen zu begründen”[20]. Dadurch war die nationale Aufteilung des Landes besiegelt und zugleich, wie Buber befürchtete, und damit die Tendenz, “einen Teil der Bevölkerung des Landes zu Bürger zweiter Klasse zu machen”[21]. Genau in dieser Tendenz lag – liegt – das Verhängnis bei jedem Mehrheiten-/Minderheitenverhältnis und -status, so wie auch Hannah Arendt es erkannte.

Buber liess trotzdem nicht locker, die Schaffung eines in seinen Volksteilen gleichberechtigten Zwei-Völker-Staates zu vertreten, der zugleich Mitglied eines nahöstlichen Staatenbundes wäre. 1946, nachdem das entsetzliche Morden durch die Niederlage Deutschlands zu einem Ende gekommen war und die sog. “Palästinische Frage”, rsp. deren Scheitern, wie es hiess, an einer Konferenz in London zwischen Vertretern der Allierten, einem Vertreter des Arabischen Büros in London und Buber erneut diskutiert wurde, bestand Buber mit aller Eindringlichkeit auf der “dringlichen Notwendigkeit, eine neue politische Form zu finden, wie zwei Völker gemeinsam leben und schaffen können”, während Edward Atiya, ein libanesischer Christ, der das Arabische Büro in London leitete, ausdrücklich sagte “Ich meine, ein Abkommen zwischen den Arabern und den Zionisten ist absolut unmöglich. (…) Nicht nur die arabischen Politiker würden einer zionistischen Lösung niemals zustimmen, sondern das ganze arabische Volk”[22].. Atiya schlug bei diesem Gespräch als mögliche Alternative vor, “Palästina jeglicher Beeinflussung von aussen zu entziehen und Araber und Juden den Konflikt dort allein entweder friedlich oder kriegerisch austragen zu lassen”. Buber wies den Vorschlag als programmierte Katastrophe ab. Er bestand darauf, dass eine verfassungsmässige Lösung beidseitig garantierter Gleichberechtigung gefunden werden müsse, um “den toten Punkt zu überwinden”.

Die Ereignisse entwickelten sich anders. Im Februar 1947 gab Grossbritannien das Palästina-Mandat an die Vereinten Nationen zurück. Am 29. November des gleichen Jahres beschloss die UN-Vollversammlung die Beendigung des Mandats und die Teilung Palästinas in zwei Staaten, in einen jüdischen und einen arabischen Staat. Sofort brachen beide Bevölkerungsteile in bürgerkriegsähnliche Gewaltakte gegeneinander los. In einem Leitartikel der Tageszeitung Haaretz vom 29. Januar 1948 rief Martin Buber, gemeinsam mit Judah L. Magnes[23], dem geistigen Vater des Ichud (Vereinigung für die Verständigung zwischen Juden und Arabern), und D. W. Senator[24], einem Mitglied des Ichud, die Juden auf, sich nicht “von der Strasse beherrschen zu lassen. (…) Es verbreitet sich bei uns eine Psychose des Krieges, eine Psychose der Angst, die jeden fremd aussehen lässt – Verbrecher und Mörder, Angreifer und Feind. Diesem seelischen Zustand entsprechend handelt die Menge und tötet und mordet alle fremden Vorübergehenden.[25]” Die Entwicklung beschleunigte sich. Am 14. Mai 1948 konstituierte sich der Jischuw unter der Leitung David Ben Gurions als unabhängiger Staat Israel. Wenige Stunden später bombardierten äyptische Bomber Tel Aviv, und Armeen aus fünf arabischen Staaten unterstützten die palästinensischen Truppen in ihrem Angriff auf das eben als Staat deklarierte Israel. Im November 1948 reagierte Buber auf die ihm gewohnte Weise. In einem Artikel “Schluss mit leeren Worten”[26] warnte er die Juden davor, ausschliesslich die Araber als Aggressoren zu bezeichnen, da diese wiederum die politischen Entscheide der Zionisten als Aggression betrachten würden. Es gälte, das Bild, das die Araber von den Juden hätten, zu korrigieren.

Dieser Artikel Martin Bubers löste selbst im nächsten Freundeskreis scharfe Kritik aus, doch Buber änderte deswegen seine Haltung nicht. Am 10. März 1949 wurde David Ben Gurion, der bis dahin als provisorischer Regierungschef gewirkt hatte, als erster gewählter Ministerpräsident des Staates Israel eingsetzt. Zwei Wochen später lud er die bedeutendsten Intellektuellen des Landes ein, um mit diesen die moralischen und geistigen Perspektiven des jüdischen Staates zu diskutieren. Auch Martin Buber gehörte zu den Gästen. Als vordringliche Aufgaben bezeichnete er einerseits die geistige Integration der Neu-Einwandernden, anderereits eine unverzüglich zu erarbeitende gerechte Lösung für die Hundertausenden von arabischen Flüchtlingen, die ihre Häuser im israelischen Staatsgebiet verlassen hatten und die in die arabischen Nachbarländer geflohen waren.

Beide Problemkreise stellen sich dem Staat Israel heute noch, nach vielen weiteren Kriegen, Einwanderungen, Racheakten, Übereinkünften und Enttäuschungen. Geht es tatsächlich um eine “politische Niederlage”, wie Buber 1950 in einer Rede fragte? Um vorläufige Niederlagen wohl, nicht aber um eine endgültige. Damals hielt Buber fest, der Ichud, d.h. die Vereinigung zur besseren Verständigung zwischen Juden und Arabern, müsse weiterhin, ja erst recht seine Arbeit tun, dies sei ein “gültiges und brennendes Anliegen.” Und programmatisch fügte er bei, und dies trifft bis zum heutigen Tag zu: “Denn ist die Sache, für die wir mit dem Wort gekämpft haben, eine gute Sache, und ist sie besiegt worden, so ergibt sich daraus nur, dass wir uns nunmehr erst recht für sie einzusetzen haben. (…) Erst recht liegt es nahe, uns zu fragen, ob wir der guten Sache mit hinreichender Energie gedient haben, uns zu fragen, ob diese unsere Sache nicht eine so aussergewöhnliche, so aus der gewohnten Bahn der Geschichte tretende war und ist, dass sie zu ihrer Verwirklichung den Menschen, der ihr dient, in einem Mass fordert, das wir ihr nicht gewährt haben. Nicht zu schweigen haben wir also, wenn die geliebte Sache besiegt worden ist, sondern richtiger als bisher und stärker aös bisher für sie zu zeugen.”[27]

*

Publiziert in: MOMA Monatsmagazin für neue Politik  9/10 1997

 

[1] Interview von Thomas Knauf mit Amos Oz, NZZ, 29. Januar 1996.

[2] 1856 – 1927. Die zitierte Textstelle findet sich in seinem Aufsatz “Wahrheit aus dem Lande Israel”, zugänglich in dem von Paul R. Mendes-Flohr herausgegebenen und eingeleiteten Band: Martin Buber. Ein Land und zwei Völker. Zur jüdisch-arabischen Frage. Insel Verlag, Frankfurt a.M. 1983. Paul R. Mendes-Flohr ist Professor für Neuere jüdische Geistegeschichte an der Hebräischen Universität, Jerusalem.

[3] 1874 – 1953. Er schrieb unter dem – arabisch klingenden – Pseudonym Hawaja Mussa Erzählungen auf Hebräisch, in denen er das arabische Dorfleben verherrlichte.

[4] so die Bezeichnung des ursprünglichen zionistischen Projekts

[5] 1880 – 1940, ein bedeutender politischer Kopf, Gründer der Revisionistenpartei

[6] zitiert bei Paul R. Mendes-Flohr. Martin Buber, a.a.O. S.16

[7] zitiert a.a.O., S.15

[8] wie die jüdische Gemeinschaft in Palästina genannt wurde

[9] 1884-1963

[10] zitiert a.a.O. S.19

[11] 1874 – 1952

[12] zitiert a.a.O., S.13-14

[13] 1878 – 1965

[14] Der Begriff versteht sich weniger im traditionellen Sinn von “Pazifismus” denn als moralische Haltung gemeinhin.

[15] 1891 – 1982, Herausgeber der deutschen Zionistischen Wochenzeitschrift “Jüdische Rundschau”

[16] zitiert a.a.O., S.27-28

[17] aus dem Aufsatz “Anstelle von Polemik” von 1956, publiziert bei Paul R. Mendes-Flohr, a.a.O. S.347

[18] aus dem Aufsatz “Pseudo-Simsonismus” von 1939, a.a.O. S.183

[19] aus der anlässlich des XII. Zionisten-Kongresses in Karlsbad gehaltenen Rede “Nationalismus”, bei Paul R. Mendes-Flohr, a.a.O. S. 73

[20] zitiert bei Paul R. Mendes-Flohr, a.a.O. S:214

[21] a.a.O. S. 216

[22] aus “Den toten Punkt überwinden”, a.a. O. 265 ff

[23] 1877 – 1948

[24]  1896 – 1963

[25]  a.a.O. S. 281

[26]  erschienen in “Beajot haSman”, zitiert a.a.O. S.291 ff

[27]  zitiert aus “Nach der politischen Niederlage”, a.a.O. S.317

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