Über die Aktualität von sozialer Gerechtigkeit und Solidarität – “L’obligation prime le droit” (Simone Weil)

Über die Aktualität von sozialer Gerechtigkeit und Solidarität

“L’obligation prime le droit” (Simone Weil)

 

Auffallend ist, dass die sozialpolitischen Fragen immer seltener grundsätzlich diskutiert werden, sondern dass die Diskussion zumeist punktuell und konditional geführt wird, d.h. vor allem dann, wenn es um die Finanzierbarkeit bestimmter sozialer Aufgaben, geht, etwa in Hinblick auf anstehende gesetzliche Regelungen, so im heutigen Zeitpunkt in Hinblick auf die 11. AHV-Revision, sodann auf die Teilrevision der Arbeitslosenversicherung, der Erwerbsersatzordnung oder der Familienzulagen, in Hinblick auf die Regelung der Mutterschaftsversicherung etc. Auch bei ausländerrechtlichenGesetzesentwürfen und -entscheiden sowie bei der Frage des Beitritts der Schweiz zur europäischen Union wird regelmässig auf zentrale und entscheidende Weise die Frage aufgeworfen, wie die sozialen Folgekosten zu bezahlen seien.

Über die “Aktualität” von sozialer Gerechtigkeit und Solidarität nachdenken soll daher Anlass sein, die nicht-abbrechende Aktualität, mithin die stete, zeitunabhängige soziale Verpflichtung zur Frage zu machen. Worauf gründet sich die Verpflichtung zur Solidarität?

Ich möchte einen Begründungsansatz zur Diskussion vorlegen, den Simone Weil 1943 in ihrem letzten, kurz vor dem Tod fertiggestellten Buch “Enracinement” im Londoner Exil entwickelt hat. Sie hält darin fest, dass der Rekurs auf Rechte – sie meint unausgesprochenerweise die sozialen Grundrechte – müssig sei, und dasss es ebenso müssig sei festzustellen, jeder Mensch habe zugleich Rechte und Pflichten. Rechte gelten ja nur, wenn sie anerkannt werden, schreibt sie. Ohne deren Anerkennung durch Dritte sind sie bedeutungslos. Was dagegen “einfach” feststeht, ist die Bedürftigkeit jedes einzelnen Menschen, und was ebenso unbedingt gilt, ist die nicht weiter hinterfragbare Notwendigkeit, die sich dem einzelnen Menschen stellt, dieser Bedürftigkeit genüge zu tun, gemäss Simone Weil die Verbindlichkeit des einzelnen Menschen seinen eigenen Grundbedürfnissen gegenüber. Sie argumentiert, dass s elbst wenn ein Mensch völlig allein auf sich gestellt wäre, diese Grundbedürfnisse und diese Grundverbindlichkeit, sie zu stillen beständen. “L’obligation prime le droit”.

Da nun aber kein Mensch in der Lage ist, seine Grundbedürfnisse allein zu stillen, sondern da sich alle Menschen in einer nicht aufhebbaren Abhängigkeit von anderen Menschen befinden, und da diese Abhängigkeit in beinah allen Zusammenhängen reziprok ist, gegenseitig und wechselseitig, kann die primäre Verbindlichkeit als je gegenseitige und wechselseitige definiert werden. Sie besteht, ob sie anerkannt werde oder nicht, allein auf Grund der Tatsache des gleichen Menschseins, ohne dass es irgendwelcher anderer Bedingungen – gesetzesmässiger, standesmässiger, einkommensmässiger oder welcher auch immer – bedürfte. “Des obligation identiques lient tous les êtres humains, bien qu’elles correspondent à des actes différents” (…). Und etwas weiter: “L’objet de l’obligation, dans le domaine des choses humaines, est toujours l’être humain comme tel. Il y a obligation envers tout être humain, du seul fait qu’il est un être humain, sans qu’aucune autre condition ait à intervenir, et quand même lui n’en reconnaîtrait aucune”. Simone Weil hält fest, dass, wer diese Grundverbindlichkeit nicht anerkennt, sich eines Vergehens schuldig macht. “Aucun ètre humain, quel qu’il soit, en aucune circonstance, ne peut s’y soustraire sans crime”. Sie gesteht allerdings ein, dass es Situationen geben mag, wo sich widersprechende Handlungserfordernisse durch deren Gleichzeitigkeit bewirken, dass einer bestimmten Verbindlichkeit nicht Genüge getan werden kann. Und sie folgert, dass die Qualität eines Gemeinwesens oder einer Gesellschaft danach zu bewerten sei, wie häufig oder wie selten solche Unvereinbarkeiten sich zeigen. Auf jeden Fall steht – gemäss Simone Weil – fest, dass nur erst wer auf Grund der je gleichen Bedürftigkeit sich dieser Grundverbindlichkeit nicht entzieht, sondern die sich daraus ergebenden Pflichten leistet, auch Anspruch hat, ein Recht auf Bedürfniserfüllung anzumelden.

Was nun im konkreten Fall wie die Erforderdernis eines Leistungsausweises in Hinblick auf zu erwartenden Sozalleistungen aussehen könnte, ist bei Simone Weil nicht so gedacht. Es heisst lediglich, dass Rechte eine abgeleitete Bedeutung haben und nicht eine primäre. Oder: Dass der Solidaritätsgedanke auf Grund der existentiellen Bedürftigkeit aller Menschen nicht weiter hinterfragt werden kann, sondern zu den primären Gegebenheiten des gleichzeitigen In-der-Welt-Seins, zum immer bestehenden Beziehungsgeflecht des gleichzeitigen Menschseins gehört.

Fragen:

(1) Ist der Begründungsansatz der je gleichen existentiellen Bedürftigkeit tauglich, um den schwindenden Solidaritätsgedanken zu stärken?

(2) Ist es tauglich, statt auf Grundrechte auf Grundverbindlichkeiten zu rekurrieren, um die Frage der sozialen Gerechtigkeit in den einzelnen Gesetzesvorlagen und Verträgen als unumstösslich vorauszusetzen und um deren praktischer Umsetzbarkeit eine grössere Chance zu geben?

 

siehe auch das Editorial in ASYL vom 15. März 1993:

 

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