Alleinsein und Nichtalleinsein – mehr Zustände als diese zwei gibt es nicht – Über die Bedeutung des Netzwerks schreibender Frauen: Rückblick und Bestandesaufnahme

Alleinsein und Nichtalleinsein – mehr Zustände als diese zwei gibt es nicht
Über die Bedeutung des Netzwerks schreibender Frauen: Rückblick und Bestandesaufnahme

Mitte der achtziger Jahre schrieb ich einen Text, der vom Alleinsein und Nichtalleinsein handelte. Er erschien in der Wochenbeilage einer Tageszeitung und ging wieder vergessen. Ich habe kein Exemplar mehr davon. Ich hielt dort fest, dass die zwei Zustände unablösbar miteinander verbunden sind, dass jeder die schmerzliche Begleit- und Kehrseite des anderen ist. Ich weiss noch, dass mir beim Schreiben gewahr wurde, wie früh und unausweichlich ich in Sprache und Sprachen eingepackt und eingebunden worden war, in ganze Hüllen und Schichten von Wörtern, dass ich gar nie wirklich allein, nie sprachfrei, sondern immer umsprochen, besprochen, fremdbestimmt gewesen war – und daher wohl so lange keine Sprache für mich finden konnte. Eine Wehrlosigkeit war die Folge, die ich während meiner ganzen Jugend mit Auflehnung wettmachte. Als ich dann erwachsen war und eine Schar kleiner Kinder zu betreuen hatte, wiederholte sich alles: ich lehrte die Kinder Wörter und Bedeutungen, Sätze, Verse und Lieder, sie vermissten vielleicht die vorsprachliche, noch sprachfreie Welt, ich kann es nur ahnen, und ich vermisste als Schreibende das Alleinsein – und fühlte mich aber zugleich alleingelassen mit allen Aufgaben, die auf mir lasteten. Selbst die Träume wurden Lasten, liess doch die bleierne Müdigkeit der Nachtstunden keine Sprache zu. Die Texte wurden von ihr weggedrückt und weggeschluckt, schien mir; und was selten trotzdem Gestalt annahm, blieb Fragment.

Alleinsein und Nichtalleinsein blieben ambivalent, auch als die Kinder gross und ausgeflogen waren, und als ich das Schreiben zu meinem Beruf machte. Über die sich spröd verweigernde Sprache, über die sich mir entziehende Sprache, über die Sprache als Wille und Vorstellung, über die Sprache als Entweder-Oder, über die Sprache als eigenständiges Subjekt in der Doppeltheit meiner sprachbestimmten eigenen Unvollkommenheit – über so vieles liess sich nicht sprechen, mit niemandem liessen sich diese Mangel- und Entzugserfahrungen besprechen. Auch war mir unklar, was mit den – gegen alle Widerstände entstandenen – Sprachstoffen, mit den – je nach Jahreszeit, je nach Tag- und Nachtzeit, je nach Herzensleichtigkeit oder Weltenschwere – feinen und schweren Stoffen zu geschehen hatte, wenn die Tageszeitung, für die ich damals hauptsächlich arbeitete, dafür weder Platz noch Interesse hatte. Ach, es ging mit nicht anders als den Frauen, die vor mir, manchmal Jahrhunderte vor mir, geschrieben hatten. Die Klagen der Rahel Varnhagen etwa konnte ich zitieren wie meine eigenen.

Die Frauen, die Ende der achtziger Jahre beschlossen, sich im Netzwerk der schreibenden Frauen zusammenzuschliessen, wünschten, einen kleinen Teil ihres Alleinseins zu sprengen. Es waren nicht viele, sie hatten Platz an einem Tisch. Zu den ersten zählten Ursula Eggli, Erica Brühlmann, Salomé Kestenholz, Romi Li, Esther Spinner. Ich gehörte bald auch zu ihnen, und mit mir weitere Schriftstellerinnen und Journalistinnen, so Elisabeth Wandeler Deck und Hedi Wyss. Kristin T. Schnider, die damals das Sekretariat leitete, hatte mich eingeladen. Was uns damals beflügelte, waren Fragen, auf die wir mit unserem Zusammenschluss antworteten: Wer sollte zu uns schreibenden Frauen stehen, wenn nicht wir selbst? Wann, wenn nicht jetzt? Wie, wenn nicht durch gegenseitige Ermutigung, durch gegenseitiges Lesen, durch gegenseitigen Rat? So begannen wir, ein “Bulletin” für die Mitgliederfrauen herzustellen, das während Jahren vor allem Liliane Studer betreute und ausbaute. Wir führten Schreibwerkstätten durch oder Tagungen wie jene vom 14. November 1992 im Frauenzentrum Zürich, wo sich etwa sechzig Frauen einfanden und in vier Workshops an Lyrik, Dramatik, Literaturkritik und an der Analyse von Gewalt in Texten von Frauen arbeiteten.

Im Lauf der Zeit wurde uns immer deutlicher bewusst, dass die wachsende Anzahl von Frauen, die mit dem Beitritt zum Netzwerk sich eines Teils ihres privaten Alleinseins entledigten, wünschten, “mehr in Gegenwart der Wirklichkeit zu leben”, wie Virginia Woolf in einem ihrer Texte festgehalten hatte. Gerade mit dem Beitritt zum Netzwerk konnten sie eine kulturpolitische Aufgabe erfüllen: nicht nur für sich kämpfen, nicht nur, um “ein Zimmer für sich allein” zu haben, nicht nur um die eigene Sprache und um die eigenen Texte kämpfen, sondern zugleich für etwas Gemeinsames, für einen gemeinsamen Kulturraum, der das Leben für alle erräglicher machen würde. Und so setzte sich das Netzwerk im Vorfeld der Abstimmung zum Kulturförderungsartikel am 1. Juni 1994 in Zürich und in Bern mit öffentlichen Lesungen einzelner Mitgliederfrauen für die Annahme des Artikels ein, ebenso wie es drei Monate später, am 7. September 1994, in Zürich, Basel und St.Gallen mit Lesungen und Musik ein eindrückliches Manifest gegen Fremdenhass präsentierte, um der Abstimmung zum Antirassismusgesetz ein frauen- und kulturspezifisches Gewicht zu verleihen. Wir hielten damals in Zürich fest, dass die schreibenden Frauen mit ihrem Netzwerk ein Modell gelebten Lebens vorstellen wollten, in welchem Fremdenfeindlichkeit und Rassismus keinen Platz haben, wohl aber gegenseitige Aufmerksamkeit, vielleicht sogar Förderung und Freundschaft.
Heute ist es nicht anders. Alleinsein und Nichtalleinsein sind in der Unvollkommenheit der zwei Zustände ein ständiger Stachel, die Bedingungen schöpferischer Arbeit zu verbessern – sowohl für die einzelne Schreibende wie für alle Mitgliederfrauen. Das Netzwerk, das sich in diesem Jahr ein neues Leitbild, ein neues Sekretariat und einen neuen Vorstand gegeben hat, bezeugt gerade damit seinen Willen, gegen den resignativen kulturpolitischen Trend das ursprüngliche Motiv der gegenseitigen Förderung und Ermutigung der schreibenden Frauen ernst zu nehmen.
Maja Wicki

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