MOMA-Bücher Dezember-Januar 98/99

MOMA-Bücher Dezember-Januar 98/99

 

Vor Mettris steht ein hoher Ahorn

Hafteindrücke eines politischen Gefangenen aus der Türkei. Von Yusuf Yesilöz. UNRAST-Verlag, Münster 1998. Fr. 23.-

 

Yusuf Yesilöz, nach Folter und Haft 1987 als politischer Flüchtling in der Schweiz emigriert, Verleger von kurdischer Literatur in dem von ihm gegründeten Ararat-Verlag, Autor und Übersetzer, mit einer Schweizerin verheiratet und Vater einer kleinen Tochter, hatte im Frühsommer 1996 beschlossen, die Reise in die Türkei zu wagen, um seine alten Eltern, seine Geschwister und Freunde in der kurdischen Heimat zu besuchen. Immerhin war er eingebürgerter Schweizer und besass neben dem türkischen einen Schweizer Pass. Doch nach der Ankunft auf dem Flughafen in Istanbul wurde er sofort verhaftet, und, unter dem Vorwand des „Separatismus“, tatsächlich wegen der Publikation einer in Ankara erschienenen, aus dem Kurdischen übersetzten Geschichte der kurdischen Literatur, während mehreren Wochen in verschiedenen Gefängnissen in Istanbul und Ankara gefangengehalten. Die Menschen, denen er in den überfüllten, schmutzstarrenden Zellen begegnete, von minderjährigen Knaben bis zu alten Männern, zumeist Kurden aus dem Südosten der Türkei, zum Teil schon nach Istanbul vertrieben, häufig völlig willkürlich verhaftet und ohne Prozess wochen- und monatelang eingekerkert, einzelne krank oder auf entsetzliche Weise gefoltert, wurden Gesprächspartner und Freunde auf Zeit, deren Geschichten er festhält, sodass das kleine Buch zu einer ungewöhnlichen Dokumentation der faschistischen Verbrechen sowie der masslosen Korruption und Schlampigkeit im sogenannten türkischen „Rechtsstaat“ wird, zugleich aber eine Dokumentation der Menschlichkeit, der Hilfsbereitschaft und Verlässlichkeit, die sich unter den Häftlingen, vor allem unter den politischen Häftlingen, entwickelt. Yusuf Yesilöz klagt nicht an, sondern erzählt, und seine sorgfältige, genaue und detailreiche Sprache nimmt die Leserin/den Leser in die Alltäglichkeit des Schreckensregimes hinein, wie mit sanfter Hand, ohne dass sie dessen gewahr werden, aber auch ohne dass er/sie sich von ihm je im Stich gelassen fühlen.

 

Dazwischen

Beobachten und Unterscheiden. Herausgegeben und begleitet von André Vladimir Heiz und Michael Pfister. Museum für Gestaltung, Zürich 1998. Fr. 44

 

Im Museum für Gestaltung ist bis zum 17. Januar 1999 eine Ausstellung zu sehen, die irritiert, verblüfft und auf intensive Weise zum Weiter-und Selberdenken anregt. Mit  „Medium – eine Welt dazwischen“ sind die – zumeist unbewussten – Prozesse gemeint, die sich zwischen den Objekten der sinnlichen Wahrnehmung und dem wahrnehmenden Subjekt abspielen. Dabei wird zunehmend unklarer, was mit „Subjekt“ gemeint ist, in welchem Mass die wahrnehmenden äusseren und inneren Sinne fremdgeprägt und fremdbestimmt sind. Diese Prozesse spielen sich in einem Beziehungsgeflecht ab, das von Hannah Arendt als „inter-esse“ bezeichnet wurde,  in ihrer kognitiven Funktion wurden sie von Simone Weil als „intermédiaire“ bezeichnet, in der Psychoanalyse als Übertragung, Gegenübertragung und Deutung, in den Sprachwissenschaften als Bedeutung, im alltäglichen Austausch als subjektives Verständnis etc.verstanden – immer bezeichnen sie nicht-austauschbare, nicht-wiederholbare Übergänge zwischen etwas und etwas anderem. In welchem Ausmass das „etwas“, z.B. die Tatsache, dass wir als Mann oder als Frau in die Ausstellung gehen, um sie zu betrachten, gesellschaftlich beeinflusst und gepägt ist, ist als Frage wiederum Gegenstand der Ausstellung  ein vergnügliches Spiel mit der Multiplizität von Realität, Identität und Differenz. Dass die Besucherin am Schluss vor der Aufforderung steht „Geh wie ein Mann!“ und sich unmittelbar nachher im Bildschirm von hinten die Ausstellung verlassen sieht, ist der letzte Anstoss, das Spiel mitzuspielen.

Eine besonders anregende Auswahl von Texten und Kontexten zur Realität des Nicht-Realen oder Intermediären, zur Physik des leeren Raum, zu Bildern, die aus dem Meinen, Assoziieren und Deuten entstehen und dem Traum verwandt sind, zum Sprechen, Verstehen, Missverstehen und zum Übersetzen, zur Kopie, zum Double und zur Identität und und – findet sich im Begleitband zur Ausstellung „Dazwischen. Beobachten und Unterscheiden“, in welchem Autorinnen und Autoren versuchen, das Nicht-bildlich-Ausstellbare im Schriftbild, in Sätzen, Absätzen und Aufsätzen abzuhandeln. Und immer geht es dabei in irgendeiner Weise um das irritierende „Zwischen“, das letztlich wie ein Hauch von Lächeln zwischen Gechriebenem, Gedrucktem und Gelesenem hängenbleibt.

 

Vogelflug im Augenwinkel

Gedichte von Brigit Keller. efef-Verlag, Bern 1998

 

„Wie ist das mit den Eisbergen / ich habe vieles noch nie / ins Wort geholt / vertraue das Unter-Wasser / den Worten nicht an“… Und später im gleichen Gedicht mit dem Titel „Weiss die Worte nicht“ heisst es: „Lang übersehene Sprachlosigkeit / wiegt schwer im Leib / will nicht untergehn / muss diese Last ans Licht.” Mir scheint, dass der Weg zur Sprache ,zum eigenen Ausdruck, zur „Haltbarkeit der Sprache“, wie Brigit Keller andernorts schreibt, jedem der Gedichte im schmalen Band, den Nacht- und den Taggedichten, eine eigene Dringlichkeit verleiht. Die Sorgfalt im Zurückblicken, die Widerstände gegen Flüchtigkeit und Schnelligkeit, die Scheu vor eleganter Abstraktion, vor allem der leidenschaftliche Wunsch nach einer verlässlichen Übereinstimmung von Ahnung, Gefühl, Denken und Wort – all dies führt zu einer zum Teil verwunderlichen und seltenen Einfachheit der lyrischen Sprache. “Das Essen ist angerichtet / Niemand ist da / Die Sauce erstarrt / Was hab ich übersehen / War die Türe zu / Die Glocke abgestellt / Der Brief nicht verschickt / Die Einladung nicht geschrieben / Alles im Kopf / Nur im Kopf“…

Brigit Keller, Zürcher Romanistin, hat sich mit diesem ersten Gedichtband als „Übersetzerin“ des Unbekannten und Halbbewussten in Sprache, als Dichterin im besten Sinn des Wortes, in der Schweizer Literatur einen unverwechselbaren Platz geschaffen.

 

 

Antisemitismus in der Schweiz

Von Aram Mattioli (Hg.). Mit einem Vorwort von Alfred A. Häsler. Zeitgeschichte – Orell Füssli Verlag. Zürich 1998. Fr. 68.-

 

„Dieser Hass hat Züge des Aberglaubens, ebenso wie der freiwilligen Verblendung, der Dämonenfurcht wie der pfäffischen Verstocktheit, der Ranküne der Benachteiligten, Betrogenen ebenso wie der Unwissenheit, der Lüge und Gewissenlosigkeit wie der berechtigten Abwehr, affenhafter Bosheit wie des religiösen Fanatismus“, bemerkte der Schriftsteller Jakob Wassermann im Jahre 1921, nachdem überall in Europa der Antisemitismus sich mit schamloser Unverfrorenheit in allen Schichten der Bevölkerung breitgemacht hatte, Jahre vor der systematischen Hetz-und Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus. Das erschreckende Ausmass an Irrationalität, zugleich aber an boshafter interessierter Zielstrebigkeit, die mit Judenfeindschaft und Antisemitismus gerade in der Schweiz seit der Helvetischen Revolution von 1798 Verfassungsbestimmungen und Sondergesetze prägten, mag, gemäss Aram Mattioli, auch hinter der – sonst unverständlichen – wissenschaftlichen Nachlässigkeit  stehen, mit welcher der schweizerische Antisemitismus jahrzehntelang von der Historiographie angegangen wurde, mit punktuellen Ausnahmen, welche die unmenschliche Rückweisungs- und Transitpolitik jüdischen Flüchtlingen gegenüber betrifft – etwa dem Bericht Ludwig von 1957 oder Alfred A. Häslers Reportage „Das Boot ist voll“ von 1967. Das vorliegende Buch nun soll auf beinah 600 Seiten diesen Mängeln entgegenwirken, nicht im Sinn einer abschliessenden oder abgerundeten Forschungsbilanz, wie Aram Mattioli bemerkt, sondern im Sinn des empirischen Ergründens von wichtigen Zusammenhängen und Ereignissen, bei denen es einerseits um eine beschämende, finstere Ideengeschichte geht, andererseits aber um deren Auswirkungen auf Menschen, die gelebt und die unter diesen Auswirkungen gelitten haben.

Das Buch ist daher in vier Teile aufgeteilt: zuerst wird der Forschungsstand erläutert, anschliessend wird der Widerstand gegen die Emanzipation der Juden in der Schweiz erforscht, von der Helvetik bis zur Verfassungsrevision von 1874, wobei die antisemitischen Zuspitzungen und Konflikte in einzelnen Kantonen (Basel, Aargau, Luzern und übrige Zentralschweiz) gesondert untersucht werden. In einem dritten Teil wird die Ausbreitung des modernen Antisemitismus bis zum Ersten Weltkrieg, vor allem die Rolle der Presse, aber auch der Psychiatrie und der Medizin generell, erforscht. Der vierte, umfangreichste Teil befasst sich mit der Aufarbeitung der Schweizerischen antisemitischen Fremdenabwehr bis in die Sechzigerjahre, mit deren Niederschlag in der Ausländergesetzgebung, in der Bevölkerungspolitik, in der Feindseligkeit den ostjüdischen Pogromflüchtlingen gegenüber, im Rassenantisemitismus der katholischen Kirche, in der Judenfeindschaft bestimmter reformierter Kreise, in der schweizerischen Reaktion auf die nationalsozialistische Lebensraumpolitik sowie in der Vermischung von traditionellem Antisemitismus und Anti-Israelismus nach 1945. Aram Mattioli gelang es, einen grossen Teil der Forscherinnen und Forscher, die sich in und ausserhalb der Schweiz mit den so lange tabuisierten Fragen der neueren Schweizer Geschichte beschäftigen, für den Band zu gewinnen, der als Schwerpunktpublikation zum Abschluss des schwer befrachteten Jubiläumsjahrs konzipiert war und bezüglich Seriosität und Breite der geleisteten historischen Arbeit dieser Zweckbestimmung in hohem Mass entspricht.

 

 

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