Unterrichten mit Internet – Tagung vom 5. Dezember 1998 – ETH Zürich

Unterrichten mit Internet

Tagung vom 5. Dezember 1998 – ETH Zürich

 

Meine Damen und Herren

 

“Wir sind die erste Generation in der Geschichte, die neben der Eroberung des Weltraums (..) auch die Entdeckung einer letzten Energieform erlebt haben, der kinematischen Energie, einer Energie in ‘Bildform’ oder, wenn man es vorzieht, in ‘Informationsform’, die somit noch zur potentiellen und kinetischen Energie hinzukommt”, stellte Paul Virilio, der grosse Skeptiker der Digitalisierung, anlässlich eines Gesprächs fest, das ich mit ihm vor wenigen Jahren in Paris führte.

Die Rede vom „kinematischen“, vom „ digitalen“ Zeitalter ist nicht mehr neu, aber seit Internet, Cyber Space und virtuelle Realität alltäglich anwendbare Technologien geworden sind, bekommt diese Rede etwas scheinbar Unabwendbares. Zwischen verweigernder Skepsis und unskeptischer Begeisterung scheint für das sorgfältige und kritische Befragen des Werts und der Tauglichkeit der Kommunikationstechnologien kaum mehr Berechtigung zu bestehen. Es geht um eine neue Technologie, die zugleich erschreckt und mitreisst, eine Technologie, die eine kulturelle Umwälzung bewirkte, wie dies Pierre Lévy betont, der den Vergleich mit der Erfindung des Alphabets macht.

Bei jeder Technologie geht es um Kenntnis und Wissen der Nutzbarmachung natürlicher Kräfte, und es geht um den gekonnten Einsatz von Instrumenten zu einem definierten Zweck. So lässt sich zuerst einmal ideologiefrei sagen, dass das Internet und alle anderen digitalen Angebote Datenübermittlung in noch nie erlebter zeitlicher Beschleunigung und räumlicher Entgrenztheit ermöglichen, dabei aber zugleich ein lustvolles Tummelfeld der virtuellen Spielmöglichkeiten erschliessen, das zunehmend zum Selbstzweck wird.

Diese Selbstzweck-Überhöhung oder gar –verklärung, diese Hypostasierung mag vor allem damit zusammenhängen, dass die digitale Technologie zur fortschrittlichsten „Kommunikation“, ja überhaupt zur „Kommunikation“ erklärt wird. Dies ist höchst missverständlich. Denn wer auf diesem Tummelfeld mitlaufen und mitspielen will, braucht in erster Linie ein spezifisches Fachwissens und ein spezifisches technologisches Training. Es geht dabei kaum um die – im herkömmlichen Sinn – verbindliche Zwischenmenschlichkeit des Gesprächs resp. der Kommunikation, ist doch das Gespräch der differenzierte Ausdruck menschlicher Beziehungen, die nur in beschränkter Anzahl tatsächlich gelebte Beziehungen sein können. Es geht bei dieser neuen „Kommunikation“ auch nicht um die Diskursregeln des demokratischen Aushandelns im Sinn der Kommunikationstheorien der Sechzigerjahre. Zu untersuchen wäre, im Gegenteil, ob die Befürchtung Paul Virilios zutrifft, dass Demokratie im digitalen Zeitalter sogar zusätzlich gefährdet sein könnte. Das muss näher angeschaut werden.

Ich meine jedoch, dass die spezifischen Verfügungsmöglichkeiten über diese neue Technolgoie nicht mit Bildung verwechselt werden sollte. Es scheint mir unbestreitbar, dass, während die Technologie sich verfeinert und deren Kenntnisse sich verbreiten, Bildung zunehmend in die Krise gerät.

Was Adorno Anfang der Sechzigerjahre – 1963 – warnend sagte, gilt heute nicht in schwächerem Mass, dass die Krise, von der ständig auf diffuse Weise die Rede sei, „mit jenem Komplex zusammenhängt, der als Divergenz von Bildung und fachlicher Schulung bekannt ist, der sich jedoch keineswegs damit deckt“ [1], sondern zusätzlich viele Verunsicherungen und Quasi-Sicherheiten einschliesst. Bildung sollte zum Urteilen und Handeln befähigen, indem sie das Individuum und seine Geschichte in die Geschichte des Denkens und Handelns einbindet und dadurch Vergleichmöglichkeiten des irrtümlichen wie des trefflichen Urteilens zur Verfügung stellt.

Tatsache ist aber, dass, nicht zuletzt unter dem Druck der Wirtschaft,  die Spezialisierung und Technologisierung in den Wissenschaften in einem Mass zugenommen haben, dass die professionelle Kompetenz – zum Beispiel der Hochschulabgängerinnen und –abgänger- sich vor allem durch die „methodische Sauberkeit, allgemeine Kontrollierbarkeit,  den Consensus der zuständigen Gelehrten (resp. Fachleute), die Belegbarkeit aller Behauptungen, die logische Stringenz“ beweist – wie dies ebenfalls schon Adorno auffiel.

Adorno monierte, dass durch die ausschliesslich formalen Qualifikationsanforderungen das kritische, auch das selbstkritische Bewusstsein der jungen Wissenschafterinnen und Wissenschafter, überhaupt der führenden intellektuellen Fachkräfte, verlorengehe. „Sie errichten in sich eine mehr oder minder freiwillige Selbstkontrolle. Diese veranlasst sie zunächst dazu, nichts zu sagen, was den etablierten Spielregeln ihrer Wissenschaft nicht gehorcht; allmählich verlernen sie, es auch nur wahrzunehmen.“ Schliesslich steigert er sich in die Feststellung: „Nicht nur die Fachausbildung, sondern auch Bildung selber bildet nicht mehr. Sie polarisiert sich nach den Momenten des Methodischen und des Informatorischen.”

Es ist die Reduktion auf gesellschaftlich kontrolliertes und dadurch instrumentalisiertes Fachwissen, auf Technologien, und deren Verwechslung mit Bildung, was Adorno beklagte, eine Verwechslung, durch welche die je persönliche, ungeschützt auf sich selber gestellte Urteils- und Handlungskompetenz von hoch ausgebildeten Frauen und Männern und damit deren Befähigung zur persönlichen Verantwortung für die Umsetzung von Fachwissen in den Paradoxien der gesellschaftlichen Erfordernisse ungenügend oder gar unentwickelt bleibt. Die Gefahr besteht, dass die – nicht mehr in persönliche Überprüfbarkeit integrierbare – Menge von Informationen zu einer Beliebigkeit in deren Auswahl führt. David Shenk, der für „Wired“, das Zentralorgan der Cyber-Community arbeitet, hat in seinem vor kurzem erschienenen Buch „Data Smog“ warnend geschrieben, nicht Wissen resultiere aus der Informationsflut, sondern Urteils- und Handlungsparalyse, schliesslich Ignoranz.

Neben der technologisch zugänglichen Informationsflut ist die Geschwindigkeit der Datenübertragung ein weiteres Phänomen der Fortschrittskrise, so paradox dies erscheint. Der Verfügungsmöglichkeit über Mittel zur Geschwindigkeitserzeugung entsprachen seit ältester Zeit Reichtum und Macht. Dieses Verhältnis  besteht heute noch, mit dem Unterschied, dass, wer nicht am Geschwindigkeitswettbewerb partizipieren kann, wer sich nicht ins Internet einschalten kann, scheinbar aus dem globalen Netz der technologisch vernetzten Machtträger und Machtträgerinnen ausgeschaltet bleibt. Kann dies eventuell zu einem Demokratieproblem werden, da ein Grossteil der Bevölkerung von den Mitsprachemöglichkeiten zunehmend ausgegrenzt wird? Oder liegt hierin eher die mögliche Ursache eines Kulturproblems, da diejenigen, die über die technologischen und materiellen Voraussetzungen zur Mitsprache verfügen, sich selbst zur Immobilität vor dem Bildschirm, zur Abkoppelung von gelebtem Austausch und Urbanität verdammen? So oder so sind damit möglichen Verlusterfahrungen verbunden.

Im 19. Jahrhundert hatte sich das Problem des Gegensatzes zwischen Landbevölkerung und Städten, zwischen Agrarkultur und Industrialisierung entwickelt, im 20. Jahrhundert jenes zwischen den Metropolen und den Peripherien, im 21. Jahrhundert wird es das Problem des Gegensatzes zwischen den neuen technologisch ausgerüsteten “Sesshaften” und den benachteiligten, mittellosen und sprachlosen Migrierenden sein, zwischen den “virtuellen Städten”, wo sich die Vernetzungszentren der Telekommunikation befinden, und den weiter wachsenden alten Metropolen, die in ihrer Komplexität unregierbar werden. Vielleicht ist dies ein vorübergehendes Phaenomen, vielleicht aber ist tatsächlich zu befürchten, dass die Menschheit auf diesem Weg grossen Unfällen entgegengeht? Die entscheidenden Gründe hierfür könnten, denke ich,  nicht zuletzt in einer anwachsenden Entfremdung auf der einen wie auf der anderen Seite liegen: Entfremdung der Menschen von sich selber, von ihren wirklichen Grundbedürfnissen, von sinnlich erfahrbarer, gegenseitig und wechselseitig erfüllter Welthaftigkeit.

Die Maximierung des technologischen Fortschritts, wie er sich in den

mit Lichtgeschwindigkeit übertragenen Informationen, in der vieldimensionalen Simulation von Realität sowie in der extremen Miniaturisierung  von Prothesen, von Kollektoren,  Sensoren und anderen hoch empfindlichen Geräten zeigt, bedeutet für viele Fortschritt. Doch was heisst Fortschritt? „Die Menschheit hat (…), um möglichst das Gespenstische zwischen den Menschen auszuschalten und den natürlichen Verkehr, den Frieden der Seelen zu erreichen, die Eisenbahn, das Auto, den Aeroplan erfunden, aber es hilft nichts mehr, es sind offenbar Erfindungen, die schon im Absturz gemacht werden, die Gegenseite ist viel ruhiger und stärker, sie hat nach der Post den Telegraphen erfunden, das Telephon, die Funkentelegraphie. Die Geister werden nicht verhungern, aber wir werden zugrundegehen“ schrieb Franz Kafka in einem Brief an Milena Jesenska.

Was das „Gespentische“ ist, was „die Geister“ sind, hat Kafka nicht ausgedeutet, aber ich nehme an, dass er damit die Ängste und destruktiven Kräfte meinte, welche die direkten und indirekten Beziehungen zwischen Menschen bedrohen. Was lässt sich Zusätzliches sagen?  – höchstens, dass wir seither noch das Fernsehen und den Raum der virtuellen Realität erfunden haben, der uns Interaktionen auf jede Distanz erlaubt, unabhängig davon, wie weit unser Nächster entfernt sei. Wer sind da noch die „Nächsten“? Soll es keine mehr geben? Ist die Angst vor Nähe zu gross? Wir sollten uns auch vergegenwärtigen, dass die gesamte Entwicklung der virtuellen Realität im Zusammenhang mit militärischen Einsätzen in einem Krieg, im Golfkrieg zustandekam. Zweck dieser Entwicklung war, die Macht des Angriffs durch die Verfügungsgewalt über Waffen zu optimieren, damit sie mit grösstmöglicher Schnelligkeit und Treffsicherheit ihr Ziel erreichen.

Während Jahrhunderten war es nötig, dass die Menschen sich zueinander hinbewegen, um sich zu verständigen. Dies ist überflüssig geworden. Die „Geister“, die Kafka in seiner Hellsichtigkeit als Bedrohung des Austauschs unter Menschen bezeichnet, haben mit dem Erreichen der Lichtgeschwindigkeit in der Telekommunikation gesiegt. Mit den Simulationstechniken kann die Realität, können Nähe, Begegnungen und Widerstände durch virtuelle Realität abgelöst werden. Es braucht den Weg nicht mehr, es braucht die wirklichen Bahnhöfe, das wirkliche Ankommen und Sich-Begegnen nicht mehr. Aber verarmen mit der Einbusse der Sinnlichkeit des zurückzulegenden Wegs nicht auch die intellektuellen Fähigkeiten, da Erkennen und Denken immer mit der sinnlichen Erfahrung gekoppelt sind? Ist nicht zu befürchten, dass diese gewaltigste Steigerung der Geschwindigkeit sowie der Ersatz der Welthaftigkeit durch Virtualität den Fortschritt in sein Paradox verkehrt: dass die Menschen einander noch fremder werden, ja dass sie füreinander zunehmend austauschbar werden?

Die Virtualität wird vermutlich noch eine Weile das Tummelfeld der technologischen Weiterentwicklung sein. Was allerdings nie virtuell werden kann, sind die wirklichen Bedürfnisse der Menschen, sowie das Leiden an deren Nichterfüllung. Und ebenso real bleibt die Gewalt. Die moderne Technologie verändert das Zusammenleben der Menschen auf bedeutsame Weise, indem sie die Menschen hinter Bildschirme festnagelt: “Erfindungen, die im Absturz gemacht werden”? Zu fragen ist, was wir tun müssen, damit nicht mit Hilfe des so gepriesenen weltweiten Kommunikationsnetzes weltweit die Entfremdung und Vereinsamung der Menschen anwächst, bis ins Unerträgliche.

Zu fragen ist vor allem, in welchen Bereichen noch Fortschritt möglich ist. Vielleicht tatsächlich in der sorgfältigen Unterscheidung von Mitteln und Zwecken, im Bereich der sinnvollen Anwendung von Wissen zur Verbesserung des Zusammenlebens, zur Verminderung von Entfremdung, Angst und Gewalt, von Ersatzrealität und Virtualität – vielleicht tatsächlich in der Qualität des mit anderen Menschen geteilten, zusammen gelebten Lebens.

Ich denke, dass nicht die Kenntnis der digitalen Technologie verhängnisvoll ist, im Gegenteil. Aber deren Hypostasierung. Daher meine ich, dass es einer spezifischen „grauen“ Ökologie bedarf,  welche die durch die Teletechnologien geschaffenen Raumzeitschäden, d. h. die Schäden im Bereich des Ungleichgewichts von Rhythmus und Mass, von Realitätserfahrung und Ersatzrealität, in allen Zusammenhängen der Entfremdung analysiert und korrigiert. Und ebenso bedarf es einer neuen Ethik des Konsums von Informationen, d.h. einer Sparsamkeit und Sorgfalt in deren zweckgerichteten, sinnvollen und angemessenen Auswahl und Benützung. Dazu mag der heutige Tag dienen.

 

[1] Theodor W. Adorno „Notiz über Geisteswissenschaft und Bildung“, in: Eingriffe. Frankfurt a. M. 1963, S. 54 – 58. (Alle Adorno-Zitate sind aus diesem Essay).

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