Wandlungen in Bedeutung und Stellung der Grossmächte in den letzten 50 Jahren
Ecole d’ interpretes
Cours 805
M.de Clave
Wandlungen in Bedeutung und Stellung der Grossmächte in den letzten 50 Jahren
von Maja Vogt
Bevor wir auf die Geschichte der letzten 50 Jahre zu sprechen kommen, in denen in schwindelerregender Folge und in immer wechselnden Kombinationen Staaten zu höchster Macht aufstiegen und wieder in sich selbst zusammen brachen, wollen wir vorerst in kurzen Zügen die Entwicklung der vorausgehenden Jahrhunderte zusammenfassen, um dadurch die Geschichte der jüngsten Zeit zu unterbauen; in der Folge wollen wir den Begriff der “Grossmacht” klären, ihre Wesensmerkmale bestimmen und uns nach den Möglichkeiten ihrer sittlichen Rechtfertigung fragen. Das Hauptgewicht unserer Betrachtung werden wir auf die Darstellung der Grundlinien und Tatsachen verlegen, die das vergangene halbe Jahrhundert bestimmten, um abschliessend zu versuchen, eine Erklärung dieser Entwicklung zu geben.
Im Lauf der Geschichte liegt eine Gesetzmässigkeit. Rom und Byzanz, beides Erben Griechenlands, bestimmten den Mittelmeerraum zum Machtzentrum eines halben Jahrtausends, hoben jedoch gerade durch die Ausdehnung ihrer Herrschaft und ihres Einflusses dessen Bedeutung wieder auf. Durch die Germanen einerseits, die Grossrussen anderseits, haben sich ihre Prinzipien über das ganze europäische Festland ausgebreitet , von wo aus sie rund tausend Jahre nach dem Fall Konstantinopels die Neue Welt eroberten. Die Entdeckung Amerikas und, wenige Jahre später, die erste Weltumseglung durch Magellan waren Ereignisse von überragender Bedeutung. Wann die Kugelgestalt der Erde bisher bloss philosophische Spekulation, wurde sie nun Wirklichkeit. Europa war die· Welt gewesen; nun war es nur noch ein Teil, ein Teil jener Welt, von der aus wir heute ins Universum vorzustossen versuchen.
Seit der Entdeckung Amerikas unterscheidet man, nach dem Kriterium der geographischen Lage, zwischen kontinentalen und maritimen Staaten. Dabei stellen wir fest, dass die ersteren durch Konzentration der politischen und militärischen Kräfte zu Grossmächten anwuchsen (das typische Beispiel ist Preussen), die letzteren dasselbe Ziel durch die Verlegung ihrer Hauptanstrengung auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Mutterland und Kolonien erreichten. Diese These wird belegt durch den Aufstieg Grossbritanniens und negativ durch die Niederlage Spaniens, das an der Aufrechterhaltung dieser Beziehungen versagte.
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Im 18.Jahrhundert schied es aus dem Wettlauf der Grossmächte aus, besiegt durch England und Frankreich. Russland trat neben die österreichischungarische Monarchie, die seit Mitte des 19.Jahrhunderts durch das immer stärker werdende Preussen verdrängt wurde. Dann trat plötzlich, gleich nach der Jahrhundertwende, Asien ins Rampenlicht, am deutlichsten erkennbar im aufstrebenden Militarismus Japans.
Diese geschichtlichen Betrachtungen mögen genügen, um als Grundlage für die nachfolgende Begriffsbestimmung von “Grossmacht” zu dienen. Zwei Fragen drängen sich auf:
1) Was versteht man unter “Grossmacht”?
2) Welches ist ihre sittliche Berechtigung?
Wir wollen versuchen, den Begriff in seiner ganzen Weite zu fassen. “Grossmacht” ist ein Staat, der auf Grund seiner militärischen, wirtschaftlichen und sittlichen Überlegenheit in der internationalen Politik ein Mitbestimmungsrecht beansprucht und anderseits durch seine Eingriffe oder durch sein blosses Dasein den Verlauf der Geschichte auch wirklich entscheidend zu beeinflussen vermag. Man könnte sagen, dass ein Land in jenem Augenblick zur Grossmacht wird, da es für die Existenz anderer Länder eine Gefahr bedeuten kann. Denn der Wille zur Festigung und Ausweitung von Herrschaft und Einfluss ist ein konstantes Merkmal aller in der Weltgeschichte führenden Staaten. Doch sobald dieser Wille sich ins Masslose steigert, trägt er auch schon den Keim der Selbstzerstörung in sich. Begriffe wie Legitimität, Selbstimmungsrecht, Freiheit, Achtung der Souveränität anderer Staaten,usw. werden als hohl und inhaltsleer betrachtet. Es herrschi die”Raison du plus fort”, das Faustrecht, das sich jedoch unweigerlich gegen jenen selbst wendet, der es vertritt.Dafür liefert uns die Geschichte zahlreiche Beispiele. Es ist bezeichnend, dass in solchen Staaten die äussere Machtentfaltung immer mit einer innern Dekadenz zusammenfällt. Denken wir an die Epoche der römischen Soldatenkaiser, an den Einfall der Mongolen in Zentraleuropa, das Vordringen der Araber im Mittelmeerraum, dann vor allem, in jüngerer Zeit, an die weltweiten Erschütterungen durch den: Bonapartismus, den Nationalsozialismus und den Bolschewismus. (Auf die beiden letzten Phänomene werden wir später genauer eingehen). Wir kennen wohl einige Staaten, in denen der machtpolitische und kulturelle Höhepunkt zusammenfielen, doch war dies nie das Ergebnis einer rücksichtslosen Eroberungspolitik, sondern vielmehr die F’olge einer organisch gewachsenen, innerhalb der Ordnung des Yölkerrechts verbleibenden Grossmachtstellung; das römische Reich unter Augustinus, das Imperium Karls des Grossen, Spanien unter Karl V., das Frankreich des Sonnenkönigs, die Donaumonarchie am Ende des 18. Jahrhunderts, England unter der grossen Victoria und das hervorragendste Beispiel der neuern Zeit, die Vereinigten Staaten von Amerika. Diese Beispiele zeigen die Verwirklichung der idealen Auffassung vom Grosstaat, wie sie Jakob Burckhardt in seinen “Weltgeschichtlichen Betrachtungen” formuliert: “Der Grosstaat ist in der Geschichte vorhanden zur Erreichung grosser äusserer Zwecke, zur Festhaltung und Sicherung gewisser Kulturen, die sonst untergingen, zur Vorwärtsbringung passiver Teile der Bevölkerung, welche, als Kleinstaat sich selbst überlassen, verkümmern würden, zur ruhigen Ausbildung grosser kollektiver Kräfte.” An anderer Stelle jedoch wird er nicht müde, zu betonen, dass die “wirklich tatsächliche Freiheit des Kleinstaates die gewaltigen Vorteile des Grosstaates, ja selbst dessen Macht, ideell völlig aufwiegt.”
Dies soll nun nicht heissen, dass der Grosstaat überhaupt keine sittliche Berechtigung besitze, doch müssen individuelle Freiheit und soziale Gerechtigkeit ihm notwendigerweise zugrunde liegen. Dass durch diese Forderung ein imperialistisches, ja diktatoriales System ausgeschlossen wird, ist offensichtlich, denn Freiheit und Zwang sind unvereinbar.
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So lautet nun die Schlussfolgerung: für die Grossmacht gelten die gleichen Prinzpien wie für den Staat im allgemeinen, ja die Verantwortung der Regierung ihrem Volk und der Welt gegenüber wird durch die gesteigerte Machtfülle noch erhöht.
Welches nun waren Stellung und Bedeutung der Grossmächte zu Beginn dieses Jahrhunderts, und inwiefern hat sich die Lage während der letzten fünfzig Jahre geändert?
Das europäische Staatensystem beruhte zu Anfang des 20. Jahrhunderts im wesentlichen noch auf den Beschlüssen des Wiener Kongresses. Nach dem endgültigen Zusammenbruch Napoleons hatten sich Grossbritannien, Russland, Oesterreich, Preussen und Frankreich vereint, um im Geiste der Brüderlichkeit sich gegenseitig die Aufrechterhaltung von Friede und Sicherheit zu gewährleisten. Man kann nicht an der Ehrlichkeit ihrer Absicht zweifeln, doch waren ihre Pläne Utopien:; denn jedes Land war zu sehr auf die Wahrung seiner eigenen Interessen bedacht. 1861 gesellte sich ihnen das geeinte Italien als sechste Grossmacht zu und, zehn Jahre später, nahm das Deutsche Reich die Stelle Preussens ein. 1888 starb sein erster Kaiser, Wilhelm I., eine nüchterne Soldatennatur, der ein sicheres Gefühl in der Auswahl seiner Mitarbeiter bewiesen hatte. Seinem Nachfolger, Wilhelm.II., fehlten Klugheit und aussenpolitisches Gespür. Von einem reizbaren Selbstbewusstsein beherrscht, entliess er schon 1890 Bismarck. Seine unstete Politik wurde von England und Frankreich als Bedrohung empfunden; zudem verschärften seine kolonialen Bestrebungen, der zunehmende wirtschaftliche Aufstieg seines Landes und vor allem der Ausbau einer starken, übermässig starken Flotte die Spannungen. In Russland nahm die Bewegung des Panslawismus immer grössere Bedeutung an. 1904 bildete sich als Gegengewicht zum seit 1862 bestehenden Dreibund zwischen Deutschland, Oesterreich-Ungarn und Italien die französisch-englische Entente, und 1907 kamen Verständigungen zwischen England und Russland zustande.
Dies war der Zustand zu Beginn des 1. Weltkrieges; er war bestimmt durch einen in allen Staaten ständig wachsenden Nationalismus, der auf verschiedene geistige und materielle Ursachen zurückging, im ganzen aber eher ein Zeichen des Verfalls als des Aufbaus war. Die Völker waren zu mächtig und gleichzeitig zu machthungrig für den Frieden. Die Marokko- Krisen und die Balkankriege waren Wetterzeichen, waren gleichsam die ersten Dissonanzen jener grässlichen Symphonie von Vernichtung und Zerstönmg, die 1914 begann, Durch sie war auch der Kriegsschauplatz bestimmt, der zum erstenmal in der Geschichte der Menschhei t die ganze Welt umfassen sollte. Serbien war das Kind , das mit dem Feuer spielte; Oesterreich wurde zuerst vom Brand erfasst. Zur Unterstützung Serbiens erklärte Russland die Generalmobilmachung; darauf’ hin eröffnete ihm Deutschland den Krieg und einige Tage später stellte es Frankreich sein Ultimatum. Noch im selben Monat mischten sich England und Japan unter die Kämpfenden, Die Türkei sah sich von den Alliierten bedroht. Seit jenem Augenblick waren Vorderasien und der Balkan ständiger Kriegsschauplatz. Doch in Deutschland, und vor allem in Oesterreich, wo die Thronfolge Kaiser Karls die Widerstmrnkraft schwächte, machten sich Zeichen der Erschöpfung bemerkbar. Da setzte die deutsche Heeresleitung , in der Annahme, dadurch den Endsieg in kurzer Zeit erzwingen zu können, den unbeschränkten U-Boot-Krieg durch.
Es war dies aber nicht der Beginn des Sieges, sondern der Auftakt zur Niederlage; denn nun giff Amerika ein, mischte sich unter die Kämpf’enden und verhalf den Alliierten durch seine militärische Uebermacht zum Sieg. Es hat dadurch zum erstenmal das europäische Geschehen entscheidend beeinflusst.
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Was war das Resultat des Krieges? –
Deutschland und Italien waren aus der Reihe der Grossmächte ausgeschieden; Russland war durch die bolschewistische Revolution geschwächt , Als Führerstaaten blieben Grossbritannien, Frankreich, Japan und die USA.
Doch im darauf folgenden Friedensvertrag von Versailles wurden schon die Grundlagen zum 2. Weltkrieg gelegt. Was waren die zwanzig Jahre Zwischenzeit anderes als eine Atempause, während in Italien der. Faschismus, in Deutschland der Nationalsozialismus und in Russland der Kommunismus zu voller Kraft heranwachsen konnten?
Halten wir die grundlegenden Aenderungen fest, die der Versaillervertrag in der Ordnung der Völker bewirkte.
Vor dem Krieg hatte Europa siebzehn Monarchien und drei Republiken gezählt, die Zwergstaaten nicht einbezogen. Nun war dieses auf dem Wiener Frieden beruhende Staatensystem äusserlich und innerlich zerstört. Der alte Kontinent zählte nun vierundzwanzig selbständige Staaten, von denen die Hälfte Republiken waren.
Russland war als europäische Macht ausgeschieden.
Die geistig-politische Situation war merkwürdig widerspruchsvoll: neben einem fast hektisch anmutenden Nationalismus bestanden starke pazifistische Strömtmgen, die in gläubiger Bereitschaft danach strebten, mit dem Mittel des Völkerbundes eine neue europäische Staatenordnung aufzubauen. Zum e r s t e n m a l w u r d e o f f i z i e l l z w i s c h e n G r o s s m ä c h t e n u n d K 1 e i n s t a a t e n u n t e r s c h i e d e n ( “puissances à intérêts généraux” und “puissances à intérêts limités”). Dies war wohl eines der einclri.i.cklichsten lilrgebnisse der Friedenskonferenz von Versailles: – sie hat eine Hierarchie der Staaten nicht nur anerkanntt sondern rechtlich festgelegt. Aufgrund der Gleichberechtigung der Völker wurde diese Massnahme wohl angefochten, jedoch ohne Erfolg. Sie fand ihren Niederschlag nicht nur im Völkerbund, sondern später auch in der Charta der Vereinten Nationen, die den Grossmächten das Recht auf einen ständigen Sitz in der Exekutive (Sicherheitsrat) verleiht, während für die mittleren und kleinen Staaten das Prinzip der Rotation gilt. (Für die beratenden und gesetzgebenden Organe besteht Gleichberechtigung). Ausserdem haben sich die Grossmächte das Recht der grundsätzlichen Aktionsfreiheit (Vetorecht) vorbehalten.
Doch diesen Privilegien entsprachen grössere Pflichten. Zum erstenmal war 1919 unter dem Einfluss von General Wilson , waas Alexander I schon 1815 gefordert hatte – der Begriff der politischen Vantwortlichkeit,
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Friede und kollektive Sicherheit als allgemeingültig erklärt worden. (Bedauerlich ist, dass dieses Prinzip die Handlungen der Mitgliedstaaten kaum zu beeinflussen vermag).
Wenden wir uns wieder der Zeit vor dem 2.Weltkrieg zu. Der Völkerbund konnte seiner Friedensaufgabe nicht gerecht werden; er brachte weder eine Abrüstung zuwege, noch vermochte er es, die kriegerische Entwicklung aufzuhalten. Er war eine Organisation der Siegermächte, deren stärkstes Glied, die USA, sich fernhielt. Die Rivalität zwischen den Völkern wuchs; sie verlangte nach einem Kräftemessen, nach einem Entscheid. Dazu nahm die geistige Verwirrung immer grössere Ausmasse an; ganze Länder setzten sich einer Ideologie gleich. Es gärte in Europa, es gärte in der ganzen Welt. Das Dritte Reich verlangte immer drohender nach “Lebensraum”. Es suchte Freundschaft mit Japan (Antikominternpakt vom 26.2 36.), mit Franco-Spanien , mit Italien und Rumänien und verschaffte sich Rückendeckung durch das Bündnis, das Molotow und Ribbentrop in Form eines Nichtangriffspaktes im August 1939 in Moskau abschlossen. Am l. September marschierte es in Polen ein. England und F’rankreich traten in den Krieg, Russland annektierte die baltischen Staaten, und Hitler, in grauenhafter, dämonischer Unaufhaltsarnkeit , brach Verträge, überrumpelte f’riedliche Länder, verheerte Städte, vernichtete ganze Völker. 1940 erklärte Mussolini den Westmächten den Krieg; dadurch wurde Nordafrika zum Kriegsschauplatz. 1941 griff Hitler seinen früheren Verbündeten, Russland, an, besiegte ihn in riesigen Kesselschlachten dank seiner überlegenen Panzerarmeen und Luftstreitkräfte und drängte ihn bis zum Ural zurück. Im folgenden Jahr eröffnete Japan, das schon im Kampf mit China stand, den Krieg gegen d.i.e USA, errang Sieg auf Sieg, eroberte die Philippinen und bedrohte Ostindien und Australien. Die ganze Welt stand im Feuer.
Wer sollte den Endsieg davon tragen?
Die Wende geschah, als im November 1942 die Amerikaner und Engländer in Nordafrika landeten, und als fast gleichzeitig die deutschen Stellungen bei Stalingrad durchbrochen wurden.
Die Ueberlegenheit der Allierten wuchs von Tag zu ‘l’ag, und im gleichen Masse wich die deutsche Front immer weiter zurück,
Doch der Endkampf sollte sich in Europa abspielen, am Rhein, an der ostpreussischen Grenze, in Polen. 1945 unterschrieb Deutschland die bedingungslose Kapitulation. Nach dem amerikanischen Atombombenangriff auf Hiroshima und Nagasaki ergab sich auch Japan.
Der Krieg war beendet. Ausdehnung, Grausamkeit und Zahl der Opfer haben alles bisher Bekannte übertroffen. Er hat die Ordnung der Welt endgültig umgestaltet. Deutschland und Italien sind abermals als Grossmächte ausgeschieden, Frankreich ist zu einem Staat zweiten Ranges herabgesunken. Grossbritannien (wir werden auf seine Bedeutung noch zu sprechen kommen) steht im Zeichen der Machtabnahme: sein Empire wird zum Commonwealth.
Entscheidend wird die Bedeutung Amerikas und Russlands. Sie werden zu “Weltmächten” im eigentlichen Sinn des Wortes; Europa gerät immer mehr auf die Objektstufe. Auf den Konferenzen von Teheran, Jalta und Potsdam wird seine Neuordnung durch Truman und Stalin festgelegt; es kann lediglich noch seine Zustimmung dazu geben. Es umfasst nun 19 Staaten, die Türkei eingeschlossen, unter ihnen sieben Monarchien und zehn Republiken von denen zwei diktatorisch regiert werden.
Ein Blick auf die soziologische Struktur der Grossmächte, die heute die Welt regieren (Grossbritannien, Amerika und SowjetRussland; die Rolle Chinas ist noch nicht abgeklärt), mag uns ihr gegenseitiges Verhältnis erklären. Grossbritannien ist eine Vereinigung von Kolonialstaaten unter der Oberhoheit des Mutterlandes. Das soziologische Mittel seines zwischenstaatlichen Zusammenschlusses liegt in der wirtschaftlichen Bindung •.Diese jedoch wirkt sich sehr einseitig aus: die Einzelstaaten sind in der Hauptsache nur mit dem Mutterland verbunden; untereinander bleiben sie ohne näheren Zusammenschluss. Dadurch erklärt sich das lockere Gefüge des britischen Weltreiches. Jede Kolonie kann, ebenso leicht wie sie gebunden ist, sich wieder aus dem Verbande lösen. Der Entwicklungsweg und der Aufbau des britischen Weltreiches deutet darauf hin, dass die Verselbständigung der Einzelstaaten eine “geschichtliche Notwndigkeit” ist. Gründe dafür sind unter Anderem geographische Zerstreuung und der Mangel an zwischenstaatlicher Verflochtenheit.
Sotwjet-Russland jedoch ist auf ein extrem festgefügtes Weltreich gerichtet. Das Endziel seiner Innenentwicklung ist die völlige Unterwerfung des Individuums. Dasselbe Prinzip findet seinen aussenpolitischen Ausdruck in der Aufheblmg der selbständigen Existenz der Staaten und deren Einverleibung ins russische Weltreich. Ihre nationale Eigenentwicklung wird abgeschnitten und der gemeinsamen soujetischen Entwicklungsrichtung gleichgesetzt. Russland ist weder ein Staatenbund noch ein Bundesstaat, sondern ein zentralistisch organisierter Grossstaat. Seine Herrschaft beruht auf dem unmittelbaren geographischen Zusammenhang der Satelliten.
Alle Europäischen Versuche zur Weltherrschaft waren vom Prinzip der Macht getragen. Amerikas innen- und aussenpolitischer Entwicklung jedoch liegt nicht die Macht, sondern die Idee der Gleichberechtigung zugrunde: innenpolitisch findet diese ihren Ausdruck in der Form eines Bundesstaates; aussenpolitisch verwirklicht sie sich durch eine enge Zusammenarbeit mit den befreundeten Staaten auf politischem, wirtschaftlichem und militärischem Gebiet, wie dies nur dank der frei gewollten Bildung von mannigfachen Querverbindungen möglich ist. Dadurch wird Amerika zur Schutzmacht der freien Welt.
Fassen wir die wichtigsten Punkte zusammen:
1) Grossbritannien verliert seine Bedeutung als Weltmacht durch die Emanzipation seiner Kolonien und durch seinen hiermit bedingten näheren Anschluss an den Kontinent.
2) Amerikas aussenpolitisches Ziel ist die Bilddung einer auf Gleichberechtigung begründeten Staatengemeinschaft, die das innenpolitische Prinzip der Freiheit auf internationaler Ebene verwirklichen soll.
3) Russland sucht, die Welt in seine Innenentwicklung einzubeziehen. Seine Aussenpolitik ist im Grunde genommen das Bestreben, durch Macht den Innenraum des eigenen Staates zu erweitern.
“Jede grosse politische Frage schliesst eine grosse theologische Frage in sich”. Dieser Ausspruch von Donoso Cortés soll uns als Leitfaden für die nachfolgenden Erörterungen dienen, welche den eingangs erwähnten Gegensatz zwischen dem Westen und dem Osten als Erben von Rom und Byzanz zu belegen versuchen.
Der Geist Roms führte Westeuropa auf jene Höhe, deren wir uns vor kurzem noch rühmten und die sich durch die Kolonialisierung auf die Neue Welt überttrug. Der Westen verdankte seine Vorrangsstellung der vollen Entfaltung aller rationalen und personalen menschlichen Kräfte; sie wuchsen jedoch zu Verstandeskult und geniesserischem Diesseitstaumel aus, die die überlieferte wesentlich christliche Kultur zur blassen Zivilisation verwandelte, von der nichts mehr verlangt wird als ein Leben in Reichtum und Bequemlichkeit.
Der byzantische Geist, der durch Beschaulichkeit und erleuchtetes Schweigen Erkenntnis und Weisheit zu erlangen hoffte, übertrug sich auf die nahöstlichen Völker und bahnte sich einen Weg über Kiew nach Moskau. Durch die Tatareneinfälle des 13.Jahrhunderts vermischte er sich mit dem asiatischen Gedankengut; so entstand jene Mentalität, die durch ihre üppigen Despotien, die Vergötterung des Herrschers (Caesaropapismus), die Geringschätzung der Untertanen, durch ihre übebordende Phantasie, ihre mächtige Glaubenskraft und rohe Triebhaftigkeit sich so krass vom westlichen Sinn für Zucht und Mass abhebt.
Russland ist auch heute noch erfüllt vom Messianismus der orthodoxen Zarenzeit, der noch verstärkt wird durch das Sendungsbewusstsein des dialektischen Materialismus. Es sieht in der Ausdehnung seines Herrschaftsgebietes den natürlichen Ablauf eines geschichtlichen Prozesses, der von der Vernichtung Nowgorods im 15 .Jahrhundert über die Niederwerfung der Ukrainer im 17. Jahrhundert und die Unterjochung der baltischen Völker durch Peter den Grossen zur Annexion unzähliger Staaten durch Stalin und seine Nachfolger führt. Russlands wahre Stärke liegt in seiner Ueberzeugung vom endgüItigen Sieg.
Worin besteht das Gegengewicht des Westens? – Bestimmt nicht in einer ebenso starken und einheitlichen Weltanschauung! Seine einzige Kraft ruht in der Wiederherstelung und Wahrung der Rangordnung der Werte. Eine der wichtigsten Voraussetzungen hierfür ist, neben der Neubelebung der Religiosität, die Verwirklichung des Rechtsstaates und der sozialen Gerechtigkeit.
In den letzten 50 Jahren ist umgeprägt worden, was Jahrhunderte vorher geformt hatten – die Stellung der Völker zueinander, die auf Recht und gegen- seitiger Achtung beruht hatte, und die heute lediglich noch durch die gegenseitige Furcht bestimmt wird – die Begrif’f’e von Kleinstaat und Grossmacht, die faktisch gleichgeschaltet wurden durch die Entstehung jenes neuen der Weltmacht.