Wandlungen in Bedeutung und Stellung der Grossmächte in den letzten 50 Jahren

Ecole d’ interpretes

Cours   805

M.de Clave

 

Wandlungen in Bedeutung und Stellung der Grossmächte in den letzten 50 Jahren

von Maja Vogt

 

Bevor wir auf die Geschichte der letzten 50 Jahre zu sprechen kommen, in denen in schwindelerregender Folge und in immer wechselnden Kombinationen Staaten zu höchster Macht aufstiegen und wieder in sich selbst zusammen­ brachen, wollen wir vorerst in kurzen Zügen die Entwicklung der vorausgehenden Jahrhunderte zusammenfassen, um dadurch die Geschichte der jüngsten Zeit zu unterbauen; in der Folge wollen wir den Begriff der “Grossmacht”  klären, ihre Wesensmerkmale bestimmen und uns nach den Möglichkeiten ihrer sittlichen Rechtfertigung fragen. Das Hauptgewicht unserer Betrachtung werden wir auf die Darstellung der Grundlinien und Tatsachen verlegen, die das vergangene halbe Jahrhundert bestimmten, um abschliessend zu versuchen, eine Erklärung dieser Entwicklung zu geben.

Im Lauf der Geschichte liegt eine Gesetzmässigkeit. Rom und Byzanz, beides Erben Griechenlands, bestimmten den Mittelmeerraum zum Machtzentrum eines halben Jahrtausends, hoben jedoch gerade durch die Ausdehnung ihrer Herrschaft und ihres Einflusses dessen Bedeutung wieder auf. Durch die Germanen einerseits, die Grossrussen anderseits, haben sich ihre Prinzipien über das ganze europäische Festland ausgebreitet ,   von wo aus sie rund tausend Jahre nach dem Fall Konstantinopels die Neue Welt eroberten. Die Entdeckung Amerikas und, wenige Jahre später, die erste Weltumseglung durch Magellan waren Ereignisse von überragender Bedeutung. Wann die Kugelgestalt der Erde bisher bloss philosophische Spekulation, wurde sie nun Wirklichkeit. Europa war die· Welt gewesen; nun war es nur noch ein Teil, ein Teil jener Welt, von der aus wir heute ins Universum vorzustossen versuchen.

Seit der Entdeckung Amerikas unter­scheidet man, nach dem Kriterium der geographischen Lage, zwischen kontinentalen und maritimen Staaten. Dabei stellen wir fest, dass die ersteren durch Konzentration der politischen und militärischen Kräfte zu Grossmächten anwuchsen (das typische Beispiel ist Preussen), die letzteren dasselbe Ziel durch die Verlegung ihrer Hauptanstrengung auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Mutterland und Kolonien erreichten. Diese These wird belegt durch den Aufstieg Grossbritanniens und negativ durch die Niederlage Spaniens, das an der Aufrechterhaltung dieser Beziehungen versagte.

Im 18.Jahrhundert schied es aus dem Wettlauf der Grossmächte  aus, besiegt durch England und Frankreich. Russland trat neben die österreichisch­ungarische Monarchie, die seit Mitte des 19.Jahrhunderts durch das immer stärker werdende Preussen verdrängt wurde. Dann trat plötzlich, gleich nach der Jahrhundertwende, Asien ins Rampenlicht, am deutlichsten erkennbar im aufstrebenden Militarismus Japans.

Diese geschichtlichen Betrachtungen mögen genügen, um als Grundlage für die nachfolgende Begriffsbestimmung von “Grossmacht” zu dienen. Zwei Fragen drängen sich auf:

1) Was versteht man unter “Grossmacht”?

2) Welches ist ihre sittliche Berechtigung?

Wir wollen versuchen, den Begriff in seiner ganzen Weite zu fassen. “G­rossmacht”  ist ein Staat, der auf Grund seiner militärischen, wirtschaftlichen und sittlichen Überlegenheit in der internationalen Politik ein Mitbestimmungsrecht beansprucht und ander­seits durch seine Eingriffe oder durch sein blosses Dasein den Verlauf der Geschichte auch wirklich ent­scheidend zu beeinflussen vermag. Man könnte sagen, dass ein Land in jenem Augenblick zur Grossmacht wird, da es für die Existenz anderer Länder eine Gefahr bedeuten kann. Denn der Wille zur Festigung und Ausweitung von Herrschaft  und Einfluss ist ein konstantes Merkmal aller in der Weltgeschichte führenden Staaten. Doch sobald dieser Wille sich ins Masslose steigert, trägt er auch schon den Keim der Selbstzerstörung in sich. Begriffe wie Legitimität, Selbstimmungsrecht, Freiheit, Achtung der Souveränität anderer Staaten,usw. werden als hohl und inhaltsleer betrachtet. Es herrschi die”Raison du plus fort”, das Faustrecht, das sich jedoch unweigerlich gegen jenen selbst wendet, der es vertritt.Dafür liefert uns die Geschichte zahlreiche Beispiele. Es ist bezeichnend, dass in solchen Staaten  die äussere Machtentfaltung immer mit einer innern Dekadenz zusammenfällt. Denken wir an die Epoche der römischen Soldatenkaiser, an den Einfall der Mongolen in Zentraleuropa, das Vordringen der Araber im Mittelmeerraum, dann vor allem, in jüngerer Zeit, an die weltweiten Erschütterungen durch den: Bona­partismus, den Nationalsozialismus und den Bolschewismus. (Auf die beiden letzten Phänomene werden wir später genauer eingehen). Wir kennen wohl einige Staaten, in denen der machtpolitische und kulturelle Höhepunkt zusammen­fielen, doch war dies nie das Ergebnis einer rücksichtslosen Eroberungspolitik, sondern vielmehr die F’olge einer organisch gewachsenen, innerhalb der Ordnung des Yölkerrechts verbleibenden Grossmachtstellung; das römische Reich unter Augustinus, das Imperium Karls des Grossen, Spanien unter Karl V., das Frankreich des Sonnenkönigs, die Donaumonarchie am Ende des 18. Jahrhunderts, England unter der grossen Victoria und das hervorragendste Beispiel der neuern Zeit, die Vereinigten Staaten von Amerika. Diese Beispiele zeigen die Verwirklichung  der idealen Auffassung vom Grosstaat, wie sie Jakob Burckhardt in seinen “Weltgeschichtlichen Betrachtungen” formuliert:  “Der Grosstaat ist in der Geschichte vorhanden zur Erreichung grosser äusserer Zwecke, zur Festhaltung und Sicherung gewisser Kulturen, die sonst untergingen, zur Vorwärtsbringung passiver Teile der Bevölkerung, welche, als Kleinstaat sich selbst überlassen, verkümmern würden, zur ruhigen Ausbildung grosser kollektiver Kräfte.”   An anderer Stelle jedoch wird er nicht müde, zu betonen, dass die “wirklich tatsächliche Freiheit des Kleinstaates die gewaltigen Vorteile des Grosstaates, ja selbst dessen Macht, ideell völlig aufwiegt.”

Dies soll nun nicht heissen, dass der Grosstaat überhaupt keine sittliche Berechtigung besitze, doch müssen individuelle Freiheit und soziale Gerechtigkeit ihm notwendigerweise zugrunde liegen. Dass durch diese Forderung ein imperialistisches, ja diktatoriales System ausgeschlossen wird, ist offensichtlich, denn Freiheit und Zwang sind unvereinbar.

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So lautet nun die Schlussfolgerung: für die Grossmacht gelten die gleichen Prinzpien wie für den Staat im allgemeinen, ja die Verantwortung der Regierung ihrem Volk und der Welt gegenüber wird durch die gesteigerte Machtfülle noch erhöht.

Welches nun waren Stellung und Bedeutung der Grossmächte zu Beginn dieses Jahrhunderts, und inwiefern hat sich die Lage während der letzten fünfzig Jahre geändert?

Das europäische Staatensystem beruhte zu Anfang des 20. Jahrhunderts im wesentlichen noch auf den Beschlüssen des Wiener Kongresses. Nach dem endgültigen Zusammenbruch Napoleons hatten sich Grossbritannien, Russland, Oesterreich, Preussen und Frankreich vereint, um im Geiste der Brüderlichkeit sich gegenseitig die Aufrechterhaltung von Friede und Sicherheit zu gewährleisten. Man kann nicht an der Ehrlichkeit ihrer Absicht zweifeln, doch waren ihre Pläne Utopien:; denn jedes Land war zu sehr auf die Wahrung seiner eigenen Interessen bedacht. 1861 gesellte sich ihnen das geeinte Italien als sechste Grossmacht zu und, zehn Jahre später, nahm das Deutsche Reich die Stelle Preussens ein. 1888 starb sein erster Kaiser, Wilhelm I., eine nüchterne Soldatennatur, der ein sicheres Gefühl in der Auswahl seiner Mitarbeiter bewiesen hatte. Seinem Nachfolger, Wilhelm.II., fehlten Klugheit und aussenpolitisches Gespür. Von einem reizbaren Selbstbewusstsein beherrscht, entliess er schon 1890 Bismarck. Seine unstete Politik wurde von England und Frankreich als Bedrohung empfunden; zudem verschärften seine kolonialen Bestrebungen, der zunehmende wirtschaftliche Aufstieg seines Landes und vor allem der Ausbau einer starken, übermässig starken Flotte die Spannungen. In Russland nahm die Bewegung des Panslawismus immer grössere Bedeutung an. 1904 bildete sich als Gegengewicht zum seit 1862 bestehenden Dreibund zwischen Deutschland, Oesterreich-­Ungarn und Italien die französisch-englische Entente,  und 1907 kamen Verständigungen zwischen England und  Russland   zustande.

Dies  war  der  Zustand  zu  Beginn  des 1. Weltkrieges; er  war  bestimmt  durch einen  in allen  Staaten ständig  wachsenden  Nationalismus,   der   auf  verschiedene  geistige  und  materielle  Ursachen zurückging, im  ganzen aber  eher  ein  Zeichen des Verfalls   als des Aufbaus  war.   Die  Völker  waren  zu mächtig und  gleichzeitig  zu machthungrig für  den   Frieden. Die  Marokko- Krisen  und  die  Balkankriege waren  Wetterzeichen,   waren  gleichsam die   ersten  Dissonanzen   jener  grässlichen  Symphonie  von Vernichtung  und  Zerstönmg,   die   1914   begann,   Durch  sie  war auch   der  Kriegsschauplatz  bestimmt,  der   zum  erstenmal  in der Geschichte  der  Menschhei t die  ganze  Welt umfassen  sollte. Serbien  war  das Kind , das  mit dem  Feuer  spielte;   Oesterreich wurde   zuerst  vom  Brand  erfasst.   Zur  Unterstützung Serbiens erklärte  Russland  die   Generalmobilmachung;  darauf’ hin  eröffnete ihm Deutschland  den Krieg und einige  Tage   später stellte  es Fr­ankreich  sein  Ultimatum.   Noch  im  selben  Monat  mischten  sich England  und  Japan unter  die  Kämpfenden,   Die  Türkei   sah sich  von den   Alliierten  bedroht.   Seit    jenem  Augenblick  waren  Vorderasien  und  der  Balkan  ständiger  Kriegsschauplatz. Doch  in Deutschland,   und  vor  allem  in Oesterreich,   wo  die Thronfolge Kaiser  Karls  die  Widerstmrnkraft  schwächte,   machten sich  Zeichen  der  Erschöpfung  bemerkbar.   Da  setzte  die  deutsche Heeresleitung ,  in der  Annahme,   dadurch  den   Endsieg  in kurzer  Zeit   erzwingen  zu  können,   den   unbeschränkten U-Boot-Krieg durch.

Es  war  dies   aber  nicht   der  Beginn  des Sieges,   sondern  der Auftakt   zur Niederlage;   denn nun  giff Amerika  ein,   mischte sich  unter  die Kämpf’enden  und   verhalf  den   Alliierten durch  seine  militärische Uebermacht  zum  Sieg.   Es  hat  dadurch  zum erstenmal   das  europäische  Geschehen  entscheidend beeinflusst.

Was  war das Resultat  des  Krieges?  –

Deutschland  und  Italien  waren  aus  der Reihe  der  Grossmächte ausgeschieden;   Russland  war durch die  bolschewistische  Revolution geschwächt , Als  Führerstaaten  blieben  Grossbritannien,   Frankreich, Japan  und  die USA.

Doch  im  darauf  folgenden  Friedensvertrag  von  Versailles  wurden schon die  Grundlagen  zum  2. Weltkrieg  gelegt.  Was  waren  die zwanzig  Jahre   Zwischenzeit anderes   als eine  Atempause, während in  Italien  der. Faschismus, in Deutschland der Nationalsozialismus und in Russland der Kommunismus zu voller Kraft heranwachsen konnten?

Halten  wir  die  grundlegenden  Aenderungen  fest,   die  der  Versaillervertrag  in der  Ordnung  der  Völker bewirkte.

Vor  dem  Krieg  hatte  Europa  siebzehn  Monarchien  und  drei  Republiken gezählt, die   Zwergstaaten nicht   einbezogen.  Nun  war  dieses   auf dem  Wiener  Frieden  beruhende  Staatensystem  äusserlich  und innerlich zerstört. Der  alte  Kontinent   zählte  nun  vierundzwanzig  selbständige Staaten,   von   denen die  Hälfte  Republiken  waren.

Russland  war  als europäische  Macht   ausgeschieden.

Die   geistig-politische  Situation  war  merkwürdig  widerspruchsvoll:   neben  einem  fast  hektisch anmutenden  Nationalismus bestanden starke pazifistische  Strömtmgen, die in gläubiger  Bereitschaft danach strebten, mit  dem Mittel des Völkerbundes  eine neue  europäische  Staatenordnung  aufzubauen. Zum     e r s t e n m a l  w u r d e  o f f i z i e l l  z w i s c h e n G r o s s ­m ä  c h t e n u n d K 1 e i n s t a a t e n    u n t e r s c h i e ­d  e  n  ( “puissances  à  intérêts  généraux”   und  “puissances à intérêts limités”).     Dies  war  wohl   eines   der   einclri.i.cklichsten  lilrgebnisse der  Friedenskonferenz  von   Versailles: – sie  hat  eine Hierarchie der Staaten nicht nur anerkanntt sondern rechtlich festgelegt. Aufgrund der Gleichberechtigung der Völker wurde diese Massnahme wohl angefochten, jedoch ohne Erfolg. Sie fand ihren Niederschlag nicht nur im Völkerbund,  sondern später auch in der Charta der Vereinten Nationen, die den Grossmächten das Recht auf einen ständigen Sitz in der Exekutive (Sicherheitsrat) verleiht, während für die mittleren und kleinen Staaten das Prinzip der Rotation gilt. (Für die beratenden und gesetzgebenden Organe besteht Gleichberechtigung). Ausserdem haben sich die Grossmächte das Recht der grundsätzlichen Aktions­freiheit (Vetorecht) vorbehalten.

Doch diesen Privilegien entsprachen grössere Pflichten. Zum erstenmal war 1919 unter dem Einfluss von General Wilson , waas Alexander I schon 1815 gefordert hatte – der Begriff der politischen Vantwortlichkeit,

Friede und kollektive Sicherheit als allgemeingültig erklärt worden. (Bedauerlich ist, dass dieses Prinzip die Handlungen der Mitgliedstaaten kaum zu beeinflussen vermag).

Wenden wir uns wieder der Zeit vor dem 2.Weltkrieg zu. Der Völkerbund konnte seiner Friedens­aufgabe nicht gerecht werden; er brachte weder eine Ab­rüstung zuwege, noch vermochte  er es, die kriegerische Entwicklung aufzuhalten. Er war eine Organisation der Siegermächte, deren stärkstes Glied, die USA, sich fernhielt. Die Rivalität zwischen den Völkern wuchs; sie verlangte nach einem Kräftemessen, nach einem Entscheid. Dazu nahm die geistige Verwirrung immer grössere Ausmasse an; ganze Länder setzten sich einer Ideologie gleich. Es gärte in Europa, es gärte in der ganzen Welt. Das Dritte Reich verlangte immer drohender nach “Lebensraum”. Es suchte Freundschaft  mit  Japan  (Antikominternpakt vom  26.2  36.), mit  Franco-Spanien ,   mit   Italien  und  Rumänien und verschaffte sich  Rückendeckung durch das  Bündnis,   das  Molotow  und  Ribbentrop in Form  eines  Nichtangriffspaktes   im  August   1939 in Moskau abschlossen.  Am l. September  marschierte   es in  Polen  ein. England  und   F’rankreich  traten in den Krieg,  Russland  annektierte die  baltischen  Staaten,   und  Hitler,   in grauenhafter,   dämonischer Unaufhaltsarnkeit ,  brach  Verträge,   überrumpelte  f’riedliche   Länder, verheerte  Städte,   vernichtete ganze  Völker.   1940  erklärte  Mussolini  den   Westmächten  den  Krieg;   dadurch wurde  Nordafrika zum  Kriegsschauplatz.   1941  griff  Hitler  seinen  früheren  Verbündeten, Russland,   an,  besiegte   ihn  in riesigen  Kesselschlachten  dank seiner  überlegenen  Panzerarmeen  und  Luftstreitkräfte  und  drängte ihn bis   zum  Ural   zurück.   Im  folgenden  Jahr eröffnete  Japan, das  schon im  Kampf  mit  China  stand,  den   Krieg  gegen d.i.e  USA,   errang Sieg  auf Sieg,   eroberte  die  Philippinen  und  bedrohte   Ostindien und Australien.   Die   ganze  Welt   stand  im Feuer.

Wer  sollte  den Endsieg  davon  tragen?

Die  Wende   geschah,   als   im  November  1942  die  Amerikaner  und Engländer  in Nordafrika  landeten,  und  als   fast   gleichzeitig die   deutschen  Stellungen  bei  Stalingrad  durchbrochen  wurden.

Die  Ueberlegenheit  der  Allierten  wuchs von  Tag  zu  ‘l’ag,  und  im  gleichen  Masse  wich  die  deutsche Front immer  weiter  zurück,

Doch  der  Endkampf   sollte  sich  in Europa abspielen,  am Rhein,   an  der  ostpreussischen  Grenze,   in Polen. 1945   unterschrieb  Deutschland  die  bedingungslose Kapitulation. Nach  dem  amerikanischen Atombombenangriff  auf Hiroshima  und Nagasaki   ergab   sich  auch Japan.

Der Krieg war beendet. Ausdehnung, Grausamkeit und Zahl der Opfer haben alles bisher Bekannte übertroffen. Er hat die Ordnung der Welt endgültig umgestaltet. Deutschland und Italien sind abermals als Grossmächte ausgeschieden, Frankreich ist zu einem Staat zweiten Ranges herabgesunken. Grossbritannien (wir werden auf seine Bedeutung noch zu sprechen kommen) steht im Zeichen der Machtabnahme: sein Empire wird zum Commonwealth.

Entscheidend wird die Bedeutung Amerikas und Russlands. Sie werden zu “Weltmächten” im eigentlichen Sinn des Wortes; Europa gerät immer mehr auf die Objektstufe. Auf den Konferenzen von Teheran, Jalta und Potsdam wird seine Neuordnung durch Truman und Stalin festgelegt; es kann lediglich noch seine Zustimmung dazu geben. Es umfasst nun 19 Staaten, die Türkei eingeschlossen, unter ihnen sieben Monarchien und zehn Republiken von denen zwei diktatorisch regiert werden.

Ein Blick auf die soziologische Struktur der Grossmächte, die heute die Welt regieren (Grossbritannien, Amerika und Sowjet­Russland; die Rolle Chinas ist noch nicht abgeklärt), mag uns ihr gegenseitiges Verhältnis erklären. Grossbritannien ist eine Vereinigung von Kolonial­staaten unter der Oberhoheit des Mutterlandes. Das soziologi­sche Mittel seines zwischenstaatlichen Zusammenschlusses liegt in der wirtschaftlichen Bindung •.Diese jedoch wirkt sich sehr einseitig aus: die Einzelstaaten sind in der Hauptsache nur mit dem Mutterland verbunden; untereinander bleiben sie ohne näheren Zusammenschluss. Dadurch erklärt sich das lockere Gefüge des britischen Weltreiches. Jede Kolonie kann, ebenso leicht wie sie gebunden  ist, sich  wieder aus  dem  Verbande  lösen.  Der  Entwicklungsweg  und  der Aufbau  des  br­itischen  Weltreiches deutet  darauf  hin,   dass  die  Verselbständigung  der  Einzelstaaten  eine  “geschichtliche  Notwndigkeit”  ist. Gründe   dafür sind unter Anderem geographische  Zerstreuung und  der  Mangel  an  zwischenstaatlicher Verflochtenheit.

Sotwjet-Russland  jedoch ist auf  ein extrem  festgefügtes  Weltreich  gerichtet.   Das   Endziel   seiner Innenentwicklung  ist die  völlige  Unterwerfung  des  Individuums. Dasselbe  Prinzip  findet   seinen aussenpolitischen  Ausdruck in der  Aufheblmg  der  selbständigen  Existenz  der  Staaten  und  deren Einverleibung  ins russische  Weltreich.   Ihre nationale  Eigenentwicklung  wird   abgeschnitten  und  der gemeinsamen  soujetischen Entwicklungsrichtung  gleichgesetzt.   Russland   ist weder  ein Staatenbund noch  ein  Bundesstaat,   sondern   ein  zentralistisch organisierter  Grossstaat.   Seine  Herrschaft  beruht auf dem unmittelbaren  geographischen  Zusammenhang  der  Satelliten.

Alle   Europäischen  Versuche   zur  Weltherrschaft waren  vom  Prinzip  der  Macht  getragen.   Amerikas   innen-  und   aussenpolitischer  Entwicklung  jedoch  liegt  nicht  die  Macht,   sondern die  Idee  der Gleichberechtigung   zugrunde: innenpolitisch  findet diese   ihren  Ausdruck  in  der  Form  eines  Bundesstaates;   aussenpolitisch verwirklicht  sie   sich  durch  eine   enge  Zusammenarbeit mit  den befreundeten  Staaten  auf  politischem,   wirtschaftlichem  und  militärischem  Gebiet,   wie  dies  nur dank  der  frei gewollten  Bildung von mannigfachen  Querverbindungen  möglich  ist.   Dadurch  wird Amerika zur  Schutzmacht   der  freien Welt.

Fassen  wir  die  wichtigsten  Punkte   zusammen:

1)  Grossbritannien  verliert   seine  Bedeutung  als Weltmacht   durch die  Emanzipation  seiner  Kolonien  und  durch seinen  hiermit  bedingten näheren  Anschluss   an  den Kontinent.

2)  Amerikas   aussenpolitisches  Ziel  ist die Bilddung  einer  auf Gleichberechtigung  begründeten  Staatengemeinschaft,   die das innenpolitische Prinzip  der  Freiheit auf  internationaler  Ebene   verwirklichen soll.

3)   Russland sucht, die Welt in seine Innenentwicklung einzubeziehen. Seine Aussenpolitik ist im Grunde genommen das Bestreben, durch Macht den Innenraum des eigenen Staates zu erweitern.

 

“Jede grosse politische Frage schliesst eine grosse theologische Frage in sich”. Dieser Ausspruch von Donoso Cortés soll uns als Leitfaden für die nachfolgen­den Erörterungen dienen,  welche den eingangs erwähnten Gegensatz zwischen dem Westen und dem Osten als Erben von Rom und Byzanz zu belegen versuchen.

Der Geist Roms führte Westeuropa auf jene Höhe, deren wir uns vor kurzem noch rühmten und die sich durch die Kolonialisierung auf die Neue Welt überttrug. Der Westen verdankte seine Vorrangsstellung der vollen Entfaltung aller rationalen und personalen menschlichen Kräfte;  sie wuchsen jedoch zu Verstandeskult und geniesserischem Diesseitstaumel aus, die die überlieferte wesentlich christliche Kultur zur blassen Zivilisa­tion verwandelte, von der nichts mehr verlangt wird als ein Leben in Reichtum und Bequemlichkeit.

Der byzantische Geist, der durch Beschaulichkeit und erleuchtetes Schweigen Erkenntnis und Weisheit zu erlangen hoffte, übertrug sich auf die nahöstlichen Völker und bahnte sich einen Weg über Kiew nach Moskau. Durch die Tatareneinfälle des 13.Jahrhunderts vermischte er sich mit dem asiatischen Gedankengut; so entstand jene Mentalität, die durch ihre üppigen Despotien, die Vergötterung des Herrschers (Caesaropapismus), die Geringschätzung der Untertanen, durch ihre übebordende Phantasie, ihre mächtige Glaubenskraft und rohe Triebhaftigkeit sich so krass vom westlichen Sinn für Zucht und Mass abhebt.

Russland   ist auch heute  noch  erfüllt  vom  Messianismus  der orthodoxen  Zarenzeit,  der  noch verstärkt wird  durch  das Sendungsbewusstsein  des  dialektischen  Materialismus.   Es  sieht in der  Ausdehnung seines  Herrschaftsgebietes   den   natürlichen Ablauf   eines   geschichtlichen  Prozesses,   der  von   der Vernichtung  Nowgorods   im  15 .Jahrhundert  über  die  Niederwerfung der  Ukrainer   im  17. Jahrhundert  und  die  Unterjochung  der baltischen  Völker  durch Peter  den  Grossen  zur  Annexion unzähliger  Staaten  durch  Stalin  und   seine  Nachfolger  führt. Russlands  wahre  Stärke   liegt  in seiner Ueberzeugung  vom endgüItigen  Sieg.

Worin  besteht  das  Gegengewicht   des Westens?  – Bestimmt  nicht in einer  ebenso  starken  und  einheitlichen  Weltanschauung! Seine   einzige  Kraft  ruht  in der  Wiederherstelung  und  Wahrung der Rangordnung  der Werte.   Eine   der  wichtigsten  Voraussetzungen hierfür  ist,   neben der  Neubelebung der  Religiosität,   die Verwirklichung  des Rechtsstaates  und   der   sozialen  Gerechtigkeit.

In  den   letzten  50  Jahren  ist umgeprägt worden,   was  Jahrhunderte   vorher   geformt  hatten  – die Stellung  der  Völker   zueinander,   die auf Recht  und gegen- seitiger  Achtung  beruht  hatte,   und  die heute   lediglich  noch durch die  gegenseitige   Furcht  bestimmt  wird –  die Begrif’f’e von Kleinstaat und Grossmacht, die faktisch gleichgeschaltet  wurden  durch  die  Entstehung  jenes  neuen der  Weltmacht.

 

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