Leben im Gegenlicht – “Die stillen Geschichten sind die tragischsten”

Leben im Gegenlicht

“Die stillen Geschichten sind die tragischsten”

 

Leben im Gegenlicht: Eine Serie des Fürsorgeamtes des Stadt Zürich, die monatlich einmal erscheint, um über die vielseitige Tätigkeit dieses Amtes zu informieren.

Diesmal  soll  der  städtische   M a g a z i n d i e n s t  vorgestellt werden.

 

Seit acht Jahren wirkt Beat Meier als Leiter des Städtischen Magazindienstes. Täglich acht Stunden lang befassen sich er und seine Mitarbeiter mit dem Räumen und Auflösen fremder Wohnungen, mit dem Sortieren, Inventarisieren, Entsorgen oder Einlagern von Hausrat, mit dem Bergen von Wertsachen, mit der Entfernung von Gerümpel und Abfall. Im Lagerhaus an der Duttweilerstrasse 3 im Kreis 5, der ehemaligen Herdernstrasse, warten die ineinandergestapelten Möbel und persönlichen Gegenstände darauf – mit Wellkarton eingehagt, mit Nummern beziffert und mit weissen Tüchern gegen den Staub geschützt -, durch ihre Besitzer oder Besitzerinnen wieder ausgelöst zu werden. Deren Lagerung kann nur solange gewährleistet werden, als die Lagergebühr von dreizehn Franken pro Kubikmeter bezahlt wird. Falls die Eigentümer oder Eigentümerinnen des Hausrats dazu nicht in der Lage sind, kann die städtische Fürsorge die Kosten übernehmen, doch werden diese bei den übrigen Unterstützungsleistungen angerechnet. Fast in der Hälfte der Fälle kommt es allerdings vor, dass sich niemand um die Möbel und persönlichen Effekten kümmert, sodass der Magazindienst das, was noch verkäuflich ist, nach Monatsfrist der Gant übergibt und den Rest entsorgt. Der Erlös aus dem Gantverkauf kommt wiederum den ehemaligen Eigentümern oder Eigentümerinnen zugute. Es kommt auch vor, dass Möbel aus den Räumungen durch das Fürsorgeamt selbst erworben werden, damit sie leihweise  zur Möblierung von Notwohnungen und anderen provisorischen Unterkünften zur Verfügung gestellt werden können. Auch dieses “Leihlager” befindet sich an der Duttweilerstrasse.

Ein Teil der Einlagerungen erfolgt auf Grund von Umzügen und freiwilligen Wohnungsauflösungen, häufig von alten Menschen, die in ein Altersheim übersiedeln. In diesen Fällen erhält der Magazindienst den Räumungsauftrag meistens vom städtischen Amt für Zusatzleistungen oder von der Vormundschaftsbehörde. Ein anderer Teil findet infolge von zwangsweisen Zimmer- und Wohnungsräumungen statt. “Die stillen Geschichten sind die tragischsten”  sagt Beat Meier, “gerade bei den zwangsweisen Räumungen”. Da wurde etwa ein Haus verkauft und eine alte Frau, die bis zum letzten Moment nicht glauben wollte, dass Kündigung und Wohnungsausweisung gelten sollten, muss mit ihrem fast ebenso alten Hund fassungslos zuschauen, wie Hab und Gut aus der Wohnung in ein Speditionsauto getragen werden. Oder ein alleinstehender Man hatte jahrelang mit Tauben zusammengelebt, hatte die Vögel durch das Zimmerfenster ein- und ausfliegen lassen und sie bei sich gefüttert, bis der Gestank des sich anhäufenden Unrats für die übrigen Hausbewohner unerträglich wurde. Warum Menschen in Not geraten, warum sie ihren Mietzins nicht mehr zu zahlen vermögen oder ihre Wohnung nicht mehr so instand halten können, dass sie den übrigen Bewohnern oder Bewohnerinnen nicht zur Last fallen, erfahren die Männer vom Magazindienst nicht, wenn sie durch das Stadtammanamt aufgeboten werden, eine Zwangsräumung vorzunehmen. Doch nie unterlassen sie es, den betroffenen Menschen, die zuvor durch die entsprechenden Ämter informiert worden waren, die Adressen der Sozialberatungsstellen der Stadt anzugeben, wo sie sich nach einer neuen Unterkunftsmöglichkeit erkundigen können. Niemand in der Stadt soll auf  Grund behördlicher Massnahmen obdachlos werden.

Bis 1200 Aufträge pro Jahr hat der Magazindienst zu erledigen. “Es ist ein Zeichen unserer Zeit, ein Zeichen der Verelendung und Vereinsamung, dass gerade die Zwangsräumungen in starkem Mass zugenommen haben, auch solche, bei denen wir eine erschütternde Verwahrlosung vorfinden”, sagt Beat Meier. Die Verteuerung auf dem Wohnungsmarkt, die zunehmende Arbeitslosigkeit, die immer stärkere Ausgrenzung von Menschen, die den Leistungsanforderungen unserer Gesellschaft nicht mehr genügen können, mögen ihren Teil dazu beitragen. Beat Meier zeigt Photos von Zimmern, in denen der Müll hüfthoch liegt. Doch selbst in solchen Fällen gilt es, die Abfälle vom noch Brauchbaren zu sondern, jeden Gegenstand, ob er fortgeworfen oder aufbewahrt werde, in ein Register einzutragen, eventuelle Wertsachen oder Dokumente gesondert zu bergen – eine Arbeit, die Fachkenntnis, Verstand und starke Nerven erfordert. Als zu Beginn des Jahrhunderts das Sozialamt diese Dienstleistung einzuführen begann, wurden die Räumungen durch die Weibel der Stadt vorgenommen; noch lange wurden die Möbel und übrigen Effekten in den Kellern verschiedener Schulhäuser gelagert. Der Leiterwagen, der zum Transport des Hausrats diente, kam eines Tages selber auf die Gant. “Damals muss die Arbeit noch beschwerlicher gewesen sein”, gibt Beat Meier zu bedenken. Das heutige Lagerhaus im Kreis 5 wurde erst 1965 in Berieb genommen, nachdem schon 1950 die Bezeichnung “Magazindienst” eingeführt worden war.

 

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