Zeitverhältnisse – Ich im Sein und Werden – Identität im Lauf der Lebenszeit

Zeitverhältnisse

Ich im Sein und Werden – Identität im Lauf der Lebenszeit

Weiterbildung UniS Bern / Herbst-Winter 2008

 

Die Suche nach dem Verstehen der Zeitverhältnisse, die zugleich die innere Zeit wie die geregelte und bemessene Zeit betreffen, ist verknüpft mit der Suche nach dem eigenen Ich, das über die Jahre und Jahrzehnte der Entwicklung der Persönlichkeit mit der in allen Lebensphasen sich manifestierenden Besonderheit, trotz aller Veränderungen, die unauswechselbare Einzigartigkeit des Menschseins kennzeichnet: die Identität.

Tagtäglich und in den verschiedensten Zusammenhängen ist von Identität die Rede: von Identitätspapieren bei Grenzübertritten oder bei Personenkontrollen durch die Polizei, am PTT-Schalter, an der Hotelrezeption oder auf dem Zivilstandsamt, es ist die Rede von Identitätszeichen in der Mathematik, von Identitätsbestätigung im Zusammenhang mit Warenprüfungen bei Import, Export und Kauf (schon beim Kauf eines Paars Schuhe), aber auch von Identitätserziehung bei Kindern und Jugendlichen, von Identitätskrise oder gar Identitätsverlust bei sogenanntem Fehlverhalten oder unklarem Rollenverhalten Erwachsener, sodann von weiblicher Identität und von männlicher Identität, von Berufsidentität und Standesidentität,  von kultureller Identität zumeist in der Konnotation mit gefährdet oder bedrohlich, von nationaler Identität am Nationalfeiertag oder bei militärischen Appellen – kurz, die Verwendung des Identitätsbegriffs ist inflationär. Was Identität bedeutet, wird dadurch unklar.

Das im Begriff enthaltene lateinische Wort „idem” heisst derselbe und dasselbe; für diesselbe gibt es auch im Lateinischen eine weibliche Form, „eadem”. (Anstelle von weiblicher Identität müsste somit von weiblicher Eadität gesprochen werden). „Idem” ist eine Art Wiederholungs- oder Verdoppelungsform des Personal- und Demonstrativpronomens „id” in der Reihe „is, ea id”, was sowohl er, sie, es wie der, die, das bedeutet.  Abgeleitet von „idem” ist auch das Adverb „identidem”, worunter zu wiederholten Malen , mehrfach, immer wieder zu verstehen ist.

In allen lateinischen Wortkombinationen von „id” findet sich die Bedeutung der Übereinstimmung oder der Wiederholung von etwas und etwas, von einem und einem, ohne dass dies zwangsläufig Übereinstimmung mit sich selbst oder Gleichheit bedeuten würde. Wenn etwa die Rede von Identität zwischen Waren und Warendeklaration oder zwischen Person und Personalausweis ist, so entspricht diese Begriffsanwendung der konventionellen Bedeutung, die immer einen Vergleich zwischen etwas und etwas anderem einschliesst. Diese Bedeutung findet sich selbst noch in einer der wenigen – zumeist unbestrittenen – Identitätserfahrungen, die darin besteht, dass wir uns heute als das gleiche Individuum (lat. Verb „in-dividere“ – nicht teilen) erkennen, das wir in früheren Momenten oder Phasen der Lebenszeit waren – vor einer Woche, vor einem Jahr oder vor zwanzig oder dreissig Jahren -, auch wenn die meisten äusseren Erkennungsmerkmale sich verändert haben. Wir belegen diese Erfahrung durch die rekonstruierbare individuelle Geschichte, rekonstruierbar durch Geschichten, einerseits an Hand von Dokumenten, andererseits über die erzählbare eigene Erinnerung ebenso wie über den Rekurs auf die Erinnerung anderer Menschen, die in die eigene Geschichte miteingeflochten sind.

Die Rekonstruktion erfolgt somit in starkem Mass über Erinnerungen, die mit Empfindungen und inneren Bildern mittels der Sprache zum Ausdruck kommen. So wird die Sprache nicht bloss zur sinnlichen Form der Vermittlung von Erinnerungen, von Geschichten und Lebensgeschichte, sondern selber Teil dessen, was mit Identität erfasst werden soll. Sprache ist, wie Berührung, wie Nahrung und Sättigung, früheste Erfahrung des eigenen Selbst als eines/einer Angesprochenen, früheste Erfahrung von Ich und Nicht-Ich, von Ich und Du, Erfahrung eines Namens, der für dieses Ich gilt und der als Konstante sich in den Veränderungen, die mit der gelebten Zeit einhergehen, hindurchzieht, als Erkennungs- und Selbsterkennungschiffre mit allem, was die Sprache als konventionelles gesellschaftliches Regelsystem und als aussergewöhnliches Medium der Widerspiegelung des unbewussten und des bewussten Ich und Nicht-Ich, der Anderen, auch der unbekannten Anderen gestaltet, was sich darin erahnen, was sich fassen und austauschen lässt, die Sprache als Muttersprache und als Fremdsprache, die Sprache als Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse und Zeitgeschehnisse, die Sprache als persönliche Signatur, die Sprache als Grenze zwischen Sagbarem und Nichtsagbaren

Identität in der konventionellen Bedeutung ist ein relationaler Begriff, dessen verschiedene Teile klar erkennbar sind. Auch in älteren religiösen oder zivilisatorischen Ansätzen ging es um eine Beziehung, um eine metaphysische, eine physische oder eine formale, etwa zwischen dem absoluten Sein und dem menschlichen Sein, zwischen den Eltern und dem Kind oder zwischen dem Fürsten und dem Untertanen. Identitätsforderungen bestanden im Angleichungsdruck des einen Teils an den anderen, des Abbilds an das Bild oder das Vorbild, des Untergeordneten an den Übergeordneten, des Kinds an die Eltern, des Lehrlings an den Meister, der Frau an den Mann. Dieser Angleichungsdruck hatte eine Disziplinierungsfunktion gegenüber dem bedrohlich Wilden der Individualität, gegenüber dem Anarchischen, das möglicherweise allein schon Kindsein und Erwachsenwerden oder Weiblichkeit beinhaltete. Er machte den zumeist verschwiegenen zweckgerichteten Teil der patriarchalen Geschlechterordnung sowie der Normativität vieler Erziehungstheorien und gesellschaftlicher Konventionen aus (z.B. die Rekrutenschule, die Haushaltschule etc.), bei dem es in erster Linie um Identitätsforderungen und einen damit verbundenen Angleichungsdruck ging (zum Teil noch immer), um die Tatsache des Anderen, des Fremden, des Ungleichen als bedrohlich erscheinen zu lassen.

 

Fremde sind wir uns selbst im Werden

„Ich ging hinaus vor das Tor

                                                                   Und kam zurück durch das Tor:                       

                                                                   Wie jemanden mit mir

                                                                   brachte ich mich.“[1]

Welche Bilder oder Erinnerungen, welche Gedanken und Empfindungen gehen mit fremd und Fremde einher? Als fremd erscheint das, was unbekannt,  verborgen und nicht erklärbar ist. Geht es dabei auch um das eigene Ich?

Über die Sprache suchen wir Erklärungen zu finden, auch in den Zeitfacetten des Lebens über uns selbst. Trägt die Sprache eventuell dazu bei, dass wir uns selbst Fremde sind?

Die Frage mag erstaunen, doch es ist sinnvoll, sie zu stellen. Das heisst, sie kann auch anders gestellt werden: Gibt es überhaupt Erinnerungen an Erfahrungen, die der Sprache vorangingen, Erinnerungen an Erfahrungen, an Geschehnisse, an Beziehungszusammenhänge aus der vorsprachlichen Zeit? Tatsächlich gibt es Erfahrungen und Geschehnisse aus dieser frühen Zeit, die im Unbewussten gespeichert blieben. Die stärkste Erinnerungshilfe findet sich in der geheimnisvollen Nachtsprache der Träume und in der Sorgfalt deren Deutung. Unerwartet können auch Gerüche und Düfte, Geräusche oder Klänge, die durch unsere Sinnesorgane an uns gelangen, Empfindungen wecken, deren frühere Wahrnehmung sich im Verborgenen als Erinnerung erhalten konnte. Auch mit Hilfe von Bildern, z.B. Photos, oder von Schilderungen durch andere Menschen, uns nahestehende oder fremde, gelingt es, in der vielschichtigen Gedächtnisbibliothek verborgene Bilder wieder sichtbar werden zu lassen. Die sprachlichen Möglichkeiten, diese wiederzugeben, erscheinen jedoch oft wie eine ungenügende Übersetzung. Es sind Erfahrungen der Kälte oder der Wärme, des Erschreckens oder des Wohlbefindens, Angst, grosses Dunkel, blendendes Licht, rot, grün, dunkel, dichter Nebel, vieles mehr, was sich in uns einprägte und erhalten blieb, schwer zu benennen, früheste Erfahrungen der Berührung oder der Verlassenheit, des Alleinseins und des Schmerzes. Wir wissen nicht genau, wie und wann sich erstmals Worte in uns festsetzten, die das Ich als Ich in Verbindung mit dem Namen und mit den Empfindungen zusammenbrachten. Doch wir wissen, dass die angelernten Worte sich schnell des Wortlosen bemächtigen, dass seither – quasi auf Abruf – auch das Sprachlose und Unausgesprochene bei Bedarf in ein Wortkleid gesteckt werden kann oder muss.

So früh und so unausweichlich wurden wir durch die Sprache in die schon vor uns bestehenden Register der Welt eingebunden, dass für alles eigentlich nur Namen und Adjektive, Prädikate und Verben zur Verfügung standen, die den Bildern und Empfindungen übergestülpt wurden, meist aus Erziehungsgründen, und die das Beziehungsgeflecht ordneten und hierarchisch werteten. Dadurch wurden unsere ersten Handlungen als anarchisch und unerlaubt oder als ordentlich und mithin als erlaubt klassifiziert, mit Pfui und Brav. Die Vermittlung der Worte diente in erster Linie einem Ordnungszweck.  Hing damit zusammen – neben vielen anderen Begleitumständen (z.B. die Beziehung der Eltern zu einander, die gesellschaftlichen Umstände, vorangehende oder nachfolgende Geschwister, Gesundheit oder Krankheit etc.) –, dass wir uns selbst Fremde wurden? Betraf das, was Ich-Gewissheit ermöglichte, nicht in erster Linie namenlose Empfindungen, insbesondere den Schmerz?

Die Zeit der Ich-Prägung über die Worte enthielt noch mehr Verwirrendes. Wir waren, falls die deutsche Sprache das Sagen hatte, das Es, das Kind, das Mädchen. Es schläft, hiess es, es weint, es ist ein liebes Kind oder eben es ist kein liebes Kind. Dem lieben Kind – dem fleissigen, fröhlichen und gehorsamen Kind, demjenigen, das nicht maulte, das schwieg, wenn die Erwachsenen sprachen, das nicht neugierig war, das zum Schlafen die Händchen über der Bettdecke faltete, dem lieben Kind taten die bösen Tiere und Riesen kein Leid an im Wald und eines Tages würde der Prinz kommen und es wach küssen, wenn es nur lange genug vor sich hindämmerte. Die Märchensprache war nicht anders als die reglementierte Sprache der grossen und kleinen Herrschaftsstrukturen – derjenigen von Familie, Schule und Gesellschaft -, in die das Kind eingebunden war. Realität und Fiktion unterschieden sich nicht in der Sprache. Wohin konnte die Phantasie entfliehen, in welche Konstrukte der Ich-Sicherheit, des Ich-Werts? Und vor allem:

Wann und wie war es möglich, mittels der Sprache zu lernen, mit dem Ich die eigene vielfältige, unbekannte Subjektivität zu meinen – nicht das Es, das als Bezeichnung diente? Wie und wann wurde es möglich, die Sprache dem eigenen Bedürfnis gefügig zu machen, den Phantasien und der Erfahrung, dem eigenen Willen und den eigenen Wünschen? Wann und wie konnten Worte anders als vorgegeben benutzt, wann selber gewählt werden, wann erfolgte Widerstand gegen sprachliche Anweisungen und Befehle? – wann und wie konnte Wahres von Unwahrem unterschieden werden, wann und wie Respekt dem eigenen Ich gegenüber selber erlebt werden?

Es bedurfte vielfacher Mäander, um im Lauf der gelebten Zeit die Beziehung zwischen Innenwelt und Sprache aufzubauen, diese innerweltlich-sprachliche Spiegelbildlichkeit als ständig sich verändernde und ständig in Frage gestellte Beziehung, fern der eingemauerten Sprachblockade. Doch leicht ist es nicht, die Aufmerksamkeit darf nicht schwinden. Manche, die glaubten, die Sprache – die eigene Sprache – gefunden zu haben, sind wieder verstummt. „Schmal ist die Identität der Sprache”, sagt Herta Müller vor einigen Jahren in einem Gespräch. Auch die Sprache kann zum fremden Objekt gemacht werden.

Hilfreich können Begegnungen und Auseinandersetzungen mit Texten sein, die vor uns liegen und sich anbieten, auf die Bedeutung der Worte einzugehen, die vom Dichter oder von der Dichterin, vom Schriftsteller oder von der Schriftstellerin über das Schreiben festzuhalten und zu vermitteln gesucht wurde, um über den „schmalen Weg der Sprache” eine Übereinstimmung mit dem eigenen Ich. Der „schmale Weg“ dahin ist Nachtweg und Tagweg, oft mit glückhaften, oft mit qualvollen Momenten, mit Nischen, die sichere oder trügerische Rastplätze sind. Wer unbekümmert den Schritt hinein wagt, fällt oft in Dornen. Ist nicht der Hunger nach Liebe der stärkste Impuls seit der Kindheit, oft unbenennbare Sehnsucht und zugleich konkreter Wunsch, es möge gelingen, das richtige Wort zu finden? Manchmal gibt es ein Innehalten ohne Enttäuschung, eine Zeitlosigkeit, Nischen, die sich unversehens öffnen. “Zu wissen, dass die Zeit eine Einbildung ist und nichts mich zur Eile drängt. Ich möchte einmal wirklich schauen dürfen und die Dinge (durch mein inneres Auge) so sehen, wie sie sich uns nie zeigen” schreibt Marlen Haushofer..

Der Hunger des Ich nach Liebe ist über die Sprache in ein Wortkleid eingepackt, das im Lauf der Sprachdomestizierung vielem überstülpt wurde, das nicht den Hunger stillen konnte. Ob das Wortkleid stimmt oder nicht, ob es übereinstimmt mit der eigenen Erfahrung, die sich wiederholte und doch nicht die gleiche war – von der „Rippe Adams” und der „Trennungsagonie” (Silvia Plath) zum „schönen Beischlaf” (Elfriede Jelinek) zum „Lebewohl” und Verzicht aus Grossmut (Karoline von Günderrode) zu „Christa schluckt viel” (Sabine Peters) und zur „Lust am Taumel” (Friederike Mayröcker) bis zu den „Blicken meines Kindes” (Sibilla Aleramo)  –  wer kann es wissen, ausser der sprachesuchende, ichsuchende, schreibende oder schweigende einzelne Mensch selber?  “Die Liebe ist die Zeit und der Raum, in denen das ‘Ich’ sich das Recht nimmt, aussergewöhnlich zu sein”, hält Julia Kristeva fest.

Neben dem verborgenen, aussergewöhnlichen Ich, das in sich – zusätzlich zu vielem mehr – die Bedeutung von Liebe zu erkunden sucht, gibt es ein gewöhnliches Ich, dem die Variationen des Fremden eigen sind, dasjenige, das sich im Spiegel und im Angsttraum entgegenblickt, als Spiegelbild des gedemütigten Objekts, das dem um seine Identität bangenden Subjekt zum Verwechseln ähnlich sieht. Wie eine Stärkung verstehe ich daneben das Bekenntnis Rosa Luxemburgs, das sie während des Gefängnisaufenthaltes in einem Brief an den fernen Geliebten festhielt: „Aber ich schreibe ja eigentlich nur für eine Person: für mich selbst. Die Zeit, als ich die „Akkumulation” schrieb, gehört zu den glücklichsten meines Lebens.”

Rosa Luxemburg war sich bewusst, dass die Unruhe der Zeit und das Getriebenwerden durch die Zeit, die ihr Denken verschärft und ihr Empfinden verfeinert hatten, durch die Einsamkeit der Gefängniszelle, in welche sie versetzt worden war, nicht den Dialog mit sich selbst der Flüchtigkeit des Augenblicks preisgeben durfte, dass das, was für sie klärend, einleuchtend und wichtig war, festgehalten werden musste. Was festgehalten wird, schafft Halt und Dauer, die Worte dienen dem Sinn – dem Sinn von Werden und Sein – des eigenen Ich. Können wir tatsächlich die Sprache einsetzen als Mittel der Selbstfindung, trotz aller Verfänglichkeiten der Sprache, trotz der Zweifel an der Bedeutung der Worte, trotz des häufigen Verstummens?

Wir haben festgestellt, dass sich die Frage nach der Identität am klarsten, intellektuell vielleicht am redlichsten in existenzphilosophischer Weise stellt, nämlich als Selbstfragung des Subjekts in seinem Werden und Handeln. Das Subjekt konstituiert sich als das erkennbare gleiche Ich nicht nur, indem es Ich sagt, sondern indem es sich in dieser “Ichheit”, in dieser Individualität durch die erzählbaren Geschichten als handelnd oder leidend, als aktives oder als passives Subjekt wiedererkennt und sich auch so als das gleiche Subjekt empfindet, als bedürftiges und zugleich als starkes Ich, das sich von den anderen Ichs unterscheidet, das in dieser Differenz als Du angesprochen wird und so als Subjekt in dialogischen Verhältnissen steht, oder als Er oder als Sie dargestellt, referiert werden kann, auch in der Referenz als Subjekt erkennbar. Denn ob als Ich in der Selbstreferenz, als Du (respektive als Ihr oder Sie) in der direkten Ansprache, d.h. in der dialogischen Referenz, oder als Er und Sie in der indirekten Referenz, immer kann das Subjekt als Subjakt des Handelns oder Erleidens erkannt werden.

Wir haben auch festgestellt, dass, indem wir dem Handeln entlang die Identitätsfrage stellen, wir nicht umhin können, uns zu fragen, warum wir so und nicht anders handeln, resp. wie wir die Wahl des Handelns begründen. Die Tatsache, dass wir unter verschiedenen Optionen des Handelns wählen können, bedeutet Freiheit. Auf Grund dieser Freiheit ist das Subjekt für die Wahl des Handelns, damit auch für die Folgen des Handelns belangbar, verantwortbar. Je nach der Begründung für die Wahl des Handelns wird diese Verantwortung allerdings delegiert oder abgeschoben. Dies mag vordergründig eine Entlastung des Subjekts bedeuten, führt jedoch zu dessen Schwächung und, in der Folge, auch zu einer Schwächung der seiner Identität. Wir werden später daruf zurückkommen.

Nun, worauf greifen wir zurück, wenn wir die Wahl des Handelns begründen und rechtfertigen? Sind es religiöse Vorschriften, etwa die zehn Gebote? Dies mag für Menschen, die gläubig sind, richtig sein, da sie ihrem Glauben mit Ernst verpflichtet sind, nicht nur im Zwiespalt des Handelns, sondern in allen existentiellen Fragen. Daher bedarf es für sie tatsächlich keiner anderen Begündung dafür, dass sie die Frau des Nächsten oder den Mann der Nächsten oder fremdes Eigentum repsektieren als dieses religiöse Gebot. Ich weiss nicht, wie viele Menschen aus dieser Sicherheit des Glaubens heraus versuchen, gut zu handeln. Es sind gewiss nicht wenige. Ich denke jedoch, dass für diejenigen, die nicht gläubig sind, es unredlich ist, sch trotzdem auf diesen Normenkodex abzustützen, da seine verpflichtende Begründung nur durch den Glauben erfolgen kann. Worauf stützen sich Menschen in ihren Handlungsentscheiden ab, die nicht gläubig sind, die keinen religiösen Normen verpflichtet sind? Genügt zu,m Beispiel das Schweizerische Strafgesetzbuch oder das Obligationenrecht? Die Geschichte hat allerdings zur Genüge bewiesen, dass von Menschen geschaffenen staatliche Gesetze Unrechtsgesetze sein können. Die Tatsache, dass ein bestimmtes Handeln gesetzlich gefordert oder verboten wird, bedeutet noch nicht, dass das Handeln gut ist. Ich erinnere an die Rassegesetze im Dritten Reich, an die schweizerischen Ausländergesetze aus derselben Zeit, auch das erst jüngst erlassene Gesetz über Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht scheint mir ein Unrechtsgesetz zu sein (Verhaftung oder Abschiebung von Ausländern und Ausländerinnen auf blossen Verdacht hin). Wenn schon die staatlichen Gesetze fragwürdig sind, selbst demokratisch erlassene, um wie viel fragwürdiger ist dann die partikuläre Autorität irgend eines Menschen, z.B. jene eines Offiziers für seine Untergebenen, oder eines parteipräsidenten für die Mitglieder einer partei, oder eines chefarzts für seine Assistenten und Assistentinnen etc.  Der Rekurs auf dessen autorität mag zwar im Augenblick des Handelns entlastend sein, doch falls der Entscheid, so und nicht anders zu handeln, nicht zugleich der autonome Entscheid des handelnden Subjekts sein kann, führt die Delegation der Handlungsverantowrtung zu einer zunehmenden Subjektentfremdung und dadurch zu einer Schwächung der Identität. Wie soll ich mich in der Selbstbefragung als dasselbe Subjekt erkennen, wenn ich mich in der Begründung des Handelns nicht erkenne? resp. wenn ich mich als fremdbestimmt erkenne, letztlich als manipuliert? Ist diese Subjektschwäche, diese Subjektentfremdung nicht Grund für zahlreiche kompensatorische Ichstärkungen ? – sei dies Alkohol oder materieller Besitz, schnelle Autos oder was immer?

Der Weg zur Aufhebung der Entfremdung führt, wenn diese in der Selbstbefragung erkannt wird, in einen schwierigen Prozess, der als Krise erlebt wird, als Orientierungskrise, als grosse Verunsicherung. Was soll gelten? Welche Masstäbe, welche Normen? Die Krise kann Gefahr oder chance sein, je nachdem. Sie kann Gefahr sein, wenn das Bedürfnis nach schneller Absicherung, nach Abstützung auf einer Autorität überwiegt. Sie kann aber Chance sein, wenn das Wagnis der Freiheit eingegangen wird, wenn auch nur allmählich als langsames Training. Vom Standpunkt der Existenzphilosophie aus ist es unwichtig, wann der Mensch die Chance erkennt und wahrnehmen kann, als Subjekt zur eigneen Handlunsbegründung zu finden, nur abgestützt auf sein eigenes Urteil, ob als Kind oder als junger Mensch oder als Erwchsener oder im hohen Alter. Was zählt, ist allein die Tatsache, dass die Chance der Freheit und damit der Eigenverantwortlichkeit, die Chance des Verzichts auf jegliche implizite oder explizite Verantwortungsdelegation, erkannt und wahrgenommen werden kann. Denn sie bedeutet ein Ende der “freiwilligen Knechtschaft”, wie Etinne de la Boëtie sie untersucht und kritisiert hat. Sie bedeutet Autonomie und dadurch – Glück.

 

 

[1] Ales Rasanau. Das dritte Auge. Punktierungen. Weissrussisch und Deutsch, übersetzt von Elke Erb. Verlag Urs Engeler, Weil am Rhein 2007, S. 99

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