Wie steht es mit dem Herzen der „herzlosen“ Medea? Wer ist Medea? Wie erklären sich weibliche Ohnmacht, „böses“ Verhalten und Rache? Warum werden Macht und Schuld von Frauen anders bewertet als jene von Männern?

Wie steht es mit dem Herzen der „herzlosen“ Medea?

Wer ist Medea? Wie erklären sich weibliche Ohnmacht, „böses“ Verhalten und Rache? Warum werden Macht und Schuld von Frauen anders bewertet als jene von Männern?

 

Wer sich mit Medea befasst, kann nicht anders, als die vergangene Zeit und die eigene Zeit auf eine Ebene zu setzen, um mit kritischem Blick die gesellschaftlichen Verhältnisse zu befragen und so die Ursachen und Zusammenhänge dieser Frauengeschichte zu untersuchen. Immer wieder im Lauf von mehr als zweitausend Jahre wurde Medea aktualisiert, ihre Gestalt wurde noch stärker verdunkelt oder aber erhellt, eventuell gar freigesprochen[1]. Welches Frauenbild wurde dadurch vermittelt? Warum und wozu?

 

Über den „Ton“ des Erzählens

Erzählung oder Sage ? Dichtung? Um einen Mythos geht es, so oder so, mit unterschiedlichem „Ton“ immer wieder neu berichtet (die indogermanische Silbe „my“- in „Mythos“ entspricht der Bedeutung von „tönen“), in der ältesten und massgeblichsten Weise nicht von Medea selber und nicht von einer Frau vermittelt, sondern von Euripides, dem jüngsten der drei grossen Tragiker Athens, ca. 480 v. Chr. geboren und in einer Epoche des politischen Umbruch, belastender Machtkonflikte und Machtverluste gross geworden. Der Peloponnesische Krieg belastete Athens Herrschaft; auch entwickelten sich neue philosophische Richtungen. Es kann daher angenommen werden, dass Euripides die Gelegenheit benutzte, die Geschichte um das Goldene Vlies, um Jason und Medea als „Tragödie“ zu verfassen: als „Bocksgesang“ (das griechische „tragos“ bedeutet „Bock“ und „ode, oide“ heisst „Gesang, Lied“), zu einem gesellschaftlichen Zweck, wie Helga Novak in ihrem „Brief an Medea“[2] festhielt:

„Medea du Schöne dreh dich nicht um

vierzig Talente hat er dafür erhalten

von der Stadt Korinth

der Lohnschreiber der

dir den Kindermord unterjubelt:

ich rede von Euripides verstehst du“…

Wird die Bedeutung von „Tragödie“ ernst genommen, geht es in Euripides‘ „Medea“ um das „Meckern“ von „Böcken“, deren „Ton“ er warnend wiedergibt. Dahinter steht die Geschichte Jasons, des begehrlichen Draufgängers, und die Geschichte Medeas, der in Korinth diskriminierten und sich räüchenden „Fremden“. Zu welchem Zweck liess sich der „Lohnschreiber“ benutzen?

  • Euripides berichtet, dass der thessalonische Jason in Begleitung vieler Helden mit dem Schiff Argo nach Kolchis, das ferne Reich am Schwarzen Meer, gefahren war, um das goldene Fell des göttlichen Schafes zu erobern, dieses unerreichbare Symbol des weibliches Tieres, das in Kolchis verehrt wurde, dass er damit die Rückgewinnung seines väterlichen Erbes – der Herrschaft über Iolkos – anstrebte; dass er diese Aufgabe nicht hätte erfüllen können ohne die Hilfe der göttlich-zauberischen Medea, der Tochter des Fürsten von Kolchis; dass Iason in der Schlächterei um das Goldene Vlies Medea’s Bruder tötete, der das verehrte Heiligtum zu verteidigen suchte, dass sie trotz der masslosen Gewalt, die dabei ausgeübt wurde, trotz des schweren Verlustes und trotz ihrer Trauer Jason in flammender Liebe bedenkenlos unterstützte; dass sie ihm zwei Söhne gebar und mit ihm und den zwei Kindern floh, als er wegen seiner Verbrechen in Kolchis verfolgt wurde, dass sie dadaurch ihre Heimat, den Ort der Sicherheit und Zugehörigkeit, verlor und nach Korinth gelangte, wo Jason einen Teil seiner Jugend verbracht hatte und wo er König Kreon um Asyl bat.
  • Euripides berichtet auch, dass hier die Umkehr der Geschichte geschah: dass Kreon Jason willkommen hiess und ihm alles anbot, was dieser begehrte, während Medea als seine Frau nicht angenommen, sondern als „Fremde“ abgelehnt wurde; dass Jason nicht als ihr Ehemann für sie eintrat, wie Medea von ihm erwartete, im Gegenteil; dass er die Gelegenheit benutzte, um Medea, deren er sich überdrüssig erklärte, von sich zu weisen und zu verraten. Kreons Tochter zog ihn an, die noch mädchenhafte Kreusa (auch Glauke genannt), sie war es, die er begehrte. Kalt berechnend unterstützte ihn dabei deren Vater. Jason forderte von Medea, seinen Entscheid zu akzeptieren und wegzuziehen, ihm aber die zwei Söhne zu überlassen.
  • Damit spitzte sich laut Euripides das Drama von Jasons Handlungsentscheid zu („Drama“ ist abgeleitet vom griechischen Verb „dran“ -„tun, handeln“); Medea fühlte sich seelisch zutiefst verletzt. Ein solches Ausmass an Demütigung konnte sie nicht ertragen. Unter dem von Wut und Zorn begleiteten, überwältigenden Schmerz der vielfachen Traumatisierung verlor sie die Fähigkeit, ihr Handeln und die Folgen ihres Handelns klar zu überlegen. Sie beschloss, sich zu rächen: dem Schein nach stimmte sie den Forderungen zu, in Wirklichkeit aber plante und realisierte sie die Tötung Jasons und Kreusas, gemäss Euripides auch ihrer zwei Kinder.

Über die vielen „Warum“ im Zusammenhang der Medea-Tragödie

Drei Fragen stellen sich, die mir wichtig erscheinen.

  • Bei der ersten Frage geht es um das Warum der unterschiedlichen Darstellung des schuldhaften Fehlverhaltens von Jason und von Medea: Warum kommt es einerseits zur Tatsache der Beschönigung, ja der Rechtfertigung von Jasons Ermordung von Medea‘s Bruder wie auch von seinem verletzenden Verhalten seiner Ehefrau gegenüber, und warum andererseits zur Tatsache der Darstellung Medea’s als gnadenlos eifersüchtiger Rächerin und Mörderin? Gibt es seit der Antike ein unterschiedliches Regelsystem für Frauen und Männer in der Beurteilung von Gut und Böse? Was wird dabei unter dem „Bösen“ verstanden?

– Bei der zweiten Frage geht es um die Klärung dessen, was den kaum haltbaren Hunger nach Rache weckt und was „Rache“ letztlich bewirkt, diese gewaltbesetzte, destruktive und – letztlich – selbstdestruktive Antwort auf nicht-ertragbare Herabsetzung, Verletzung oder gar Zerstörung hoher eigener Werte. Es geht um die Frage, wie sich beklemmend belastende, ungeheilte Traumatisierungen auswirken.

– Mit der dritten Frage möchte ich die Differenz zwischen der Selbstdarstellung existentieller Geschehnisse und deren Erzählung durch Andere aufgreifen, eine Differenz, die darin besteht, dass die Handelnden entweder als Subjekte sprechen, welche auch die hintergründigen Ursachen für ihre Empfindungen, für ihr Verhalten und ihr Handeln kennen, oder dass sie zu Objekten gemacht werden, deren Handeln in der Erzählung nach irgendwelchen Kriterien bewertet wird, insbesondere wenn sie als „Fremde“ gelten.

Die Fragen, auf welche ich eingehen werde, hängen mit der Annahme von Euripides‘ Absicht und Zielsetzung zusammen, mit welchen seine Medea-Tragödie verknüpft waren. Ich nehme an, dass männliches Machtgehabe und dabei ausgeübte Gewalt – im öffentlichen wie im privaten Verhalten, im Erfüllen des fürstlichen wie des sexuellen Begehrens – legitimiert und als Voraussetzung erfolgreicher Herrschaft propagiert werden sollte, dass daher das weibliche Aufbegehren gegen Erniedrigung und Entwertung als aussichtsloser, verhängnisvoller Weg in die „unweibliche“ Schuld der Gewalt dargestellt wurde. Euripides war vermutlich bestrebt entsprechend der vor-aristotelischen Ethik oder im Auftrag Korinths, weibliche Unterwerfung unter männliche Macht als regelgemässes Verhalten zu erreichen, letztlich um deutlich zu machen, dass Frauen, die sich nicht nach den gesellschaftlichen Forderungen benehmen, als fremd und als schädlich betrachtet und ausgeschlossen werden. Es galt, nehme ich an, den Frauen mit der Gestalt von Medea jeglichen Widerstand gegen verletzende männliche Macht als verhängnisvollen Irrtum deutlich zu machen, sogar als irreleitenden Weg in die irre Verirrung, resp. in die wahnhafte Vorstellung, Leiden, das auf Grund nicht-reparierbarer Entwürdigung und kränkenden Verlustes entstand, durch andere Verbrechen aufzuheben – eine Warnung vor Rache. Medea mag die Last an Schuld, die sie mit der geplanten Rache auf sich nahm, zwar bewusst gewesen sein, doch dieses Wissen wurde als Warnung verdrängt, da die Last des Leidens sie überwältigte. Die Tatsache, dass psychisches Leiden, das durch traumatisierende Erniedrigung geschaffen wird, zur lähmenden Depressivität, aber auch zur nicht mehr kontrollierbaren Aggressivität führt, wird in der Tragödie vom Chor erwogen; in der Beurteilung resp. Verurteilung von Medeas Handeln jedoch nicht beachtet.

 

Gelten für „gutes“ und „böses“ Verhalten von Männern und von Frauen ungleiche Regeln?

Wichtig erscheint mir die Frage, wie und warum Euripides in moralischer Hinsicht dazu kam, Jason nicht als „Bösewicht“, nicht als Mörder und nicht als groben Verräter seiner Frau zu qualifizieren, jedoch Medea als unverzeihlich schuldhaft, „böse“ Versagerin. Es mag nützlich sein, kurz auf die Aristotelische „Ethik” als Theorie des richtigen oder des falschen Handelns und damit des gelingenden, ev. des guten Lebens einzugehen, obwohl sie ca. ein Jahrhundert nach Euripides‘ Tragödie in der Peripatetischen Schule in Athen gelehrt und aufgezeichnet wurde. Es ist jedoch anzunehmen, dass die Auseinandersetzung um die Komplexität der Verbindung menschlichen Denkens und Handelns mit den Empfindungen, d.h. die Verbindung von Intellekt, körperbedingter Triebhaftigkeit und Seele zu den beunruhigenden philosophischen Neuerungen gehörte, welche zur Zeit Euripides‘ grosse Denker – u.a. Protagoras, Prodikos und Anaxagoras – und einen Teil des Volkes beschäftigte, jedoch einen Teil der Machthabenden skeptisch stimmte.

Gemäss Aristoteles gibt es bezüglich des ethischen Regelsystems widersprüchliche Entscheidungs- und Handlungssituationen. Diese werden als „Paradoxien“ bezeichnet. Die Paradoxien verbindet er mit drei Bereichen von Entscheidungskonflikten, von denen jeder Bereich wiederum eine Menge von widersprüchlichen Situationen beinhaltet. Die Geschlechterdifferenz wird dabei insofern beachtet, als ausschliesslich von männlichen Handlungssubjekten die Rede ist; Frauen gelten in allem, was Empfinden und Denken, Urteilen und Handeln anbelangt, im Schatten der Männer als deren Objekte.

Von den drei Bereichen, in welchen die Wahl des richtigen Handelns konfliktuös ist, erachte ich im Zusammenhang von Euripides‘ Darstellung von Jason und von Medea den ersten und den dritten von Bedeutung. Der zweite Bereich erscheint mir diesbezüglich weniger massgeblich; er geht auf die Nicht-Übereinstimmung unterschiedlicher philosophischer Schulen ein – Theorien, Ethiken, z.B. einer konfessionellen Ethik und einer Berufsethik, die eventuell unter dem Einfluss verschiedener Wirtschaftstheorien oder Religionen stehen etc.

Der erste Bereich betrifft die Paradoxien, die sich durch das Aufeinanderprallen von Urteilen, Meinungen und Lehren von „Weisen” ergeben (resp. von Intellektuellen, Philosophen/Philosophinnen, Lehrern/Lehrerinnen etc.) und von Menschen, die nach herkunftsbedingter Alltagsorientierung handeln. Aristoteles erklärt, dass diese Widersprüchliche unausweichlich seien, und dass es keine Position gäbe, welche die Wahrheit für sich beanspruchen könne, ja dass häufig keine der antithetischen Positionen zustimmungswürdig sei. Als Beispiel führt er u.a. die Fragen an: „Muss man seinem Vater oder dem Weisen gehorchen?”, oder „Muss man tun, was gerecht oder was nützlich ist?” oder auch „Muss man eher Unrecht leiden als Unrecht tun?”.

Der „herkunftsbedingte Alltag“ ist bei Medea, der zauberisch-weisen Fürstentochter aus Kolchis, tatsächlich anders als der Alltag des jungen Griechen, der elternlos-verwahrlost aufwuchs und von seinem fürstlichen Onkel um das Erbe betrogen wurde. Betrug und Mord gelten für beide als Unrecht. Während Jason allein das, was für ihn nützlich ist, als richtig erachtet und zu tun entscheidet, ohne zu überlegen, wie sich die Folgen des Entscheids auf Andere auswirken – auf Medea’s Bruder, auf seine Frau und auf die Kinder -, beschliesst Medea, nicht länger Unrecht zu leiden, sondern eher Unrecht zu tun. Sie weiss um das Unrecht, das sie zu tun sich entscheidet, letztlich um die Paradoxie des Entscheids: sie entscheidet auf männliche Weise – und nicht auf weibliche. Dies ist der Skandal, der Euripides als Inhalt der Tragödie bewegt. Hätte ein Mann so entschieden und nicht eine Frau, der nach der Aristotelischen Ethik gar keine Wahl zusteht, sondern der die Pflicht auferlegt ist, Unrecht zu leiden, so wäre die tödliche Rache unter den Millionen ähnlicher Entscheide versickert und nicht bis in die heutige Zeit als festgemauertes Bild der „bösen Frau“ in der Literatur geblieben.

Interessanterweise thematisiert Aristoteles mit dem dritten Bereich Widersprüche im einzelnen Menschen selbst, d.h. innerpsychische Widersprüche oder Widersprüche zwischen Psyche und Intellekt, zwischen Empfinden und Denken. Aristoteles spricht von Widersprüchen zwischen den geheimen Wünschen und den ausgesprochenen Grundsätzen des Handelns. „Die Wünsche stimmen ja oft nicht zu den Worten”, sagt er deutlich, „sondern man hält die schönsten Reden und will doch nur, was vorteilhaft erscheint”. Jason, dem als Mann in der damaligen Zeit das Recht zusteht, seine Wünsche schamlos kund zu tun und zu realisieren, täuschte Medea, die ihm zum goldenen Vlies verhalf und ihm zwei Kinder gebar, in dem, was sie unter „Liebe“ verstand und was er vorgab, für sie zu empfinden. Nicht Liebe war es, sondern schrankenloser Wunsch nach Herrschaft und nach Söhnen, letztlich schrankenlose Begehrlichkeit nach Besitz. Medeas Antwort auf diesen Betrug war ihr Spiel mit dem Schein der Akzeptanz des Verlustes, hinter welchem sie die grauenerregende Rache plante, die sie vollzog. Es ist eine erschütternde letzte Paradoxie, darüber besteht kein Zweifel. Erschütternd ist aber auch die Tatsache, dass Jasons Täuschung in dem, was er als „Liebe“ vorgab – wodurch er Medeas destruktive Täuschung verursachte – als „normal“, d.h. als den „Normen“ entsprechend beurteilt wurde. Erneut zeigt sich in dieser Paradoxie das Verhängnis der nicht-übereinstimmenden weiblichen und männlichen Normativität.

 

Wie kommt es zum Bedürfnis nach Rache und was bewirkt Rache?

Es erscheint mir wichtig, näher auf das einzugehen, was durch traumatisierende Erfahrungen bewirkt wird. Als Beispiel schildere ich kurz eine aktuelle Medea-Geschichte.

  1. hat mir in fünfzehn Gesprächen ihre Geschichte geschildert. Sie war durch die Vormundschaftsbehörde zu mir überwiesen worden. M. stand damals in einem Strafverfahren wegen verübter Gewalt; fünf Jahre zuvor hatte sie in der Schweiz ein Gesuch um Asyl gestellt.

Aus der frühen Kindheit sind M. kaum Erinnerungen geblieben. Ihre Mutter hatte sie nach der Geburt ausgesetzt; sie hat sie nie gekannt. Den Vater kenne sie, er habe sie manchmal im Waisenhaus besucht, habe ihr Bonbons oder andere Geschenklein mitgebracht. Er habe sich ein zweites Mal verheiratet und habe mehrere Söhne gehabt. Neben den Halbbrüdern habe sie noch einen richtigen Bruder, den die Mutter nach der Geburt auch ausgesetzt hatte. Kontakt habe sie kaum mit jemandem, für alle sei das Leben schwer.

  1. berichtet, dass sie vom zwölften bis sechzehnten Altersjahr in einem Waisenhaus in Z., in welchem sie schon die ganze Kindheit verbracht hatte, durch einen Mitzögling täglich aufs schwerste misshandelt worden sei. Er sei etwa gleich alt wie sie gewesen, jedoch bedeutend grösser und kräftiger; er habe ein Glasauge gehabt. Er habe sie in einen Raum eingeschlossen und sie mit dem Kabel eines Bügeleisens, mit Schuhen, mit einem Tisch und mit anderen Gegenständen auf den Kopf und den Rücken geschlagen, beschimpft und ihr mit dem Tod gedroht, falls sie das geringste verlauten lasse. Beulen auf dem Kopf, Schrammen und andere sichtbare Verletzungen, habe sie in der Schule mit Unfällen erklärt. Vom vierzehnten Altersjahr an habe der gleiche Bursche sie mehrmals wöchentlich sexuell missbraucht. Das erstemal, als er sie vergewaltigt habe, habe er sie derart verletzt, dass sie ins Krankhaus eingeliefert worden sei, doch habe sie sich nicht getraut, den Täter zu denunzieren. Die Misshandlungen setzten sich bis zum 16. Altersjahr fort. Damals endlich habe sie gewagt, dem Direktor des Waisenhauses die Schläge, Vergewaltigungen und Einschüchterungen mitzuteilen. Als „Sanktion” sei der Täter in ein anderes Waisenhaus in der gleichen Stadt versetzt worden, sonst sei er ungeschoren davongekommen. Er sei immer wieder zurückgekehrt, da das Heim, in welchem M. gewohnt habe, offen zugänglich gewesen sei, er habe ihr aufgelauert und sie von neuem missbraucht.

Mit siebzehn Jahren habe sie ein erstes Kind geboren, eine Tochter. Sie sei allein im Haus ihres Bruders gewesen, bei dem sie zu Besuch weilte, als die Wehen einsetzten. Die kleine Tochter habe ohne Hilfe niederkommen müssen. Da sie nicht gewusst habe, wie sie für das Kind hätte sorgen können, habe sie es zur Adoption weggegeben. Der Vater des Kindes sei ein älterer, verheirateter Mann gewesen, er habe von ihr nichts mehr wissen wollen, als sie schwanger geworden sei. War ihr eigener Vater auch der Vater des ersten Kindes war? – M. liess die Klärung der Frage nicht zu. Sie habe damals eine Schneiderinnenschule gemacht, die vier Jahre dauerte. Nochmals sei sie schwanger geworden und habe ein Mädchen geboren, das sie wieder zur Adaption weggab; das Kind sei nach wenigen Wochen gestorben.

Mitte der 80er Jahre kam sie erstmals in die Schweiz als Saisonnière. „Weg von dort, wo ich aufgewachsen war, wollte vergessen”. Sie arbeitete an verschiedenen Stellen im Gastgewerbe, wurde erneut schwanger. Anfang Februar 1991 gebar sie einen Sohn, den sie bei sich behielt. Als 1992 in ihrem Land der Krieg ausbrach, stellte sie ein Asylgesuch. Zur Zeit der Schwangerschaft und der Niederkunft war sie durch eine ältere Frau, die mit einer anderen Frau liiert war, unterstützt worden. Nach dem Tod von Frau F., die mit M. ein intimes, „liebevolles“ Verhältnis gehabt hatte, arbeitete sie bei der anderen Frau dreimal wöchentlich während einigen Stunden als Dienstmädchen, ohne dass sie M. einen Lohn bezahlt hätte oder dass sie Eifersucht und Hass ihr gegenüber beigelegt hätten. Im Frühjahr 1995 gebar sie nach einer flüchtigen Beziehung mit einem Mann, dessen Namen sie nicht kannte, eine Tochter, die sie wiederum zur Adoption weggab.

Drei Mädchen hatte sie geboren. Schmerz überwältigte sie, wenn sie davon sprach. Für keine Tochter hätte sie Halt und Vorbild sein können, da auch ihre Mutter ihr nichts hatte bieten können, nicht ihre Arme, nicht ihren Blick, „nichts als das traurige, gebrochene Herz“. In der Asylunterkunft, wo sie lebte, wurde sie damals von einem Mitbewohner im Treppenhaus mit einer Metallstange zusammengeschlagen. Ein Gefühl der unausweichlichen Gewaltwiederholungen in ihrem Leben beherrschte sie. Wie konnte sie davon freiwerden?

Als die von Hass besetzte Frau B., bei der M. putzen ging, M. aufforderte, einen betagten Mann, der bei ihr als Untermieter gebrechlich und verwahrlost lebte und dessen Altersrente Frau B. für sich benutzte, wegen dessen „Dreck“ zu „bestrafen, und als sie M. zu diesem Zweck eine metallbesetzte Hundeleine in die Hand drückte, habe sie begonnen, den wehrlosen, alten Mann zu schlagen, zu schlagen, hundertmal zu schlagen, bis er blutüberströmt am Boden lag. Voll Entsetzen sei ihr plötzlich bewusst geworden, was sie getan habe: Rache habe sie ausgeübt für alle Gewalt, die ihr durch Männer angetan worden sei, an einem Mann, der ihr nie weh getan habe.

  1. wirkte mit ihrer kräftigen, untersetzten Statur und ihrer schweren Gangart eher burschikos als weiblich, vielleicht wie Medea. Sie urteilte in Schwarz-Weiss-Rastern, sehr heftig und, ihrer Meinung nach, unbeirrbar und unfehlbar. Den wenigen Menschen, die ihr Gutes getan oder die sie „anständig behandelt” haben, wollte sie „ewig dankbar” sein. Im Strafverfahren zeigte sie den Wunsch, ihr Bedauern deutlich zu machen, doch auch den Wunsch nach Gerechtigkeit. Doch sie allein, die zugleich Opfer und Täterin war, wurde zur Täterin erklärt, „typisch eine Fremde“, habe Frau B. gesagt, die jede Art der Mitverantwortung geleugnet habe. Als Strafe sollte ein sofortiger Ausweisungsbefehl umgesetzt werden. M. war von Verzweiflung besetzt. Wie sollte sie und wie sollte ihr kleiner Sohn in einem Land leben, in welchem sie nur Gewalt durchstehen musste? Mit der Verzweiflung einher ging die blinde Wut auf Frau B. und das Bedürfnis, sich an ihr zu rächen. Wutbesetzt, rachebesetzt, zutiefst erniedrigt fühlte sie sich, als sie ins drittletzte Gespräch kam, sie tobte innerlich, zitterte, glitt ab in die Phantasie der tödlich-strafenden Gerechtigkeit – und wurde plötzlich still, begann zu schluchzen, so heftig und so ungeschickt-ungewohnt, dass sie kaum mehr atmen konnte. Das Bedürfnis nach Rache löste sich auf im stumpfen Schluchzen. Wie war dies möglich? Nicht Angst und nicht Abwehr spürte M., als sie ihre Verzweiflung ausstiess, als, in ihrer Ohnmacht blind rachebesetzt, sie nicht spüren oder hören musste, wie „böse“ und „herzlos“ sie sei, sondern einen guten Blick auf sich wahr nahm, ein Verstehen, das dem gleichkommt, was von der Bedeutung her „Sympathie“ heisst (abgeleitet von „syn“-zusammen, mit, und „pathein“-leiden, erleben).

 

Über die Folgen psychischen Leidens

Medeas und M.’s Bedürfnis nach Rache stellt die Frage nach den Folgen psychischen Leidens. Seit dem Ersten Weltkrieg sind menschenverursachte Traumatisierungen Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Man stellte damals erstmals fest, dass schwer traumatisierte Soldaten, wenn sie

  • nach einem erschütternden Schock (z.B. infolge tödlicher Bedrohung, der Tötung naher Kameraden, eigener schwerer Verwundung etc.) sofort aus dem Gefahrengebiet entfernt und behandelt wurden, vom posttraumatischen Stress-Syndrom (PTS) verschont blieben, und dass
  • die Heilungschancen je grösser waren, je stärker sie sich auf eine nicht traumabelastete Vorgeschichte abstützen konnten.

Beide Möglichkeiten waren swohl Medea wie M. versagt. Gehen wir nochmals auf die aktuelle M. ein:

Die Waisenhausverantwortlichen kümmerten sich weder um die psychischen Folgen der Mutterlosigkeit noch um der angstbesetzten Überlebenssituation seit der frühen Kinderzeit, die durch eine schwere Zuwendungs- und Bindungsdefizienz geprägt war. Nicht im geringsten kümmerten sie sich um die Folgen der jahrelangen Peinigungen, denen M. ausgesetzt war. Eine Psychotherapie wurde nicht einmal erwogen. Für die Verarbeitung der schweren Traumatisierungen stand der Patientin weder professionelle Hilfe noch ein positiver Rekurs auf ihre frühere Geschichte zur Verfügung. Sie blieb in allem sich selbst überlassen. Ihre nachfolgende Entwicklung macht deutlich, wie folgenschwer die nicht aufgearbeiteten wiederholten (sequentiellen) Traumatisierungen weiterwirkten.

Was in der Komplexität des psychischen Leidens als Posttraumatische Belastunssysndrom (PTS) bezeichnet wurde, fand nach dem Zweiten Weltkrieg grössere Beachtung, vor allem wegen der seelischen und körperlichen Langzeitleiden von Holocaustüberlebenden in Israel sowie in allen übrigen Ländern, in denen sie Aufnahme gefunden hatten. Ebenso wurden Soldaten und Opfer aus dem Vietnamkrieg, Opfer des Pol Pot-Regimes in Kambodscha, der Diktaturen in Chile und Argentinien, Folteropfer aus der Türkei, Opfer aus dem Jugoslawienkrieg, Opfer von Vergewaltigungen und anderer schwerwiegender Gewalterfahrungen untersucht. Die Literatur dazu ist immens und stimmt in der Beschreibung der vielfältigen Symptome überein[3]. Sie stimmt auch darin überein, dass sequentielle Traumatisierungen das PTS verstärken und eine Heilung erschweren[4].

Der innerpsychische Prozess der unbewussten Verarbeitung der erlittenen Gewalt zeigt sich – zusätzlich zu den Symptomen der posttraumatischen Belastungsstörung – häufig in der Internalisierung der Gewalt, die u.a. in schweren Depressionen erkennbar wird, und nicht selten auch in der Externalisierung der erlittenen Gewalt: in der nicht mehr kontrollierbaren Wut und im blinden Wunsch nach Korrektur der Ohnmacht und des Unrechts durch Rache. Internalisierung und Externalisierung sind Abwehrversuche des Leidensdrucks, mit ungeeigneten Mitteln, da sie zusätzliches Leiden verursachen. Die Externalisierung, durch welche das Opfer zum Täter/zur Täterin wird, bedarf eines inneren oder äusseren Anlasses, einer „Ermöglichung“, sei es im „häuslichen“ Umfeld, wie bei Medea wie bei M., sei es in einer Situation der sog. „legitimen“ Gewaltanwendung, etwa als Soldat in einem Krieg. Die Bereitschaft, sich als Soldat zum Töten benutzen zu lassen, mag auch ein Racheakt an einem Täter sein – an einem persönlichen oder an einem kollektive. Unter weiteren Möglichkeiten muss diejenige einer malignen Beziehungssituation ernst genommen werden.

Diese letztgenannte Voraussetzung traf für M. zu wie auch für Medea.

 

Über die maligne Beziehung

Eine Beziehung wird maligne durch die Beziehungskonstellation, resp. durch die destruktive Dynamik, die infolge einer bestimmten Konstellation von zwei oder mehr Menschen zustandekommt. Diese destruktive Dynamik bewirkt, dass die Kontrollfunktionen des Ich den Triebimpulsen gegenüber abgeschwächt werden oder sich gänzlich auflösen, so dass deren pathologischem Ausagieren nichts mehr entgegensteht.

Die maligne Beziehung verstärkt generell die negativen psychischen Anteile bei beiden resp. bei allen Beziehungspartnern /-partnerinnen. Sie entbehrt jeglicher strukturierenden, nicht ängstigenden „holding function“,  schafft jedoch durch fixierte oder durch wechselnde Dominations- und Unterwerfungsstruktur eine gegenseitige, durch Gefühlsambivalenz geprägte Abhängigkeit, welche, quasi notwendigerweise, zur Verwirklichung von Machtphantasien führt, mit häufig sadistischem oder, auf der anderen Seite, mit selbst-schädigendem, masochistischem Rollenverhalten. In dieser Konstellation entwickelt sich ein je spezifisches Über-Ich, welches die in anderen Situationen funktionierenden moralischen Kontroll- und Warnfunktionen des ursprünglichen Über-Ich, resp. des Gewissens, beim einzelnen Beziehungspartner resp. der Partnerin („das gehört sich nicht“, „das darf man nicht“) schwächt oder gar aufhebt, das auf jeden Fall durch die zweifachen Aspekte der Machtphantasien überdeckt werden: durch das Gefühl der Selbstüberhöhung, indem einerseits befohlen werden kann, indem das Handeln delegiert wird (das steht nur „Mächtigen“ zu), indem andererseits eine Handlungsermächtigung zugestanden wird (den „Schwachen“).

So verhielt es sich mit dem Verhältnis zwischen M. und Frau B. Dieses Verhältnis war nach dem Tod von Frau Franzen im April 1995 ausschliesslich negativ bestimmt – eine maligne Beziehung. Die Patientin stellte in der Therapie fest, dass sie sich wegen des Versprechens, das sie Frau Franzen kurz vor deren Tod gegeben hatte, verpflichtet fühlte, Frau Brügger zu helfen, obwohl sie eine starke Abneigung gegen die unberechenbare, gewalttätige, ausnützerische und zudem übergewichtige und ungepflegte alte Frau hatte, die sie immer wieder auf gemeine, übel wollende Weise ihre Macht spüren liess, etwa als sie 1991, kurz nach der Geburt von Marcel, nach einem gemeinsam verbrachten Wochenende in Agno, Munira Duzelovic mit dem Kind auf dem Arm auf der Autobahn im Tessin auf dem Pannenstreifen aus dem Auto stiess und davonfuhr.

Auch Berta Brügger war, gemäss dem Empfinden meiner Patientin, voller Wut- und Rachegefühle ihr gegenüber, da sie mit Jeanette Franzen ein intimes Verhältnis gehabt habe. „Frau Brügger nützte mich nur aus, ich war ihr Tschumpel, sie telephonierte ständig, dass sie mich brauche, und ich musste den ganzen Dreck putzen und den ganzen übrigen Haushalt machen, gratis. Und sie sprach schlecht über mich, wo sie konnte, sie wollte mir schaden, wegen der Sache mit Jeanette, aber auch weil ich mit ihr kein solches Verhältnis haben wollte“. (Eine Bestätigung dieser Vermutung von Frau Duzelovic mögen die Aussagen bei der Einvernahme durch die  Bezirksanwaltschaft sein). Zwischen Berta Brügger und Munira Duzelovic bestand eine Verstrickung in Hassabhängigkeit, von pathologischen Machtphantasien beherrscht, die sich auf meine Patientin verhängnisvoll auswirkten, wie sich dies in der Situation vom 6. April 1998 zeigte. Als Frau Brügger an jenem Tag Munira Duzelovic aufforderte, den wehrlosen Untermieter mit Schlägen zu „züchtigen“, trat sie – scheinbar – ihre Macht an den „Tschumpel“ ab. Nun waren die Rollen umgekehrt, sie nicht mehr der Tschumpel und – mit den sofort präsenten inneren Bilder der extremen erlittenen Peinigungen – nicht mehr das wehrlose Opfer in der verschlossenen Kammer im Waisenhaus von Zenica, sondern ermächtigt, selber zu schlagen, zu schlagen, hundertmal und mehr.

Auf erschreckende Weise wird durch die protokollierte Schilderung der Ereignisse vom 6. April 1997 deutlich, dass das Opfer, Pius Segmüller, durch das ehemalige Opfer, Munira Duzelovic, auf dieselbe Weise gepeinigt wurde, wie sie es neben anderen Quälerein immer wieder hatte durchmachen müssen: Schläge mit einem vergleichbaren Gegenstand, die gleiche Stellung, die gleiche Wehrlosigkeit. Die Wiederholung der selber erlebten Traumatisierung, jedoch mit umgekehrten Rollen, bewirkte jene Abspaltung, durch welche moralische oder rationale Überlegungen („das darf man nicht“; „damit schade ich nicht nur dem alten Mann, sondern auch mir selber“) keinen hindernden Einfluss mehr ausüben konnten. Das Opfer in der Rolle der Täterin schuf nicht nur ein neues Trauma-Opfer, sondern stiess sich selber in eine fatale eigene Retraumatisierung zurück.

 

  • Therapeutische Überlegungen

Munira Duzelovic hatte sich nicht freiwillig in eine Psychotherapie begeben. Sie war dazu von der Vormundschaftsbehörde aufgefordert worden, da sich bei ihrem Sohn Marcel, den sie über alles liebt und für den sie sich sehr verantwortlich fühlt, Auswirkungen eines eventuellen psychischen Leidens bei der Mutter vermuten liessen. Es brauchte Zeit und Geduld, bis sich das Misstrauen der Patientin, die Therapeutin könnte eine Agentin der Behörden sein, auflöste, und bis sie sich innerlich bereit erklären konnte, ihren Widerstand abzulegen, um in eine therapeutische Arbeit einzuwilligen. Dazu kam der unvorstellbare Druck, den der angekündigte und näher rückende Ausschaffungstermin auf sie ausübte, die lähmende Angst, sie könnte gezwungen werden, „dort“ wieder leben zu müssen. Erst durch die – vorher noch nie gemachte – Erfahrung einer verlässlichen anwaltschaftlichen (durch RA Peter Frei) und therapeutischen Beziehung, erst durch das dabei allmählich entstehende Vertrauen konnte der schwierige Heilungsprozess beginnen.

Diesen – noch prekären – Heilungsprozess durch eine Zwangsrückschaffung zu unterbrechen, könnte für Munira Duzelovic und ihren Sohn Marcel verhängnisvollste Folgen haben. Es wäre effektiv eine Retraumatisierung. Sie würde sich in die durch Beziehungslosigkeit und Gewalt bestimmten Ursprungsbedingungen ihrer Kindheit sowie ihrer Erfahrungen in der frühen Adoleszenz  zurückgestossen fühlen, in die Spirale der durchgemachten Verluste und Gewalterfahrungen, des psychischen Leidens und der Wehrlosigkeit, damit auch der Gefahr einer erneuten, nicht vorhersehbaren Situation einer malignen Umkehrung der Traumatisierungsfolgen, da das durch den Krieg geschaffene Gewalt- und Hassklima in Bosnien noch überall spürbar ist, wie Hilfswerksverantwortliche und andere Fachleute vor Ort bestätigen. Die Bemerkung im BFF-Entscheid, es gebe auch ich Bosnien therapeutische Einrichtungen, beweist die grosse Unkenntnis der zuständigen Beamten. „Psychische Störungen und Defizite, die durch missglückte oder fehlende Beziehungen entstanden sind, können nur innerhalb einer Beziehung wiederhergestellt werden. Diese Auffassung liegt allen psychoanalytischen oder psychoanalytisch orientierten Behandlungsmethoden zugrunde“ (Stravos Mentzos. Neurotische Konfliktverarbeitung. 1984).

 

Zur dritten Frage. Wie zeigt sich der Unterschied zwischen der Selbstdarstellung von Geschehnissen und zwischen deren Darstellung durch Andere, insbesondere wenn die Objekte der Darstelllung als „Fremde“ erklärt werden?

Medea selber konnte keinen Bericht über sich selber schreiben. Brachte sie tatsächlich, wie Euripides berichtet, als Rache sowohl den verantwortlichen Jason, sein neues wie ihr zwei Kinder um? Die Komplexität ihrer Geschichte lässt die Vermutung zu, dass die Stadt Korinth, aufgebracht über die Tötung der Fürstentochter Kreusa, Medeas Kinder mit Steinen tötete. Es gab einige spätere Dichter – Seneca, Corneille u.a.m. -, die Euripides‘ Behauptung aufnahmen und noch krasser schilderten. Aber immer wieder wurde diese in Frage gestellt. Mal war von einem einzigen Sohn, mal von einer Tochter, mal überhaupt von keinen Kindern die Rede, wie z.B. in den 1405 durch Christine de Pizan in deren „Buch von der Stadt der Frauen“ verfassten Gesprächen über Medea, in welchen Medea letztlich als schuldlos dargestellt wird. Ich nehme an, dass Christine de Pizan, welche die Gespräche immer wieder mit „ich, Christine“ einleitete und weiter führte, sich in Medea’s Psyche (in der griechischen Bedeutung „Seele“) hineinversetzte und stellvertretend für sie eine Art „Selbstschau“ zum Ausdruck brachte, lange bevor die feministische und psychoanalytische Entwicklung dazu veranlasste, auf je persönliche Weise[5]. Christine de Pizan hielt fest, nachdem sie das Unglück geschildert hatte, welches Medea von ihrem Mann angetan worden war, dass „sie darüber so verzweifelt war, dass ihr Herz von dieser Stunde an weder Glück noch Freude kannte“[6], dass es an allen Empfindungen zerbrach.

„Selbstschau“, die Medea nicht vermitteln konnte, ist immer auch Selbstbeurteilung, in untrügerischer Kenntnis der eigenen Geschichte, ob im Sinn der Selbstanklage oder der Selbstentschuldigung. Ein Beispiel mag Robert Walser’s Gedicht unter dem Titel „Selbstschau“ sein, das der Dichter mit dem kindlich weisen Gemüt 1925 schrieb, als er 47 Jahre alt war, und in welchem er festhielt, dass sein Verhalten immer das Gegenteil von dem war, was von ihm erwartet worden sei, dass er aber keiner „Rettung“ bedürfe, da er mit sich selber „einverstanden“ sein könne. Die Frage stellt sich, was das „gegenteilige Verhalten“ bedeutet und was es bewirkt, aber auch, welchen Erwartungen und/oder Regelsetzungen es widerspricht. Hier ein paar Zeilen aus Walser’s Gedicht:

„Weil man nicht haben wollte, dass ich jung war, wurd’ ich jung.

Weil Leidender ich sollte sein, umschmeichelten mich viele Freuden.

. . .

Verlor ich viel, so sah und fühlt‘ ich, dass Verluste ein Gewinn sind,

dass niemand etwas wiederfinden kann, wenn er es nicht vorher verlor.

. . .

Indem man mich nicht kennen wollt‘, geriet ich auf die Kenntnis meiner selbst,

wurde verständnivoller, liebenswürd’ger Arzt zu mir.

. . .

Jeder trägt seine Lebensbahn in allem mit sich, was an Eigenheiten

Geburt, Umständ‘ zu Hause und die Schule ihm gegeben haben,

 

und Rettung braucht nur der, dem’s nicht gelang, sich nicht zu überheben.

Niemals hatte ein mit sich Einverstandener Hilfe nötig,

falls ihm kein Unfall zustiess, dass man ins Spital ihn tragen musste.“

 

Was beim träumerischen Walser so simpel erscheint, mag zur Klärung von Medea’s Verhaltens der Rache – ihres erstickenden, rachesüchtigen „Unfalls“ – nützlich sein. Mit „Unfall“ kann jede Art von „fallen“ verstanden werden, jeder Verlust von eigener, innerer Sicherheit, nicht nur im Gehen, sondern auch in den Empfindungen, im Denken und im Handeln. Was Medea betrifft, geht es um die kaum nachvollziehbare Verlorenheit und Erschöpfung in der Depressivität, wie um den in der Aggressivität nicht mehr steuerbaren Drang, Macht zu zeigen statt Ohnmacht, und dreinzuschlagen bis zur Vernichtung: den betrügerischen, rücksichtslosen Geliebten noch schwerer zu täuschen und Rache zu üben wegen der angetanen, nicht mehr ertragbaren Demütigung – all dies ein Leiden, das keine Akzeptanz mehr ermöglicht, ein Zusammenbrechen und ein Fallen in den Abgrund der Verzweiflung, in ein Herumirren im Labyrinth der dunkeln Ausweglosigkeit. Aufs dringlichste wäre heilkundige Hilfe nötig gewesen, ein „Arzt“, wie es in Walser Gedicht heisst: „Arzt“ (aus dem mittelhochdeutschen „arzet“ – „arzât“ abgeleitet) entspricht im Grunde genommen dem heilkundigen Wissen, das, laut der Mythologie, ursprünglich auch Medea eigen war. Höchstes Ansehen soll ihr als magischer Ratgeberin und Heilerin in ihrer Heimat Kolchis entgegengebracht worden sein (schon ihr Name weist auf dieses Wissen hin, aus dem griechischen Verb „medomai“ – „ersinnen“ abgeleitet), bis sie in blinder Verliebtheit und Abhängigkeit Jason verfiel – auch dies ein „Fallen“, in welchem die Klugheit des Denkens, der Ausdruck ihres persönlichen Wertes war, erstickt wurde.

Als Medea mit ihrem Mann und den Kindern nach Korinth kam, war ihr bewusst, dass sie als Fremde galt, doch hoffte sie, dort für sich und ihre zwei Söhne Aufnahme zu finden und Schutz, nach Walsers Gedicht wie in einem „Spital“ (entsprechend der ethymologischen Bedeutung von „Hospital“, abgeleitet aus dem lateinischen „hospes“ – der „Fremde“, auch der „Gast“ , Plural „hospites“). Jason hatte ihrer Unterstützung in Kolchis bedurft, wo er ein Fremder war, und hatte sie benutzt. Nun, wo sie seiner bedurfte, liess er sie fallen. Sie kam sich nicht nur benutzt, sondern missbraucht vor.

Die Perfidie des Pakts zwischen Jason und Kreon – zwischen dem Ehemann und dem Vater der neuen Braut -, durch welche Medea erniedrigt, der Kinder beraubt und weggestossen werden sollte, erstickte in ihr jede selbstheilende Klugheit. Dass Rache keine Wiedergutmachung ermöglicht, auch keine Heilung des Leidens, das jedes Verhalten von Rache in die destruktive Ebenbürtigkeit mit den Tätern führt, letztlich in die Selbstdestruktivität, konnte Medea nicht erkennen. Wie sehr hätte sie der „Rettung“ bedurft, doch keine helfende Autorität war da, niemand, der vermocht hätte, sie aus dem verhängnisvollen Entweder-Oder von Unterwerfung resp. von todbringender Rache auf einen dritten Weg zu führen, jenen der Befreiung von Abhängigkeit, der guten, stärkenden Beziehung zu ihrem eigenen Ich. Vielleicht hätte es genügen können, Jason als dummen und verantwortungslosen Versager oder als eiteln Bock zu erklären, in keiner Weise übereinstimmend mit ihr? Doch die Amme, die ihr beistand, hatte die Funktion einer erschrockenen Dienerin und nicht einer Weisen.

 

[1] Einen Überblick über die wichtigsten Medea-Darstellungen mit einer Auswahl von Texten findet sich bei Ludger Lütkehaus (Hrg.), Mythos Medea. Reclam Verlag, Leipzig 2001.- Einige wichtige Originale: Euripides. Medea. Tragödie. Deutsch von J.J.C. Donner. Philipp Reclam jun. Verlag, Stuttgart 2000.- L. Annaeus Seneca. Medea. Lat.-Dt. Übersetzt von Bruno W. Häuptli. Philipp Reclam jun. Verlag, Stuttgart 1993.- Franz Grillparzer. Medea. Trauerspiel in fünf Akten. Philipp Reclam jun. Verlag, Stuttgart 1982.-Christine de Pizan. Das Buch von der Stadt der Frauen. dtv klassik. München 1990.

[2] Gedicht von 1977, in: Ludger Lütkehaus (Hrg.) a.a.O (1)

[3] Diagnostisch zusammengefasst im DSM IV, 309.81 A-F, gemäss ICD-10 unter F43.1

[4] cf. u.a. Hans Keilson. Die sequentielle Traumatisierung bei Kindern. 1994. –  Otto F. Kernberg. Wut und Hass. 1997. –  David Becker. Ohne Hass keine Versöhnung. 1993. u.a.m.

[5] u.a. Sylvia Plath Helga Novak, Franca Rame, Ursula Haas, Dagmar Nick, Ljudmila Ulitzkaja, insbesondere Christa Wolf, auf Grund der jüdischen Leidenszusammenhäng u.a. Getrud Kolmar, Elisabeth Langgässer, Cordelia Edvardson, Marie-Luise Kaschnitz, Anna Seghers  (cf. Ludger Lütkehaus a.a.O.)

[6] Christine de Pizan a.a.O . S. 221

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