Kultur – Korrektur schuldhaften Handelns? – Überlegungen zur Frage: Warum, wie und wozu geschieht das menschliche Handeln

Kultur – Korrektur schuldhaften Handelns?

Überlegungen zur Frage: Warum, wie und wozu geschieht das menschliche Handeln

 

Die Frage, warum Menschen anderen Menschen Leiden zufügen und Schuld auf sich laden, bewegt sehr, in der heutigen Zeit wie seit unzählbar vielen Generationen, allerdings auf unterschiedliche Weise. Wir wissen, dass die Anfänge der Unterscheidung von gutem und bösem Handeln mit den Anfängen des philosophischen Denkens und dieses mit den religiösen Anfangsmythen zusammenfallen. Diese Mythen handeln von der Trennung der Elemente – Erde, Feuer, Wasser Luft -, von der Trennung von Finsternis und Licht, von den Gestirnen, vom Kreislauf des Lebens, kurz, von den Ursprüngen der Welt und des vielfältigen Lebens in der Welt. Sie handeln noch nicht von einer Erklärung des Guten, resp. des Bösen. Zwar wird mit der hebräischen Silbe „ra‘ah“ alles bezeichnet, was nicht gut, sondern schlecht ist: die verdorbene Frucht, der unfruchtbare Boden, ein Tag, der Unglück bringt, eine Naturkatastrophe etc. Schlecht ist eine Eigenschaft, die den Dingen oder ev. auch den Menschen anhaftet, eine Eigenschaft, die nicht weiter hinterfragt wird, die einfach auf die Wirklichkeit verweist.

Ganz anders thematisieren den Gegensatz zum Guten die frühen griechischen Denker. Bei Heraklit, einem Denker aus Ephesos, der etwa ein Jahrhundert vor Platon lehrte, steht im Fragment 133: „Böse Menschen sind die Widersacher der wahrhaftigen“. Dass Böses auch im Zufügen von Leiden besteht, findet sich meines Wissens bei den Vorsokratikern nur bei Xenophanes (580/77-485/80), und zwar in einer kleinen Geschichte, die er von Pythagoras, einem der grossen Zeitgenossen (580-500), erzählt. Xenophanes‘ Fragment 7 lautet: „Und es heisst, als er (Pythagoras) einmal vorbeiging( und sah), wie ein Hündchen misshandelt wurde, habe er Mitleid („sym-pathein“) empfunden und dieses Wort gesprochen: ‚Hör auf mit deinem Schlagen, denn es ist ja die Seele eines Freundes, die ich erkannte, wie ich seine Stimme hörte‘.“ Der Satz verweist auf die Erkentnis, dass das Zufügen von Leiden und das Misshandeln eines Lebewesens etwas Böses ist. Bei anderen vorsokratischen Denkern wird sehr früh das Masslose, die Überheblichkeit als das dem Guten Widerstrebende, als das Böse dargestellt. Es ist ein Fragment des Pherekydes von Syros zu erwähnen, dass „von Zeus in den Tartaros geworfen werde, wer aus Überhebung frevelt“. Oder bei Heraklit heisst es in Fragment 43, „Überhebung soll man löschen mehr noch als Feuerbrunst“.

Religion und Philosophie trennen sich da, wo der Zustand der Welt nicht mehr der göttlichen Kosmogonie anheimgestellt wird, sondern das So- oder Anders-Handeln der Menschen dafür verantwortlich gemacht wird. Dieses menschliche Handeln wird so Gegenstand der praktischen Philosophie, resp. der Ethik. Damit wird auch das böse, schuldhafte Handeln Gegenstand der Philosophie. Überraschend ist z.B. bei Aristoteles (384/3-322/1), dass nicht mehr eine Idee, sondern der Gute das Mass für das Gute darstellt. Mit anderen Worten, was gut und was böse ist, resp. was tugendhaft und was schlecht ist, misst sich am Menschen und am praktisch-tätigen Leben, am Handeln. Dabei genügt es nicht, dass die Handlung sittlichen Kriterien entspricht, dass sie zum Beispiel nicht-schädigend oder gerecht ist, sondern Handelnde müssen selber bestimmte Eigenschaften aufweisen, um den Kriterien des Guten zu genügen. Aristoteles nennt drei Bedingungen: erstens, bewusst handeln; zweitens mit Vorsatz, resp. mit Absicht handeln, und drittens im Handeln sicher und ohne Schwanken sein. Nicht das – zufällig – gute oder schlechte Handlungsresultat ist somit entscheidend, sondern Wissen, Absicht und Unbeirrbarkeit des handelnden Menschen. Nicht klar ist bei Aristoteles allerdings, weshalb die einen Menschen gut und tugendhaft sind, die anderen böse und schlecht. Aristoteles mutmasst, dass dies entweder von Natur aus so sein könnte, oder durch Gewöhnung, oder durch Belehrung, andernorts führt er noch den Zufall und die göttliche Fügung ein. (Der Rekurs auf die „göttliche Fügung hat beinah ebensoviel Unheil angerichtet wie die spätere biologistisch-rassistische Vererbungslehre. Was andererseits bei Aristoteles mit dem „Zufall“ gemeint wurde, könnte das Unberechenbare sein, das sich im Wirken des Unbewussten zeigt).

Wichtig ist festzustellen, dass es bei Aristoteles letztlich immer um einen Entscheid geht, der in Konfliktsituationen, d.h. in bestimmten Momenten des praktischen Lebens vom Menschen gefordert wird, auch dass der antike Denker schon entscheidende Einflüsse auf das menschliche Handeln in Betracht zieht, die der modernen Forschung gar nicht so sehr widersprechen. Was er als „von Natur aus“bezeichnet, könnte sich mit dem decken, was heute mit dem Einfluss der genetischen Faktoren gemeint ist; was bei ihm „Gewöhnung“ heisst, könnte durch die heutigen Begriffe „Sozialisation“ und „Beziehungserfahrungen“ übersetzt werden; und was er als „Belehrung“ bezeichnet, könnte sich sowohl mit den Welt-, Gesellschafts- und Erziehungstheorien decken, mit denen ein Mensch schon als Kind konfrontiert wird, wie auch das Über-Ich meinen, d.h. die innere Stimme, die sich als „Gewissen“ äussert und welche die internalisierten Verbote, Gebote und Vorbilder, resp. den frühen Einfluss der Vater und Mutter-Vorbilder widergibt.

Ein anderer möglicher Zugang zu all dem, was schuldhaftes Handeln bedeutet, mag sich über den Wertebegriff anbieten. Wie kommt es, dass etwas als wertvoll und als gut, und etwas anderes als weniger wertvoll oder als wertlos, als untauglich oder als schlecht angesehen wird? Auch diese Frage führt in die Ursprünge der menschlichen Kultur zurück. Materielles und Immaterielles geht dabei ineinander über. Der Wertebegriff muss entstanden sein, als erste Formen der Selbstversorgung nicht mehr genügten, als der Tauschhandel und damit die Arbeitsteiligkeit begannen, als mit dem Abtausch resp. mit der Abtretung von Produkten, Gegenständen oder Leistungen, über welche die einen Menschen verfügten, ohne deren zu bedürfen, gegen andere, die als gleichwertig empfunden wurden oder galten. Schon sehr früh wurden Waren oder Leistungen im Tauschhandel durch die symbolische Gleichwertigkeit von Münzen, resp. von Geld abgelöst, bis das Geld, der Geldbesitz und die Anhäufung von Geld mit der Entwicklung des Kapitalismus zum Wert an sich wurde, der alle anderen Werte erniedrigte oder gar erstickte, auf verhängnisvolle Weise. Das dadurch zugefügte Leiden, immer begleitet von Gewalt, ist endlos.

Obwohl der ursprüngliche Gütertausch an materielle Güter gebunden war, schloss er immer schon etwas Immaterielles mit ein: ein Abwägen und Erwägen, eine Vorstellung von Wert, die an Begriffe wie Nützlichkeit, Dringlichkeit, Unverzichtbarkeit, auch Schönheit und/oder Lustgewinn gebunden war und für welche ohne Zweifel schon sehr früh eine Prioritätenordnung und damit die Erfordernis eines Entscheides galt, der einerseits Gewinn, andererseits Verzicht bedeutete. Der Entscheid für das eine Gut schloss ein anderes aus. Zum Beispiel bedeutete der Entscheid, einen Feind zu schonen, statt ihn zu töten, als Abtausch die Gewähr, selber geschont und nicht getötet zu werden. Oder der Entscheid, zu verzeihen statt Rache zu üben, zog/zieht als Gegenwert die Aussicht nach sich, dass auch eigene Fehler verziehen und nicht mit Strafe geahndet wurden/werden. Oder der Entscheid, ein gegebenes Versprechen zu halten, zog/zieht ebenfalls die Erwartung von Gegenseitigkeit nach sich. So entwickelten sich aus dem Abwägen von Werten und aus dem Entscheid für einen bestimmten Wert in einer Rangordnung von Werten bestimmte Regeln des Verhaltens, welche durch die wiederholte Einhaltung internalisiert wurden und zu einem Wert- und Regelbewusstsein führten, das sich wiederum im persönlichen Gewissen ausdrückt: dem “guten Gewissen”, bei Beachtung der internalisierten Wertkategorien und bei Einhaltung der Regeln, dem “schlechten Gewissen” bei deren Nichtbeachtung und Übertretung. Die Entwicklung des eigenen Urteilsvermögens und der eigenen Handlungsverantwortung führt zu einer Veränderung dessen, was als „Schuld“ verstanden wird, leider nicht zu einer Aufhebung des Leidens.

Es ist eine Tatsache, dass im Lauf der Menschheitsgeschichte sowohl die Prioritätenordnung der Werte wie die daraus abgeleiteten Regeln zumeist autoritär bestimmt wurden, häufig vor allem in Hinblick auf partikuläre Vorteile derjenigen, die sich die Definitionsmacht für die Rangordnung der Werte und Regeln zubilligten, um dadurch die danach handelnden Menschen zu kontrollieren, ob dies Fürsten, Potentaten, religiöse Autoritäten, Arbeitgeber, politische Führer, die sogenannte “öffentliche Meinung” usw. war oder noch immer ist. Auch gehörte eine gleichzeitige Vielzahl von Wertordnungen, die untereinander rivalisierten, im Lauf einer komplexer werdenden Welt zu den sich bietenden Orientierungsmöglichkeiten. Daraus entstanden jene Orientierungskonfusionen und Gewissenskonflikte, deren Ursprung in der Nichtübereinstimmung eventuell gleichrangiger Werte oder Handlungsregeln liegt, die aber verschiedenen Ordnungen entstammen. Wir sehen uns ständig mit der Tatsache konfrontiert, dass das eine oder das andere, was wir tun oder unterlassen sollten, sich widerspricht.

Die Widersprüche werden als Paradoxien bezeichnet. Nochmals ist es spannend, auf Aristoteles zu verweisen. Er verstand darunter drei Bereiche von Entscheidungskonflikten, von denen jede Gruppe wiederum eine Menge von widersprüchlichen Situationen beinhaltet. Ich will die drei Bereiche kurz erwähnen, da diese heute noch von Belang sind:

Der erste Bereich betrifft die Paradoxien, die sich durch das Aufeinanderprallen von Urteilen, Meinungen und Lehren von “Weisen” (resp. von Intellektuellen, Philosophen/Philosophinnen, Lehrern/Lehrerinnen etc.) und Menschen einer bestimmten, herkunftsbedingten Alltagsorientierung ergeben. Aristoteles erklärt, dass diese Paradoxa unausweichlich seien, und dass es keine Position gäbe, welche die Wahrheit für sich beanspruchen könne, ja dass häufig keine der antithetischen Positionen zustimmungswürdig sei, etwa bei den Fragen “Muss man seinem Vater oder dem Weisen gehorchen?”, oder “Muss man tun, was gerecht oder was nützlich ist?” oder auch “Muss man eher Unrecht leiden als Unrecht tun?”.

Der zweite Bereich bezeichnet nicht-übereinstimmungsfähige Positionen, die durch die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen philosophischen Schulen – Theorien, Ethiken, z.B. einer konfessionellen Ethik und einer Berufsethik, ev. auch zwischen verschiedenen Wirtschaftstheorien oder Religionen etc. – entstehen und mit denen die nicht-philosophische Bevölkerung konfrontiert wird.

Mit dem dritten Bereich thematisiert Aristoteles Widersprüche im einzelnen Menschen selbst, wobei er die Widersprüche zwischen den geheimen Wünschen und den ausgesprochenen Grundsätzen meint. “Die Wünsche stimmen ja oft nicht zu den Worten”, sagt er deutlich, “sondern man hält die schönsten Reden und will doch nur, was vorteilhaft erscheint”.

Die Nichtübereinstimmung geheimer Wünsche und ethischer Grundsätze führt zu schwer erträglichen Schuldgefühlen, die sich in Widerständen äussern. Lange vor der Psychoanalyse ergaben sich schon wichtige Hinweise darauf bei Immanuel Kant[1], dessen kritische Philosophie als Absage an die herkömmlichen metaphysischen Tugendlehren einerseits den Rekurs auf die Vernunft – auf die Freiheit, auf das Selberdenken und auf die Selbstverantwortung -, andererseits den Rekurs auf die den praktischen, beruflichen Alltag zum Instrument von Handlungsentscheiden erklärt. Um zu unterscheiden, was gutes und was schuldhaftes oder schlechtes Handeln ist, verweist er einerseits auf äussere Gesetze”, deren Befolgung “ein Zwang” ist, wie Kant sagt (wobei der äussere Zwang keinem inneren Zwang entsprechen darf, cf. ziviler Ungehorsam, andererseits autoritärer Charakter[2]), andererseits auf die Bedeutung des inneren Druckes, “die Tugendlehre, die des Zwangs nicht fähig ist“. Bei der Tugendlehre (häufig auch als Pflichtenlehre bezeichnet, worunter Kant die Ethik resp. die Moralphilosophie im engen Sinn meint) zieht er in Betracht, dass es einerseits allgemeiner Maximen bedarf, andererseits der Überwindung der inneren Widerstände, ev. der Trägheit, damit Menschen diesen Maximen entsprechend handeln.

Man könnte sagen, dass Kant zugleich einen egoistischen und einen altruistischen Ansatz vorschlägt, bei dessen Befolgung zwei wichtige Hauptregeln, resp. Maximen, wegweisend sind, nämlich der kategorische und der praktische Imperativ. Der kategorische Imperativ  besagt, dass die Handlungsentscheide so zu treffen seien, dass sie zum allgemeinen Gesetz erklärt werden könnten, und der praktische Imperativ hält fest, dass zur Erreichung eines bestimmten Zweckes nie ein Mensch zum Mittel gemacht resp. benutzt oder gar missbraucht werden darf, dass nie ein Mensch wie eine Sache, wie ein Ding eingesetzt werden darf, dass der Mensch immer selber Zweck sein muss. In der Umkehrung lässt sich somit sagen, das ein Handeln, dessen Folgen für einen selbst abträglich sind, weil sie Leiden verursachen, gewiss nicht zum allgemeinen Gesetz erklärt werden könnte und daher schlecht ist. Dazu gehört jede Art der Instrumentalisierung und damit der Verdinglichung von Menschen, jede Art der Entwürdigung und menschlichen Entwertung

Der Kant’schen Ethik liegt das Menschenbild der Aufklärung zugrunde, eine so erstmals säkular definierte Gleichheit der Menschen auf Grund des gleichen Menschseins (der gleichen “Menschheit”) in jedem Menschen – mit der Einschränkung allerdings, dass Ende des 18. Jahrhunderts weder die Sklaverei abgeschafft war noch die Emanzipation (d.h. die rechtliche Gleichstellung) der Juden und schon gar nicht der Frauen oder gar der Kinder erreicht war. Zudem setzte damals, mit dem Beginn der Industrialisierung, die sich bis heute fortsetzende Schuld der systematischen Ausbeutung einer faktisch rechtlosen, ganz und gar vom Arbeitgeber abhängigen Arbeiterschaft ein, die durch die Fliessbandarbeit anonymisiert, des “Produkts” entfremdet und ausschliesslich zur Mehrwertsteigerung des Kapitals instrumentalisiert wurde, trotz des Kant’schen praktischen Imperativs. Und trotz dieser hohen Norm begann sich auch gleichzeitig das System des Imperialismus zu entwickeln, das sich im Lauf des 19. Jahrhunderts zu einem globalisierten Herrschaftssystem ausweitete und festigte, mit Kriegen und bürokratisierten administrativen, militärischen und wirtschaftlichen Unterwerfungssystemen, bei denen der Herrschaftsanspruch der sogennannten “Mutterländer” durch die “Unentwickeltheit” und “Minderwertigkeit” der “Objekte” der Herrschaft in Afrika, Asien etc. legitimiert wurde. Damit setzte sich weltweit der systematische Rassismus sogenannter “Herrenvölker” und “Herrenrassen” durch, der in die verhängnisvolle Geschichte des eben vergangenen Jahrhunderts hineinführte und dieses Jahrhundert mit seinen menschenverachtenden Ideologien und Herrschaftssystemen zum blutigsten und schuldbeladensten aller Zeiten werden liess.

Mit der Moderne begann somit einerseits die bislang verallgemeinerungsfähigste Ethik des gleichen Respekts vor dem gleichen Menschsein in jedem Menschen, und zugleich die systematische, zunehmend noch gesteigerte Instrumentalisierung, Entfremdung und Entwertung der Menschen durch andere Menschen – eine schuldhafte Entwicklung, trotz aller kulturellen Vorgaben und Zielsetzungen.

Gewissermassen befasst sich Freud‘s gesamtes Werk mit dem Geheimnis des Bösen, das Schuld verursacht, geht es darin doch um die Triebstrukturen, die das Unbewusste regieren, Lebenstrieb und Todestrieb, Lustrieb und Aggressionstrieb. Letzterer dient zwar dem Überleben, fügt jedoch auch unendlich viel Leiden und Leid zu. Denn er regt sich ja nicht nur, um bei Lebensbedrohung das Überleben zu sichern, sondern er ist häufig auf komplexe Weise mit dem Lusttrieb verknüpft. Wie diese Verknüpfung und Umkehrung („Per-version“) zustandekommt, ist zu erklären hier nicht der Ort. Wie häufig jedoch in jeder Art von Verhältnis – in privaten Verhältnissen ebenso wie in Arbeitsverhältnissen wie in anderen hierarchisch oder autoritär bestimmten Verhältnissen – über Funktion und Stellung geschaffene Macht missbrauch wird, um schwächere oder abhängige, häufig wehrlose Menschen zu erniedrigen, zu quälen oder gar zu vernichten, zeigt auf, wie dringlich es ist, mehr über das Tun des Bösen zu wissen, um es verhindern zu können. Einfach das Böse leugnen, schafft es ebenso wenig aus der Welt wie Übeltäter schwer bestrafen. Die 1943 in England verstorbene Philosophin Simone Weil hielt in einem ihrer „Cahiers“ fest, das Böse könne nur überwunden werden, indem es nicht mehr getan werde; das Strafsystem aber sei so sehr vom Bösen kontaminiert, dass es lediglich das Böse fortsetze und weiter übertrage. Die Frage ist, wie zu erreichen ist, dass das Böse nicht mehr getan wird.

Sigmund Freuds These war, dass nur dank der Zähmung der individuellen Sexual- ebenso wie der Aggressionstriebe menschliche Gesellschaft mit ihren vielfältigen Institutionen entstehen konnte, sodass nicht nur die Bedürfnisse einiger starker Individuen, sondern die Bedürfnisse vieler befriedigt werden können. “Einschränkung seiner Aggression ist das erste, vielleicht schwerste Opfer, das die Gesellschaft vom Einzelnen zu fordern hat” (Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse). Dieses “Opfer”, das mit der Tatsache der Unterwerfung des und der Einzelnen unter das Gesamtwohl verknüpft ist, hat  e i n entscheidendes Motiv, nach Freud: die “Lebensnot”, ein letztlich “ökonomisches Motiv”, das zur Arbeitsteilung, zur  gegenseitigen Unterstützung und zur Akzeptanz der unterschiedlichen Mitglieder der Gesellschaft bewegt, das aber auch zur Errichtung repressiver Systeme führt.

Während allzu langer Zeit galt vor allem die Unterwerfung der Frauen unter die Männer, der Kinder unter die Erwachsenen und der Lohnabhängigen unter die Mächtigen als unabänderliche Bedingung mustergültiger Ordnung, dank der das Gesamtwohl garantiert war. So war Fortschritt, scheinbar Resultat  gerade  d i e s e r  Ordnung, durch welche die Gesellschaft zur Kulturgemeinschaft wurde, begleitet von  Zwang und Leid. Das Kosten- / Nutzenverhältnis war jedoch so und ist zum Teil noch immer so, dass es sich trotzdem zum Vorteil der Mehrheit auswirkt, indem wenigstens die wichtigsten materiellen Bedürfnisse befriedigt werden – allerdings immer mit der quälenden Sehnsucht nach der zugleich verwehrten Freiheit und nach umfassender sozialer Gerechtigkeit. Doch da die so geregelte, unvollkommene Ordnung immerhin die nötigen Institutionen bietet, damit die allein nicht zu bewältigenden existentiellen Ereignisse wie Geburt, Heirat und Tod, Schuld und Sühne in einem grösseren Rahmen geregelt werden, kann sie nicht gänzlich in Frage gestellt werden. Daher wird sie vorweg zugleich geschützt und verändert. Frauen und Lohnabhängige haben Jahrhunderte gebraucht, um einen Teil der Repressionen zu korrigieren, um auch der Frauenkultur und Arbeitskultur innerhalb der patriarchalen Kultur Raum zu schaffen.

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Gesellschaft als Kulturgemeinschaft die Voraussetzungen für die Entwicklung und Durchsetzung von Gesetzen bietet, die die individuellen und die allgemeinen Bedürfnisse zugleich berücksichtigen und einschränken, die vor allem Gewalt als Mittel zur Durchsetzung dieser Bedürfnisse unnötig machen. Damit können sich – im befriedeten Rahmen – Möglichkeiten des Ausdrucks und der Erfüllung geistiger Bedürfnisse entwickeln, sowohl der Deutung und symbolischen Darstellung aller Bedingungen der Welthaftigkeit wie deren wissenschaftlichen Erforschung und Nutzung, die, von Generation zu Generation tradiert und verändert, das eigentliche kulturelle Matri- und Patrimonium ausmachen: Religion, Philosophie, Musik und Tanz, Architektur und darstellende Künste, Literatur sowie Wissenschaft in all ihren Ausgestaltungen der Natur- und Humanwissenschaften, aber auch die Formen des Zusammenlebens in Familien und grösseren Gemeinschaften. Die Vermittlung, Pflege, Weiterentwicklung und Veränderung der damit verbundenen Werte sowie deren Umsetzung im alltäglichen Zusammenleben der Menschen machen das aus, was Kultur im engeren Sinn heisst, was immer wieder auch das Wagnis des Ausbrechens aus tradierten Verhältnissen, das Wagnis des Neubeginns nicht nur zulässt, sondern sogar nötig macht. Freiheit gehört ebenso zu den Grundbestimmungen der Kultur wie die Einsicht in die gemeinsame Bewältigung der “Lebensnot”. Was der Kultur entgegensteht, was sie gefährdet und letztlich zerstört, sind die Negation der Freiheit und die Negation der Pluralität, sind die Angst vor Veränderungund damit das Überhandnehmen der Ordnungsbedürfnisse, ist aus die all diesen Negationen resultierende Gewalt.

Gerade im Überhandnehmen rücksichtsloser Gewaltbedürfnisse, die durch die bestehenden Gesetze nicht mehr kontrollierbar sind, sondern zum Teil durch diese sogar legitimiert werden, zeigt sich das Ungenügen der bestehenden Institutionen. Das Ungenügen zeigt sich in der Vielzahl und Entsetzlichkeit der Kriege sowie in deren Förderung durch Indifferenz einerseits, durch Wirtschafts- und Machtinteressen andererseits. Dadurch aber, dass die Welt klein geworden ist, bedrohen die Schwächefolgen der einen Gesellschaft auch Gesellschaften, die kulturell noch offener und daher gefestigter, deren Institutionen jedoch auch überaltert und morsch sind. Flucht und Migration Hundertausender in ihrer Existenz gefährdeter Menschen, ob wegen Gewalt und Krieg, ob wegen Hunger und Verelendung, stellen Anforderungen, denen nur starke und erneuerungsfähige Kulturen und entsprechende Institutionen genügen können. Es müssen ja sowohl die Hintergründe und Ursachen von Migration und Flucht behoben werden, wie die materielle und geistige Integration dieser Menschen in eine andere als deren eigenen Gesellschaft erreicht werden. Diese Institutionen aber haben wir nicht. Daher rührt ein grosser Teil der Überforderung in der heutigen Zeit, ein grosser Teil der Verunsicherungen und Ängste. Kulturbedingte unterschiedliche Werte, Lebensregeln und Lebenstile gewinnen angesichts dieser – diffusen – Ängste in konkreten Situationen, die dann als Ursache der Ängste gelten, Bedrohungsbedeutung für die eigenen Lebenszusammenhänge.

Die meisten dieser Situationen werden bestimmt durch das Verhältnis der Geschlechter, durch das Verhältnis der Generationen, sodann durch rivalisierende Ansprüche Gütern gegenüber, an denen Mangel herrscht. Bei uns sind dies insbesondere Wohnungen und Arbeit. Mit Ängsten und entsprechenden Reaktionen darauf werde ich in meiner Arbeit immer wieder konfrontiert, in jüngster Zeit, infolge der Aufnahme muslimischer Flüchtlinge, vor allem durch die Tatsache des Aufeinanderprallens verschiedener Lebensregeln und Erwartungen in wichtigen gesellschaftlichen Bereichen.

Schwierigkeiten ergeben sich zum Beispiel infolge des kulturell unterschiedlichen Familienverständnisses. Familienbande sind in der muslimischen Kultur unauflösbar und bedeuten Verpflichtung der gegenseitigen Unterstützung der Familienmitglieder bis in den dritten und vierten Rang. So stossen die von den Bundesbehörden festgelegten Einschränkungen des Familiennachzugs, das heisst die Beschränkung auf die sogenannte “Kernfamilie” und damit auf die Verwandtschaft ersten Grades, auf absolutes Unverständnis bei den Flüchtlingen, verursachen Auflehnung und viel persönliches Leid. Dies führt für viele Verantwortliche in der Betreuung der Flüchtlinge zu Gewissenskonflikten und zu schweren Beeinträchtigungen der Betreuungsarbeit. Ich versuche regelmässig, Möglichkeiten zu finden, damit die Vorschriften extensiv, im Sinn der kulturellen Bedürfnisse der Flüchtlinge, umgesetzt werden. Dadurch, scheint mir, sollten schweizerische kulturelle Werte nicht bedroht werden. Trotzdem ist es vorstellbar, dass die Konfrontation der bei uns allmählich üblichen Kleinstfamilie mit kulturell anderen Familienrealitäten negative Gefühle weckt, nicht zuletzt Neid. Neid war schon die Ursache des ersten mythologischen Kulturkonfliktes: des Mords des Ackerbauern Kain am nomadisierenden, seine Herden hütenden Bruder Abel.

Zum unterschiedlichen Familienverständnis gehören besondere, ritualisierte Momente im Lebenszyklus. “Heirat”, zum Beispiel,  vollzieht sich in einer muslimischen Familie so, dass die Braut in die Familie des jungen Mannes zieht, dort aufgenommen wird und von diesem Zeitpunkt an als Frau des Mannes gilt. Der Imam traut das Paar, und die so geschlossene Heirat wird mit einem grossen Fest gefeiert. LeiterInnen von Durchgangszentren, in denen Flüchtlinge Aufnahme gefunden haben, sind unsicher, wie sie damit umgehen sollen. Sollen sie Heiratsregeln, wie sie bei uns in der Schweiz gelten, durchzusetzen versuchen, oder sollen sie die muslimischen akzeptieren? Ich rate, die muslimischen Regeln gelten zu lassen, vor allem weil die unklare Situation der vorläufigen Aufnahme im Land des Exils keine Möglichkeit bietet, neue Regeln als fortschrittlichere Option (zum Beispiel in Hinblick auf den Schutz der Frauenrechte) sich bewähren zu lassen.

Der Kulturbegriff im umfassenden Sinn ist obsolet geworden, sei es, weil die Institutionen nicht mehr genügen, um Freiheit  u n d  Ordnung zugleich zu garantieren, sei es, weil die Bedürfnisse der vielen nicht mehr befriedigt werden können. Dabei liegt es nicht an der Gesamtmenge der Produktion der lebensnotwendigen Güter;  davon ist in einzelnen Weltgegenden Überfluss, in anderen jedoch Mangel. Bezüglich dieser Güter liegt es zum Teil an der Verteilung, zum Teil an der Art der Produktion – einer ökologisch und langfristig auch  ökonomisch den Menschheitsbedürfnissen nicht mehr entsprechenden Art der Produktion -, dass die Verhältnisse nicht mehr im Gleichgewicht sind. In Bezug auf die Stillung der geistigen Bedürfnisse herrscht grosse Verwirrung. Werttradierung gerinnt in Konservativismus, Konsumismus und Vermassung haben den Sinn- und Deutungshunger der Einzelnen mit Überangeboten verfälscht und erstickt, fundamentalistische Theorien stacheln zu Fanatismus auf, die Künste befinden sich in einer grossen Darstellungskrise, die Wissenschaften, die die letzten Geheimnisse der Welthaftigkeit zu entschlüsseln in der Lage sind,  stossen zunehmend an ethische Grenzen ihrer Umsetzbarkeit. Ein grosser Teil der Menschen leidet zunehmend an kultureller Aushungerung, trotz der immer leichter zugänglichen Kulturangebote, ja trotz der Überfütterung. Die Angst vor kollektiven Veränderungen nimmt ebenso überhand wie die Unfähigkeit vor eigenverantwortlichem Neubeginn. Der Kulturbegriff reduziert sich auf den engstmöglichen Nenner. “Multikulturalismus” und “Interkulturalismus” werden zu – diffusen – Ersatzbegriffen.

Wenn Menschen aus “kulturellen” Gründen aneinander geraten, so geschieht dies meistens nicht wegen der “grossen” Fragen, sondern weil sie nicht gelernt haben, dass man ebenso gut auch anders leben kann als sie es tun. “Anders” schliesst aber viel tiefere Toleranzschwellen ein, als sie durch fremde Kulturgewohnheiten erfordert sind, zum Beispiel, ganz trivial, Spätaufstehen für Frühaufsteher und umgekehrt, homosexuelle Liebe für Heterosexuelle und umgekehrt, dieser oder jener Religion angehören oder keiner für Religiöse und A-religiöse. Es gibt noch zahlreiche Beispiele, an denen aufgezeigt werden kann, dass Lebensformen und Lebensstile nicht “an sich” richtig oder falsch sind, sondern dass sie einfach den einen Menschen besser oder schlechter entsprechen als den anderen.

Wenn wir uns daher fragen, wie ein Zusammenleben von Menschen aus verschiedensten Kulturen vorstellbar ist, ohne dass die Mehrheitskultur die Minderheitenkulturen unterdrückt, ohne dass sich überhaupt die Frage von Mehrheiten und Minderheiten und dadurch die Frage der Unterdrückung stellt, wenn wir uns fragen, wie unterschiedliche Wertsysteme, Lebensregeln und Lebensstile nebeneinander und zugleich auf gewaltfreie Weise Geltung haben können, so müssen wir nach den Toleranzmöglichkeiten innerhalb unserer eigenen Kultur – der Kultur im engen Sinn – fragen.

Diese Toleranzmöglichkeiten gilt es in erster Linie zu verstärken. Aber wie? Sicher nicht, indem Beliebigkeit und Indifferenz zum Handlungsrezept werden. Vielleicht kann die Rückbesinnung auf die eigenen – rezeptiven und aktiven – Erwartungen dem gegenüber, was “Kultur” beinhaltet,  richtungweisend sein. Wir können davon ausgehen, dass diese Erwartungen letztlich Glückserwartungen sind, so wie für uns selbst für die meisten Menschen. Für deren Erfüllung aber sind wir auf andere Menschen angewiesen. So mag die Einsicht in unsere gegenseitige Abhängigkeit das gefährdete, wacklige, durch viele Surrogate gestützte Kulturverständnis erneuern – einer Kultur ohne Unterdrückung, gemäss einer feministisch korrigierten, auf Parität der Bedürfnisse sich abstützenden Freud’schen Definition. “Interkulturelle” Arbeit ist – nicht mehr und nicht weniger – die gelebte Umsetzung dieser Einsicht.

 

Die Zeit ist aus den Fugen, Schmach und Gram, dass ich zur Welt sie einzurichten kam”…

Shakespeares Klage[3] gilt auch heute. Die heutige Zeit, unsere Zeitgenossenschaft, ist gekennzeichnet durch eine systematische Masslosigkeit, die jegliches Menschenmass längst überschritten hat. Unsere Zeit hat – im Namen eines Guten: des Fortschritts – ihr eigenes Zeitmass verloren. Zum Beispiel in der Kommunikationstechnologie wurde eine Beschleunigung analog zur Lichtgeschwindigkeit erreicht , die nicht weiter gesteigert werden kann. Unsere Zeit hat auch die Grenzen der materiellen Machbarkeit und Zerstörbarkeit gesprengt, indem, noch während des letzten Kriegs, die Kernspaltung realisiert wurde und mit ihr die Schaffung der Atombombe, sodann, vor einigen Jahren, die Genomspaltung und -manipulation, die mit der potentiellen industriellen Produktion von Menschen das Sprechen von Menschenwert und Menschenwürde vollends zum Hohn werden lässt, nachdem die von den Nazis bürokratisch geplante und systematisch, industriell durchgeführte Massenvernichtung von Menschen die grundsätzliche Verhöhnung jeder religiösen Lehre und ethischen Theorie westlicher Kultur bedeutet. Unsere Zeit ist gezeichnet durch die damals von Millionen von Menschen unterstützte Hybris der autoritär diktierten und rassisch, ethnisch, politisch, religiös und schliesslich biologisch definierten Norm von Menschsein, von Wert oder Unwert des Menschseins, und hat dadurch massloses, grenzenloses Leiden bewirkt.

Schuld hat den Namen unserer Zeit. Schuld bedeutet die Chiffre des Leidens, das Menschen anderen Menschen antun, bedeutet Quälerei und Tötung, Erschiessung, sexueller und wissenschaftlicher Missbrauch, Menschenvernichtungslager und vieles mehrr. Was damals geschah und heute weiterhin geschieht, jede Begründun und jede Umsetzung der Menschenverachtung, kann durch keine sogenannte “Reparaturleistung” wiedergutgemacht werden. Indem es getan wurde, bleibt es eine Schuld. Zwar wurde 1948, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ein Katalog der höchsten ethischen Normen allen staatlichen Verfassungen und allen übrigen Normensystemen überzuordnen versucht, um gegen alle getane und erlittene Barbarei das Recht jedes einzelnen Menschen, Rechte zu haben (gemäss Hannah Arendt), insbesondere das Recht auf Respekt seiner Würde als Mensch, sowie den Wert des menschlichen Zusammenlebens in der Pluralität der Differenz als unverzichtbar zu erklären. Doch 1948 führte nicht zu einer anderen Praxis des menschlichen Zusammenlebens: die nächsten Kriege waren schon geplant – Korea, Vietnam, Kambodscha und, und viele mehr, bis zum Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Die nächsten menschenverachtenden Ideologien, mit denen Böses in Recht verkehrt wurde, waren 1948 schon im Aufbau und gehen weiter, und die nationalen Wirtschaften bauten sich wieder auf und boomten mit der Produktion und dem Verkauf neuer Waffensysteme und Folterinstrumente. Was erneut zählte, war der wirtschaftliche Wettlauf, der Rüstungswettlauf, der technologische Wettlauf, kurz, in allem die Beherrschung möglichst grosser Märkte – auf Kosten der Menschen, auf Kosten der Zukunft des Zusammenlebens der Menschen, auf Kosten der ökologischen Grundlagen des Zusammenlebens: ein skrupelloser Wettlauf der Masslosigkeit.

Weder der Rekurs auf die Grundlagen der westlichen Ethik noch der spezifische Wertediskurs führen somit zu einer sicheren Verhinderung von Schuld. Ich schlage daher als dritte Möglichkeit den Zugang über die Kombination von Psychoanalyse und neuzeitlicher Philosophie vor. Ich stelle fest, dass das Böse in beiden Bereichen als – möglicherweise auch vermeidbare – Verursachung von Leiden, von Angst und menschlicher Not, Erniedrigung, von Dehumanisierung und menschenverursachtem Tod verstanden wird. Wer bewusst Leiden zufügt, übt in irgend einer Weise Gewalt aus und lädt Schuld auf sich. Warum Gewalt ausgeübt wird, warum Leiden, selbst todbringendes Leiden von Menschen anderen Menschen angetan wird, warum gequält und gemordet wird – hierin liegt das Geheimnis der Schuld.

Seit ältester Zeit ist „jedes Dokument der Kultur zugleich ein solches der Barbarei“[4].  Von eigenen Mangelerfahrungen, Bosheit und Härte gezeichnete Mütter und Väter sind kaum in der Lage, ihren Kindern Geborgenheit und innere Sicherheit durch generöse und liebevolle Zustimmung zu ihrem noch ungesicherten Ich zu geben, sodass sich das Antun von Leiden wiederholt und häufig, bereits im Lauf des Heranwachsens,  auch das kompensatorische Sichselberbestätigen durch Missbrauch von Macht, schon auf der Stufe der Kinder und immer weiter fort bis ins Erwachsenen- und Greisenalter. In seinem Essay „Das Unbehagen in der Kultur“[5] schrieb Freud, die „Schicksalsfrage der Menschenart scheint es zu sein, ob und in welchem Masse es ihrer Kulturentwicklung gelingen werde, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden.“

Dies ist tatsächlich die „Schicksalsfrage der Menschheit“. Hannah Arendt hält in ihrem Report zum Eichmann-Prozess[6] von 1963 fest, dass das Ausmass des Bösen nicht hätte getan werden können, wenn nicht auf jeder Stufe des Tuns jeder einzelne Helfershelfer seine Vorstellungskraft ausgeschaltet hätte, wenn nicht jeder die „Vorstellung, was er eigentlich anstellt“, was er einem anderen Menschen antut, unterbunden hätte.

Die Vorstellungskraft nicht ausschalten heisst, sich selber an den Platz des anderen Menschen versetzen. Heisst, an dessen/deren Stelle alles empfinden, was angetan wird, heisst, an dessen/deren Stelle in Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung gestossen werden, Hunger, Kälte, Angst und Scham aushalten müssen, heisst, an dessen/deren Stelle leiden. Wer will das? Wer wählt das „sym-pathein“? Der Grossteil der Menschen will das nicht, zieht es vor zu gehorchen, Befehle und Anweisungen auszuführen, Menschen als Nummern, als „Fälle“, als Objekte zu betrachten, dabei auch häufig noch einen Lustgewinn aus der eigenen Macht zu ziehen, dem eigenen Machtvorsprung, und sei er noch so gering. Zieht es vor, Leiden zu verursachen und Schuld auf sich zu laden. Auch heute. Auch hier in der Schweiz, in allen vorstellbaren Bereichen, in den öffentlichen nicht weniger als in den privaten.

Simone Weil stellt im Lauf ihrer Überlegungen fest, dass das „ICH“ (mit Majuskeln geschrieben) der Motor und das Prinzip des Tun des Bösen ist. Ich nehme an, dass es das selbstunsichere und daher verhärtete, das fragmentierte und in keiner tragfähigen, klaren Beziehung abgestützte Ich ist, das, von heftigen Impulsen aus dem Unbewussten gesteuert, zum Subjekt des bösen Tun wird. In dieser Feststellung stimmen Simone Weil und Hannah Arendt überein. Denn auch Hannah Arendt schreibt immer wieder, dass das böse Handeln sich in der Zerstörung des „inter-esse“ zeigt, in der Zerstörung des Bezugsgeflechts, das „zwischen“ dem „Sein“ der einzelnen Menschen ist und das die Welt bewohnbar macht. Die Zerstörung des „inter-esse“ lässt, nach den Worten Hannah Arendts, die Welt zur „Wüste“ werden. Dabei sind die Folgen auch für diejenigen, die sich Schuld auferlegen, bedeutungsschwer, denn sie gehen der Freiheit verlustig. Sie gehen der Fähigkeit verlustig, einen Neuanfang zu setzen. Es gibt Schuld, die kein Verzeihen zulässt, deren Folgen wie verbrannte Erde nach während Generationen weiterwirken. Doch es gibt Schuld, die heilen kann, allerdings nur durch das Verzeihen der Opfer. Allein ihnen steht das Verzeihen zu, allein ihnen die Möglichkeit und das Angebot eines Neuanfangs. Im Verzeihen liegt daher der grösste Ausruck von Freiheit.

 

 

 

 

 

 

 

 

[1] cf. “Grundlegung der Metaphysik der Sitten” von 1785, “Kritik der praktischen Vernunft” von 1788 und schliesslich “Metaphysik der Sitten” von 1797, die in die “Rechtslehre” und in die “Tugendlehre” aufgeteilt.

[2] Hannah Arendt. Macht und Gewalt, 1969  / Theodor W. Adorno. Studien über den autoritären Charakter, 1973

[3] Hamlet I,5: “The time is out of joint, the cursed, spite that I was born to set it right”

[4] Walter Benjamin. Über der Begriff der Geschichte. Passus VII. In: Illuminationen. Suhrkamp Taschenbuch 345.

[5] Sigmund Freud. Das Unbehagen in der Kultur (1929/30). Studienausgabe Bd.9, S.Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1974

[6] Hannah Arendt. Eichmann in Jerusalem. Über die Banalität de Bösen. Piper Verlag, Münchwn 1964.

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