Über die gleichen Rechte des Menschseins

Über die gleichen Rechte des Menschseins

 

Als ich mich daran machte, den Text zu meiner heutigen kurzen Rede zu entwerfen, bedauerte ich, vieles nicht zu wissen: nicht die persönlichen Beweggründe, die hinter der Wahl eines Themas stehen, nicht die spezifischen Bedingungen, von denen der Einsatz und die damit verbundenen Bedingungen der persönlichen Tätigkeit abhängig sind, die Widerstände und Erschwernisse, die in diesen Zusammenhängen von gesellschaftlichen machtinstanzen ausgeübt und werden, die oft als Infragestellung der eigenen, persönlichen Rechte erfahren werden und ertragen werden müssen, resp. mit Klugheit und Kreativität in ihren Auswirkungen verändert werden können – im Rekurs auf die gleichen Rechte jedes Menschen, gestützt auf das gleiche Menschsein in der unendlichen Vielzahl von persönlicher Eigenheit und Besonderheit. Es mag von Bedeutung sein, im Zusammenhang dessen, was als „Menchenrechte“ 1948, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als weltumfassende Erklärung zustandegekommen ist, über jenen Teil der Vorgeschichte zu erfahren, der auf Beweggründe und Bedingungen einer Sicherung der persönlichen Werte – der Lebens- und Entfaltungswerte des Menschseins – von Menschen eingeht, die engste, bedrohlichste Begrenzungen erlebt haben.

So wie für die Entfaltung des politischen Denkens zumeist untragbare soziale und politische Misstände sowie eigene Erfahrungen erlebten Unrechts den Anstoss gaben – für die Frauen des letzten Jahrhunderts und dieses Jahrhunderts, bei uns in der Schweiz bis zu Beginn der siebziger Jahre, allein schon die Tatsache, dass sie von der rechtlichen und gesetzgeberischen Mitbestimmung ausgeschlossen waren, dass sie auf Grund patriarchaler Anmassung an der offiziellen politischen Praxis nicht teilhaben durften, dass sie zur Gruppe der rechtlosen, von Arbeitslosigkeit und Elend bedrohten, zumeist unwissenden Lohnabhängigen gehörten, dass sie nichts gegen Rüstungs- und Kriegsbeschlüsse, gegen Produktions- und Handelsbestimmungen entfalten konnten, und, weit darüber hinaus, analog verheilt es sich mit dem klärenden und menschlich stützenden pjilsophischen Denkprozess. Hinter der ausschliesslich männlichen Machtanmassung stand in der Regel ein Menschenbild, das auf elitärem Hierarchiedünkel aufgebaut war, dessen Folge Menschenverachtung, Frauenverachtung, Kindermissbrauch, Ausbeutung, kurz jede Art von Ungerechtigkeit war. So war es in politischer Hnsicht die Erfahrung des Leidens, des beobachteten und mitempfundenen, häufig des selbsterfahrenen Leidens, eine Erfahrung der Unerträglichkeit, die den Widerstand der Frauen weckte, die sie zu Rebellinnen und Reformerinnen werden liess und die dadurch Kräfte und Fähigkeiten in ihnen aktivierte, die die sozialen und politischen Gegebenheiten tatsächlich veränderten, lange bevor die rechtliche Gleichstellung eine – wenigstens formalrechtliche – Tatsache war. Analog ist im philosophischen Bereich die breite Entfaltung der weiblichen kreativen Vernunft zu erklären, resp. der gleichzeitigen Entfaltung des Empfindens und Denkens.

Bevor ich auf diese Kräfte und Fähigkeiten eingehe, zuerst ein paar Geschichten:

In der letzten Septemberwoche des Jahres 1868 fand hier in der Schweiz, in Bern der Zweite Kongress der Friedens- und Freiheits-Liga statt, die ein Jahr zuvor in Genf gegründet worden war. Erstmals in der Schweiz waren an diesem Kongress Frauen nicht nur als passive Teilnehmerinnen, sondern als Rednerinnen zugelassen worden. In der Schlussitzung vom 28. September kam auch die sogenannte “Frauenfrage” (eigentlich eine “Männerfrage”) zur Behandlung.  Nachdem mehrere Männer das Wort ergriffen hatten, darunter sehr emanzipierte, wie Bongard, ein Kongressteilnehmer aus Fribourg, der sagte, es sei ein Skandal, dass in der Schweiz selbst die gescheiteste Frau noch unter dem dümmsten Mann stehe, bestiegen zwei Frauen die Tribüne, Virginia Barbet von Lyon und Marie Goegg-Pouchoulin von Genf. Alle Zeitungen berichteten in der Folge über den öffentlichen Auftritt von Marie Goegg, über ihre Kritik an der gesellschaftlichen Realität, über die Verhinderung jeder geistigen selbständigen Betätigung bei Frauen, was entweder Erschlaffung des Denkens oder Aufbegehren weckte, bei vielen jedoch auch Kleinlichkeit und Lächerlichkeit in Geschmack und Ideen erzeugte. Um diesem Übel zu steuern, fuhr sie fort, sei eine rationelle, radikale Änderung nötig: es gehe um die “Wiederherstellung der Frau als selbständiges, für seine Handlungen und sein Schicksal verantwortliches menschliches Wesen.”

Die Kritik und die Forderungen, die schon 1792 – sechsundsiebzig Jahre früher – durch Mary Wollstonecraft in ihrer “Vindication of the Rights of Women” in London ausgesprochen worden waren, wurden hier in der Schweiz erstmals von einer Frau in aller Öffentlichkeit formuliert, Forderungen, die wiederum drei Jahre vor Mary Wollstonecraft durch Olympe de Gouges als Antwort auf die “Déclaration des Droits de l’Homme” von 1789 in ihrer “Déclaration des Droits de la Femme et de la Citoyenne” aufgestellt worden worden. Schon Olympes de Gouges hatte erkannt, dass den Frauen, zusätzlich zu den politischen Grundrechten, die wichtigsten Persönlichkeitsrechte garantiert sein müssen, damit ein Leben in Würde und in eigener Verantwortung möglich ist.

Marie Pouchoulin war ein Uhrmachertochter aus Genf gewesen, 1826 geboren, mit 19 Jahren an den Handelsreisenden Marc Antoine Mercier verheiratet, von dem sie einen Sohn bekam und den sie wegen seiner Grobheit bald wieder verliess. Wann sie Amand Goegg, den aus Genf ausgewiesenen Sozialrevolutionär, kennenlernte, ist ungewiss. Bekannt ist, dass 1854 die Geburt eines gemeinsamen Kindes in London angemeldet wurde. Die Goeggs lebten in London als Flüchtlinge, mit dem spärlichen Einkommen aus Sprachunterricht und aus Übersetzungen, aber mit einer vielfältigen Teilnahme an den sozialrevolutionären und feministischen Bewegungen, zu denen sich Frauen und Männer aus der ganzen Welt zusammenfanden. Schon 1840 hatte in dieser Stadt ein Internationaler Antisklaven-Kongress stattgefunden, von dem allerdings die Frauen ausgeschlossen waren, auch diejenigen, die extra aus den USA angereist waren, etwa Lucretia Mott und Elizabeth Cady Stanton. Die Frauen beschlossen daher, einen eigenen Frauenkongress zu organisieren, der 1848 in Seneca Falls abgehalten wurde. Diesem voran gingen konkrete Schritte zur Verbesserung der Lebenssituation der Frauen: 1841 die Gründung einer gemeinnützigen Stiftung, damit heim- und mittellose Frauen im Alter unterstützt werden konnten (eine Art privater Frauen-AHV), gleichzeitig die Einrichtung von Ausbildungskursen für Zeichnerinnen, Telegraphistinnen, Sekretärinnen, Postangestellten etc, damit junge Frauen allmählich Berufe ausüben konnten, die damals noch ausschliesslich von Männern besetzt waren. Auch duldeten die Frauen nicht länger die Lohnungleichheit in den Fabriken: 1855 prangerte Barbara Leigh Smith in einem Flugblatt,  das in ganz London v erteilt wurde, die ungerechten Arbeitsbedingungen der Frauen an. 1857 wurde von Bessie Parkes die erste Frauenzeitschrift gegründet und im gleichen Gebäude, wo sich die Redaktion befand, auch gleich ein Lesezimmer für Frauen eingerichtet.

All diese Aktivitäten müssen Marie Goegg ermutigt haben, nach ihrer Rückkehr in die Schweiz selbst aktiv zu werden. Während sich Amand Goegg vor allem für die 1864 in London gegründete Arbeiterinternationale engagierte, setzte sich Marie Goegg für die Ziele der Friedens- und Freiheitsliga ein. In deren Zeitung “Les Etats Unis d’Europe” publizierte sie 1868 einen Aufruf an die Frauen in allen Ländern zur Gründung einer Internationalen Frauenassoziation, um überall die Gleichberechtigung von Frauen und Männern “auf dem Gebiet der Entlöhnung, des Unterrichts, des Familienrechts und vor dem Gesetz” durchzusetzen. Der Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges 1870 machte Marie Goegg und anderen Frauen, die die gleiche Überzeugung teilten, klar, wie wichtig ihr Zusammenschluss war, damit sie einer auf nationalistischer Propaganda, auf Aufrüstung und Kriegselend gestützten Politik eine andere Politik entgegenstellen konnten. Kurz nach dem Krieg gründete Marie Goegg-Pouchoulin zusammen mit der Berner Patrizierin Julie von May-von Rued, mit der Engländerin Josephine Butler und der Deutschen Louise Otto-Peters die Internationale Assoziation zur Verteidigung der Frauenrechte. Als deren Organ gab sie die Zeitung “Solidarité” heraus, worauf “Solidarité” zur Bezeichnung der Assoziation selbst wurde.

Wie Marie Goegg-Pouchoulin kämpften überall in der Welt Frauen nicht nur für ihre eigene Gleichberechtigung, sondern zugleich für Schulung und Bildung, für den Schutz der Kinder gegen Ausbeutung in den Fabriken und in der Heimarbeit, für soziale Gerechtigkeit, das heisst für eine gerechte Entlöhnung, für Schutzbestimmungen am Arbeitsplatz, für Arbeitslosengelder, für einen Mutterschaftsschutz, für einen straflosen Schwangerschaftsabbruch, gegen Prostitution und Alkoholismus. Vor allem kämpften sie für den Frieden.

Am 15. Mai 1899 fand in Den Haag die erste Internationale Friedensdemonstration der Frauen statt. Frauen aus allen Ländern Europas, aus England und Amerika, ja selbst aus Brasilien, Australien, Britisch-Indien und Japan schlossen sich zusammen, um gegen Aufrüstung und Kriegsvorbereitungen öffentlich Widerstand zu leisten. Am gleichen Tag veranstalteten überall in der Welt Frauenorganisationen Kundgebungen gegen den Imperialismus der Grossmächte und gegen den bedrohlich sich ankündigenden Weltkrieg. Besonders stark war die feministische Friedensbewegung im damaligen Russland, obwohl die zaristische Polizei öffentliche politische Veranstaltungen strikte verboten hatte, insbesondere solche von Frauen. In Spanien und in Japan gingen an jenem Tag die Frauen überhaupt das erstemal organisiert mit einem politischen Anliegen auf die Strasse. In Amerika schlossen sich 1’250’000 Frauen den Kundgebungen an. Der Bericht, den die deutsche Pazifistin Margarete Lenore Selenka für die Erste Internationale Friedenskonferenz verfasste, liest sich heute mit Staunen. Er ist ein Dokument für die Effizienz jener Kraft. die Frauen in allen Ländern bewog, sowohl gegen die Kolonialkriege – zum Beispiel die Burenkriege – wie gegen das Wettrüsten in Europa wie gegen jede Art der Verachtung und Minderachtung menschlichen Lebens aufzustehen, gegen ein Menschenbild und eine Gesinnung, die systematisches Morden und systematische Zerstörung überhaupt als Programm in Betracht ziehen konnte.

Als der Weltkrieg trotzdem ausbrach, und als weltweit der Beweis erbracht wurde, dass mit gezielter nationalistischer Hetzpropaganda Millionen von Menschen zu gefügigen Werkzeugen gemacht werden konnten, dass Millionen von Menschen sich – entgegen religiöser Gebote oder moralischer Normen – in den Dienst skrupelloser Staatschefs und Generäle sowie der nicht weniger skupellosen Bereicherungsinteressen einzelner “Rüstungsbarone” einspannen liessen, dass sie sich zum erbärmlichen Töten und Getötetwerden buchstäblich berauschen liessen, schrieb Rosa Luxemburg in ihrer “Junius-Broschüre”, 1916 zwischen zwei Gefängnisaufhenthalten: “Der Krieg ist ein methodisches, organisiertes, riesenhaftes Morden. (…). Der Bestialität der Praxis muss die Bestialität der Gedanken und Gesinnung entsprechen, diese muss jene vorbereiten und begleiten”, worauf sie eine Analyse der Vorgeschichte des Krieges vornahm und ein Programm entwarf, das den Weltfrieden nicht auf Grund diplomatischer Abmachungen, sondern auf Grund der politischen Schulung und Aktionsfähigkeit des Volkes sichern sollte.

Nicht die Tatsache der Bereitschaft zur politischen Überlistung, respektive zur moralischen Verführung – der Verführung zum Hassen und Töten – waren neu; nur weil dies immer schon so war, gelang überhaupt die “Gesinnungsvorbereitung” zum Krieg, von der Rosa Luxemburg spricht. Die Frauen, die dagegen kämpften, die nach Ausbruchs und nach dem Ende des Kriegs für die ungezählten Flüchtlinge und Vertriebenen, für die Verwundeten und die vielen Waisen sorgten, und die sich zusammenschlossen, um einen weiteren Krieg und noch grösseres Elend zu verhindern – wiederum ergebnislos -, diese Frauen kamen aus allen Schichten der Gesellschaft. Sie waren religiös oder nicht-religiös, katholisch, reformiert oder jüdisch, waren Bürgerliche, Sozialistinnen, Kommunistinnen oder Parteilose, verheiratete Frauen oder unverheiratete. Sie hiessen, um einige zusätzliche Namen neben Marie Goegg-Pouchoulin und Julie von May-von Rued zu nennen: Anita Augspurg, Rosa Bloch-Bollag, Pauline Chaponnière-Chaix, Verena Conzett-Knecht, Maria Croenlein, Hedwig Dohm, Caroline Farner, Margarethe Faas-Hardegger, Claire Goll, Emilie Gourd, Emma Graf, Rosa Grimm-Reichsberg, Emmy Freundlich,  Gertrud Guillaume-von Schack, Lida Gustava Heymann, Marie Humbert-Müller. Käthe Kollwitz, Alexandra Kollontai, Hedwig Kym, Selma Lagerlöf, Berta Lask, Rosa Mayreder, Mentona Moser, Helene von Mülinen, Rosa Neuenschwander, Susanna Orelli, Frida Perlen, Emma Pieczynska-Reichenbach, Adelheid Popp, Clara Ragaz, Meta von Salis-Marschlins, Olive Emilie Albertina Schreiner, Toni Sender, Helen Stöcker, Bertha von Suttner, Gertrud Johanna Woker, Mathilde Wurm, Clara Zetkin – einige Namen nur unter vielen mehr aus jener Generation, die sich alle für Grösseres als für ihre partikularen Interessen einsetzten, die für den Respekt vor jedem menschlichen Leben, für den Respekt vor den menschlichen Beziehungen, für das gute und gerechte Zusammenleben in jeder Gemeinschaft kämpften, die Schulen gründeten und führten, fortschrittliche Kinderheime und Waisenhäuser, die Beschäftigungsprogramme für Arbeitslose organisierten, Wohnheime für junge Mädchen und Frauen, die ein Studium und eine uneingeschränkte Berufsausübung beanspruchten, die für gerechte Gerichtsverfahren kämpften – all dies gegen grosse Widerstände und  – in der Schweiz bis 1971 – ohne politische Rechte. Es gab Frauen, wie Rosa Luxemburg, die für ihren politischen Einsatz mit ihrem Leben zahlen mussten.

Welches ist die Kraft, aus der sie schöpften? – die sie furchtlos machte und sie stützte? Ich nehme an, dass dies die kreative Vernunft ist.

Es lässt sich vielleicht einwenden, dass es doch eher das Gewissen war, oder der Zorn gegen erlebtes oder miterlebtes Unrecht, oder eine kluge Weitsicht und Hartnäckigkeit, oder ein besonders aktives Handlungstalent, oder Nächstenliebe und Mut. Ich widerspreche nicht. Es geht in der Tat um all diese Kräfte und Eigenschaften. Doch diese Kräfte und Eigenschaften könnten nicht aktiv werden ohne die kreative Vernunft, die den einzelnen Menschen, der sich gegen den Strom und gegen Widerstände durchzusetzen versucht, trägt und beflügelt.

Was ist darunter zu verstehen?

Kants Vernunftbegriff steht Pate. Es geht um das Vermögen, dank dem jede Erfahrung und jede Erkenntnis zur Voraussetzung für neue Erkenntnis und für neues Handlen wird: nicht im Sinn kausaler Weil-Deshalb- oder konditionaler Wenn-Dann-Handlungsmuster, nicht im Sinn eines regelgebundenen oder autoritären Entweder-Oder, nicht aus der Nötigung durch unverfügbare Gegebenheiten heraus, sondern in Freiheit. Der Freiheitsbegriff wurde allerdings so oft zweckgebunden und damit missbräuchlich definiert, dass es schwer ist, die eigene Vorstellung und den Begriff von all den irreführenden Definitionen zu lösen. Freiheit ist, gestützt auf Kant, diejenige Befähigung, die allen anderen Befähigungen zugrunde liegt, die in jedem Menschen nicht auf Grund seiner individuellen Anlagen, sondern auf Grund seines Menschseins angelegt ist: als Bedingung der Möglichkeit, selbständig, sinnvoll und selbstverantwortlich zu handeln.

So verstehe ich die kreative Vernunft als die Befähigung, gegen den Zwang der Verhältnisse, gegen den Druck der Gesellschaft, gegen die eigene Angst, gegen Erziehung, Machtstrukturen und  Profitkalkül, gegen den Trend und gegen den Strom das eigene Handeln zu bestimmen. Die kreative Vernunft macht den tätigen Widerstand möglich, nicht in einer fixierten Alternative, sondern im Durchbruch zu ungewöhnlichen, überraschenden Optionen des Handelns. Sie ist die Kraft, sich gegen die Gewohnheit und nicht nach Massgabe des kleineren Übels zu entscheiden. Sie ist die Gegenkraft zur Angst und damit die Gegenkraft zur Gewalt. Denn Angst und Gewalt sind immer komplementär.

Die kreative Vernunft ist die Befähigung zur Sprache und damit zum politischen Handeln, so wie Hannah Arendt, eine weitere grosse Frau, es versteht und wie sie es in ihrem ganzen Werk immer wieder betont: die Befähigung zum geordneten Zusammen- und Miteinanderleben in einer Vielzahl und grossen Verschiedenheit von Menschen, damit im Chaos der Differenzen und der unterschiedlichen Bedürfnisse  eine immer wieder neu zu suchende und zu schaffende Übereinkunft gefunden werden kann, die es erlaubt, die wichtigen Gemeinschaftsinteressen vorweg zu realisieren.  Diese Prozesshaftigkeit des politischen Handelns lässt definitive oder gar totalitäre “Lösungen ” nicht zu. Sie ist, als Prozess der Freiheit, unabschliessbar, bedarf aber institutioneller Garantien, die den Prozess selbst zulassen. Wir verfügen heute in der Schweiz über viele dieser verfassungsmässigen und gesetzlichen Garantien, die uns als politische Handelnde schützen. Doch selbst wo diese fehlten, wie bei der Generation der Frauen in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts bis nach weit über den Ersten Weltkrieg hinaus, befähigte die kreative Vernunft zum politischen Handeln. Damals wie heute ist es so, dass politisches Handeln und Gewalt sich ausschliessen, dass Sprache und Gewalt sich ausschliessen, dass Freiheit und Gewalt sich ausschliessen.

Sie wurden heute zu einem Tag des politischen und persönlichen Austauschs und der gegenseitigen Ermutigung eingeladen. Ich bin überzeugt, dass Sie im Lauf dieses Tages spüren werden, wie viele innere Ressourcen – wie viele Ideen sowie Mut und Kraft, um diese Ideen umzusetzen – Ihnen zur Verfügung stehen, wenn Sie sich der kreativen Vernunft bewusst werden, die auch Ihr persönliches Vermögen ist,  politisch zu handeln. 1987 hatte Gret Haller ein kleines Buch veröffentlicht, das den Titel “Streitbare Friedfertigkeit” trägt, ein Titel, der ein ganzes Programm politischen Handelns enthält. Denjenigen unter Ihnen, dies es nicht kennen, empfehle ich es sehr. Es steht darin viel Wichtiges über das Umgehen mit Macht, die Ihnen als Amtsträgerinnen ja zukommt, die Sie angesichts der komplexen, schwierigen Aufgaben, mit denen Sie täglich konfrontiert werden, auch brauchen. Wenn Sie sich beim Gebrauch der Macht jedoch nicht ausschliesslich auf Ihr Amt und den damit verbundenen Titel stützen, sondern auf die kreative Vernunft, die Sie als Mensch – nicht als Amtsträgerin – zur Ausübung Ihrer Pflichten befähigt, so werden Sie in vermehrtem Mass bei Ihren Entscheiden und bei Ihrem Handeln jenes Gefühl der Freiheit und der eigenen Glaubwürdigkeit empfinden, das Sie im Umgehen mit Konflikten, im Umgehen mit Interessen dringend brauchen, insbesondere im Unterscheiden zwischen denjenigen Interessen, die für das friedliche Zusammenleben der Vielen, für die Sie politisch verantwortlich sind, entscheidend sind, vor allem der Schwachen, Benachteiligten und Sprachlosen, der Kinder, der Alten und der Fremden, deren Wohl in besonderem Mass von Ihrem Handeln abhängt; und zwischen denjenigen Interessen, die Sie nicht beachten müssen oder nicht beachten sollen, da sie in missbräuchlicher Art und Weise an Sie herangetragen werden.  Denn auch dies gibt es im politischen Alltag nur allzu häufig, und es ist nicht leicht, sich gegen die damit verbundene Propaganda und die damit einhergehenden Erwartungen abzugrenzen, sich auch nicht durch den dadurch zu erwartenden Applaus verführen zu lassen. Aber Zustimmung von der Seite, die  gegen das Gemeinwohl durch Machtmissbrauch partikuläre Interessen durchzusetzen sucht, macht Sie nicht stärker. Wenn Sie jedoch in streitbarer Friedfertigkeit diese Unterscheidungsarbeit schaffen, nicht zuletzt gestützt auf die Ermutigung, die Sie heute einander zukommen lassen, so ist Ihnen die wirkliche Befriedigung gewiss, die Hannah Arendt in ihrem Aufsatz “Wahrheit und Politik” für das mutige politische Handeln in Aussicht stellt, “die Befriedigung des Zusammenhandelns und die Genugtuung über die für alle menschliche Existenz so entscheidende Möglichkeit, sich sprechend und handelnd in die Welt einzuschalten und einen neuen Anfang zu stiften”.

Vor allem werden Sie vorweg erfahren, dass, auch wenn sich nur die wenigsten Konflikte lösen lassen und die meisten auf irgendeine kluge Weise in den politischen und in den privaten Alltag integriert werden müssen, Sie selbst Masstäbe des politischen Handelns finden und an andere Menschen vermitteln können, dank denen Sie die heute so bedrohliche Angst vor dem Zusammenleben abbauen helfen und neues Vertrauen für das Zusammenleben von morgen und übermorgen schaffen, auch wenn die Komplexität der Probleme nicht geringer wird, sondern noch zunimmt: Vertrauen in die kreative Vernunft, damit Selbstvertrauen und Vertrauen in die so sehr in Frage gestellte, aber zweifellos bestehende, jedoch ständig zu stärkende Fähigkeit aller Menschen zum Frieden

 

 

 

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