Körper – Zu den Arbeiten von Esther Hirschi
Körper[1]
Zu den Arbeiten von Esther Hirschi
„Diese Stärke, Mutter: hervorgewühlt, gehämmert, geknetet, gekettet, geschwärzt, gesprengt, heult, holt aus, geworfen aufs Ächzen, gehämmert, hämmert die Lefzen dem Tod ab. Dämmt und verriegelt, verklumpt und beisst. Messer, Blut- abweisend auf Mühlknochen diese Stärke, Mutter, versiegt.“[2]
Haus: abgepolstert und bemoost, Hornfäden in Fülle auf dem abgerundeten, länglichen Dach, die inneren Säulen und Zwischengestänge mit tragender, filigraner Struktur, als äusserer Schutz ein feines, porös gewobenes Fell, angeheftetes Kleid, Faltenmantel im Alter und immer noch Kleid, das pausenlos sich erneuert und hält von Anfang bis Ende.
Hauthaus: biegsam und standfest, verletzlich und brüchig, reparierbar (beschränkt), mit Eingängen je nach Bedarf, Begehren und Lust, mit Ausgängen je nach Bedrängnis und Not. Mit offenen Fenstern, blau-grün-goldgesprenkelt-braun-grau -schwarz, für Sonnenlicht, für Farbenspektren, runden oder länglichen Fenstern, die warm aus sich strahlen, funkeln und fliessen, erstarren im Grauen, erkalten bei wachsender Kälte, ermatten im Schmerz, sich schliessen und ruhen. Mit Empfangsantennen im umhüllenden Kleid, mit Reflektoren und Reaktoren im Hauthaus verborgen, den Sinnesorganen als Mediatoren von AussennachInnen von InnennachAussen, wovon: von Wärme und Kälte / von Lüften, Gerüchen und Düften / von Tönen und Klängen, Rauschen und Zischen, Jammern und Klagen, Wimmern, Singen und Schreien, im Eingang zum Schlund zum Schmecken und Saugen, Lutschen, Schnalzen und Seufzen, Trillern und Küssen, ein Instrument für Konsonanten. Mit Innenräumen voller Geräte, mit rhythmisch pulsierender Pumpe – heisst Herz – zum Versorgen der kleinsten Kammern im Haus mit ein- und ausströmendem Blut, vernetzt mit den ventilatorenähnlichen Aufnahmeschwämmen zum Absaugen der eingeatmeten Luft, zu deren Halten und Sich-Lösen, zum Durchlüften, zum Entstauben und Erneuern aller Organe, ferner ein sich aus vielen Teilen ergänzender Apparat zum Ordnen, was an Nahrung hereinkommt, zum Zerkleinern, Verschmelzen oder Verwerfen, mit feinsten Kanälen fürs Verarbeiten und Verteilen, mit Kabeln und Drähten fürs Umleiten von Impulsen, von zustimmenden und von ablehnenden. Nur das Wenigste, was das Hauthaus betrifft, lässt sich von Aussen wahrnehmen, am klarsten die Instrumente der Extremitäten zum Stehen und Gehen, Tragen und Halten, Bewegen und Biegen, zum Formen, Fechten und Schlagen, zum Umschlingen, zum Liebkosen. Das Hauthaus heisst Körper.
Haut: so der Name der Schutzschicht, die aus mehreren Schichten besteht und jede Schicht erneut aus Schichten, das Übersetzungsportal für alle Mitteilungen von Aussen in die verborgenen Innenräume und von diesen nach Aussen, hoch empfindlich, reizbar und verletzbar. In der Kindheit ein Häutchen, milchig und warm, zart und schnell gerötet. Ein Teil der Zartheit bleibt, das ganze Dasein hindurch, an allen empfindsamsten Stellen, weiblich und männlich, seidenfeindünn. Ein anderer Teil wird gehärtet, fleckig und rauh, oder samten verhornt. Ein unlösbares Kleid ist die Haut, umfassendes Organ aus sich erneuernden und sich vernetzenden und sich abstossenden und wieder neu sich bildenden Zellen, angeschlossen an Muskulatur und Fettpölsterchen, feinst durchwässert und durchblutet, unhörbar atmend, duftend, stumm sprechend, taub hörend, kostbarste Organza, variierend in Goldweiss bis nachtdunklem Ocker, straff oder faltig voller Gefühl, matt glänzend.
Apparat: das hoch komplexe System, das von Aussen nur erkennbar ist als Stütz- und Bewegungsapparat, über die Veränderungsmöglichkeiten von Stehen und Beugen, von Sitzen und Liegen, Hüpfen und Gehen, von Heben und Senken, nur über den Ausdruck der sichtbaren-hörbaren Teile des Körpers, über alle Gelenke von den knorpelig feinen und bindegewebigen, die unecht heissen, zu den echten Gelenken, den Kugelgelenken und Eigelenken und Scharnier- und Sattelgelenken und Zapfengelenken, über alle Aktivitäten der Extremitäten, vom Spielen, Halten und Fassen der zehn Fussfinger zum Spielen, Greifen und Halten, zum Krümmen und Strecken, Zeigen und Sprechen der zehn Handfinger, über das Beugen und Tragen der Fussgelenke und Kniegelenke und Beckengelenke, der vierundzwanzig ungleich geformten, tragenden, stützenden Rückenwirbel mit den obersten, die Atlas und Axis heissen und die das Nicken und das Drehen des Kopfs ermöglichen – dies der Name der Dachstruktur, ein anderer ist Schädel -, die somit den Anschluss an deren äusseren und inneren Teile bewirkt. In dessen Höhle verborgen ist die Zentrale aller inspirierenden und leidenden Aufnahme- und Verarbeitungs- und Lenkungskräfte der unaustauschbaren Besonderheit jedes Körpers, Geist und Seele des Apparates, der Mensch ist, fühlt, spürt, fragt, ahnt, denkt, zweifelt, leidet, sucht, sich sehnt, bangt, begehrt, liebt, entscheidet, ein beseelter Apparat, mit den feinsten Organen zum Schauen und Sehen, zum Sprechen und Singen, zum Lachen, Weinen, Herzen, Begehren, Geniessen, zum Verstehen und Lieben, zum Erkennen. Möglicherweise ein Erstarren, möglicherweise ein Erinnern, Zweifeln und Verzweifeln, Entscheiden, voller Schmerzungen, Reibungen, Rötungen, Entzündungen, Blutungen, Verkrustungen, möglicherweise eiterfrei, Heilung. Neue Ausrichtung, kriechfrei, aufrecht, wenngleich gekrümmt, frei.
Besitz und Dokument: unaustauschbar der Körper, beseelter Körper, unaustauschbar dessen Besitz. Wer ihn besitzt, ist nicht trennbar vom Körper, unabtrennbar: das Individuum. So hat der Körper den eigenen Namen und einen besonderen Beginn des Werdens und Daseins. Der Beginn gehört ihm, er hat Geschichte, lastet im Dunkeln. Der Körper ist Dokument, Erfahrung und Neuerfahrung, Erinnerung, bewusste oder verdrängte. Darin besteht die Identität, das umfassende Dokument seiner Geschichte, Runen und Rillen, Falten und Flecken, Hieroglyphen, durch die Besonderheit gekennzeichnet, so ist der Körper, breiter oder schmäler, grösser oder kleiner, dunkler oder heller, zerdrückter, verletzter, geschädigter Körper, aufgerichtet, überlebende Identität, stolz, eine SobinIch, mit der Herkunft aus Mutter und Vater, mit deren Müttern zwei Grossmüttern, deren Vätern zwei Grossvätern, vier Urgrossmüttern, vier Urgrossvätern und weiteren Ahninnen und Ahnen in exponentieller Vermehrung, ohne Zahl, unklare Prägung von Völkern, spürbar nachtwandlerisch anders geworden als alle anderen Körper, gestossen gezogen, hingeworfen, ausgebreitet, aufgerichtet: unverwechselbar einzig.
Kunstwerk: der Körper, beseelter Körper, in der Besonderheit Individuum, ein transgenerationelles, lebendiges Werk, untrennbar und unabschliessbar, eigenständig, anders als alle anderen, ein Kunstwerk. Stellvertretend für dieses die Fortsetzung des Werks unter der Hand der Künstlerin, Körper um Körper als Objekt, eidos, Abbild im Denken, Zeichnung oder Skulptur. Körper entstehen und wachsen aus dem Begehren, werden gestaltet, Können aus Wissen, Kunst. Durch Esther Hirschis Hand die Körpergestalten, hoch aufgerichtet, mit Zeichen ältester Erbschaft – ägyptischer, phönizischer, hebräischer -, die neu aus Lehm geformt, gerade ausgerichtet nach oben nach unten, nicht auf der Stirn, von Schulter zu Schulter ein Diadem, über den Linien der Schrift, horizontal von Osten nach Westen, Mitzwot, ohne Erbarmen 248 Gebote und 365 Verbote, eng gepresst, verhärtet, in Bronze gegossen und auf Stelen gesetzt, zeitlos als Last und Bedeutung, warnend und ehrend. In ihrer Nähe skizzenhafte Gestalten, musenverwandte Nachfahrinnen, stehende und gehende und tanzende und liegende und schauende Menschenbilder, Frauengestalten, ein Körper allein, zwei vor einander, drei hinter einander, viele vereint. In ihrer Haltung ist Nachbarschaft, nah, lebensnah, voller Anmut, stets im Gespräch unter einander, ohne Väter und Brüder. Unter der gleichen Hand entstanden, hier Stelen der Erinnerung, nahfern, MutterAhninnen, da Frauenkörper und Frauengestalten, Begegnungen und Beziehungen, Freundinnen vielleicht, Schwestern, unverbrüchliche, jede ein neues Werk, unverwechelbar: KörperWerkKunstwerk.
„Die letzte Lektion einer Mutter in einem Haus im letzten Licht bringt den Ruin der westlichen Welt und den Handel zum Erliegen. Schaut in die Fenster bei Nacht, dort werdet ihr die Gestalten stehen sehen. Das waren wir, wir hatten einen Grund dafür, drin zu sein. Es tagte, wir schnitten die Früchte ab (mitsamt dem Baum). Jetzt sind wir draussen. Hier ist eine Schuld beglichen.“[3]
[1] für Esther Hirschi, Vorwort
[2] Anne Carson. Decreation. Gedichte. Oper. Essays. Aus dem Amerikanischen von Anja Utler. 2014 Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag. S. 26
[3] Anne Carson. Decreation. Gedichte. Oper. Essays. Aus dem Amerikanischen von Anja Utler. 2014 Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag. S. 22