Der Himmel – so fern, so nah – Augusto Giacometti: Die Farbe und ich

Der Himmel – so fern, so nah

Augusto Giacometti: Die Farbe und ich

 

„Immer war es mir, als ob es ein Leben der Farbe an sich geben müsse, losgelöst von jedem Gegenstand. Also etwas, das schon vor der Welt der Gegenstände da war und wovon die Gegenstände ihre Farben entlehnen.“[1]

Am 14. November 1933 hielt Augusto Giacometti, damals 56 Jahre alt, im Radiostudio Fluntern in Zürich einen Vortrag über die Farben, der im darauffolgenden Jahr im Verlag Oprecht als kleines Buch erschien und seinen Rang als bedeutenden Schweizer Maler verstärkte. Er wollte jedoch  in keiner Weise eine Farbentheorie vermitteln, im Gegenteil. Auf berührende Weise widerspiegeln Giacomettis Ausführungen in erster Linie seine wache Neugier gegenüber der Natur und deren Farbgesetzen. Er habe ihr diese „ablauschen“ und „entlocken“ wollen, um „mit deren Hilfe einen Organismus zu schaffen – eine Kunst – die in allen Fällen parallel zur äusseren Welt läuft. Ja, ich wollte nichts anderes, als dem lieben Gott Konkurrenz machen.“ Und fragend fügte er bei, ob dies nicht sehr viel sei.

Giacomettis optischer Erkenntnishunger war somit ein ganz anderer als jener Newtons, der mit seiner Forschungsarbeit im völlig verdunkelten Zimmer einen Lichtstrahl durch einen schmalen Spalt in ein Glasprisma gleiten liess und so dessen doppelte Brechung und das Gesetz der sieben Spektralfarben entdeckte, die sich, wie er feststellte, von Rot über Orange, Gelb, Grün, Cyanblau, Ultramarineblau und Violettblau zu einem Kreis schliessen. Als er diese Erkenntnis 1672 in London der Royal Society als A New Theory about Light and Colours vorstellte, bewirkte er ein hohes Staunen, gleichzeitig Eifersucht und Neid, auch noch 29 Jahre später, 1704, als seine Arbeit als bahnbrechendes Buch zur Optik[2] erschien. Bewunderung und Herabsetzung hielten sich gegenüber neuer Erkenntnisse wohl stets die Waage, selbst lange Jahre nach dem Tod eines Forschers, der wie ein Künstler ein einzigartiges Werk hinterlässt.

So ist zum Beispiel Goethes Reaktion auf Newtons Optik zu verstehen, als er zwischen 1807 und 1810 im Nachklang auf die emotional bewegende Italienreise, insbesondere auf die Sizilienreise seine eigene Farbenlehre[3] erarbeitete, damals im steten Gesprächsaustausch mit Schiller. Dank diesem kam die sogenannte Temperamentenrose von 1789 – 1799 zustande, in welcher die Farben als Ausdruck der schon von Lavater vertretenen  Neigungen erklärt wurden: rot-gelbrot-gelb als cholerisch, gelb-grün-blaugrün als sanguinisch, blaugrün-blau-blaurot als phlegmatisch und blaurot-purpurrot-rot als melancholisch. Für Goethe galt, dass „das Höchste wäre: zu begreifen, dass alles Faktische schon Theorie ist. Die Bläue des Himmels offenbart uns das Grundgesetz der Chromatik. Man suche nur nichts hinter den Phänomenen: sie selbst sind die Lehre“.[4]

Newtons Erkenntnisse bewertete Goethe als „dem menschlichen Geist höchst schädlichen Irrtum“. Die Schädlichkeit des Irrtums habe ihn bewogen, gemäss seinem „Wahrheitsgefühl (…) reines Licht auch in diese Dunkelheiten leuchten zu lassen“. [5] Sein eigenes Werk betrachtete er als epochale Leistung: „Um Epoche in der Welt zu machen (…), dazu gehören bekanntlich zwei Dinge: erstens, dass man ein guter Kopf sei, und zweitens, dass man eine grosse Erbschaft tue. Napoleon erbte die Französische Revolution, Friedrich der Grosse den Schlesischen Krieg, Luther die Finsternis der Pfaffen und mir ist der Irrtum der Newtonschen Lehre zuteil geworden. Die gegenwärtige Generation hat zwar keine Ahnung, was hierin von mir geleistet worden. Doch künftige Zeiten werden gestehen, dass mir keineswegs eine schlechte Erbschaft zufiel“.[6] Seine Erkenntnis sei richtig wie die Liebe eines Mädchens, auch wenn sie sich nicht mathematisch beweisen lasse. Und später hielt er fest, dass er unter Millionen der einzige sei, der in diesem grossen Naturgegenstand das Rechte wisse. „Mit diesem Gefühl der Superiorität war es mir denn möglich, die stupide Anmasslichkeit meiner Gegner zu ertragen“, beteuerte er tröstend gegenüber Eckermann, seinem späten Gesprächspartner. [7]

Nun, Augusto Giacometti nahm weder zu Newtons Optik noch zu Goethes Farbenlehre Stellung, beide waren für ihn belanglos, obwohl ihm vermutlich jene Goethes emotional näher stand. Doch diese als die allein richtige zu erklären, das wäre ihm nie eingefallen. Für ihn galt ausschliesslich das eigene Erfahren, Erproben und Ermessen der Farben als sorgfältiges und zugleich als berauschendes Eintauchen in die Geheimnisse der Natur, sowie seine sich den Geheimnissen annähernde Intensität des Schauens, die sich in die Kunst des Malens wandelte. Wie sehr sich die eine mit der anderen verwob, aus frühesten Erinnerungen bis in die Aktualität seiner Arbeit, als er sie zu erproben begann und über Jahrzehnte fortsetzte, das hielt er in seinen Ausführungen fest:

„Ich mag wohl drei Jahre alt gewesen sein, als ich im Elternhaus in Stampa in einem hohen Kinderstuhl sass. Damit man daraus nicht herausfiel, war vorn ein Holzstab angebracht. Sessel und Holzstab waren gelb angestrichen, mit dem schönen Gelb der Postwagen, und am Holzstab vorn war, ich weiss nicht warum, ein glänzender Messingnagel eingeschlagen. Ein Messingnagel mit goldenem Kopf. Ich fühle heute noch die Wirkung, die mir diese Farben gemacht haben, Gelb und Gold. Und wenn ich heute Gelb und Gold sehe, an einem Mosaik in San Marco oder in Nordafrika, wo der Wüstensand das Gelb darstellt und die Sonne das Gold, muss ich wieder an den Kinderstuhl in Stampa denken. – Einige Jahre später kam ich oft mit anderen Buben nach Coltura. Das Tor des Schlosses Castelmur dort stand gewöhnlich offen. Man durfte aber nicht hineingehen. Wenigstens wir Kinder nicht. Durch das offene Tor sah man einen dunkeln Gang, und an seinem Ende eine kleine Glastüre mit blauem Glas. Oft habe ich in den schwarzen Gang hineingeschaut – und immer war es mir, als ob dort hinten, bei dem Blau, irgend ein Wunder im Entstehen sei“.[8]

Als Augusto Giacometti 1898, mit 22 Jahren, erstmals in Paris weilte, wünschte er nicht wie die meisten anderen Maler das Farbenspiel der Seine zu malen, oder die Brücken über die Seine oder Nôtre-Dame, nein, er befasste sich mit dem Farbenspiel auf den Flügeln der Schmetterlinge im Jardin des Plantes. Er wollte, wie er festhielt, „vom Mikrokosmos aus den Makrokosmos verstehen. So, als sei die Farbengebung zu einer grossen Komposition der Hochzeit zu Kanaa schon in der farbigen Stimmung eines Herbstblattes enthalten. Das blosse ‚Vor der Natur sitzen‘ und sie farbig mehr oder weniger gut wiedergeben genügte mir eigentlich nie. Etwas in mir hat immer nach einem Wissen über die Farbe gestrebt“, das heisst „nach dem Leben der Farbe an sich, losgelöst von jedem Gegenstand“. Mit diesem Wissen wollte er, wie schon zitiert, „dem lieben Gott Konkurrenz machen“. Ihm schien, dass die Farbe „schon vor der Welt der Gegenstände da war“, dass „die Gegenstände davon ihre Farbe entlehnen. Der Mohn hat sein Rot aus der farbigen Welt entlehnt. Beim Verblühen des Mohns geht das Rot wieder zurück zur farbigen Welt und kommt im anderen Sommer im neuen Mohn wieder zum Vorschein“.[9]

Doch wie ging Giacometti vor, um diesem Wissen auf den Grund zu kommen? Über die Flügel der Schmetterlinge zog er ein Netz aus sehr kleinen Quadraten, die ihm dienten abzulesen, wie viel Quadrate Schwarz, wie viel Quadrate Dunkelgrün und wie viel Quadrate Rot ein Schmetterlingsflügel enthielt, worauf er die Quadrate grösser zeichnete, sie mit den betreffenden Farben ausfüllte, die Schmetterlingsflügel weg liess und verblüffende Farbabstraktionen zustande brachte, an Hand derer er dem Geheimnis der Farben etwas näher kam, jedoch auf unbefriedigende Weise. Die Anzahl Quadrate erschien ihm zu gross. Er spürte, dass er, wie er schrieb, „viel grosszügiger und souveräner“ vorgehen musste und reduzierte die Quadrate auf neun. Damit konnte er „die reichste und vollste Farbenharmonie einfangen“ – eine so zufriedenstellende Erkenntnis, dass er sie beibehielt und fortsetzte bis unmittelbar zum Zeitpunkt, als er anlässlich seines Vortrags davon berichtete, wie von der damals eben erfolgten Arbeit in Torcello, wo er versucht habe, dank der Farbenabstraktionen „etwas vom Klang der alten Mosaiken mit nach Hause zu nehmen“.[10]

Im Umgehen mit den Farben lehnte Giacometti jeden Vergleich mit anderen Malern seiner Zeit ab – mit Léger, Braque oder Picasso -, doch er verwies mit Ehrfurcht auf grosse Lehrer aus der Periode der Impressionisten, so auf Eugène Chevreul und dessen 1839 erschienenes Buch De la loi du contraste simultané des couleurs, dem er in Florenz begegnet war und das er gemeinsam mit einem Freund Abend für Abend dort las, dessen Inhalt ihm jedoch wie vertraut erschien. Oder er erwähnte die Bedeutung von Paul Signac und dessen Schrift  De Delacroix au Néo-Impressionisme, aus welcher er die Notwendigkeit der Mischung der Farben – „le mélange optique“ – habe lernen können. Ausführlich ging er dabei auf die Farbe Grau ein, wie Signac sie erläuterte, auf die Möglichkeit, ein Grau zu erzeugen, indem kleine Flecken Rot neben kleine Flecken Grün von gleicher „valeur“ gesetzt würden. „Die beiden Farben mischen sich in der Netzhaut des Auges und ergeben, von weitem betrachtet, ein prachtvolles Grau, das gleichsam schwebt. Das ist die ‚mélange optique‘“, erklärte er mit einem Klang der Begeisterung und fügte noch bei, das Grau, das durch das Mischen von Rot und Grün auf der Netzhaut entstehe, sei ohne Zweifel weitaus reicher als ein Grau, das schon auf der Palette gemischt werde. Ersteres werde gewissermassen vergeistigt, entmaterialisiert. Im Gegensatz dazu sei das Grau bei Böcklin geradezu materiell.

Das Geheimnis um die Farben beschäftigte Giacometti weiter im Durchkämmen neuester Literatur seiner Zeit, etwa jener von Wilhelm Ostwald und Hans Adolf Bühler, die mit der Herstellung einer Kugel aus kleinen, würfelähnlichen Teilchen in allen denkbaren Nuancen von Farben eine in Zahlen bezeichnete Normierung der Farben anstrebten, mit dem reinen Weiss am Nordpol, dem reinen Schwarz im Südpol und dem absoluten Grau in der Mitte. Oder er setzte sich mit Kandinsky auseinander, der sich in seinem Buch Über das Geistige in der Kunst fragte, ob es für jede Farbe nicht eine kongruente Form gebe, zum Beispiel den Kreis für Blau. Doch immer wieder kehrte Giacometti auf die Farbe Grau zurück sowie auf die Aussagekraft der Komplementärfarben, wie sie im Panthéon in Paris im Werk von Puvis de Chavannes oder in der Natur, etwa im Winter am Zürichsee unter den Nebelschleiern, dank der Sorgfalt des Schauens aufgenommen werden kann. Beinah atemlos vor lauter Beispielen – von den Gewändern zu den Möwen und Taucherenten – hielt er gegen Ende seines Vortrags fest, dass „zum sinnlichen Genuss, der im Wesen der Farbe liegt, sich dann noch der intellektuelle Genuss gesellt, die Freude am farbigen Aufbau, die Freude am Verstehen“.[11] Und etwas weiter fuhr er fort: „Ein fast unübersehbarer Reichtum an Möglichkeiten entsteht daraus. Das, was man die reiche Orchestrierung der Farbe nennt. Aber wenn nun eine weisse Blume kommt? Es kommen doch auch weisse Blumen! Wie ist das Weiss zu verstehen. Weiss ist immer nur die Aufhellung der Farbe. Ihr hellster Valeur. So wie Schwarz nur die Verdunkelung einer Farbe ist. Ihr dunkelster Valeur. Stellt man sich ein Gelb vor, das sehr stark aufgehellt ist, so scheint es weiss. Weiss mit einem Stich ins Gelbe. Ebenso erscheint ein Rot, das sehr stark aufgehellt ist, weiss. Weiss mit einem Stich ins Rötliche. Warum gibt es keine schwarzen Farben?“[12] rief er aus.

Bei Giacometti wurde jede Auseinandersetzung mit Farbe angeregt durch das, was er sah, wo immer er sich befand. So soll ihn ein Hotelzimmer in Oslo bezaubert haben durch die vielen Nuancen von Gelb, die die Möbel und Vorhänge hatten und die zum Weiss der Betttücher und Kissen in einem wundervollen Kontrast standen. Und natürlich habe er ein Pastell davon gemacht. Oder als er in Venedig in einer Glashütte kobaltblaue Mosaiksteine gesehen habe, die nach New York gesandt werden sollten, habe er ausgerufen, das Kobalt sei zum Fressen schön! Dergestalt sei Augusto Giacomettis sinnliche Beziehung zur Farbe gewesen, hielt Heinrich Rumpel vom Oprecht Verlag, der den Maler gut kannte, in einem Erinnerungstext von 1964 fest. Auch in seinen grössten Kompositionen habe er gewusst, „das dunkle Glühen oder helle Schimmern als lebendige Kraft spürbar zu machen“.[13]

 

[1] Augusto Giacometti  (1877 – 1947). Die Farbe und ich. 2011 Zürich, Europa Verlag. S. 38-39

[2] Isaac Newton (1643-1727). Opticks or a Treatise of the Reflections, Refractions, Inflections and Colours of Light. 1704 London

[3] Johann Wolfgang Goethe ( 1749 – 1832). Die Farbenlehre. Hrsg. Yvonne Schwarzer . 2004 Witten, Westerweise Verlag (2. Auflage)

[4] Goethe. Maximen und Reflexionen. Hrsg. Max Hecker. 1907 Weimar.  Nr. 575

[5] Johann Peter Eckermann. Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens 1823 – 1832. Bd, I. 1945 Basel, Verlag Birkhäuser. S.147.

[6] Eckermann. Bd. I. S. 109

[7] Eckermann. Bd. II. S. 505-506

[8] Giacometti. 2011 Zürich, Oprecht Verlag. S. 36-37

[9] Giacometti. 2011 Zürich, Oprecht Verlag. S.38

[10] Giacometti. 2011 Zürich, Verlag Oprecht. S. 40

[11] Giacometti, 2011 Zürich, Verlag Oprecht. S. 57

[12] Giacometti. 2011 Zürich, Verlag Oprecht. S. 55-56

[13] Giacometti. 201 Zürich, Oprecht Verlag. S. 33

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