“Die Würde des Menschen ist antastbar” – Zum 7. Februar 1994 anlässlich des Konzerts der Gruppe “Goim” in der Helferei des Grossmünsters Zürich

“Die Würde des Menschen ist antastbar”

Zum 7. Februar 1994 anlässlich des Konzerts der Gruppe “Goim” in der Helferei des Grossmünsters Zürich

 

Verglichen mit der Musik, die wir eben gehört haben, kommt mir die Sprache arm vor. Aber die Sprache ist nun mal mein Instrument, mein Widerstandsinstrument.

Ich möchte heute abend, verehrte Anwesende, liebe Kinder, zuerst etwas zu den Zusammenhängen sagen, unter denen der Satz entstand, der das Motto meiner Rede bildet, dann zu den Zusammenhängen, unter denen die jüdischen Widerstandlieder geschrieben wurden, dann zu den Zusammenhängen von heute.

“Die Würde des Menschen ist wieder antastbar geworden”, schrieb Ulrike Meinhof 1962. Vierzehn Jahre später, am 8. Mai 1976, wurde sie in ihrer Zelle im Hochsicherheitsgefängnis von Stuttgart-Stammheim tot aufgefunden, eine Philosophin, Pädagogin  und Journalistin, eine Atomwaffengegnerin, die zur RAF-Terroristin wurde, für die Mächtigen eine Staatsfeindin, die es zu jagen und einzusperren galt, für viele Sprach- und Machtlose eine Kämpferin für Demokratie und Menschenwürde, für viele ihrer linken Zeitgenossen und Zeitgenossinnen das tragische Opfer einer fundamentalistisch verhärteten und damit inhuman gewordenen eigenen Theorie des richtigen Handelns, einer Theorie, die sich nicht mehr über Sprache, sondern über Gewalt durchzusetzen versuchte und damit selbst zum Instrument von Unrecht wurde.

Ulrike Meinhof war vierzehn Jahre alt gewesen, als das deutsche Grundgesetz und die UNO-Menschenrechtserklärung geschaffen wurden, vierzehn Jahre alt, als sie auch Vollwaise wurde, nachdem der Vater schon im Jahr des Kriegsbeginns gestorben war. Da stand sie, nach einer Kindheit, während der Deutschland von Aufhetzung und Krieg gezeichnet war, auf der Schwelle zum Erwachsenenleben und wollte an die hohen Ideale, die in dieser ersten Nachkriegsverfassung festgehalten waren, glauben. Sie wollte mitverantwortlich sein für den Frieden, das heisst, sie wollte sich kompromisslos für die Achtung der politischen und sozialen Rechte aller Menschen innerhalb der staaatlichen Gemeinschaft einsetzen, sie wollte für ein Menschenbild einstehen, das auf der gleichen Achtung vor dem gleichen Menschsein aller gegründet war – der Kinder und der Greise, der Fremden und der Einheimischen, der Schwachen, Kranken und der Starken. Sie wollte auf keinen Fall mit Mächtigen paktieren, die ihren Aufstieg durch Beihilfe im nationalsozialistischen System geschafft hatten und nach Kriegsende bloss das Hemd wechselten, um weiterhin an der Macht zu bleiben.

Als sie im Jahr 1962 für “konkret”, die Zeitschrift, für die sie als freie Journalistin und als Chefredaktorin gearbeitet hatte, den kurzen Text mit dem Titel “Die Würde des Menschen” schrieb, da war, stellte Ulrike Meinhof fest, der Verrat am Grundgesetz von 1948 schon eine – parlamentarisch abgesegnete – Tatsache, eine Tatsache, die sie nicht aktzeptieren wollte. Sie berief sich darauf, dass das Grundgesetz doch aus dem Wissen geschaffen worden war, dass alles Unrecht, das zwischen 1933 und 1945 in Deutschland getan und zugelassen wurde – die systematisch geplanten und durchgeführten, nie wieder gutmachbaren  Verbrechen von Antisemitismus, von Rassismus gemeinhin, von nationalsozialistischer Diktatur und Krieg, von grenzenloser Menschenverachtung und Gewalt  -, dass dies alles auf der Grundlage ursprünglich demokratisch geschaffener, gültiger Gesetze und durch die offene oder schweigende Zustimmung von Millionen von Menschen geschehen war.

Das Grundgesetz hätte eine unumstössliche Garantie gegen die Gefahr neu entstehender, institutionell abgesicherter Menschenverachtung sein sollen. Doch blosse 14 Jahre später, stellte Ulrike Meinhof voller Verzweiflung fest, blieb von dieser Garantie nicht mehr viel übrig: zuerst durch die 1956 beschlossenen “Wehrartikel”, die atomare Aufrüstung der BRD im Rahmen der NATO, wodurch das Bekenntnis zu einem unbedingten Frieden verraten wurde, dann wenige Jahre später durch die Notstandsartikel, die den Verrat an einer widerspruchsbereiten, veränderungsfähigen, politisch offenen Demokratie bedeuteten.

Es wurden zwar in Deutschland nicht wieder Tötungsfabriken und Verbrennungsöfen für Menschen gebaut, aber Deutschland war wieder Mitglied in einem Militärbündnis, das vor konventionellen, chemischen, biologischen und atomaren Waffen strotzte und bereit war, diese einzusetzen, um Menschen zu töten, erneut, wie im Krieg, der damals erst seit einem Jahrzehnt vorüber war, wie in jedem Krieg. Und, stellte sie fest, die Medien waren wieder Zudiener und Trabanten der Mächtigen, und aus Machtkalkül wurden wieder Feindbilder gezimmert, mit deren “Bekämpfung” , das heisst unter dem Vorwand “des Erhalts des Friedens und der Abwehr der kommunistischen Gefahr”, wie die Formel hiess, die Gesetze und die Waffen legitimiert wurden. Für Ulrike Meinhof stand fest, dass, wenn Menschen aus “Staatssicherheitsgründen”, ob aus Gründen der sogenannten “äusseren” oder der sogenannten “inneren Sicherheit” zu Feinden erklärt, verhaftet und gar zusammengeschossen werden dürfen, wenn der Staat sogar Gewalt gegen Menschen für legitim erklärt, die sich nach demokratischen Spielregeln organisieren, um nicht den Besitzstand einiger weniger, sondern das gerechte und friedliche Zusammenleben der vielen zu verteidigen, dass es dann keine institutionelle Garantie mehr gegen Menschenverachtung gibt. Denn letztlich benutzte der Staat die Hetze gegen die extremistische RAF, um die eigentliche Demokratiebewegung über Parteienverbote, Verbands- und Berufsverbote auszuschalten.

Die Würde der Menschen war wieder antastbar geworden.

Und das Perfide war, dass all dies unter dem Anschein der Rechtmässigkeit daherkam, unter dem Anschein der biederen  patriotischen Normalität.

Als Hannah Arendt im Zusammenhang mit dem Eichmann-Prozess von 1960 von der “Banalität des Bösen” sprach, mit der sie das perfekte Funktionieren der grossen Todesmaschinerie Hitlers, mit der ein ganzes Volk ausgerottet werden sollte, durch die Beihilfe ungezählter Einzelner erklärte, durch den häufig unspektakulären Teil, den diese unter dem Titel von Pflichterfüllung und Beamtengehorsam dazu beitrugen, so meinte sie dies: die Angewöhnung an Scheinerklärungen und Lügen, an machtgestützte Deklarationen, was “normal” und was “nicht normal” sei, mit denen Machtmissbrauch erklärt, Gehorsam gefordert und Gewissensbisse ausgeschaltet werden, unmerklich, Schritt für Schritt – die Angewöhnung an die Antastbarkeit der Würde, dann an die widerstandslose Unterwerfung unter das Unrecht.

Was ist “die Würde” der Menschen?

Das Wort klingt formelhaft und abgenutzt. Es ist zur Hülse geraten. Doch die Menschen in den Gettos Litauens und Polens, später in den Arbeits- und Tötungslagern, die einerseits mit Hilfe der Sprache,  i h r e r  Sprache, des Jiddischen, mit Gedichten und mit Liedern,  gegen die erst alltäglichen Demütigungen, dann gegen die äusserste Entwürdigung, gegen die – scheinbar rechtmässige, scheinbar unabwendbare – Vernichtung ihrer selbst aufstanden, die sich andererseits in einem aktiven Widerstand organisierten, wehrten sich nicht für eine Worthülse – ebenso wenig wie nichtjüdische Deutsche, die das System von Lüge und Unrecht durchschauten und dagegen aufstanden, etwa, um nur einzelne zu nennen, die Geschwister Scholl in München oder die Mitglieder des Kreisauer Kreises in Berlin. “Berühr die Worte mit der Hand, denn sie sind Adern. Trittst du nah zur Wand her, dann hörst du es: in ihnen pocht die Wahrheit”, schrieb der Dichter Abraham Suskewer aus Wilna, der als Partisan in den Wäldern Polens überlebt und als Zeuge beim Nürnberger Prozess berichtet hatte, dass “die Blutströme die Strasse entlang liefen, als wäre ein roter Regen herabgekommen”.

Die Klage Hiobs geht über in Aufschrei und Aufstand. Das Protestlied Mordechai Gebirtigs, das dieser nach dem Pogrom von Przytyk im Jahr 1938 schrieb, gibt davon Zeugnis: “Steht nicht, Brüder, guckt und jammert, und verschränkt die Händ, steht nicht, Brüder, löscht das Feuer – unser Städtl brennt!” Gebirtig wurde 1942 bei der Deportation aus dem Krakauer Getto erschossen. Seine Gedichte und Lieder, wie diejenigen von Lajzer Ajchenrand, von Pessach Kaplan, von Herschele, von Mirjam Ulinower, von Kadja Molodowski, von Kalman Lis, von Hinde Nejman, um nur einige wenige der vielen Stimmen zu nennen, sind alle Ausdruck des Protests: gegen die Vernichtung von Lebenshunger, von Lebensfreude, von Liebe und Zusammenleben, von Menschenleben, von Gemeinschaft und Kultur. Es war der Protest, der es vermochte, selbst unter den erniedrigendsten Umständen der verletzten Würde Ausdruck zu geben, ob in den Partisanenliedern, ob in Gebeten und Liebesliedern. Was die 18jährige Selma Meerbaum-Eisinger aus Czernowitz 1941 schrieb, ein Jahr vor ihrem Tod im Arbeitslager Michailowska, gilt stellvertretend für alle: “Ich möchte leben. Ich möchte lachen und Lasten heben und möchte kämpfen und lieben und hassen und möchte den Himmel mit Händen fassen, und möchte frei sein und atmen und schrein. Ich will nicht sterben. Nein! – (…) – Das Leben ist bunt. Du willst mich töten. Weshalb? Aus tausend Flöten weint der Wald.”

Was die “Würde” der Menschen ist, weiss jede und jeder einzelne von uns für sich selbst, spürt es, ohne dass “Würde” geschildert oder beschrieben werden könnte. Denn das unverzichtbar Wichtigste, eben die Würde der Menschen,  z e i g t  sich gerade in diesem Wissen, das – nicht zuletzt –  Ausdruck findet im Widerstand gegen  die Entwürdigung,  z e i g t  sich im Widerstand und als Widerstand gegen die – subtile, alltägliche oder totale –  Zerstörung der Würde.

Daher ist die Frage, ob uns dies alle noch etwas angeht, ob dies nicht alles Geschichte ist, die uns zwar noch aufwühlt, die jedoch Jahrzehnte zurückliegt, überhaupt gar nicht zu stellen.

Nur wenige Reisestunden von uns entfernt, im ehemaligen Jugoslawien, ist Krieg, ein entsetzlicher Krieg. Erneut siegen faschistische und nationalistische Propaganda, Waffengewalt und zynisches Machtkalkül mit Hilfe verführbarer und willfähriger Menschen. Erneut werden Menschen durch andere Menschen scheinbar straflos auf gemeisnte und brutalste Weise erniedrigt, gequaält und getötet. Und erneut macht sich das Ausland mitschuldig durch Gleichgültigkeit  und durch geheime Komplizität.

Auch die Schweiz? Sie geniert sich nicht, Zwangsrückschaffungen von Menschen in ihr Land, in dem Krieg, lebensbedrohende Verfolgung, Gewalt und Not diese zur Flucht – und zur Zuflucht in unser Land – zwangen, als “Ausschaffungen in Sicherheit und Würde” zu deklarieren. Der Begriff wird in Staatsverträgen ebenso verwendet wie in der alltäglichen Behördenpraxis. Er wird, selbst in kritischen Medien, nicht einmal mehr in Anführungszeichen gesetzt. Der Missbrauch des Begriffs wird stillschweigend akzeptiert und alles, was damit einhergeht: Festnahme auch unbescholtener, aber eben unerwünschter AusländerInnen und Ausländer durch die Polizei, Handschellen, Inhaftierung und Zwangsverschickung, trotz verzweifeltem Widerstand und trotz tiefer und begründeter Angst vor Verfolgung und Repression, trotz der bei uns bekannten Schwierigkeit, in Kosova oder Kurdistan oder in Zaire oder Sri Lanka  ein menschenwürdiges Leben zu leben. Dies heisst bei uns “Rückschaffung in Sicherheit und Würde”, wir haben die nötigen Gesetze, die dies erlauben, sowohl in jenen einzelnen “guten” Fällen, wo die sichere Rückkehr ins heimatliche Dorf und ins soziale Netz, das vor der Ausreise bestand, gewährleistet ist, wie in den anderen, wo auf die Abschiebung nichts wie grosse politische und existentielle Unsicherheit und Not folgen.

Die Würde der Menschen ist antastbar, auch bei uns.

Allerdings zeigt sich dagegen auch bei uns Widerstand. Fremde, mit ihren Kindern und übrigen Angehörigen, die trotz aller besserwisserischen Beamtenentscheide in ihrer Heimat an Leib und Leben gefährdet sind, werden in Kirchen und bei Privaten versteckt und vor der “Ausschaffung” geschützt, wochenlang, monatelang, all dies jedoch im Wissen um die Ohnmacht des Widerstands. Die Briefe an die obersten Behörden bleiben ohne Antwort, die Gesetze behalten ihre Kraft und werden gar noch verstärkt, unbescholtene, aber unerwünschte Fremde werden weiter in “Würde”, das heisst in Handschellen ausgeschafft.

Gleichzeitig werden in der Schweiz Volksbegehren lanciert, mit denen offen rassistische und fremdenfeindliche Gefühle demonstriert und als “patriotische” Anliegen ausgegeben werden: eine Initiative, die anstrebt, dass bei illegaler Einreise jedes Asylgesuch unmöglich sein soll und dass die Beschwerdemöglichkeiten der Asylsuchenden generell beschränkt werden sollen; sodann ein Referendum gegen einen vom Parlament  beschlossenen Artikel im Strafgesetzbuch, dank dem rassistische Vergehen sowie Leugnungen der nationalsozialistischen Verbrechen bestraft werden können. Für solcheVolksbegehren wird die Demokratie missbraucht. Dass die gleichen Parteien, die sich dieses Missbrauchs bedienen, sich um die wachsende Jugendarbeitslosigkeit  keinen Deut scheren, dass die damit verbundene Zukunftslosigkeit und Verelendung ihnen gleichgültig ist, dass sie diese jedoch umgekehrt benutzen, um Stimmung gegen die Fremden zu schüren, all dies hindert Menschen, die selbst zu den Benachteiligten gehören, nicht daran, diesen Parteien ihre Stimme zu geben.

Ich frage mich, wie dies möglich ist, wie es möglich ist, dass sie sich so sehr täuschen und missbrauchen lassen, dass sie sich  durch willkürlich geschaffene Feindbilder verführen lassen. Wie es möglich ist, dass sie einer bestimmten Presse glauben, die sie mit Schlagzeilen abspeist, die mit kreischenden Titeln und Bildern ihre Vorstellungskraft abstumpfen lässt, die ihre Gefühle grob und stumpf werden lässt. Ich frage mich, wie es möglich ist, dass sie sich freiwillig verdummen und verrohen lassen, dass sie dafür noch zahlen. Dass sie nicht einsehen, dass sie damit in ihre eigene Entwürdigung einwilligen.

Verrohung, Gefühlskälte und Beliebigkeit haben heute ein unerträgliches Ausmass angenommen. Ich denke, dass es dringlich ist, dass wir dagegen aufstehen. Es darf doch nicht sein, dass unsere Kinder einmal sagen, wir hätten das geduldet und zugelassen, wir hätten die Möglichkeit, ihnen ein Beispiel zu sein, verpasst. Es ist überdringlich, dass wir  gegen die subtile und offene Entwürdigung von Menschen unter uns protestieren, dass wir einander dabei Mut machen, dass wir einander mit Wärme und Humor, mit Unmissverständlichkeit und Hartnäckigkeit unterstützen. Dass wir uns einfach nicht daran gewöhnen, dass die einen Menschen Rechte haben und die anderen keine, dass die einen Menschen für sich beanspruchen, im Zentrum zu sein und daher die Ausgrenzung  anderer als “normal” hinstellen, dass die einen die anderen aus Machtkalkül, aus Parteieninteressen schlecht machen und an den Rand – oder über den Rand hinaus – drängen dürfen, ob es die Fremden seien oder die Drogenabhängigen beim Bahnhof Letten oder anderswo, ob es die Kinder oder die Jugendlichen oder die Frauen seien, ob es die sogenannt Unangepassten seien, ob es Asylsuchende oder Arbeits- und Glücksuchende seien, ob es alte und fürsorgeabhängige Menschen seien – all deren “Würde” muss doch ebenso unantastbar sein wie die von Menschen, die sich im “Zentrum” wähnen, die über Macht verfügen und sich unantastbar vorkommen. Würde kommt doch entweder allen Menschen zu, weil sie Menschen sind, oder keinem.

Daher, meine ich, ist Widerstand gegen Entwürdigung heute zu leisten, tagtäglich, als etwas kaum Nennbares, aber als unaufschiebbar Wichtiges. Dieser Widerstand zeigt sich in allen Formen des Zusammenlebens: immer in der Absage an jede Komplizenschaft mit Unrecht, das sich als Recht ausgibt.

 

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