Gewalt, Gesellschaft, “Geschlecht” etc. – Täter und Opfer – Heilungsmöglichkeiten

Gewalt, Gesellschaft, Geschlecht etc. – Täter und Opfer – Heilungsmöglichkeiten

Podiumsgespräch peacebrigades, 10. September 2008 / Karl der Grosse, Zürich

 

Dass in der Tierwelt die Starken die Schwachen, die Stärkeren die Schwächeren jagen und hetzen, unterwerfen und töten, instinktmässig, gnadenlos, häufig qualvoll, wird als Beweis für die Grausamkeit animalischer Triebhaftigkeit erklärt. Gewalt wird als notwendiges Mittel zum Zweck des Überlebens beurteilt, als Ausdruck triebhafter Rationalität, die der Tierwelt eigen sei. Die Tatsache weckt Ängste, auch in der Menschenwelt, schon bei Kindern. Die Vorstellung, selber das schwächere Tier zu sein und der Gewalt des stärkeren nicht entkommen zu können, ihr ausgesetzt zu sein, hilflos und wehrlos, lässt vor Schrecken erstarren. In albtraumhaften Vorstellungen scheint kein Entrinnen möglich zu sein. Mythologische Dokumente, Sagen und Märchen wie Der Wolf und sieben Geisslein, Rotkäppchen und der Wolf u.a.m. machen deutlich, wie animalische Grausamkeit in Menschengestalt seit Generationen zum Zweck der Einschüchterung benutzt wurde. Doch angstbesetzte Vorstellung bedeutet noch keinen Schutz, im Gegenteil. Das von zwei Hunden – von Hunden aus menschlichem Beziehungsgeflecht – zum Tod zerfleischte Kind macht die Frage nach den Ursachen von Gewalt noch dringlicher.

Tatsache ist auch, dass in der Tierwelt Gewalt keineswegs tägliche Realität ist. Es bestehen grosse Unterschiede im Beziehungs- und Machtverhalten der Tiere untereinander so wie im Verhalten gegenüber Menschen. Selbst im karnivoren Teil der Tierwelt findet sich Gewalt nicht ausschliesslich; die Pinguine mögen ein Beispiel sein. Schutz und Fürsorge für Kinder, für Schwächere und für Verletzte wird in den nicht-karnivoren Teilen der Tierwelt meist mit grosser Selbstverständlichkeit durch die Stärkeren umgesetzt, ohne Gebote und ohne Gesetze. Anzunehmen ist, dass es auf Grund einer moralischen Triebhaftigkeit geschieht, entsprechend einer inneren Verpflichtung, die ohne Zweifel in der Seele (gr. psyche) der Tiere dem Wert von Solidarität oder von Reziprozität entspricht und die sich fortsetzt, weil sie erlebt wurde.

Die Frage stellt sich nach den Kriterien menschlichen Verhaltens. Zivilisation und Kultur, religiöse, staatliche und gesellschaftliche Ordnung gelten seit Jahrhunerten als Bestreben, die Gewalt im Zusammenleben zu bändigen und zu kontrollieren, wieder nach Kriterien der Rationalität. Ob jedoch Kontrolle, Aufschub und Sublimation der triebhaften, animalischen Kräfte im Menschen, der aggressiven wie der sexuellen, individuell gelingen, hängt von vielem ab. Die Auseinandersetzung um Macht und Recht im Bestreben, Gewalt als Unrecht zu erklären, wurde zu einer Fortsetzung theoretischer Erkenntnis- und Denkarbeit, die bis heute wenig Einfluss auf das Zusammenleben der Menschen erreichen konnte. “Die Eitelkeit der Zivilisation ist aufsässiger als der Hochmut der Barbarei”, hielt Benjamin Constant 1814 in seinem Werk Sur la violence fest, und seither ist die Gewalt, mit allem, was Fortschritt beinhaltet, ins Ungeheuerliche angewachsen. Freuds Aufsatz von 1929/30 über Das Unbehagen in der Kultur spannt dazu einen weiten Bogen, der jedoch nicht genügt, trotz der prophetischen Warnung, die er enthielt. Der menschliche Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb, den Freud immer wieder thematisiert, erklärt noch nicht die wirtschaftsideologisch programmierte Bagatellisierung und systematische Umsetzung von Gewalt, wie sie sich seit der Industrialisierung entwickelt hat, wie sie durch den Ersten Weltkrieg konkretisiert wurde, wie sie durch den Zweiten Weltkrieg ins Masslose weiterentwickelt wurde und nun durch die technologische Fortsetzung dessen, was als Fortschritt erklärt wird, durch die digitalisierte aktuelle Kommunikation, welche auch die Medien beherrscht, die Vorstellungskraft in die Virtualität abgleiten lässt, in welcher jede Art von Gewalt überhand nimmt.

Der Mangel an kritischem Denken und an sozialpolitischem Mut angesichts einer wachsenden Akzeptanz von Gewalt, die einhergeht mit einer wachsenden Verminderung des Respekts der Rechte von Kindern, Frauen und Männern gesellschaftlich unterschiedlicher Herkunft, kann nicht vor allem mit „wachsendem und zunehmend belastendem Schuldgefühl” in Zusammenhang stehen, wie Freud zu erklären versuchte. Tatsächlich ist die Menschheitsgeschichte bis heute geprägt durch ständige Fortsetzung individueller Gewalt, die oft im Namen von nationalen und ideologischen – von religiösen, politischen und wirtschaftlichen, rassistischen und ethnischen – Begründungen zum Zweck kollektiver Gewalt als notwendig und als legitim erklärt wird. Ideologien und staatliche Gesetze oder offizielle Funktionen sind Vorgaben, wie Uniformen, welche benutzt werden, um andere, schwächere Menschen zu Objekten individueller Gewaltbedürfnisse zu machen. Auferlegte Trennung von wichtigen Bezugspersonen, Erniedrigung, Angst und Entsetzen, Hunger, Durst und Schmerz, jede Art von  körperlichem und seelischem Leiden anderer Menschen, selbst unbekannter Kinder und Frauen, wird von unzählbar Vielen zur Bestätigung der persönlichen Macht, resp. zur Stärkung des eigenen, schwachen Ich-Wertes benutzt. Gewalt geschieht im Zusammenleben der Menschen nicht anders wie in Teilen der Tierwelt, nur berechnender, raffinierter und unersättlicher.

Gewalt wie sie in Diktaturen und Kriegen tägliche Realität ist, bis in die jüngste Vergangenheit und Gegenwart hinein, auch hier in Europa, ist die eine Tatsache, die immer wieder fassungslos macht. Die andere Tatsache besteht in der Erklärung des Gewaltmonopols des Staates überhaupt – auch des demokratischen Staates – sowie der strukturellen und funktionalen Ausübung von Gewalt durch Personen, an welche im Rahmen von Bürokratie, Militär, Polizei, Gerichtswesen, Strafvollzug etc. quasi das Recht zur Gewalt delegiert wird, an Männer und an Frauen, die sich oft – nicht immer – ihrer Funktion bedienen, um sie zum Zweck des persönlichen Machthungers anderen, schwächeren Menschen gegenüber umzusetzen. Was in der eigenen Kindheit an Mangel erlebt wurde, wird durch Ausübung von Macht und Gewalt Schwächeren gegenüber kompnesiert. Da die westliche Gesellschaft – auch jene der Schweiz – seit Jahrhunderten patriarchal und hierarchisch (gr. hieros – heilig) strukturiert ist und daher Rang und Geschlecht, Status und Funktion mit einer Differenz menschlichen Wertes verbindet, wird diese Wertedifferenz als richtig und als notwendig erklärt, wie dies erneut die jüngsten Entwicklungen im schweizerischen wie im gesamteuropäischen Asyl- und ausländerrecht, im Zivilrecht und Sozialrecht, im Strafrecht usw. beweisen. Gewalt ist trotz Aufklärung, trotz Fortschritt und trotz  Modernisierung in der Gesetzgebung eine atavistisch vorgeprägte, ständige Tatsache. Selbst die 1948 nach dem Zweiten Weltkrieg zustande gekommene Erklärung der Menschenrechte als oberste, normative Verbindlichkeit aller Nationen, aller Gesetze und deren Umsetzung hat die Ausübung von Gewalt nicht aufs geringste beigelegt.

Da gesetzlich geregelte Institutionen wie die Ehe, die trotz der 1971 erfolgten rechtlichen Gleichstellung der Frauen nach wie vor ein institutionalisiertes Geschlechterverhältnis bedeutet, ebenso wie Elternschaft und Familiensystem mit noch immer ungenügend respektiertem Kinderrecht, wie Religionsgemeinschaften, Schulen, Angestelltenverhältnisse in Firmen, in Polizeicorps und Armeen, in Verwaltungen und Spitälern etc. offiziell hierarchisch beglaubigte Verhältnisse sind, in welchen sich – quasi legitime – Gewaltgefälle konstituieren, wirken sich auch in ihnen vielfache Erniedrigungen untergeordneter Menschen durch übergeordnete als gewöhnliche, beinah reguläre Tatsachen aus, gegen welche auf rechtlicher Ebene kaum vorgegangen wird. Dazu kommt die seit Jahrzehnten wachsende Diktatur der Wirtschaft, die mit grösster Schonungslosigkeit über Erwerbsarbeit und Erwerbslosigkeit, damit über Existenzwert oder Existenzwertlosigkeit eines Grossteils der Menschen entscheidet, mit erniedrigenden Folgen für junge Menschen mit geringeren Ausbildungsmöglichkeiten, für ältere und geschwächtere Menschen sowie für jene im Asyl- und AusländerInnenbereich. Zunehmend erschreckt – wie ich schon erwähnt habe –  die wachsende Propaganda und dadurch Bagatellisierung von Gewalt durch die digitalisierten Medien, durch Internet, CD’s, Video Games, Fernsehfilme, Filme u.a.m., durch welche vorgegeben wird, dass durch das Ausüben von Gewalt die Angst vor Gewalt korrigiert werden könne, oder dass Erfahrung von Gewalt nicht nur zum Alltag gehöre, sondern Voraussetzung sei, damit Kinder heldenhafte Erwachsene würden. Die Harry Potter-Filme sind nur ein Beispiel für die Vermischung von Wunschbildern heldenhaften Lebens mit Gewalt.

Für jede Art von psychischer, körperlicher oder struktureller Gewalt, für jede Art von menschlicher Erniedrigung, von beruflicher oder arbeitsmässiger Entwertung, letztlich von Infragestellung des Existenzwertes werden – falls nicht eine gute psychische Verarbeitung möglich ist – von den Betroffenen Projektionsobjekte gesucht, auf welche Wut und Hassgefühle übertragen werden können, da dies den Verursachern gegenüber nicht möglich ist. Zum Projektionsobjekt kann das Opfer sich selber machen – oder es sind Lebewesen, die schwächer sind. Bei Polizeiuntersuchungen und in Gefängnissen, auf der Strasse und in Hinterhöfen, in Büros und in Fahrzeugen, in Sportvereinen und Schulen, selbst in Praxen und Psychiatrien findet ein Ausmass und eine Häufung unterschiedlicher Gewalt statt, die zu einem grossen Teil verborgen bleibt – so wie jene in den Familien. Gewalt ist allgegenwärtig – strukturell und instrumentell, psychisch und körperlich,  sexuell wie brachial.

Die transgenerationelle Wiederholung von Gewalt und von Leiden ob erlebter Gewalt mag die Frage wecken, ob Resignation angezeigt sei. Es könnte scheinen, als gäbe es keine andere Möglichkeit. Doch dem ist nicht so.

Jede Art von Resignation bedeutet Unterwerfung unter Gewalt, und jede Unterwerfung bewirkt, dass Gewalt als unüberwindbar erscheint. Ist daher grössere Härte gegenüber Gewalttätern gefordert, um Gewalt aufzuheben, wird gefragt, so wie in der jüngsten Zeit von den westlichen und den östlichen Regierungen vorgegeben wird, durch Antiterrorgesetze und Antiterrorstrafmassnahmen jede Art von Terror zu sistieren? Doch Terror und Antiterror basieren auf der gleichen Verachtung menschlichen Lebenswertes, basieren auf Gewalt. Gewalt kann nicht allein durch Verbot und Bestrafung aufgehoben werden.

So stellt sich die Frage noch eindringlicher, was es braucht, um Gewalt zu mindern. In gesellschaftsanalytischer und psychoanalytischer Hinsicht ist es klar, dass jede Art von Gewalt auf die Vorgeschichte der Gewalt, auf deren Ursachen und Gründe hin befragt werden muss. Im traumatherapeutischen Prozess – lat. “procedere” – ist daher die anamnestische Arbeit immer auch mit der Suche nach dem inneren Halt verbunden, welcher die Aufarbeitung von – psychischen und physischen – Mangelerfahrungen, von Gewalt, Verlust und Kälte zulässt. Wenn dieser innere Halt fehlt, setzt sich Leiden in weiterem Leiden und in neuer Gewalt fort, oft – wie die Fallbeispiele belegen-  in transgenerationellen Wiederholungen, so dass unter nicht mehr tragbarer Last und Wut aus Opfern Täter – auch Täterinnen – und erneut Opfer, immer wieder Opfer werden.

Trotzdem, obwohl Herkunft und Zeit, in welche ein Mensch hineingeboren wird, nicht gewählt werden können, gibt es keine Unausweichlichkeit in der Geschichte, keinen unbedingten Zwang zur Wiederholung von Gewalt, die von früheren Generationen als Opfer oder als Täter erlebt wurde. Die individuellen wie die familiären wie die grösseren kollektiven Geschichten sind veränderbar. Sie können jedoch nur dann eine Veränderung finden und sich nicht weiter wiederholen, wenn die Geschichte mit Bedacht und Umsicht aufgearbeitet werden kann. Dazu bedarf es in persönlicher Hinsicht einer Bereitschaft zu verstehen, die häufig erst unter dem Druck des Leidens erwächst. Hierin liegt die therapeutische Chance für Opfer wie für Täter und Täterinnen. Und in sozialer und kultureller Hinsicht bedarf es anderer rechtlicher Bedingungen der Sorgfalt, damit eine “Heilung” kranker Verhältnisse auf nachhaltige Weise möglich wird (nicht von ungefähr haben “Therapie” und “Kultur” etymologisch eine ähnliche Bedeutung).

Das Zusammenleben der Geschlechter und der Generationen kann allerdings nur dann angstfreier und gerechter werden, wenn Gewalt in keinem System mehr, auch nicht in jenem der Wirtschaft, zum “courant normal” gehört oder gar verherrlicht wird. Menschen dürfen nicht austauschbar gemacht werden wie Ersatzteile einer Maschine, sie dürfen –  ob aus Gründen der Profitsteigerung, ob aus versicherungstechnischen Gründen oder ob aus irgend welchen anderen – weder für unnütz noch für überflüssig erklärt werden. Wenn Ethik überhaupt noch verbindliche Massstäbe setzen kann, muss diese Maxime allen anderen übergeordnet werden. Es bedarf eines gemeinsamen Widerstandes von Frauen und Männern gegen die Unerträglichkeit systematischer Menschenverachtung und Menschenausbeutung, es bedarf eines kritischen und kreativen Denkens. Es bedarf der Rehabilitation des Subjektwertes aller Menschen in der wechselseitigen, vielfachen Abhängigkeit von einander. Der Leidensdruck ist in der aktuellen Zeit nicht nur gewachsen, sondern auch bewusster geworden.

Die Frage, was es braucht, damit Gewalt in der Fortsetzung von Gewalt in der ganzen Sinnlosigkeit durchschaut und erkannt werden kann, kann nur beantwortet werden, wenn der Verzicht auf Gewalt als Gewinn menschlicher Freiheit und als Voraussetzung eines Zusammenlebens ohne Angst und ohne sinnlos zugefügtes Leiden erlebt werden kann, letztlich wenn Menschen einsehen, dass sie aus der transgenerationellen Gewalt und aus der Abfolge von Rache und Leiden aussteigen dürfen und können, dass sie der Gewalt nicht mehr bedürfen.

Von zentraler Bedeutung ist gewiss, mit dem kritischen Hinterfragen und der Dekonstruktion der dualen hierarchischen Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit wie von übergeordneten und untergeordneten Kriterien menschlichen Wertes, die leider auch durch die monotheistischen Religionen über alle Jahrhunderte hinweg verstärkt wurden, die gesellschaftlichen Verhältnisse und damit die politischen Gesetze so zu verändern, dass der gleiche menschliche Wert in allen alltagspraktischen Zusammenhängen umgesetzt werden kann. Es ist anzunehmen, dass reale Veränderungen im öffentlichen Rahmen sich auf positive Weise auch im häuslichen Rahmen auswirken. Als reale Veränderung würde vor allem gelten, dass das gleiche Recht aller Menschen auf Erfüllung der gleichen Grundbedürfnisse anerkannt und umgesetzt wird. Die menschlichen Grundbedürfnisse sind geschlechter- und statusunabhängige Bedürfnisse, deren Erfüllung die Voraussetzung ist für die Erfahrung gewaltfreien Zusammenlebens. Meines Erachtens sind die von Freud erarbeiteten Erkenntnisse des Aggressionstriebs – überhaupt der menschlichen Triebhaftigkeit – durch jene der Grundbedürfnisse zu ersetzen.

Ich fasse zusammen: Zielsetzung allen analytisch-traumatherapeutischen Erkennens ist zu verstehen, dass für jeden Menschen – für Opfer wie für Täter – eine neue Erfahrung von Subjektwert ermöglicht, die Erfahrung leidvoller Objekterfahrung so zu verarbeiten, dass für die weitere Existenz  Wahlmöglichkeiten bestehen, durch welche erlebte Gewalt nicht der Fortsetzung bedarf. Dazu gehört aufzuzeigen, dass Gewalt als Gegengift zur eigenen Ohnmachtserfahrung potentiell immer verfügbar ist, um als Kompensation eigener Schwäche an Schwächeren ausgeübt zu werden, dass Gewalt jedoch nicht ausgeübt werden

m u s s , sondern unterlassen werden kann – unabhängig von Geschlecht, Alter, Herkunft und Stellung. Gewaltverzicht ist ein Beweis grösserer Freiheit. Genesung von den Folgen durchgestandener Traumata infolge von Gewalt ein  Prozess persönlichen und zwischenmenschlichen Subjektwertes, der die transgenerationelle Geschichte korrigiert.

 

 

 

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