Hommage an Jolana Gross

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Hommage an  Jolana Gross

 

Am 15. Juni 2011 ist Jolana Gross im Hugo Mendel-Heim in Zürich für immer eingeschlafen, wenige Wochen nach ihrem hundertsten Geburtstag. Sie hatte diesen mit wachem Geist im Kreis ihrer Familie erlebt, deren Mitglieder sich aus allen Teilen Europas und aus noch grösserer Distanz eingefunden hatten, um gemeinsam mit ihr den Tag zu feiern – einen Tag der herzlichen Verbundenheit und zugleich, ohne dass es von ihr ausgesprochen worden wäre, des Abschieds.

Nie hätte sich Jolana Deutsch in den Kinderjahren in Bratislava vorstellen können, anderswo zu leben als in dieser alten Stadt an der Donau, ausser vielleicht noch in Wien, der Herkunftsstadt ihrer Mutter. Geboren am 22. Mai 1911 kannte sie wie ihre zwei jüngeren Schwestern noch den späten Schimmer jenes „goldenen Zeitalters der Sicherheit“, wie Stefan Zweig es genannt hatte, trotz der Armut und Schlichtheit der elterlichen Verhältnisse. Die innerfamiliäre Geborgenheit liess Raum dem Offenen und Schönen, dem Lesen von Büchern, Spaziergängen am Ufer der Donau, Eisenbahnfahrten nach Wien zu den lebensfrohen Verwandten der grossen Barnhegy-Familie wie auch dem Strauss Flieder, den Jolis Mutter Jahr für Jahr am Geburtstag ihrer Tochter frühmorgens vom Markt nach Hause gebracht hatte.

Der Vater war gegen Ende des Ersten Weltkriegs eingezogen worden – Joli erinnerte sich an seinen abwesenden Blick, als sie ihn mit der Mutter in einer Kaserne hatte besuchen können -, aber er kehrte wieder zurück, körperlich geschwächt, still und fromm, und das Leben ging weiter. Unter den politischen Bedingungen der seit 1918 bestehenden Tschechoslowakei lebte die jüdische Bevölkerung in Bratislava damals ohne besondere Diskriminierungen. Joli konnte die Schulen besuchen, auch das Handelsgymnasium und dieses abschliessen, sie fühlte sich sicher. Doch allmählich geschahen Veränderungen, die sie aufwühlten. Als junge Erwachsene, die mit ihrer Kenntnis von Stenographie und Buchhaltung sowie zahlreicher Sprachen – zusätzlich zu Deutsch auch Ungarisch, Slowakisch und Tschechisch, Französisch und Englisch – schnell eine Stelle als Daktilographin in einer jüdischen Fabrik fand, musste sie erleben, wie ihre Mutter, die neben dem Haushalt noch Kleider nähte und ein Geschäft führte, strickte und gleichzeitig las, an Krebs erkrankte und ein Jahr später starb. Die drei Töchter lebten mit dem Vater zusammen, in grosser Nähe zu dessen zwei unverheirateten Schwestern, die als Schneiderinnen arbeiteten.

Ab 1938 wurden die Verhältnisse zunehmend ungewisser und bedrohlicher, die radikal-faschistischen Kräfte nahmen überhand. In Österreich war Mitte März mit dem Einmarsch der deutschen Truppen der Anschluss an Deutschland zur bedrückenden Tatsache geworden. Eine der Tanten aus Wien – Hermine Lichtenstein-Barnhegy – kam mit ihrer Familie nach Bratislava, nachdem Dutzende von Familienmitgliedern ins Ungewisse abtransportiert worden waren und nicht zurückkehrten. Doch die Slowakei – nun Slowakische Republik – bot keine Sicherheit mehr;  sie war nach heftigem politischem Kräftemessen im Frühjahr 1939 mit Jozef Tiso als Ministerpräsident und wenige Monate später als Staatspräsident zum deutschen „Schutzstaat“ erklärt worden, dank Hitlers „Wohlwollen“, wie es hiess – für diese Familie bloss eine Zwischenstation bis zur Deportation, die ihr kein Überleben ermöglichte. Jolis Cousin Fredy hatte sich vor der Gefangennahme durch die Gestapo selber das Leben genommen, der Cousine Lily begegnete sie einmal flüchtig in Auschwitz und nachher nie mehr.

Die Gesetze zur Entrechtung und Enteignung der jüdischen Bevölkerung verschärften sich von Woche zu Woche. Anfang 1940 wurde auch die Fabrik, in der Joli angestellt war, arisiert. Adolf Deutsch und seine drei Töchter wurden in ein einziges Zimmer umquartiert. Ein Gesuch Jolis um ein Ausreisevisum nach England, wo sie als Kindermädchen hätte arbeiten können, wurde abgelehnt. Die „völlige Lösung des Juden-Problems“ in der Slowakei war mit dem „Juden-Kodex“ von 1941 programmiert worden. Als Folge hatten bis Mitte Mai 1942 schon 28 Transporte mit je 1000 Menschen in „Arbeitslager“ stattgefunden, bis zum 20. Oktober des gleichen Jahren 29 weitere Transporte, insgesamt über 60‘000 Jugendliche und Erwachsene. Auf einer der Listen für den Abtransport von 1000 „gesunden, unverheirateten Frauen“ stand im Spätherbst auch der Name von Jolana Deutsch, von Uniformierten eines Abends an der Wohnungstüre als Befehl vorgebracht. Knappe drei Stunden später musste sie sich am Stadtrand von Bratislava in einer alten Fabrik registrieren lassen. Ihr Vater begleitete sie bis zum Eingang. Das war das letzte Mal, dass sie ihn sah.

Dass in der Slowakei wenig später, ab Oktober 1942, eine Art Aufschub der Verfolgungen war und bis August 1944 andauerte, dass die jüngste Schwester Chari – Charlotte – mit ihrem Ehemann in die Tatra fliehen konnte und dort von der Bevölkerung geschützt wurde, dass aber im Spätsommer 1944, nachdem ein nationaler Aufstand versucht worden war und die deutsche Armee das Land besetzt hatte, mit neu einsetzenden Deportationen auch ihr Vater und Margit, die mittlere Schwester, in Ausschwitz eintrafen, dass der Vater gleich getötet wurde, während Margit überlebte – all dies erfuhr Joli erst nach und nach.

Bruckstückhaft tauchten die Jahre in Auschwitz und Birkenau in ihrer Erinnerung auf, nichts konnte vergessen gehen, was sie erlebt hatte, doch alles war ausserhalb des Zeitgefüges, war Teil und Teil und Teil eines dunkeln  und zugleich grellen Mosaiks der Entmenschlichung in der  Brutalität und Aussichtslosigkeit der abgeschotteten Lagerwelt – die eingravierte Nummer im Arm, die Hierarchie der Uniformierten, die fortgesetzten Schreistimmen der Befehle und stundenlangen Kontrollen, die Tag und Tag geforderte Sklavenarbeit, die eigene Erschöpfung, die Tatsache der vielen Anderen in der Baracke, der Entkräfteten und Sterbenden, der zum Vergasen Abtransportierten, die konstante Angst und Abstumpfung, die Unausweichlichkeit, die Aussichtslosigkeit. Nicht Bitterkeit kam bei ihr zum Ausdruck, doch Trauer und Traurigkeit, Fragen nach dem Warum, ein Entsetzen, dass Menschen zum grössten Ausmass an Unmenschlichkeit fähig sind, manchmal ein Unverständnis,  dass viele sich heute noch weigern, davon Kenntnis zu haben, immer wieder ein Staunen, dass Überleben möglich war.

Mit der Erinnerung an das kaum Aussprechbare des Grauens ging bei Joli jene an die gleichzeitig erlebte, geheimnisvolle Kraft der Freundschaft einher, die ihr ermöglicht hatte, sich der Verlorenheit entgegen zu stellen. Vier junge Frauen aus verschiedenen Teilen der Slowakei hatten, als sie in Auschwitz aus den Transportwagen ausgestiegen waren, unter einander Blickkontakt aufgenommen, sich hintereinander eingereiht und waren der gleichen Baracke zugeteilt worden. Jede einzelne war für die drei anderen eine unterstützende Gegenwart – Joli war mit 31 Jahren die älteste -, und wenn eine von den vier vor Erschöpfung nicht mehr mochte, wurde sie in die Mitte genommen. Von der je persönlichen Vorgeschichte der Anderen wussten sie wenig, zum Erzählen fehlten Musse und Energie. Von Bedeutung war ausschliesslich, einander Tag für Tag in der Trostlosigkeit nicht im Stich zu lassen, nicht in der grössten Kälte oder Hitze, nicht angesichts von Gewalt und Quälereien, nicht angesichts der rauchenden Kamine, nicht angesichts der Tatsache, dass der Tod des eigenen Vaters und der geliebten mütterlichen Verwandten nicht hatte verhindert werden können. Die vier Frauen hatten zusammen ein Lied gedichtet, das der Sehnsucht nach dem früheren Leben und nach den verlorenen Lieben, gleichzeitig der Unbarmherzigkeit von Auschwitz Ausdruck gab und das jede mit sich trug wie das Testament der anderen. Alle vier überlebten. Gemeinsam hatten sie nach dem Einmarsch der russischen Armee Ende Januar 1945 auch die letzten Monate von Hitlers Herrschaft durchgestanden, in Viehwagen nach Gross-Rosen, nach Mauthausen und schliesslich nach Bergen-Belsen, wo der Tod den völlig Entkräfteten – wie damals Joli – am nächsten auflauerte. Wieder war es die Achtsamkeit der drei anderen Frauen, die sie rettete.

Als der Krieg zu Ende war und die vier Freundinnen über Prag nach Bratislava zurückkehrten, dann sich in verschiedene Weltregionen verstreuten, zum Teil andere Überlebende heirateten mit Söhnen oder Töchtern, deren Mütter nicht überlebt hatten, zum Teil nach wenigen Jahren einer Krebserkrankung erlagen, da blieb die Freundschaft wach, mit Brief- und Telefonaustausch, wenn möglich mit Besuchen, zunehmend in kleiner werdendem Kreis. Von den vier Frauen war Joli allmählich die letzte Überlebende und setzte mit den wachen, nicht verglimmenden Erinnerungen, mit dem leisen Erwähnen der Namen der Verstorbenen – Muli, Margit, Suska –  das Gedenken an deren Nähe fort, auch die Nähe der voraus verstorbenen Mutter – sie hiess Gisela – und des ermordeten Vaters sowie der Tanten und Onkel, Cousinen und Cousins, auch jener der viele Jahre nach dem Krieg für immer eingeschlafenen Schwestern.

Allmählich war ein neuer Kreis um Joli angewachsen. Im August 1968, als eine revolutionäre Welle von Prag her auch die stalinistische Slowakei tangierte, kamen sie und Artur Gross, ihr Ehemann, mit nichts mehr wie einem kleinen Koffer und einer Geige zu dessen Sohn und Familie in die Schweiz und fanden hier in Zürich ein Bleiberecht. Während es ihrem Mann erschwert wurde, als Arzt arbeiten zu können, wurde sie dank ihrer Sprachen- und Stenogrammkenntnisse im VSJF gleich gebraucht, und diese Arbeit für Notleidende und für Flüchtlinge setzte sie über Dutzende von Jahren, auch während des düsteren Jugoslawienkriegs und dessen Folgen, bis ins 95. Altersjahr mit grösster Gewissenhaftigkeit fort. Ungezählte erinnern sich ihrer mit Dankbarkeit.

Schmerzhaft, unverständlich und kaum akzeptierbar war für Joli Gross 1974 der tödliche Herzinfarkt ihres geliebten Mannes, der plötzliche Abbruch des gemeinsamen Lebens, schmerzhaft, allein zu sein – und trotzdem nicht allein. Die Angehörigen des Verstorbenen standen ihr zur Seite, wurden ihre Familie und begleiteten sie aufs herzlichste damals und über die Jahrzehnte hinweg – nun schon die dritte Generation -, auch beim beschwerlichen Älter- und Schwächerwerden. Jede und jeden Einzelnen aus diesem grossen Kreis, zu dem  gleichermassen die Angehörigen ihrer Schwestern gehören, liebte sie als ihre kostbarsten Nächsten.

Wach blieb in ihr immer der Wert der Freundschaft, den sie hier in der Schweiz neu und anders erfahren konnte, in gleicher Verlässlichkeit und anderer Freiheit. Oft stellt sich die Frage, ob für sie das Qualvolle der Kriegs- und Lagerzeit, vielleicht auch der Verluste und körperlichen Leiden, ob alles  schwer Belastende durch die Gegenerfahrung der Freundschaft zu einem Teil der Geschichte werden konnte, ob überhaupt die von Aussen geschaffene, menschlich zerstörerische Macht durch die seelisch nährende Kraft der wechselseitigen, liebevollen Aufmerksamkeit besiegt werden kann. Joli Gross-Deutsch wusste die Antwort, und, ohne dass sie diese ausgesprochen hat, setzte sie bis zum letzten Tag das hohe Mass an Verlässlichkeit und Eigenverantwortung um.

 

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