Das Salongespräch – Die dialogische Methode als Basis universitärer Weiterbildung
Buchbeitrag in: Therese E. Zimmermann, Wolfgang Jütte, Franz Horvath (Hrsg.), “Arenen der Weiterbildung”, hep verlag ag, bern 2016, ISBN 978-3-0355-0582-5
Das Salongespräch – Die dialogische Methode als Basis universitärer Weiterbildung
Beitrag zu Arenen der Weiterbildung: Bestand und Zukunft zu Ehren von Prof. em. Dr. Karl Weber
Es war 1996, als erstmals im alten Gartenpavillon der Koordinationsstelle für Weiterbildung der Universität Bern die „Salongespräche am Falkenplatz“ stattfanden. Ab 1998 war auch ich als Dozentin dabei, nachdem ich schon vorher an der Juristischen Fakultät der Uni Bern Lehraufträge in Philosophie und Menschenrechten, Frauen- und Kinderrechten übernommen hatte. Mir erschien wichtig, dass mit den „Salongesprächen“ eine andere Lehrmethode als Basis universitärer Weiterbildung genutzt werden konnte: die dialogische Methode. Für den zweistündigen Denkaustausch, der einmal pro Woche – anfänglich während vier, später während sechs Wochen – angeboten wurde und der sich so fortsetzen konnte, erhielten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den Gesprächen stets vor Beginn des ersten Abends sowohl Vorlesungen wie Textauszüge zugeschickt. Mir erschien angemessen, mit dem Ansatz einer dialogischen Methode bei Denkerinnen der Moderne zu beginnen. Am schmalen, langen Tisch, in dessen Mitte Getränke und kleine Leckereien bereit standen, vertieften wir uns in die Frage, wie diese Frauen aus der deutschen Romantik und aus dem französischen Frühsozialismus mit Widersprüchen umgegangen sind, wie sie ihr kritisches und zugleich kreatives Denken gegen die über Jahrhunderte fortgesetzte Entrechtung und gegen das Gebot zu schweigen umzusetzen begannen. So wurde die Grundlage der aktuellen Salongespräche gewissermassen in Fortsetzung der aufklärerischen Salongespräche in Berlin und in Paris geschaffen. Und so setzten sie sich auch mit dem Wechsel vom Gartenpavillon in die Vorlesungsräume der UniS fort, dem ehemaligen Frauenspital an der Schanzeneckstrasse. Eine grosse Anzahl von Frauen und Männern aus allen Sparten wissenschaftlicher, künstlerischer und sozialer Berufe, die in den ersten Jahren das Angebot des denkerischen und erkenntnismässigen Dialogs kennen gelernt hatten, setzten diesen weiter fort bis in die jüngste Zeit. Immer wieder meldeten sich neue an und die Gesprächs- und Studiengruppen verdoppelten und erweiterten sich.
Als persönlichen Beitrag zur Ehrung von Prof. Dr. Karl Weber auf die Salongespräche einzugehen, diese dialogische Methode universitärer Weiterbildung, bedeutet mir eine Ehre und ein grosses Vergnügen, dankbar für dessen Unterstützung dieser besonderen Form wissenschaftlicher Arbeit in Philosophie sowie in psychoanalytischen und gesellschaftsanalytischen Erkenntnisprozessen, in welche Natur-, Sozial- und Religionswissenschaften sowie praktische Lebensfragen einbezogen werden, ohne Prüfungsbedingungen und ohne Diplomabschluss für die Teilnehmenden.
„Den Schrank öffnen“
„Könnt ich mich nur den Menschen aufschliessen, wie man einen Schrank öffnet“ (Arendt 2008, 33), wird Rahel Varnhagen-Levin von Hannah Arendt zitiert, die sich während des Philosophiestudiums in Marbach auf deren Tagebücher und Briefe stützte, um nach dem plötzlichen Abbruch der trügerisch-romantischen Liebesgeschichte mit Martin Heidegger nicht im Gefühl der Entwertung oder des kummervollen Schweigens zu verharren. Sie suchte das Gespräch mit ihr, gewissermassen in nachgeholter Teilnahme an den Salongesprächen, die von den emanzipations- und wissenshungrigen Frauen in Berlin geschaffen worden waren, um sich selber und ihren Freundinnen sowie Gelehrten und Künstlern, Schriftstellern und Dichtern aus allen gesellschaftlichen Schichten einen Denk- und Erkenntnisaustausch anzubieten, der die Tabus aufhob und für kurze Zeit eine annähernd geschlechter- und standesmässige Gleichstellung ermöglichte.
Es mag erstaunen, dass sich bei der Wende vom 20. ins 21. Jahrhundert an der Berner Universität erneuerte, was bei der Wende vom 18. ins 19. Jahrhundert mit den Berliner Salons von Henriette und Marcus Herz, von Rahel Levin resp. Rahel Varnhagen sowie von Brendel Mendelssohn resp. Dorothea Veit resp. Dorothea Schlegel Aufsehen erregt hatte: Dass im jüdischen Ghetto an der Spandauer Strasse ein Raum oder Räume zur Verfügung stehen konnten, um „den Schrank zu öffnen“. Es war alles andere als selbstverständlich. Der gesellschaftlichen Öffnung in Berlin war die Französische Revolution in Paris vorausgegangen. Die Macht der Industrialisierung hatte das Bürgertum an den Platz der Aristokratie vorrücken lassen, jedoch in erster Linie durch Gewalt und durch Rollenwechsel im Beharren auf Herrschaft über die unterdrückte breite Bevölkerung. Die grosse Hoffnung, eine vertrauensvolle Basis für die Verbesserung der bildungsmässigen, sozialen und politischen Bedingungen aufzubauen, blieb durch die gewaltbesetzte jakobinische Entwicklung und deren Folgen in Zusammenhang der Restauration auf erschütternde Weise unerfüllt. So wie die Landbevölkerung und das Industrieproletariat verlangten die freiheits- und mitsprachehungrigen Denkerinnen jüdischer Herkunft nach ebenbürtigen Rechten, deren schwankende Zusicherung immer wieder in Frage gestellt wurde. Antisemitische und alle anderen rassistischen, menschenverachtenden politischen und gesellschaftlichen Entscheide wurden durch Aufklärung und Fortschritt nicht aufgehoben, im Gegenteil.
Auch der jüngste Jahrhundert- resp. Jahrtausendwechsel, in dessen zeitlichem Rahmen die „Salongespräche“ an der Uni Bern geschaffen wurden, hatte eine aufwühlende Vorgeschichte mit den politischen Ereignissen von 1989. Weltweit weckten diese zugleich Hoffnungen und Ängste, auch hier in der Schweiz. Die Sowjetunion hatte im Februar jenes Jahres den während zehn Jahren fortgesetzten Afghanistankrieg beendet, während gleichzeitig Unabhängigkeitsbewegungen in ihren westlichen und südwestlichen Randgebieten zu erstarken begannen. In kürzester Zeit bewirkten diese die innenpolitische Selbstauflösung der brüchig gewordenen sowjetischen Machtstrukturen, jedoch nicht auf reibungslose Weise. Michail Gorbatschow hatte als Staatspräsident wohl Reformen in Gang gesetzt, doch die reaktionären Funktionäre akzeptierten nicht das Streben der einzelnen Unionsmitglieder nach Loslösung von Moskau. In Polen hatte sich die Solidarnosc-Bewegung so sehr erweitert, dass Anfang Juni 1989 die ersten freien Wahlen zustande kamen. In Peking dagegen wurde der monatelange friedliche Streik der Studenten und Studentinnen zur beinah gleichen Zeit, auch Anfang Juni, mit dem Einsatz der Armee durch ein brutales Massaker beendet und China erstarrte erneut in der maoistisch-kommunistischen Diktatur. Doch wie in Polen brodelte es in der Sowjetunion weiter gegen die Unterbindung politischer Freiheit durch die von den konservativen Kräften geforderte Fortsetzung der Bevormundung, in Litauen, Lettland und Estland, auch überall in Osteuropa. In Ungarn und wenig später in der Tschechoslowakei fielen die Grenzzäune zu Österreich. Auch in Rumänien wie in Bulgarien begannen Gegenkräfte das System zu unterwühlen. Schliesslich gelang in Berlin am 9. November 1989 die Öffnung der Mauer zwischen dem östlichen und dem westlichen Teil der Stadt und Hundertausende von Menschen strömten in einem Freudentaumel über die Grenzen.
Der im Verhältnis zum Westen beigelegte „Kalte Krieg“ bewirkte jedoch neue Feindbilder. Im Januar 1991 begann der von der US-Armee angeführte Golfkrieg gegen die militärische Besetzung Kuwaits durch Saddam Hussein, mit schwersten Landzerstörungen und Zehntausenden von Toten auf irakischer Seite, anschliessend die von Süden her vordringende Besetzung des Irak durch die alliierten westlichen Truppen. Gleichzeitig beherrschten im Balkan ethnische, religiöse und nationalistische Ideologien zunehmend die Medien, und im Frühsommer 1991 brach nach der Unabhängigkeitserklärung Sloweniens ein neuer Krieg aus, mitten in Europa, der ex-Jugoslawienkrieg, der sich als Krieg zwischen Serbien und Kroatien, zwischen Kroatien und Serbien gegen Bosnien und Herzegowina, schliesslich zwischen Serbien und dem albanischen Kosovo fortsetzte und erst im Sommer 2000 durch den Einsatz der Nato-Truppen beendet wurde, ohne dass ein wirklicher Friede im Zusammenleben zustande kommen konnte. Gewalt gegen ethnische Minderheiten, Anfeindungen und Erniedrigungen der nicht-albanischen Bevölkerung setzten sich fort. Gleichzeitig kam es im Kaukasusgebiet zu Unabhängigkeitskämpfen, die 1994 zum ersten Tschetschenienkrieg führten, ebenfalls mit entsetzlichen Folgen. Wegen der seit 1992 bestehenden Dringlichkeit, den vielen schwer traumatisierten Flüchtlingen, insbesondere Frauen und Kindern sowie politisch Verfolgten in der Schweiz eine Aufnahme und ein Bleiberecht zu ermöglichen, erstarkten auch hier fremdenfeindliche, rassistische und nationalistische Gegenkräfte, die sich insbesondere im Asyl- und Ausländerrecht auswirkten. In der am 18. April 1999 erneuerten Schweizerischen Bundesverfassung waren die allgemeinen Menschenrechte und Grundrechte zwar anerkannt worden, jedoch nur teilweise, so dass diese durch Bedrohungsszenarien von Rechtsaussen und damit erfolgreich beeinflussten Volksabstimmungen zunehmend angefochten werden konnten. Die Frage nach der menschenrechtlichen Tragbarkeit und Umsetzbarkeit neuer Gesetze, die durch populärpolitische Mehrheitsresultate zustande kamen, wurde von Jahr zu Jahr brennender.
„Den Schrank öffnen“ setzte bei den Salongesprächen am Falkenplatz somit von Anfang an ein waches, kritisches Interesse an den Ursachen und Folgen politischer und ideologischer Machtentwicklungen fort, wie es zweihundert Jahre vorher in Paris und Berlin begonnen hatte, ebenso die hierarchiefreie Gleichberechtigung in der Meinungsäusserung sowie in der theoretischen oder praktischen Meinungsbegründung. Als Beispiel diente unter anderem der Mut von Olympe de Gouges in Zusammenhang der Französischen Revolution, als sie gegen die am 3. September 1791 anerkannte „Déclaration des Droits de l’Homme et Citoyen“ öffentlich die Stimme erhob und die Ausgrenzung der Frauen anprangerte, gleichzeitig die „Déclaration des Droits de la Femme et Citoyenne“ (de Gouge 1986, S. 99-114) veröffentlichte und deren Umsetzung forderte, dabei furchtlos die Anfeindung durch Robespierre in Kauf nahm und in Zusammenhang ihrer Gefangennahme auf die Verfassungserklärung von Meinungs- und Pressefreiheit verwies, im Wissen, dass keine Chance bestand, dadurch das Todesurteil und die Hinrichtung zu verhindern, die am 3. November 1793 auf dem Schafott vollstreckt wurde. Sich mit Olympe de Gouges‘ Überzeugung und Angstfreiheit im Kampf um die Rechte der Frauen zu befassen oder mit dem pausenlosen Einsatz Flora Tristan‘s für die Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter oder mit der Forderung Mary Wollstonecraft‘s nach gleichen Schul- und Bildungsrechten für Mädchen wie für Knaben diente als Ansporn für den Einstieg in die dialogische Methode der Salongespräche. Diese bedurfte daher keiner zusätzlichen Rechtfertigung, da der gleiche Subjektwert für Dozierende wie für Studierende, das heisst für alle am Salongespräch teilnehmenden Frauen und Männer grosses Interesse weckte.
Mit dem gleichen Interesse wurde der Bezug des Salongesprächs zur sokratischen Form des Gesprächs sowohl im Gartenpavillon wie in der UniS immer wieder aufgegriffen. Platon hatte im Dialog mit Theaitetos und Theodoros (Platon 1961, 150 b-e) die sorgsame Methode des Erkundens, Fragens und sprachlichen Erarbeitens, des klärenden Nachfragens, allmählich des „Gebärens“ von Erkenntnissen als männliche Maieutik bezeichnet, als Hebammenkunst der Seele, die Sokrates ähnlich gepflegt habe wie dessen Mutter bei Frauen die Hebammenkunst des Leibes. Zuhören und sich entwickelnde Antworten mit anderen vergleichen, erneut Fragen stellen und Meinungen mit Erfahrungen konfrontieren, schliesslich die zustande kommenden Ergebnisse als vorläufig zufriedenstellende oder als skeptisch stimmende Erkenntnisse verstehen, die einen erneuten Prozess des Fragens auslösen – all dies verstand Platon als den von Sokrates vorgelebten dialogischen Erkenntnisweg.
Auch die unterschiedlichen Methoden des dialektischen Diskurses waren ohne Zweifel von Bedeutung, die widersprüchlichen Einflüsse aufs Erkennen und die ebenso widersprüchlichen Begründungen von Erkenntnissen, wobei unter den frühen Angeboten am ehesten die Erklärung Ludwig Feuerbachs aus den 1843 im Verlag des Literarischen Comptoirs (Zürich und Winterthur) erschienenen „Grundsätzen der Philosophie der Zukunft“ (Feuerbach 1983 Frankfurt a. M.) überzeugen, die er in der knappen Erklärung zusammenfasste, dass „die wahre Dialektik kein Monolog des einsamen Denkers mit sich selbst ist, sondern ein Dialog zwischen Ich und Du“ (Feuerbach 1967 Berlin, Gesammelte Werke, Bd. 9, S. 339), eine Erkenntnis- und Gesprächsform, wie diese ab 1923 auch von Martin Buber und weiteren Denkerinnen und Denkern vertreten wurde. Sinnenmässige Wahrnehmungen, Gefühle und Denken bedürfen gemäss Feuerbach der gleichen Beachtung. „Ich bin Ich – für mich – und zugleich Du für Andere. Das Ich bin ich aber nur als sinnliches Wesen. (…) Was ich ohne Sinnlichkeit denke, denke ich ohne und ausser aller Verbindung. Wie kann ich also das Unverbundene zugleich wieder als ein Verbundenes denken?“ (Feuerbach 1983, S. 88). Seines Erachtens ist selbst das rein begriffliche, abstrakte Denken abhängig von den körperlichen Bedingungen des Menschen als Beziehungswesen in seiner Vielschichtigkeit. Auf jeden Fall ist der verborgene dialogische Prozess im Menschen selber Voraussetzung, um im Zuhören und Beachten der unterschiedlichen Fragen und Stellungnahmen der anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Gespräch das Interesse an Differenzen wie an Übereinstimmungen von Meinungen oder Überzeugungen besser zu verstehen.
„Durch ein grosses Tor“
„Durch ein grosses Tor / ziehn die Bücher in mich ein / sie zahlen etwas / bei ihrem Eintritt / sie geben etwas ab / bei meiner unsichtbaren Garderobiere“ (Domin 1970/2011,46). Was für Hilde Domin bedeutungsvoll war, bezieht sich auch auf die Salongespräche. Das „grosse Tor“ meint die wache Aufmerksamkeit, die den Zugang zu vorangegangenem fremdem Denken öffnet, das in Büchern überlebte. Es ist eine besondere Aufmerksamkeit, eine verletzliche Mischung aus Wissenshunger, Neugier und Scheu. Lesen löst im privaten Raum die Begegnung mit Unbekanntem oder mit schon Vertrautem aus. Möglicherweise weckt es erregende innere Auseinandersetzungen durch Einwirkungen der „unsichtbaren Garderobiere“, der geheimnisvollen Erinnerungskraft, die alles Gelesene hütet, so wie sie alles Erlebte, Gefühlte und Gedachte verwahrt. Je nachdem steigert sie die Aufmerksamkeit und nährt sie, oder diese wird durch sie überfordert oder gar erschreckt. Das eigene, innere Gespräch mit dem Gelesenen kann zwiespältig werden, die Gedanken äussern sich zögerlich in Worten.
In Zusammenhang der Salongespräche öffnet sich das „Tor“ für viele Menschen gleichzeitig, unter denen einige sich nahe stehen, andere jedoch nicht, doch alle durchschreiten es auf eigenen Wunsch, freiwillig. Die persönliche Lektüre der Texte aus Büchern, die von der Dozentin ausgewählt werden, geht seit dem Beginn den Gesprächen voraus. Doch wie kann im Kreis der anderen geschildert werden, was die Lektüre bewirkt hat? Wird es durch deren Präsenz leichter, wird es noch schwieriger? Braucht es Mut? Es kommt vor, dass an einem Abend bei einer Teilnehmerin oder bei mehreren die gewohnte Offenheit im Gesprächsaustausch plötzlich stockt oder gar erstarrt. Die Frage stellt sich jedes Mal, was dazu Anlass geben kann. Hilde Domin hielt einmal fest, es brauche für sie selber immer Mut, das, was sie empfinde, klar und unmissverständlich zu sagen. „Wiederhole wiederhole wiederhole / damit die Worte nicht alleine sind (…) Das Wiederholte wird sicher / das Wiederholte wird ungewiss / Wegen dieser Ungewissheit / die anfängt wo das Wort aufhört / müssen die Worte gesagt sein / muss ich die Worte sagen.“ (Domin 1970/2011, 62)
Weshalb kam es bei Hilde Domin – eigentlich Hilde Palm-Löwenstein – zum mahnenden Drängen, das Wort zu wiederholen? War sie in Gefahr zu verstummen? Deren Leben war nach der schon 1932 erfolgten Ausreise aus Deutschland nach Italien, wo Studium, Doktorat und Alltag zuerst noch leicht erschienen, bis die politischen Verhältnisse zunehmend bedrohlicher wurden und zur Flucht nötigten, über Frankreich, England und Kanada nach Santo Domingo, während mehr wie zwanzig Jahre mit dem Lernen neuer Sprachen, mit Geldverdienen durch Deutschkurse und vor allem mit vielfacher, zunehmend erniedrigender „Sekretariatsarbeit“ für Erwin Walter Palm, ihren selbstverliebten, unzuverlässigen Ehemann ausgefüllt. Erst durch Revolte gegen ihn, zutiefst gegen das traditionelle männliche Allmachtverhalten in der Ehe, gleichzeitig durch das Gespür und die Kraft, mit dem Aufbegehren in sich Halt gegen die lähmende Einsamkeit und Traurigkeit, gegen Erschöpfung und Sinnlosigkeit zu finden, fand sie auch zum Wissen um ihre innere Freiheit, damit zu ihrer eigenen Sprache, zur Sprache des Gedichts. Sie liess sich nicht scheiden, sondern kehrte gemeinsam mit Palm Anfang der Fünfzigerjahre wieder nach Deutschland zurück und entschloss, mit ihm zusammen alt zu werden. Doch mit der Rückkehr nannte sie sich nicht mehr Palm, sondern Domin. An ihre innere Freiheit appellierte sie unmissverständlich – „Freiheit / ich will dich / aufrauhen mit Schmiergelpapier / du geleckte (…) Freiheit Wort / das ich aufrauhen will / ich will dich mit Glassplittern spicken / dass man dich schwer auf die Zunge nimmt / und du niemandes Ball bist (…)“ (Domin 1970/2011, 7), daran hielt sie festhielt sie fest, insbesondere am Mut, der eigenen Sprache Raum zu geben und darin knapp und unmissverständlich zu sagen, was sie bewegte. Sie wurde immer unabhängiger, allmählich genügte ihr das kleinste Stück Papier.
Die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Freiheit erwies sich seit dem Beginn der Salongespräche von zentraler Bedeutung. In Fortsetzung der revolutionären Salongespräche von Berlin und Paris mag es wie selbstverständlich gewirkt haben. Doch die Gründe sind komplexer. Das Wort wird mit Leichtigkeit benutzt, wie Hilde Domin es beanstandete, doch schnell wird deutlich, dass es der Klärung bedarf, dass nicht unbedingt dasselbe damit gemeint wird. War der Begriff nicht jahrhundertelang von beinah sakralem Wert, ein elitäres gesellschaftliches und politisches Kennzeichen, dessen Gegenteil Unfreiheit und Versklavung, Leibeigenschaft und Erniedrigung hiess? Doch gleichzeitig umfasste der Inhalt des Begriffs ebenso lange das Bedürfnis, ja die Sehnsucht jedes Menschen, die eigene Lebensform wählen zu können und im Zusammenleben von ebenbürtigem Wert wie die anderen Menschen zu sein, das persönliche wie das kollektive Gestalten des Alltags mitzubestimmen, nicht schweigen zu müssen, sondern für die eigene Meinung oder Überzeugung Gehör zu finden. Innere Freiheit einerseits und Freiheit als politisches und gesellschaftliches Recht andererseits umspannen kaum erfassbare Schätze von Dokumenten, von Literatur, von Erfahrung und Denken. Und so gab es seit 1996 kein Salongespräch, das thematisch nicht davon tangiert worden wäre, ob es um die Auseinandersetzung mit der Vielschichtigkeit des Zeitbegriffs oder der Evolutionsgeschichte ging, um väterliche und mütterliche Erbschaften, um Sündenregister, Schulderklärungen oder Triebhaftigkeit, um Strafen, Sühne oder Vergeben, um die Hürden der Aufklärung in Philosophie und Naturwissenschaften bis zur Astrophysik, um die Suche nach Übereinstimmung des Guten und des Schönen, somit von Ethik und Ästhetik, um die Klärung der Bedeutung von Grenze und Grenzen, in allen Belangen stets auch um die Rätsel der Kommunikation. Zutiefst tangiert wird immer die Sprache, das Sprechen und das Verstehen der Teilnehmenden am Gespräch, das Aussprechen von Worten, von Fragen und Überlegungen, von Erkenntnissen und erneutem Fragen. Hilde Domin macht als Beispiel deutlich, dass frei werden aus erniedrigenden Richtlinien und Forderungen, die über Jahre oder Jahrzehnte als unanfechtbar galten, nicht selbstverständlich ist, ebenso wenig die eigenen Bedürfnisse, Fragen oder Erkenntnisse in Worte zu fassen.
Es sind jedoch nicht Verstand und Vernunft, die in erster Linie den Widerstand gegen Ängste und angewöhntes Schweigen ermöglichen. Es ist tatsächlich der lange unterdrückte, vibrierende, schöpferische Impuls der Gefühle, der, wenn er beachtet wird, sich stärken, vertiefen und erneuern kann. Von Stufe zu Stufe äussert er sich in Beherztheit, schliesslich in Mut. Mut ist die zum überraschenden Entscheiden und Handeln befähigende innere Freiheit, die ermöglicht, zum eigenen Wert zurückzufinden und laut zu sagen, was wichtig ist.
So lenkt auch im Rahmen der Salongespräche nicht allein der Verstand den Ablauf des Dialogs, sondern ebenso der geheime Kompass der Gefühle, der im „Nichtwort, ausgespannt zwischen Wort und Wort” spürbar wird, wie es in einem anderen von Hilde Domins Gedichten steht – ich weiss nicht mehr, in welchem -, wobei das „Nichtwort“ die feinen Schwingungen meint, die aus den Emotionen wachsen. Im unbewusst wirkenden, inneren menschlichen Zeitverhältnis verbinden diese den Augenblick, in dem jemand angesprochen wird und so am Gespräch teilnimmt, mit früheren Erfahrungen und gleichzeitig mit dem Warten auf den Klangmoment des nächsten Worts.
So entwickelte sich das Salongespräch zum sich wechselseitig erweiternden Lernen, mit lustvollen Momenten des Staunens, der Erkenntnis und des sich verankernden Wissens, letztlich zum stets sich erneuernden Dialog, immer wieder als Bestätigung des von Descartes und Spinoza, von Kant und Schiller wiederholten Rats, auf Horaz zu hören – „sapere aude, incipe“ (Fink 2000 / Horatius, I, 2. Abschnitt, 40. Zeile).
Quellenangaben:
Arendt, Hannah. Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. München / Zürich: R. Piper & Co. Verlag 1983
Birnbacher, Dieter / Krohn, Dieter (Hrsg.). Das sokratische Gespräch. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 2002
Buber, Martin. Ich und Du. In: Das dialogische Prinzip. Heidelberg: Verlag Lambert Schneider1979
de Gouges, Olympe. Oeuvres. Paris: Mercure de France 1986
Domin, Hilde. Ich will dich. Gedichte. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1995
Feuerbach, Ludwig. Grundsätze der Philosophie der Zukunft. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 1983
Frick, Gerhard (Hrsg.). Horatius Flaccus Quintus. Satiren–Sermones. Briefe–Epistulae. Aus dem Lateinischen ins Deutsche von Gerd Hermann. Düsseldorf/Zürich: Verlag Artemis & Winkler 2000
Herz, Henriette. Berliner Salon. Erinnerungen und Portraits. Frankfurt am Main / Berlin / Wien: Ullstein Verlag 1984
Platon. Phaidros – Parmenides – Theaitetos – Sophistes. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 1961
Schiller, Friedrich. Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Philosophische und vermischte Schriften. Basel: Verlag Birkhäuser 1946
Tristan, Flora. Arbeiterunion. Frankfurt am Main: isp-Verlag 1988
Wicki-Vogt, Maja. Kreative Vernunft. Mut und Tragik von Denkerinnen der Moderne. Zürich: edition 8 2010 / 2013
Wicki-Vogt, Maja. Erbschaften ohne Testament. Über Freiheit und Unfreiheit im persönlichen Werden. Essays zu einer dialogischen Kultur. Zürich: edition 8 2014
Wollstonecraft, Mary: Verteidigung der Rechte der Frauen. Bd I / Bd II. Zürich: Ala Verlag 1977