Die Krise des Bildungsbegriffs – Über die Rolle der Skepsis
Buchbeitrag für: Helmut Vogt/Karl Weber (Hrsg.), “Wa(h)re Bildung. Gegenwart und Zukunft wissenschaftlicher weiterbildung angesichts von Bologna und GATS” – Dokumentation der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für wissenschaftliche Weiterbildung und Fernstudium an der Universität Bern, 19. – 21. September 2007, Verlag DGWF e.V., Hamburg 2008, ISBN 978-3-88272-130-8
Die Krise des Bildungsbegriffs – Über die Rolle der Skepsis
Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für wissenschaftliche Weiterbildung und Fernstudium (DGWF) Universität Bern, 19. September 2007
“Begriff ist Summe, Idee Resultat, jene zu ziehen wird Verstand, dieses zu erfassen Vernunft erfordert.”[1]
Die Einladung zum “dinner-speach” ehrt mich. Bei der Vorbereitung streifte mich der Vergleich mit einem der von Platon geschilderten Symposien, bei welchem für die Tischgesellschaft der Austausch kritischer Überlegungen als ebenso köstlich galt wie Speise und Trank. Von Sokrates wird berichtet, dass er, als Gast an einem Symposion erwartet, weiter durch die Stadt spazierte und den Freunden, die ihn drängten, sich an die Tafel zu setzen, sagte, er finde es richtig, zuerst den Hunger einzukaufen. Jede Art von Hunger, Lebenshunger und Wissenshunger, erachtete er als Voraussetzung schöpferischer Kraft.
Es war auch im Rahmen einer Tischgesellschaft, dass Sokrates die vielen Meinungen über die Natur von Eros hinterfragte. Indem er sich auf Diotima berief, seine Lehrmeisterin aus Mantinea, führte er aus, Eros sei weder ein Gott noch stamme er von vornehmen Eltern ab, nein. Eros sei das Kind von Penia (gr. Bedürftigkeit) und von Poros (gr. Wegefinder). Eros sei daher weder fein noch schön, wie man meine, sondern unbeschuht und rauh, ohne Behausung, er schlafe vor den Türen im Freien, er sei immer der Hungrigen Genosse. Doch zugleich kennzeichnen ihn Einfallsreichtum und erfinderisches Geschick, ein Streben nach Einsicht und nach Wissen, nach dem Guten, doch alles sei flüchtig, was zustande komme. So setze sich das Suchen fort.
Mit Sokrates verbindet sich in der Philosophie der Wert freien Fragens und Denkens, d.h. der Wert des klärenden Dialogs. Der Bezug auf Eros, diese geheimnisvolle Kraft, die das Suchen nach Erkennen und Wissen prägt, geht mit der Skepsis – dem kritischen Denken – einher. Es geht um einen zeitlosen Wert. Im damaligen Athen brauchte es Mut, ihn zu vertreten. Und heute? Nach welchen Kriterien wird bewertet oder entwertet, wer kritisch denkt und sich nicht scheut, offen den Dialog aufzunehmen? Darf z.B. angesichts der fast triumphalen Umsetzung der Bologna-Reform, d.h. der Anpassung ganzer Nationen an ein vorgegebenes Bildungs- und Weiterbildungssystem, darf da von einer Krise des Bildungsbegriffs gesprochen werden? Darf die Bedeutung aktueller Bildungskriterien öffentlich hinterfragt werden?
Noch nicht lange her ist es, da sass ich zusammen mit jungen Intellektuellen zwischen 28 und 35 Jahren – JuristenInnen, MedizinerInnen, Wirtschaftswissenschaftern, einer Biochemikerin, Informatikern und Psychologinnen – an einem Tisch, in dessen Mitte Früchte und Brot, Wasser und Wein bereit standen, und ich fragte sie, was für sie “Bildung” bedeute. Zwei der damals Anwesenden waren deutscher Muttersprache, die Herkunft der übrigen war durch andere Sprachen geprägt, zum Teil stammten sie aus nichteuropäischen Kontinenten; das Gespräch wurde auf Englisch geführt. Schnell wurde klar, dass “Bildung” als Begriff von den Deutschsprachigen anders verstanden wurde als von den übrigen Teilnehmern und Teilnehmerinnen am Gespräch, auch dass sich die nächste begriffliche Verwandtschaft zur deutschen in der chinesischen Sprache herausstellte. Die Diskussion um “Bildung” ging daher zuerst mit der Bemühung um Begriffsklärung einher, doch jede Erklärung bedeutete Übersetzung, und jede Übersetzung weckte bei der Rückübersetzung eine weitere, je persönliche Sinngebung und weitere Fragen. Das deutsche Wort “Bildung”, abgeleitet von “Bild”, vom lat. “imago” sowie vom gr. “idea” und “eidos”, steht von der Wortbedeutung her in Verbindung mit der platonischen Ideenlehre und den etymologischen Verwandtschaften des Imaginativen und Ideellen bis zum Ideologischen und zum “Gespenstischen” (lat. “idolum”), während das englische “formation” auf dem lat. “formatio” und “forma” beruht, was in allen von der römischen Herrschaft beeinflussten Sprachen erhalten blieb und auf der Bedeutung der “sachlichen Gestaltung” beruht, die jedoch auch, wie im lat. “formidabilis” (formido/inis) deutlich wird, bis zum “erschreckenden”, “grausenden” Ausmass reichen kann.
In der Gesprächsrunde an jenem Abend öffnete sich schliesslich auf die Frage, was “Bildung” resp. “formation” bedeutet, ein Fächer von Antworten. Auf fünf Erklärungen konnten sich die GesprächsteilnehmerInnen einigen: (1.) gute Fachausbildung mit beruflichen Aufstiegs- und Erfolgsmöglichkeiten, (2.) Erziehung nach Wertekriterien von Herkunft und Heimat, (3.) sichere Kenntnis im persönlichen Verhalten und im Umgehen mit Lebensproblemen, (4.) Entscheidungssicherheit sowie (5.) gesellschaftlich und politisch nützliches Kulturbewusstsein. Interessant ist, dass, obwohl einige der bei der Gesprächsrunde Anwesenden an aktuellen Forschungsaufträgen mitbeteiligt sind, die Kenntnis all dessen, was mit den technologischen Verfeinerungen der digitalisierten und virtualisierten Kommunikation einher geht und was der Erweiterung globalen Machtstrebens dient, nicht als Voraussetzung für “Bildung” genannt wurde. Daher stellte sich gleich die Frage, die ich hier wieder aufnehme, wie sich die Bedeutung des Bildungsbegriffs zu jener von Wissenschaft – Wissen – ev. Weisheit verhält, resp. ob und wie sich zwischen den unterschiedlichen Begriffen ein ergänzender “link” findet.[2]
In der kurzen Zeit, die mir zur Verfügung steht, möchte ich der Klärung dieser Frage nachgehen. Es geht dabei um einen dialektischen Prozess, der sich aus der Fortsetzung sprach- und gesellschaftsanalytischen Austauschs über “Bildung” herauskristallisiert hat und der mir angesichts der Bologna-Reform von zentraler Bedeutung erscheint. Dabei steht nicht “lebenslanges Lernen” im sokratischen Sinn zur Diskussion. Zur Diskussion steht der Zwang zur Vereinheitlichung sowohl der Massstäbe von Bewertung und Anerkennung von Bildung wie die Abhängigkeit des gesamten Bildungssystems von technologisch fortschrittlichsten Kommunikationsmitteln zum Zweck gesamteuropäischer, ja globaler Kriterien von Titeln – bachelor, master, doctor -, welche die Stufenleiter der postmodernen, neuen Elite darstellen.
Der dialektische Prozess beruht auf dem kritischen und dialogischen Denken, d.h. auf der kreativen Kraft der Aufmerksamkeit, die sich mit Skepsis gegenüber Theorien verbindet, die als alleinrichtig erklärt werden. Er mündet in ihr und geht durch sie weiter. Die Kraft der kreativen Skepsis mag der “link” zwischen Bildung und Wissen sein; darauf möchte ich eingehen. Auch hier richtet sich das Gemeinsame auf die Frage nach den Wertekriterien, die gelten, sowie nach dem Zwecks aus, der angestrebt wird. Wie können öffentliche Bildungseinrichtungen – Schulen, Fachhochschulen und Hochschulen – in diesen Prozess einsteigen? Wie können sie ihn nutzen? Fragen bedürfen der Klärung und jede Klärung ermöglicht neue Fragen.
Über System und Methode des aktuellen “lebenslangen Lernens”
Eine wichtige Frage betrifft den methodischen und systemischen Zusammenhang der mit dem Bologna-Modell einhergehenden Bildung und Weiterbildung.
Dieser beruht erstens auf Anpassungsforderungen an eine umfassende Regulierung ursprünglich vielfältiger, spezifischer, nationaler und regionaler Bildungs- und Ausbildungsangebote auf Hochschulebene, letztlich, wie die NZZ Anfang August[3] 2007 kommentierte, auf einer “übertriebenen Harmonisierung und Bürokratie“, die “Orientierungsprobleme” bewirke. “Die Bologna-Reform sollte die Mobilität der Studierenden und die Zusammenarbeit zwischen den europäischen und internationalen Ausbildungsstätten verbessern. Doch sie wurde letztlich zum Siegeszug der Bürokratie. Das Anpassen von Studienprogrammen, Abschlüssen und Systemen wurde durch einen inhaltsarmen Harmonisierungsformalismus geprägt.” Zusammenfassen heisst dies, dass, was zu sehr reguliert ist, erstarrt. Eine ebenso kritische Ergänzung findet sich wieder in der NZZ knapp einen Monat später.[4]
Zweitens beruhen Methode und System der aktuellen Bildungsreform auf der ökonomisch und wissenschaftlich genutzten Steigerung technologischer Errungenschaften, in erster Linie auf der digitalen Telekommunikation, die sich im virtuellen Raum virtueller Realität mit Lichtgeschwindigkeit abspielt. Unabhängig davon, wo sich der einzelne Mensch befindet, es genügt, über ein gut funktionierendes Internet zu verfügen, um in diesen Raum einzutreten. Der innere Zeitrhythmus des Menschen, der jeden Lernprozess mitbestimmt und begleitet, von der frühesten Phase des Sehens und Hörens, des Tastens und Fühlens, des Kommunizierens im Erkunden und Erkennen der Bedeutung von Worten und Sätzen bis zum Denkprozess des begrifflichen und abstrakten Begreifens, dieser individuell geprägte, menschliche Zeitrhythmus wird von der technischen Konstruktion globaler Gleichzeitigkeit und virtueller Kommunikation überrollt und der lebensnahen Erfahrungswelt entzogen.
Beide Aspekte wecken Erinnerungen an warnende Überlegungen, die Paul Virilio[5] schon 1995 geäussert hatte. Der französische Geschwindigkeitstheoretiker und Leiter der “Ecole spéciale d’Architecture” am Boulevard de Montparnasse in Paris, einer der grossen Wissenschafter modernen Städtebaus, hatte damals in einem Gespräch[6] betont, die technisch erreichte Steigerung der Geschwindigkeit verkehre den Fortschritt in sein Paradox. Die Menschen bedürfen keiner Fortbewegung mehr, um sich zu sprechen, um einander zu hören und einander zu sehen; es genüge, dass sie sich vor ihren Bildschirm setzen. Hierin bestehe allerdings die Bedingung, und die Bedingung verursache das Paradox. Wer sich nicht ins Internet einschalten könne, bleibe von Information und Kommunikation ausgeschaltet. Das bedeute, dass ein Grossteil der Weltbevölkerung von den Mitsprachemöglichkeiten zunehmend verdrängt werde, dass andererseits diejenigen, die über die technologischen und materiellen Voraussetzungen zur Mitsprache verfügen, sich selber zur Abkoppelung vom echten, wirklichen Leben verdammen. So oder so seien Frustrationen und Gewalt zu befürchten, deren Gründe in der zunehmenden Entfremdung des Menschen zu sich selbst und der Menschen untereinander liegen, auf der einen wie auf der anderen Seite. Das Problem des Gegensatzes zwischen den kommunikationstechnologisch ausgerüsteten “Sesshaften” und den mittellosen und sprachlosen Migrierenden ebenso wie das Problem zwischen den “virtuellen Städten”, wo sich die Vernetzungszentren der Telekommunikation befinden, und den weiter wachsenden alten Metropolen, die in ihrer Komplexität unregierbar würden, werde sich vervielfachen.
Paul Virilio scheute sich nicht zu sagen, sein persönliches Wissen habe er durch fortgesetzte hartnäckige Arbeit erworben, er sei arm an Diplomen, wie sie heute gefordert würden. Als bedeutenden Lehrer nannte er Maurice Merleau-Ponty, der den Lehrstuhl für Philosophie von Henri Bergson am Collège de France übernommen hatte. Sein kritisches Denken sei durch ihn geschärft und gestärkt worden; er habe bestätigt, dass in allen Fragen die Bedeutung physischer und psychischer, intellektueller und vitaler, sozialer Gleichzeitigkeit auf kritische Weise ernst zu nehmen sei, um jede Art von Dogmatismus und von Unterwerfung unter autoritäre Richtigkeitserklärungen zu verhindern.
Die mit der Lichtgeschwindigkeit erreichte und nicht mehr überschreitbare Beschleunigung, mit welcher das 21. Jahrhundert zum Voraus jede Art von Fortschritt in den virtuellen Raum projiziert, mache, wie Paul Virilio betont, die Rückkehr zur wirklichen, nicht-virtuellen Kommunikation dringlich. Es gelte, wieder das Bewusstsein zu wecken, dass Kommunikation auf der Bedeutung von “communis” beruhe, dem “Gemeinsamen”, einem Grundbedürfnis des Zusammenlebens, das der echten, sprachlichen Begegnung bedürfe, um ein Verstehen zu ermöglichen, das dem aus Missverstehen und Nicht-Verstehen resultierenden Misstrauen entgegenwirken kann. Was Paul Virilio schon 1995 warnend hervorhob, ist, dass alles, was unter dem Diktat der neoliberal orientierten Ökonomie und durch die digitalisierte Kommunikation zur formalen Bedingung gesellschaftlichen Aufstiegs wurde, mit der technologischen Entwicklung der Kriegführung begonnen habe. In deren Fortsetzung sei die Virtualität zum Tummelfeld jeder Art von “Strategie” (gr. stratos – Heer) geworden. Nicht virtuell sei jedoch das durch psychische Mangelerfahrungen und durch gesellschaftliche Ausgrenzung bewirkte Leiden der Menschen: real bleibe der psychische und physische Hunger, real bleiben die Folgen jeder Art von Diktatur, von angstbesetzter Unterwerfung unter Diktatur und von Gewalt.
Was Paul Virilio im Gespräch am Boulevard de Montparnasse zu verstehen gab, findet sich auch in seinen Publikationen[7]. Es wird zu einem grossen Teil durch jüngste soziologische Forschungsergebnisse (Statistiken und Folgeuntersuchungen) bestätigt. Ich verweise u.a. auf einen Ende Juli 2007 in “Widerspruch 52”[8] erschienenen Überblick über Untersuchungen – mit besonderer Berücksichtigung Deutschlands und der Schweiz -, in welchen insbesondere die menschliche und soziale Unsicherheit, Prekarität und Segregation Beachtung findet, die mit dem aktuellen Fortschritt im Bereich von Bildung und Weiterbildung wie von Anstellungs- und Einkommenskriterien einhergehen. Dazu gehören auch die sich ausweitende Undurchschaubarkeit der Selektionsbedingungen in allen Bereichen, die Verschlechterung von Ausbildungs-, Anstellungs- und Aufstiegsmöglichkeiten für Menschen mit migrations- resp. herkunftsbedingten finanziellen Einschränkungen, sodann generell die wachsende Erosion sicherer Beschäftigungs- und Einkommensverhältnisse.
Diese neuesten Untersuchungsergebnisse bedürfen der Beachtung. Gerade Ines Langemeyers Forschungsergebnisse[9] mögen für die Fragestellungen der aktuellen Tagung bedeutungsvoll sein. Ich erachte sie als Bestätigung von Virilios Überlegungen wie auch – teilweise – jener von Vilém Flusser (gest. 1991) oder von Peter Glotz (gest. 2005), die in den letzten Jahren den kommunikationstheoretischen Diskurs mitgeprägt haben
Ines Langemeyer hält in ihrer jüngsten Untersuchung fest, dass “die dem ‘lebenslangen Lernen’ entsprechenden Programme zu Modernisierungsstrategien gehören, um Menschen an die Bedingungen und Erfordernisse technologischer Produktivkraftentwicklung gemäss des Leitbilds einer ‘lernenden Gesellschaft’ bzw. ‘Wissensgesellschaft’ anzupassen und damit eine neue Form von ‘Humankapital’ zu schaffen, das weniger einem feststehenden Set von Fähigkeiten und Fertigkeiten gleicht, sondern vielmehr ein entwicklungs- und innovationsfähiges sowie flexibel einsetzbares Arbeitsvermögen garantieren soll.” (Es ist diese neue Form von “Humankapital”, die auch Peter Glotz als zu Gunsten des “digitalen Kapitalismus” verdinglichte und instrumentalisierte Bildung hinterfragt hatte).[10] “Der Diskurs des ‘lebenslangen Lernens’ artikuliert”, gemäss Ines Langemeyer, “die unhintergehbaren Erwartungen an den einzelnen Menschen, die eigene ‘Beschäftigungsfähigkeit’ zu sichern“, d.h. „für die eigene Verwertbarkeit auf dem Arbeitsmarkt selbst verantwortlich zu sein und sich Momente des Scheiterns als persönliches Versagen zuzuschreiben, statt die gesellschaftlichen Erwartungen und Bedingungen in Frage zu stellen. Auf diese Weise erzwungene und zugleich höchst individualisierte Lernphasen können jedoch – abhängig von Konjunkturverläufen und Rahmenbedingungen – leicht in eine Krise geraten (…)”[11].
Nun, jede Krisen ist eine Entscheidungsphase, auf welche eine Verbesserung oder eine gravierende Verschlechterung folgt, gemäss der ursprünglichen Bedeutung von gr.“krisis” in Zusammenhang einer Krankheit. Dass unter den aktuellen ökonomischen und sozialen Bedingungen beide Variationen mit dem System und der Methode der Bologna-Reform einhergehen, wird von Ines Langemeyer belegt. Zwar sei nicht in Frage zu stellen, hält sie fest, dass höhere Qualifikationen sich auszahlen können, doch sei ebenso wenig in Frage zu stellen, dass in Phasen der Prekarität Risiken folgenschwer seien und daher Krisen bewirken. Ausschlaggebend seien insbesondere “das Aufbrechen finanzieller Rücklagen bis hin zur Verschuldung, die mangelnde Qualität des Bildungsangebots, die fehlende Einsicht in den Nutzen bestimmter Wissensbestände, der geringe Lernertrag von Praktika, die schlechte Regulation des Bildungsmarktes, die Zurückhaltung resp. Verweigerung von Arbeitgebern, Lernen in der Arbeit selbst zu fördern und qualifizierte Mitbestimmung im Arbeitsprozess einzuführen.” Dazu kommt, fährt sie fort, dass “solange Phasen der Ausbildung nicht mehr für Rentenansprüche angerechnet werden können, diejenigen benachteiligt werden, die zum permanenten Um- und Weiterlernen zwar bereit waren, aber damit langfristig nur unsichere, schlecht bezahlte Teilzeit-Arbeitsverhältnisse erreichen.”[12]
Die Auswirkungen der psychischen Belastungen, die als Folgen von wachsendem Zeitdruck und zunehmender existentieller Unsicherheit diagnostiziert werden können und die sich als Stress- und Angstsyndrom mit vielfachen Problemen auswirken, werden in den in “Widerspruch 52” publizierten Untersuchungen nicht miteinbezogen; ich kenne sie durch meine klinischen Erfahrungen. Es sind Frauen und Männer, die vom frühen bis zum mittleren und späteren Erwachsenenalter auf Grund nicht mehr tragbarer Ängste und Erschöpfungszustände um therapeutische Hilfe anfragen. Zeitdruck und existentielle Unsicherheit nützen ab, bewirken Atemlosigkeit und nervliche Anspannungen, d.h. all die körperlichen und psychischen Leiden, die als Stress-Syndrom bezeichnet werden. “Tempo-tempo” war die Klage unter dem maschinellen Zeitdruck der Industrialisierung, “Stress” ist die Klage der Menschen – oft schon der Kinder und Jugendlichen – unter dem Zeitdruck der heutigen Lebensbedingungen, der privaten wie der Studien- und Arbeitsbedingungen, welche keine Übereinstimmung mit dem inneren Zeitrhythmus der Menschen ermöglichen. Stress, dieses neurologische Syndrom, beruht mit dem Verlust des inneren Zeitrhythmus und der wettbewerbsmässig geforderten Leistung auf einem Kräfteungleichgewicht, d.h. auf physikalischen wie zugleich auf psychischen Ursachen. Tief im Menschen verklammerte Ängste nehmen unter Stress überhand und werden gleichzeitig zu verdrängen versucht: die Angst, nicht genügen zu können, nicht mehr nützlich zu sein, den Lebenswert verloren zu haben. Es ist ein vielfacher Mangel an innerer Sicherheit, an Beziehungssicherheit zu sich selbst und zu anderen Menschen, an Zeitsicherheit, letztlich an Lebenssicherheit, der durch Stress gesteigert wird – ein Mangel, der in nicht mehr kontrollierbare Wut und Gewalt ausrastet oder der Einsamkeit und Erschöpfung bewirkt und sich in wachsender, erstickender Angst ausdrückt.
Wenn Angst nicht mehr eine warnende Kraft ist, die Vorsicht fordert und sich bei Abzug von Gefahr wieder verflüchtigt, wenn Angst den Menschen zu beherrschen beginnt, wird Zukunft zum Albtraum. Tatsächlich ist Zukunft auf Grund der nicht mehr erfassbaren Schnelligkeit der Entwicklung noch weniger vorhersehbar oder planbar wie früher. Für die einen Menschen gilt daher, Absicherungen zu konstruieren, zusätzliche Weiterbildungsdiplome zu organisieren, Vermögen zu stauen, Versicherungen abzuschliessen etc. Für andere erscheinen als einzige Gegenmassnahme Flucht- und Rückzugsangebote umsetzbar zu sein: Flucht in Theorien und in Ideologien mit Wahrheitsanspruch, oder Flucht in suchtbewirkende Behelfsmittel wie Alkohol, Nikotin und andere Drogen, zu denen auch Psychopharmaka gehören, oder Flucht in blinde und oft lebensgefährdende Leistungssteigerungen (sei es im beruflichen oder sportlichen Erfolgswettkampf, in politisch fundamentalistischen Gruppierungen bis zur Teilnahme an Strassengewalt oder an Selbstmordattentaten etc.), Flucht auch durch Teilnahme an Massenevents, oft einfach Flucht in die abstrakte, virtuelle Ersatzwelt. Oft sind es somatische Auswirkungen, welche die psychischen Belastungen manifest werden lassen (insbesondere Konzentrationsprobleme, Schlafprobleme, Magen-Darmprobleme, Migränen, Nacken- und Schulterschmerzen, Unter- oder Übergewicht bis zu Herz-Kreislaufstörungen und Krebs), oft nicht mehr tragbare Beziehungsprobleme, auch, wie schon erwähnt, manisch-depressive Störungen oder nicht mehr kontrollierbare Nervosität, die sich in Aggressivität und Gewalt steigern kann. Die Folgen von Stress können schwerwiegend sein.
Es sind grosse Anstrengungen erfordert, um der Verzweiflung Halt zu bieten und die Möglichkeit nicht-destruktiver Entscheide aus dem lebensgefährdenden Empfinden des Versagens oder aus dem Abgleiten ins Irreale oder Traumhafte zu lösen und zu realisieren. Damit einher geht eine Neubesinnung auf die wirklichen menschlichen Grundbedürfnisse
Wie viel Wahlmöglichkeit steht dem Subjekt angesichts der aktuellen Bedingungen zu?
Sowohl die jüngsten soziologischen Untersuchungsergebnisse wie meine klinischen Erfahrungen stimmen nachdenklich. Sie fordern geradezu die zweite Frage heraus, die sich im dialektischen Prozess der ersten entgegen stellt. Es ist die Frage nach den Wahlmöglichkeiten, die dem einzelnen Menschen angesichts der durch Technologisierung und neoliberale Doktrin zutiefst beeinflussten persönlichen Existenz zustehen, d.h. die Frage nach der inneren Freiheit. Angesichts der rasant zunehmenden regulativen, multifunktionalen Anpassung an die postmoderne Entwicklung, bei welcher das institutionelle Bildungs- und Weiterbildungssystem mitschwingt, gilt es zu fragen, wer und was wozu instrumentalisiert resp. “verdinglicht” wird. Ist diese Anpassung unausweichlich? Ist sie jene Art Mitläufertum, vor welcher Theodor W. Adorno schon 1963 gewarnt hatte[13]? Es ist zur Genüge bekannt, dass Bildung in jeder Art von Diktatur zu deren Zweck benutzt wurde, dass sie auch in jener des Neoliberalismus benutzt wird, wie die schon erwähnten und weitere jüngste Untersuchungen belegen[14]. Doch wenn Bildung in erster Linie der automatisierten, ökonomischen Gewinnsteigerung dienen soll, die auch die offensive Erweiterung von Ungleichheiten anstrebt und umsetzt, stellt sich die Frage, wie die aktuellen Bildungsverantwortlichen mit dieser Tatsache umgehen.
Mir erscheinen Adorno’s Überlegungen zu Bildung und Geisteswissenschaft keineswegs veraltet. Auch damals hatte unter dem Druck der Wirtschaft die Anpassung an den technischen Fortschritt in den meisten Wissenschaften in einem Mass zugenommen, dass sich, wie er schrieb, die professionelle Kompetenz der Hochschulabgängerinnen und –abgänger (wie auch jene von Fachhochschulen) vor allem durch die „methodische Sauberkeit, allgemeine Kontrollierbarkeit, den Consensus der zuständigen Gelehrten, die Belegbarkeit aller Behauptungen, die logische Stringenz“ bewies. Adorno monierte damals, dass durch die ausschliesslich formalen Qualifikationsanforderungen das kritische, auch das selbstkritische Bewusstsein der hoch ausgebildeten Menschen verloren gehe. Sie würden in erster Linie eine gesellschaftliche “Deckung“ begehren, nämlich “die Deckung durch den institutionellen Wissenschaftszweig“, dem sie sich verschrieben hätten. Zu diesem Zweck “errichten sie in sich eine mehr oder minder freiwillige Selbstkontrolle. Diese veranlasst sie zunächst dazu, nichts zu sagen, was den etablierten Spielregeln ihrer Wissenschaft nicht gehorcht; allmählich verlernen sie, es auch nur wahrzunehmen.“ Adorno kam zum Schluss: “Nicht nur die Fachausbildung, sondern auch Bildung selber bildet nicht mehr. Sie polarisiert sich nach den Momenten des Methodischen und des Informatorischen.”
Wenn “Bildung nicht mehr bildet”, wenn Menschen das eigene, kritische Denken aufgeben, um sich in erster Linie durch Anpassung “gedeckt” zu wissen, werden sie Teil der Methode und des Systems, sie werden abstrahierbar und nutzbar. Der wirkliche Subjektwert ist gefährdet. Adorno zufolge sollte Bildung “eins sein mit dem Widerstand gegen die Verdinglichung des Bewusstseins”, das in „Konformismus“ mündet. Als Beispiel zitierte er u.a. die Klage eines Studenten, dem an der Universität mitgeteilt wurde, er sei dort “um zu forschen, nicht um zu denken.“ [15]
Was zu Adorno’s Zeit aktuell war, wird in der heutigen Situation zunehmend verdrängt und setzt sich daher fort. Der in unserer Zeit übliche Handel mit begabten jungen Menschen aus allen naturwissenschaftlichen, kommunikations- und produktionstechnologischen Disziplinen, deren Ab- und Anwerben durch hochdotierte Industrielaboratorien und Universitäten ist nicht nur ein “brain-drain“ – ein “Denk-Abfluss” – ihrer Herkunftsländer und geschieht gewiss nicht zu deren persönlichen Förderung, sondern ist zweck- und profitgebunden. Die technologisch und fachspezifisch gut ausgebildeten jungen Frauen und Männer werden zu spezifisch einsetzbaren, austauschbaren “brain-tools“ gemacht, zu “Denk-Werkzeugen”, die, analog zu den Computern, hinter welchen sie sitzen, in einer virtuellen Welt und in virtuellen “networks“ für eine bestimmte Zeit eine bestimmte Funktion erfüllen. Alle ihre übrigen Bedürfnisse, alle konkreten Beziehungen, auch die sozialen Verpflichtungen, die daraus resultieren, kurz, die Tatsache, dass sie als Menschen in eine “Welthaftigkeit“ hineingeboren wurden, wie Hannah Arendt sagte, all dies wird sekundär. Indem sie sich zum “brain-tool“ machen lassen, werden sie instrumentalisiert und austauschbar gemacht, gleichgeschaltet und roboterisiert, wie begabt und wie hervorragend ausgebildet sie auch seien – weil sie nicht dagegen opponieren. Ihr beruflicher Erfolg geht tatsächlich einher mit der “Verdinglichung” ihrer selbst.
Nochmals stellt sich die Frage: Wie viel Freiheit steht dem Menschen heute zu? Wie ist ein kreativer “Widerstand gegen die Verdinglichung des Bewusstseins”, gegen die Verdinglichung des denkenden Menschen denkbar und wie ist er umsetzbar? Wie steht es tatsächlich um den Subjektbegriff, d.h. um die Wahlmöglichkeiten des Subjekts? Lassen nicht gerade die von Ines Langemeyer in ihren Untersuchungen dargestellten “allseitigen subjektbezogenen Kompetenzen im selbstbestimmten und sachgerechten Lernen” unklar, was noch unter “Subjekt” verstanden wird, da sie gleichzeitig die aktuelle “Verdinglichung der Subjektebene zur autopoïetischen Systemebene” schildert? Wird nicht deutlich, wie gross die begriffliche Verwirrung wurde? Kann ein angepasster, nach “Deckung” suchender, letztlich um des Überlebens willen mitagierender Teil einer “verdinglichten autopoïetischen Systemebene” sich anders denn als Objekt von Bedingungen betrachten, denen er ausgesetzt ist? Und vor allem, wie lässt sich angstbesetzte Anpassung an auferlegte Bedingungen verändern und lösen? Wie lässt sich wieder Boden unter den Füssen finden, ohne dass dieser voller Fallstricke erscheint? Wie lässt sich wirklicher Subjektwert erleben, erkennen und umsetzen?[16]
Der eigentlichen Bedeutung von Subjekt wird gerecht, wer den Mut zur Auseinandersetzung mit den Zeitbedingungen finden kann, wer es in der aktuellen Geschichte schafft, sich den global geforderten Anpassungen auf innovativ kritische Weise entgegenzustellen und einen anderen Rhythmus im Denken und Entscheiden zu beantragen resp. umzusetzen als den hierarchisch geforderten und kollektiv befolgten. Dabei geht es weder um “naiven Utopismus” noch um “schwarze Skepsis”, wie Peter Glotz einmal erwähnte. Es geht um eine andere Art sowohl individueller wie sozialer Verantwortung, die auch das Schul- und Bildungssystem, ja das ganze wirtschaftlich dirigierte Verwaltungssystem betrifft.
Erst der innovativ kritische Prozess, der heute dringlich ist, wird der eigentlichen Bedeutung von Subjekt wieder gerecht werden können. Er geht mit dem Mut[17] einher, eine andere Art von Aufmerksamkeit zuzulassen und umzusetzen, d.h. zu wagen, Empfinden und Denken im Prozess des Erkennens und Entscheidens nicht dem Unbewussten zu überlassen, nicht den vielfachen Ängsten, sondern das Bewusstsein resp. das Gewissen (engl. consciousness resp. conscience) im Sinn der Befähigung zur Freiheit immer wieder zu wecken und zu nutzen. Diese Befähigung zur Freiheit – in Hannah Arendts gesamtem Werk als die dem Menschen durch die “Gebürtlichkeit” resp. “Natalität” zustehende Kraft, die mit jedem Atemzug erneuert werden kann – ist zugleich Grundbedürfnis und Chance des Neubeginns. Sie ermöglicht Neuorientierung und Korrektur einer Lebensentwicklung, die den zentralen Grundbedürfnissen und Grundwerten entgegensteht.
Wenn wir uns fragen, welche Wahlmöglichkeiten dem Menschen in seinem Subjektwert heute zustehen, so ist es das kritische Denken im Sinn der kreativen Skepsis. Die technische Entwicklung lässt sich nicht rückwärts drehen, doch sie kann anders als unter Zwang genutzt werden. Dies betrifft auf besondere Weise den breiten Bereich von Bildung – vom Grundschulsystem über Gymnasien und Universitäten, von Ausbildung zu Fachwissen und Weiterbildung wie zur Umsetzung von Bildung. Bildung sollte Menschen ermöglichen, aus der Robotisierung herauszufinden. Bildung sollte wieder einen lebensstärkenden Halt vermitteln, der das kritische Hinterfragen von Erfolgsbedingungen als kreative Potenz stärkt.
Widerstand gegen die “Verdinglichung”: kreative Skepsis und “amor mundi”
Nun, Widerstand durch diejenigen zu leisten, die unter Vorgabe ihres eigenen Erfolgs dazu benutzt werden, Widerstand zu verunmöglichen, erscheint dringlich. Wie lässt sich Freiheit zurückgewinnen, wenn sie nicht über das Denken und die dafür zugestandene Zeit eingeübt werden kann? “Die jungen Menschen müssten sich gegen den Missbrauch ihrer selbst, ihrer Denkkäfte und ihrer Zeit zur Wehr setzen” hatte Paul Virilio im Gespräch von 1996 betont, gegen Masslosigkeit und gegen Sprachlosigkeit, gegen die Entfremdung von der Wirklichkeit, insbesondere gegen den Verlust der real gelebten Zeit. Virilio ging auf eine Warnung Heraklits ein, dass es wichtiger sei, Masslosigkeit zu löschen als einen Brand zu löschen[18]. Es ist tatsächlich möglich, aus dem Entweder-Oder jeder Art von Masslosigkeit auszusteigen und den Sinn fürs Mass wiederfinden. “Es bedarf eines neuen Rhythmus”, hatte Paul Virilio betont. “Man müsste die Intelligenz für den Rhythmus entwickeln.”
Paul Virilio’s Hinweis auf Heraklit kann genutzt werden. Wir wissen, dass jede Art von Ausbildung zu beruflichen Funktionen führt, in welchen Handlungsentscheide erfordert sind. Die Verantwortung, die damit einhergeht, kann auch in der heutigen Zeit nur getragen werden, wenn ein neuer Rhythmus des Denkens das Selberdenken und das bewusste Denken ermöglicht. Anstelle von “stress” kann “attention” resp. Aufmerksamkeit spürbar werden, eine Sorgfalt im Beachten der Folgen von Handlungsentscheiden, welche auch tragbar sein könnten, wenn sie ertragen werden müssten. Das Bewusstsein von Reziprozität (“recus” – rückwärts, “procus” – vorwärts), das sich dabei äussert, beruht auf dem Wissen um die zwischenmenschliche Abhängigkeit, d.h. auf dem Wissen, dass die in vielen Zusammenhängen nicht wählbar gewesene und nicht korrigierbare Vergangenheit im schmalen Zeitübergang, der Gegenwart heisst und der Handlungsentscheide ermöglicht oder verlangt, die Zeit, die kommen wird, mitgestaltet – für einen selber ebenso wie für andere Menschen in deren Gleichzeitigkeit. Der kategorische wie der praktische Imperativ Kants treten in den aktuellen Diskurs ein. Hannah Arendt hat sich danach orientiert.
Ihr Ansatz ist „amor mundi”, und dieser Ansatz ist umsetzbar auch heute: „Amor mundi“ anstelle von Globalisierungsgefolgschaft. Der politische Aspekt, der mit der Bedeutung von Kultur einher geht und der jenem von Bildung nahe steht, wird durch Hannah Arendts Ansatz verstärkt. Es geht um die Zustimmung des denkenden Menschen, Teil der “polis” zu sein und somit in einer Mitverantwortung für das aktuelle und künftige Zusammenleben der vielen zu stehen.
Ich komme zum Abschluss: Die Klage über das “Anwachsen von Weltlosigkeit”, die sich in einem der nachgelassenen Fragmente Hannah Arendts findet[19], über die sich ausbreitende “Wüste in der Welt”, wodurch zwei wichtige, unverzichtbare Vermögen der Menschen “das Vermögen der Leidenschaft und des politischen Handelns” bedroht seien, gilt es zu beachten. Es sind diese beiden Vermögen, die dazu befähigen, das “Anwachsen der Wüste” zu verhindern und “Oasen zu schaffen“, d.h. Räume, in denen Menschen zusammenleben können unter Bedingungen der Pluralität und unter Bedingungen der Kultur, d.h. der wechselseitigen Berücksichtung und “Pflege“ (lat. cultura) der so schnell verletzten Menschenwürde. Hannah Arendt sieht hierin die Möglichkeit der Korrigierbarkeit des Getanen, wodurch das Getane zwar nie ungetan wird, wodurch aber die Geschichte – d.h. der Ablauf der Zeit und der vielen Leben in dieser Zeitgenössischkeit – eine andere Wendung nehmen kann.
Und die “Leidenschaft”, die Hannah Arendt als dringlich erachtet? Sie meint damit die suchende und schöpferische Kraft des “eros”, die sich in der Grundbedeutung von Bildung findet und die sich im “amor mundi” manifestiert. „Leidenschaft“ ist die Kraft der aktiven Zustimmung zu dem, was die Menschen untereinander verbindet, d.h. zum “inter-esse” als dem Bezugsgeflecht zwischen den Menschen, zu deren gemeinsamen Welthaftigkeit. Es ist die gleiche Kraft, die sich im Widerstand gegen Instrumentalisierung und gegen menschenverachtende und weltzerstörerische Gewalt äussert, die daher Indifferenz und Eskapismus, d.h. den Verzicht aufs Selberdenken ausschliesst.
Auch die Entscheidungsproblematik in Zusammenhang von Bildung, auf die wir eingingen, kann nicht durch die kritiklose Befolgung von Gesetzen gelöst werden, sondern, gemäss Hannah Arendts Ansatz, durch das „leidenschaftliche Wagnis“ des persönlichen Urteils, wenn nötig gegen das Gesetz. Die sorgfältige Abwägung, woran sich in Zusammenhang des Bologna-Modells richtiges Entscheiden und Handeln misst, beruht letztlich auf diesem leidenschaftlichen Wagnis, das der moralischen Handlungskompetenz zugrunde liegt, die Kant in seiner “Kritik der praktischen Vernunft“ erarbeitet hat und auf welche Hannah Arendt, Adorno, Paul Virilio, Vilém Flusser und Peter Glotz immer wieder hinweisen. Es geht um die kreative Kraft der Skepsis, die es jedem Menschen ermöglicht, die Bedeutung von Bildung neu zu überdenken und die Dringlichkeit, die sich daraus ergibt, zu realisieren: vom Karussell der Masslosigkeit und der menschlichen „Verdinglichung“ abzusteigen und Wissen zu Gunsten des persönlichen „inneren Rhythmus“ und des wirklichen, nicht virtuellen menschlichen Zusammenlebens einzusetzen.
[1] Johann Wolfgang Goethe. Gedanken (Maximen und Reflexionen). III. Zur Naturforschung. Goethes Werke. 12. Bd. S. 115. Hrsg. Ernst Merian-Genast. Verlag Birkhäuser, Basel 1944
[2] Als interessante Ergänzung las ich am 10. 9. 2007 in der NZZ (Nr. 209 / B1) den Beitrag von Markus Waldvogel: Der Ruf nach Effizienz im Bildungswesen und andere Gemeinplätze. Verbreitete Forderungen an das „Kerngeschäft“ im öffentlichen Diskurs.
[3] NZZ, 4./5. August 2007, Nr. 178, S. 21
[4] Markus Waldvogel. Der Ruf nach Effizienz im Bildungswesen und andere Gemeinplätze. Verbreitete Forderungen an das „Kerngeschäft“ im öffentlichen Diskurs. NZZ, 10. September 2007, Nr. 209/B1
[5] geb. 1932
[6] cf. Maja Wicki. Tages-Anzeiger / Wochenendausgabe 9./10. 12. 1995
[7] z. B.Paul Virilio. La vitesse de libération. Editions Galilée, Paris 1995. (In Deutsche übersetzt von Bernd Wilczek. P.V. Fluchtgeschwindigkeit. Carl Hanser Verlag, München / Wien 1996). – P.V. L’inertie polaire. Edition Christian Bourgeois, Paris 1990. (Ins Deutsche übersetzt von Bernd Wilczek. P.V. Rasender Stillstand. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M. 1997).
[8] 27. Jg. / 1. Halbjahr 2007
[9] ibid. S. 119-130
[10] Peter Glotz, ehemaliger Staatssekretär des deutschen Bundesministeriums und Senator für Wissenschaft und Bildung in (West-)Berlin, später Gründungsrektor der Universität Erlangen und Professor an der Uni St. Gallen. Zahlreiche Publikationen; hier zitiert: Die beschleunigte Gesellschaft. Kulturkämpfe im digitalen Kapitalismus. Verlag Kindler, München 1999.
[11] ibid. S. 123
[12] ibid. S. 127
[13]Notizen über Geisteswissenschaft und Bildung. In:Eingriffe. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt a.M.1963, S. 54ff
[14] cf. Christina Kaindl (Hg). Ungleichheit als Projekt. BdWi-Verlag, Marburg 2007. – Heinz Bude und Andreas Willisch (Hg.). Hamburger Edition, Hamburg 2006. – pascale Gazareth / Anne Juhasz / Chantal Magnin (Hg.). Die neue soziale Ungleichheit in der Arbeitswelt. UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2007.
[15] Forschung betrifft heute – wenngleich nicht ausschliesslich – quantifizierbares und vergleichbares, über elektronische Medien kommunizierbares Wissen, dessen fragmentierte Ergebnisse aus den einzelnen Laboratorien und Instituten sich untereinander ergänzen, falsifizieren oder verifizieren, das sich zur Entschlüsselung komplexer Bereiche und zur interdisziplinären Anwendung anbietet. Forschungsarbeit ist ohne Zweifel erfordert. Aber sie genügt nicht.
[16] Sprachanalytisch lässt sich sagen, dass das Subjekt in aktiver oder in passiver Weise das Verb bestimmt, welches wiederum die ganze Satzstruktur beeinflusst, sowohl was die zeitliche wie was die hypothetische oder tatsächliche Aussage und die präpositionelle oder nicht-präpositionelle Deklinationsform des Objekts betrifft. Die Beachtung der grammatikalischen Regeln ermöglicht, dass jedes Objekt Subjektbedeutung bekommen kann. Die Wechselbeziehung resp. die Reziprozität von Subjekt und Objekt beruht auf der verbalen Bedeutung von sein, haben oder tun, d.h. auf der Sinngebung der mit dem Satz einhergehenden Aussage, wobei unter “Satz” ein Gefüge von Worten, oder eine soziale Struktur oder ein Verhältnis von miteinander Kommunizierenden verstanden werden kann. Beispiele lassen sich in ungezählten Variationen ausdenken; immer geht es dabei um eine analoge Grammatik, die beachtet oder nicht beachtet wird.
[17] Mut (fr. courage) ist die daher die Kraft des denkenden Herzens – le coeur qui pense. Ich setze den Bezug zu Hannah Arendt fort. Als sie in Zusammenhang des Eichmann-Prozesses 1961[17] den Mut hatte zu fragen, warum kritiklose Anpassung und blinder Gehorsam eine völlige Entmenschlichung des Urteilens und Handelns zuliessen, die zur grossen Mittäterschaft führte – bei der Umsetzung politisch begründeter Wertloserklärung von Menschen, bei der Organisation und beim Vollzug deren Registrierung, Gettoisierung, Erniedrigung und Verdinglichung bis zu deren Abtransport zur industriellen Vernichtung und Verwertung, ohne dass das Gewissen Einhalt gebot -, als Hannah Arendt öffentlich die Fragen zu stellen wagte, wurde sie als Tabubrecherin angegriffen und diffamiert, verlor zahlreiche Freundschaften und war erneut der Frage ausgesetzt, warum dies möglich war. – Sie mögen den Einwand erheben, all dies habe nichts mit den aktuellen Problemen in Zusammenhang der Bologna-Reform zu tun. Doch Hannah Arendts Überlegungen über die fatalen Folgen von kritikloser Anpassung wie Adornos Kritik an der von ihm angeklagten „Verdinglichung” des Bewusstseins und Paul Virilios Warnung vor der menschlichen Fügsamkeit angesichts des “rasenden Stillstands” wirklichen menschlichen Lebens leiten über in die von Peter Glotz als Diktatur des “digitalen Kapitalismus” bezeichnete Gegenwart.Was heute zur Dioskussion steht, ist die Fortsetzung der nahen Vergangenheit in einem transgenerationellen Verlust des kritischen Denkens, in einem theoretischen und politischen Gehorsam sowie einer Fortschrittsgläubigkeit, in welcher menschlicher Wert erneut vom Grad der Anpassung an eine vorgeschriebene Zweckmässigkeit von Bildung wie von der zu diesem Zweck umgesetzten Leistungsfähigkeit abhängig gemacht wird.
[18] Heraklit lebte ca. 533-483 v.Chr; was von Heraklit überliefert ist, findet sich tatsächlich bei Hermann Diehls. Fragmente der Vorsokratiker, Weidmann Verlag 1903/ 1951 (Hrsg. von Walther Kranz), S. 160.
[19] Findet sich als Schlussbemerkung zu einer Vorlesung, die sie an der Universität von Berkely im Frühjahr 1955 hielt (von Ursula Ludz herausgegeben in “Was ist Politik?”, Verlag R. Piper, München 1993)