Vergeben – Vergebung – kindliche Ersterfahrungen

Vergeben – Vergebung – kindliche Ersterfahrungen

 

Es lässt sich im Augenblick nur sagen, dass die innere Freiheit als  o f f e n e   V o r a u s s e t z u n g  zu verstehen ist, frei zu denken, frei zu fühlen, frei zu meinen und zu glauben, frei zu sprechen und sich zu verhalten, frei zu wollen und zu entscheiden – eine offene Voraussetzung, die im positiven oder negativen Sinn genutzt oder nicht genutzt werden kann. Die Kriterien für diese Voraussetzung finden sich in der menschlichen Individualität, die sich im Augenblick der Geburt erstmals durch einen – noch unbewussten – Entscheid und ein  persönliches Tun manifestiert: abgetrennt vom Atem der Mutter geschieht die Zustimmung des Kindes zum eigenen Atem, zum eigenen Leben.

So wurde die „Gebürtlichkeit“[1] des Menschen für Hannah Arendt zum Sammelbegriff für die innere Freiheit, durch welche alles Tun – der Atem ist ein Tun von unaustauschbarer  Bedeutung – in das menschliche Bezugsnetz einwirkt: in den Bezug des kleinen, neu geborenen Menschen zu sich selbst, zum Wahrnehmen, Aufnehmen und Wachsen in der Gleichzeitigkeit des Bezugs zu anderen Menschen, im Sich-Öffnen gegenüber der Welt, gegenüber den Bedingungen des In-die-Welt-gesetzt-worden-seins, gegenüber dem nächsten Umfeld, in welchem auf die ersten Erfahrungen vielfachen Getragenseins die weiteren folgen, jene der Bedürftigkeit und der Abhängigkeit, der Sinneswahrnehmungen –  der Berührung der Haut durch andere Haut, der Wärme und der Kälte, der Klangvibrationen von Stimmen und von fremden Geräuschen, der Dunkelheit und des Lichts, des Blicks der Mutter und anderer Menschen, der Farbvariationen, der Empfindungen der Zunge, des Einnehmens und des Ausscheidens, des Genusses, des Staunens, des Wiedererkennens, der Freude, der Sehnsucht, des Hungers und des Unbehagens, der Angst, vielfacher Angst infolge von Erschrecken und Verlassenwordensein, in Unkenntnis der Erfüllung oder Nichterfüllung der wichtigen Bedürfnisse, die mit dem Leben aufs engste verknüpft sind. Auf die Erfahrungen der Sinneswahrnehmungen folgen jene der Bewegungsmöglichkeiten der eigenen Glieder, des Greifens und Haltens, des Anstossens und des Erkundens, der Horizontale und der Vertikale des Körpers. Gleichzeitig beginnen Worte zu wirken und Bedeutung zu gewinnen, ein Name wiederholt sich und richtet sich auf das eigene Ich des Kindes, Namen wechseln ab mit Lauten, mit Variationen von Lauten und Klängen, die das Kind zu verstehen versucht und nachzuahmen beginnt. Was „Beziehung“ und was „Sprache“ bedeuten, beginnt zu wirken in grösster Abhängigkeit von der Aufmerksamkeit resp. der Liebe der Mutter, von saugen können und Erfüllung spüren zwischen schlafen, hören und schauen. Wünsche und Erkennen verbinden sich mit unbewusster Phantasie. In welchem Mass schon in der pränatalen Zeit die Erfahrungen der Mutter unbewusst miterlebt wurden und im werdenden Wesen eine Art Vorkenntnis von Lebensfreude und Sicherheit oder von Not, Schmerz und Ängsten entstehen liessen, in welchem Mass diese weiterwirken, bleibt geheimnisvoll, trotz zahlreicher neurologischer und genetischer Forschungsergebnisse überall auf der Welt.

Ohne Zweifel finden die vielen Sinneswahrnehmungen, überhaupt die körperlichen Erfahrungen des kleinen Menschen einen Wiederhall in seiner Psyche. Gefühle, Erkennen und Denken, auch die Neugier zu erkunden und zu wissen werden angeregt, doch auf Grund der Unklarheit der mitgeteilten Botschaften geht die Aufnahmebereitschaft schnell in Variationen von Ungereimtheiten über, in vielfältige Reaktionen, die sich als Zustimmung bis zur Begeisterung oder als Zögern und Widerstand bis zur Abwehr, ja Ablehnung kund tun. Die körperlichen und die seelischen Entwicklungen, jene des Erlebens und Fühlens, Denkens  und Tuns geschehen in engster Wechselwirkung, stets in Verbindung mit den Beziehungsstrukturen, unter denen das Kind in seiner völligen Abhängigkeit lebt.  So schnell erlebt es die Übereinstimmung  oder Nichtübereinstimmung von Bedürfnissen, die es mitzuteilen versucht, und von Antworten darauf, von  Anpassung oder von Trotz, von Widersprüchen und Ungereimtheiten, von Zuviel und Zuwenig, von Ungenügen, Mangel und Verlorenheit oder von Erfüllung und Anerkennung, von Freude und von eigenem Wert. Was heisst „Liebe“, die als wichtigstes Bedürfnis des Kindes gilt? Was braucht es, damit dieses Grundbedürfnis erfüllt wird? Wann stellt sich ein Empfinden von psychischem Hunger ein, ein Gefühl des Ungenügens im Verhältnis des Kindes zu den Menschen in seinem Umfeld, ein Gefühl von Mangel, von Unsicherheit oder gar von Verlassenheit, von Neid und von Eifersucht oder Rivalität, von Angst vor Tadel und Strafe, von Scham und Scheu, gar von Unwert oder von Schuld? [2] Geschieht es nicht lange bevor ein Kind Kenntnis haben kann, warum etwas als gut und etwas als schlecht, falsch oder böse beurteilt wird, lange bevor es weiss, wie die Folgen eines Verhaltens oder Tuns sein können? Wie entwickelt sich überhaupt die Möglichkeit der Wahl? Wie viel Nachahmung oder Anpassung ist erfordert, um geliebt zu sein? Wie viel Eigenwille ist erlaubt? Warum wird dieser als Trotz abgelehnt oder als schlechtes Benehmen bestraft? Was gelten Verbote und Gebote und für wen gelten sie? Gibt es für Erwachsene eine Willensfreiheit, die dem Kind nicht oder kaum zugestanden wird?  Warum wird die Verantwortung für das Entscheiden und Tun, für Schaden und Schuld darauf abgestützt? Wie lässt sich überhaupt erklären, dass Menschen so ungleich agieren und reagieren, wenn sie doch die gleichen Grundbedürfnisse haben?

 

[1] auch unter „Natalität“ von Hannah Arendt (geb. 1906  in Hannover, gest. 1975 in New York) erstmals als Begriff benutzt und erörtert in Vita activa oder Vom tätigen Leben (dt. 1967 München, R. Piper Verlag / engl. 1958 unter dem Titel The Human Condition. University of Chicago Press)

[2] Melanie Klein / Joan Riviere. Seelische Urkonflikte. Liebe, Hass und Schuldgefühl. 1983, Frankfurt a. M. Fischer Taschenbuch Verlag . (Englische Erstausgabe: Love, Hate and Reparation. 1937, London The Hogarth Press and The Institute of Psycho-Analysis / Neuausgabe in: Melanie Klein. Love, Guilt and Reparation and other works 1921-1945. Introduction by Hanna Segal. 1998, London Vintage Random House, S. 306-343),

Write a Reply or Comment