“Erotisch lieben wir nur, was sich, im weitesten Sinn, physisch ausdrückt”… (Lou Andreas-Salome) – Betrachtungen zum Wandel des Sexualverhaltens im Lauf der Zeit
“Erotisch lieben wir nur, was sich, im weitesten Sinn, physisch ausdrückt”… (Lou Andreas-Salome) – Betrachtungen zum Wandel des Sexualverhaltens im Lauf der Zeit
Der “Lauf der Zeit” umfasst in dieser Betrachtung nicht mehr als jene drei oder vier Jahrzehnte, in denen ich und die Männer und Frauen meiner Generation – die Kriegs- und Nachkriegsgeneration – unterwiesen und erzogen wurden, Gebote und Verbote vorgesetzt bekamen und diese befolgten oder verwarfen, je nach Veranlagung blind oder bewusst, leidend oder trotzig, dann selbst in Paarbeziehungen eintraten, beobachteten, verglichen, wählten und vor allem – lebten.
Die Bedingungen hierzu unterschieden sich je nach Gegend und Herkunft sehr; was in ländlichen Gegenden und in Arbeiterkreisen üblich war, galt in der sogenannt “höheren” Gesellschaft als ungebührlich, und nicht zuletzt wegen dieser Differenz in den Normen und im Verhalten, die in Schule und Mittelschule unverhohlen zum Ausdruck kam, standen die “höheren” Regeln auf so brüchigen Füssen. Während die einen Töchter noch bis zum fünfzehnten – sechszehnten Altersjahr dem Jugendbildnis ihrer Mütter zu entsprechen hatten, mit kindlich geflochtenen, zu Schnecken über die Ohren gelegten Zöpfen, im langen Faltenrock und mit hochgeschlossener Bluse die Schulwege in der Begleitung von Freundinnen zurücklegten, über jede Stunde an den langen schulfreien Nachmittagen Rechenschaft abzulegen hatten und, unter Berufung auf “Gefahren”, die nie beim Namen genannt wurden, Badeverbot fürs gemischte Lido und Badegenehmigung für die Frauenbadeanstalt erhielten, trugen Gleichaltrige sorgloserer Herkunft schon die erste Dauerwelle und ein keck offenes Männerhemd zur Schau, einen engen Rock oder gar Hosen und – sage und schreibe – einen Freund, und all dies mit Selbstverständlichkeit und scheinbar ohne Schäden an Leib und Seele, wie die umhegten Töchter mit Neid, mit Befremden und mit wachsendem Misstrauen dem eigenen Vorschriften-Katalog gegenüber feststellten. Diese Vorschriften hatten wenig mit Lebenspraxis zu tun, sondern allein mit Prinzipien, die nicht weiter hinterfragt werden durften: mit Tabus. Und Tabus in Frage zu stellen war ein grosser Schritt!
Ein erstes Aufmucken der Töchter empfanden die Eltern als schweres Los, und sie verdoppelten die Anstrengungen, das heranwachsende Mädchen und die böse Welt weit von einander entfernt zu halten. Dies ging bis zu jahrlanger Einsperrung in gefängnisartigen teuren Internaten, und den Töchter oblag es, zu ihrem eigenen Hohn dafür noch Dankbarkeit zeigen zu müssen. Die einen wurden neurotisch, die anderen verdummten, die dritten, die Aufmüpfigen und Widerständischen, versuchten auszubrechen. Den vernünftigsten Ausbruch sahen sie in der Forderung nach radikaler Bildung, aber selbst dieser wurde nur mit grösstem Bedenken stattgegeben – so merkwürdig es klingt nach über fünfzig Jahren Frauenbewegung. Und wieder war nicht die Bildung selbst, sondern die Angst um den möglichen Virginitätsverlust der Grund der Bedenken; denn Bildung verschafft Freiheit! – und der Satz, welcher Mann denn so ein emanzipiertes Mädchen heiraten wolle, dem das “Frausein” nicht genüge, war die bieder-ehrliche Zusammenfassung aller Aengste.
Die Söhne aus gleichen Familien hatten es leichter. Bildungs- und Moralvorschriften entsprachen dem väterlichen Vorbild oder wiesen darüber hinaus, und die Maxime hiess: Je mehr desto besser, d.h. Bildung und “Erfahrung” wurden weder eingeschränkt noch waren sie ideologisch belastet, die Geschlechtlichkeit der Söhne und jungen Männer hatte nichts Suspektes und war nur in Bezug auf die jungen Mädchen bedrohlich, eben weil deren eigene Geschlechtlichkeit tabu war. Es war ein Geflecht von Hypokrisie und doppelter Moral, in dessen Maschen schon die Mütter und die Grossmütter depressiv und hypochondrisch wurden, von dem sie aber, paradoxerweise, ihre Töchter nicht verschonen wollten. Denn dieses Geflecht war auch die Garantie dessen was die Müter als Sicherheit verstanden.
In den Sechzigerjahren, die in der Revolte von 1968 kulminierten, wurden die gerade erwachsenen Töchter und Söhne dieser Sicherheit überdrüssig – in allen Bereichen, in den privaten wie in den politischen und sozialen, Sie hatten die Erfahrung gemacht, dass Sicherheit und Freiheit schwer vereinbar waren, und sie votierten für die Freiheit… Sie lehnten die Väter- und Müttervorbilder ab und ebenso die damit verbundenen Prinzipien und Ideale, Verhaltensmuster und Begründungen. Sie erklärten die Ablehnung der Autorität als Prinzip, sie räumten mit den Tabus auf und erklärten das ungeschmälerte Recht auf freie Liebe. Und der zwangsfreien und angstfreien Lust schien nichts mehr entgegenzustehen, brach doch etwa gleichzeitig mit der 68-er Revolte und der Flower-Power-Bewegung das “Pillen”-Zeitalter an. Aber alle Prinzipien sind Fallen, wenn sie zur ausschliesslichen Lebensregel erklärt werden, und so wurden selbst die schönen Prinzipien der prinzipiellen Autoritätskritik und der freien Liebe zur Falle. Sie arteten aus, in Permissivität den Kindern gegenüber, in Orientierungsnot, in Sexkonsumismus, in Bindungsunfähigkeit, in Vereinsamung letztlich. Zwar kam es vor, und mit der Zeit zunehmend mehr, dass sich aus dem grossen Towahu-Bohu Paarbeziehungen festigten, ob auf Zeit oder “für alle Ewigkeit” war weniger wichtig. Und als es gelang, die Auswüchse wie eine Kinderkrankheit zurückzulassen, war so etwas wie echte Befreiung spürbar, ein grösseres Vertrauen, eine grössere Leichtigkeit, eine grössere Unbefangenheit gerade der Sexualität gegenüber. Die Revolte hatte zudem die Differenzen im “Standes”-Verhalten hinweggefegt, sie hatte die gemischten Mittelschulen zur Selbstverständlichkeit werden lassen, das Recht auf gleiche Bildung war nun für Söhne und Töchter unbestritten, die Frauen hatten endlich das Stimm- und Wahlrecht erlangt; viele Tabus waren ziemlich erfolgreich ausgeräumt, das der Jugendliebe etwa wie das andere der Altersliebe, das freie Zusammenleben erwachsener Menschen war überhaupt nicht mehr anstössig, unter der einen Bedingung: dass es sich um zwischen-geschlechtliche Beziehungen handelte.
Homosexualität blieb nach wie vor ausgeklammert von der Welle der Toleranz, nach wie vor galten Homosexuelle, weibliche und männliche, als “Andersartige”, als “Randexistenzen”, als eine Bedrohung für die unverändert tabuanfällige, lediglich lustkonsumfreudigere Gesellschaft, die im Grunde ebenso liebesfeindlich und sexualitätsfeindlich war wie die scheinbar überwundene bürgerliche Gesellschaft. Mit der gleichgebliebenen Aechtung der Homosexualität erwies sich die Toleranz als Scheintoleranz, die Liberalisierung als Scheinliberalisierung; der vermeintliche Fortschritt war vor allem eine Folge der bequemen Empfängnisverhütung und betraff somit den “folgenfreien” Geschlechtsverkehr zwischen Männern und Frauen, nicht aber die körperliche Liebe selbst, nicht das, was dem Menschen vom anderen Menschen her wirklich geschieht, nicht diese ganzheitliche Berührung, nicht die gewaltige Kraft der erotischen Anziehung, nicht das Entzücken, nicht die körperliche oder körperlich-seelische Ueberzeugungsgewalt, die ein Mensch über den anderen gewinnt, ihn im Innersten trifft, ihn sich selbst offenbaren und nach immer mehr Offenbarung verlangen lässt und damit nach intimster Nähe mit dem geliebten Menschen. Denn so wie der Hunger nach Nahrung mit dem “höheren” Ueberlebensdrang zu tun hat, so ist die Sexualität mehr als eben dieses Grundbedürfnis: sie ist eine der untrüglichsten Auskunfts- und Wissensquellen über uns selbst, zu deren Erschliessung wir eines anderen Menschen bedürfen, jedoch nicht unbedingt eines andersgeschlechtlichen Menschen, sie ist auf naturgegebene Weise selbstbezogen (was weder mit Selbstsucht noch mit Monologik zu tun hat). Das Leiden jedes Liebenden, dass der geliebte Mensch ihm fremd und unfassbar bleibt, hängt damit zusammen. Und diese Fremdheit bleibt selbst dann bestehen, wenn der sexuelle Erlebnis- und Wissensgewinn bei beiden Beziehungspartnern ebenbürtig ist. Das letzte, eigentliche Wissen jedes Menschen über sich selbst ist sein Geheimnis. Welche Sexualpraktiken dazu verhelfen, ist irrelevant, solange beide Partner damit einverstanden sind; denn der ganze Körper ist erogen, es gibt keine Stelle, die nicht Lust vermitteln und erzeugen könnte.
Dies in Erinnerung zu rufen ist heute dringender nötig denn je, wo die Söhne und Töchter unserer Generation, früher reifer und noch ungeduldiger als wir, allmählich erwachsen werden. Infolge der fortschreitenden Aids-Ansteckungen nehmen Sexualitätsangst und Sexualitätsverdrängung wieder überhand, aus begründeter Angst einerseits, aber ebenso aus irrationalen Motiven, die von klerikalen und anderen religiös- und politisch orthodoxen Kreisen ausgenützt, gesteuert und geschürt werden. Die latente Körperfeindlichkeit unserer Kultur kommt nach scheinbar teilweiser Ueberwindung wieder an die Oberfläche, ein gefährlicher Regress im Denken und Urteilen findet statt, die Oberaufsichtt des Staates und derr Kirchen über Moral und Sitten wird wieder gefordert, nicht nur in Leserzuschriften in der Presse, sondern auch durch repräsentative nationalrätliche Voten in der Abschlusssitzung der diesjährigen Frühjahrssession. Der einzelne Mensch mit seiner unkontrollierbaren Sinnlichkeit und seiner unsicheren Urteilskraft ist wie in vor-aufklärerischen Zeiten prinzipiell suspekt, allein im Eheverbund ist seine prinzipiele Bedrohlichkeit neutralisiert, allein der eheliche Geschlechtsverkehr ist moralisch und gesundheitlich unverdächtig. Treue zu üben und zu erleben ist ein Glück, das seltene Glück glücklicher Paare; sie stellt sich in einer befriedigenden Paarerfahrung von selbst ein, als Bedürfnis, als Bestätigung und als Ergebnis. Aber Treue lässt sich gewiss nicht zum Zweck einer diffusen “Volksgesundheit” politisch forden wie dies nun geschieht, ebensowenig lässt sie sich durch Verbote und Verbotspraktiken erzwingen (selbst Keuschheitsgürtel, liest man, sollen wieder in Gebrauch kommen). All dies erinnert an dunkelste Zeiten, und wie in dunkelsten Zeiten wird wieder auf “Schuldige” Jagd gemacht, die selbst auch immer Opfer sind, auf die Aussenseiter unserer Gesellschaft, auf die Homosexuellen, auf die Prostituierten, auf die Ausländer, auf die Fixer. In Oesterreich zum Beispiel, wünschen laut der Umfrage einer Zeitschrift 82% der Befragten Zwangstests für Ausländer und für “Risikogruppen” ( zu denen die Schwulen und die Fixer gerechnet werden, nicht aber die ungezählten ehrbaren Biedermänner-Sextouristen), 22% verlangen sogar eine Tätowierung aller HIV-Test-positiven, ein Ansinnen, das unmittelbar an vergangene Nazi-Praxis mahnt und das nicht allein in Oesterreich, sondern auch in Deutschland erhoben wird, so von einem Frankfurter “Verein zur Aids-Verhütung”, welcher vorgängig die gesamte Bevölkerung der Bundesrepublik dem Aids-Test unterziehen möchte. Die schärfsten bundesdeutschen Töne kommen jedoch aus Bayern, wo Innenstaatssekretär Peter Gauweiler am liebsten alle Touristen zwangskontrollieren lassen würde und mit Vehemenz die Meldepflicht für Aids-Infizierte verlangt. Auch die Ausweisung eines schwarzafrikanischen test-positiven Studenten “wegen Bekanntschaft mit einer deutschen Frau”, welche durch das Verwaltungsgericht Saarlouis bestätigt wurde, muss als Beispiel der Hetze ernst genommen werden. In England haben Test-Positive und Aids-Kranke gar keine Einreisechance mehr, wie Mitte Februar durch das britische Innenministerium und Gesundheitsministerium bekanntgegeben wurde. In Japan werden strenge Einreiserestriktionen für Ausländer geplant, es geht die Rede von obligatorischen Bluttests oder speziellen Zertifikaten. Und in der Schweiz?
Die Aids-Verhütungskampagne ist voll angelaufen, und auch hier zeigen sich Merkwürdigkeiten: Die Situation in den meisten Gefängnissen ist erschreckend, rund jeder zehnte Häftling ist mit dem Aids-Virus infiziert, trotzdem wird die Abgabe von sterilen Spritzen und Kondomen unterbunden, einer dringlichen Empfehlung des Bundesamts für Gesundheitswesen zum Trotz; Sexualität und Drogensucht sind in den Gefängnissen eben keine Tatsachen, sondern Tabus, und der Grund dieser Haltung liegt letztlich in der gleichen besserwisserisch-moralisierenden Gleichgültigkeit und Menschenverachtung, welche in Zürich durch das von Regierungsrat Wiederkehr und Kantonsarzt Kistler ausgesprochene und kontrolllierte Abgabeverbot steriler Spritzen an Fixer zu einer rapiden Ausbreitung der Infektion innerhalb dieser Gruppe Betroffener geführt hat. Zwar werden bei uns keine generellen Zwangstests erwogen, aber heimlich werden von Aerzten mehr Tests gemacht, als von Patienten bestellt werden, zum Beispiel im Kanton Thurgau, wie Sepp Hehli von der Thurgauer Aids-Hilfe zu berichten weiss.
Ausmass und Folgen der heimtückischen Krankheit sind entsetzlich, Hundertausende sind betroffen, darunter auf ungerechteste Weise auch Kinder. Es ist eine neue Spielart des Todes, gegen die es noch kein Mittel gibt und mit der wir noch nicht umzugehen wissen, die aber aus der Menschengemeinschaft erwächst, in der wir alle leben und für die wir alle mitverantwortlich sind, nicht etwa nur die Fixer, Schwulen und Prostituierten, das steht fest. (Dass auf dem Zürcher Stop-Aids-Plakat gerade eine Prostituierte auf suggestive Weise als Blickfang herhalten muss, ist empörend). Ebenso steht fest, dass durch einseitige moralisierende und durch rein technische Präventionsmassnahmen, zum Beispiel durch Kondomverkaufssteigerung, das viel wichtigere Problem ungelöst bleibt: Dass wir lernen müssen, in der Welt, wie sie jetzt ist, zu leben und zu lieben, zu lieben und zu sterben: dass wir diese Welt lebbar machen müssen.
Die einseitige Verpönung der Sexualität jedoch und das gleichzeitig wachsende Misstrauen lassen, wenn sie sich verhärten, unabsehbare Folgen befürchten. Freud, der weitsichtige Kulturkritiker, schrieb, dass “mit der Einschränkung der sexuellen Betätigung bei einem Volk ganz allgemein eine Zunahme der Lebensängstlichkeit und Todesangst einhergeht”. Und in der Folge, das ist am bedrohlichsten, sind alle Auswüchse todesorientierter Aggressivität zu befürchten, wie sie immer in Zeiten des orthodoxen Regresses überhandnahmen, zuletzt unter der Nazi-Ideologie, derzufolge nicht nur die “andersrassischen” Juden, sondern auch die “andersartigen” Homosexuellen systematisch verfolgt und ermordet wurden, auf technisch perfekte Weise.