Elisabeth Grumbt

Elisabeth Grumbt

 

Vor etwa drei Monaten, am 1. April – es war Gründonnerstag und zugleich der erste Tag von Pessach -, kam Elisabeth gegen halb zwölf Uhr zu mir. Sie brachte mir eine weisse Margarithenpflanze, die nun voll in Blüte  steht. Wir hatten seit Tagen vereinbart, dass wir uns sehen. Sie fühlte sich damals erschöpft und schwach, wollte aber nicht, dass ich nach Basel zu ihr fahre, obwohl ich ihr sagte, dass ich es an jenem Morgen gut einrichten könne. Nein, sagte sie, dies werde ihr keine Mühe machen, und sie fühle sich wohl bei mir; dazu komme sie, weil sie mich um etwas Wichtiges bitten möchte. Wir sassen beisammen an der Frühlingssonne, sie fühlte sich wohl, sie fror nicht und wir assen, auch sie ass mit Vergnügen, dann bat sie mich, wenn es einmal so weit sei, im Kreis ihrer Nächsten ein paar Worte zu sagen, und sie bat mich, in meine Freundschaft Boris einzuschliessen.

Nachher verbrachte sie mit der Schwester Vreni eine Ferienwoche in Nizza, sie fühlte sich lieb umsorgt und betreut, aber die Erholung hielt nicht an. Für sich selber zu sorgen wurde ihr zu viel, die Kräfte reichten nicht mehr, sie fühlte sich erschöpft. Ich wusste, wie wichtig es für sie war, ihrer Pflicht zu genügen, Montag, Dienstag und Mittwoch frühmorgens nach Bern zu fahren und bei der Flüchtlingshife ihre Arbeit zu leisten. Wie gut hätte es ihr getan, einmal eine Anerkennung für ihre Sorgfalt und Treue zu erhalten; aber diese Anerkennung blieb aus.

Wir riefen einander seit Jahren wöchentlich ein- oder zweimal an, einmal pro Woche schrieb ich ihr einen kleinen Brief, als Beigabe zur JR. Aber vom Tag an, als sie im Claraspital war, telephonierten wir beinah täglich, manchmal sogar zweimal täglich. Am 9. Mai, Sonntagmorgen, sagte sie mir, die Nacht sei unruhig gewesen, und am Morgen haben sie erneut brechen müssen, nein, es wäre zu anstrengend für sie, in den Schlipf hinauszufahren, sie plane jedoch, die Freundin zu treffen, die nach Mexico auswandern werde; am Sonntagabend weinte sie am Telephon. Sie war tief traurig, sagte, ja, sie habe Abschied genommen von der Freundin, sie habe mit ihr gute, tiefe Momente gehabt, wie auch früher häufig. ,,So ein Abschiednehmen”, sagte sie, ,,es ist schwer”. Sie sei auch noch in die Wohnung gegangen, aber sie habe das Gefühl, da sei ihr alles zu gross geworden und zu viel, und trotzdem sei sie froh, die Wohnung noch zu haben, wenngleich sie nun nichts anderes brauche und wünsche als das Bett im Claraspital. Wie es weitergehe, wenn sie nicht mehr im Spital sei, mache ihr Angst, vielleicht mit Hilfe der Spitex könnte es gehen, Frau Mascarin werde für sie das Spitex-Gesuch schreiben. Ich versprach ihr, sie am nächsten Tag, am 10. Mai, am späteren Nachmittag zu besuchen. Ich spürte irgendwie, dass keine Zeit mehr zu verlieren war. Sie sagte, sie würde auf mich warten, sie freue sich sehr, Besuchszeit sei ja bis abends acht Uhr.

Am 10.  Mai war ich kurz nach fünf Uhr mit meinen Verpflichtungen fertig, etwas nach sechs Uhr traf ich im Claraspital ein und erfuhr am Eingang, dass sie auf Zimmer 431 verlegt worden sei. Sie lag im Koma, sie atmete schwer. Der Atem wurde ein wenig ruhiger, als ich sie hielt, mit ihr sprach und sie streichelte. Sie hatte wirklich auf mich gewartet und nun war ich bei ihr. Sie bekam ein wenig Morphin gespritzt, um die Atemtätigkeit zu erleichtern. Ich sagte der Krankenschwester, ich würde die Nacht bei ihr bleiben. Der behandelnde Arzt kam vorbei und erklärte, Elisabeth habe unversehens gegen halb fünf Uhr “Ausfälle” gehabt, und im Tomogramm sei eine starke linksseitige Hirnblutung festgestellt worden. Ich sprach zu ihr, im Wissen, dass sie mich vernehmen konnte, sagte ihr, der Arzt versuche, Boris zu erreichen, ich sei so froh, dass sie auf mich gewartet habe, alles sei gut. Der Puls wurde schwächer. Gegen zwanzig vor acht Uhr war er still. Ihr Gesichtsausdruck wurde ruhig und friedlich, auch irgendwie wunderbar stolz.

Ich blieb noch mehrere Stunden bei ihr, auch als sie gewaschen und zurechtgebettet wurde. Aus dem Steinnelkenstrauss, den ich ihr mitgebracht hatte, wurde ein kleines Bouquet mit einem rosa Band ihr auf die Brust gelegt. Ich half den Nachtschwestern, sie in den Schneewittchensarg zu legen, im Untergeschoss des Spitals.  Mit dem letzten Zug fuhr ich nach Hause.

 

Noch in der Nacht und am nächsten Tag war meine Sorge, Boris zu erreichen, Boris und Vreni Künzli, deren Adresse ich kannte. Es gelang erst am Mittwochmorgen. Wer war Elisabeth?  Sie war eine liebevolle, mädchenhafte, aufmerksame, kluge, schüchterne, lebenshungrige, fröhliche, intensiv wissenshungrige, anteilnehmende, zutiefst selbstverantwortliche, lebensverletzte, einsame, tapfere, nie wehleidige, ganz und gar ehrliche, verlässliche, beherzte, stolze, zärtliche Frau, eine liebe Freundin für mich und für viele andere, eine liebe Mutter für Boris, eine besorgte Tochter und Schwester – in jeder Beziehung, die sie lebte, sehr bewusst, sehr verletzlich und sehr echt, in jeder von grösster Sorgfalt, auch in ihrer Beziehung zur Natur und zu allen Kreaturen, was sich darin zeigte, dass sie einerseits eine konsequente Vegetarierin war, andererseits dass sie zu reisen liebte, auch wieder auf besonders sorgfältige Weise, sie liebte die Wüste, das Meer, sie liebte es, neue Kulturen kennen zu lernen (davon weiss Judith viel), ich erwähne etwa ihre Reisen nach in den Jemen, nach Israel, nach Malta (immer schickte sie ausgesuchte schöne Karten und schilderte nach der Heimkehr sehr klar, was sie gesehen und erlebt hatte), und der Verzicht auf eine Reise in die Sahara im frühen Frühjahr dieses Jahres fiel ihr schwer. Auch in ihrer Beziehung zur Gesellschaft war sie untrüglich  sorgfältig und befasste sich mit den politischen Fragen sehr genau, was sie bewog, als feministisch und sozial engagierte Kämpferin für politische Projekte und Anliegen einzustehen. Bewusst, anhänglich und verlässlich war sie ebenso in ihrer Beziehung zu Freundinnen und Freunden, oder zu Basel als Mitglied des ,,Schiisdräckzügli”. Sie liebte die fröhlichen, heiteren Momente und wusste sie zu geniessen.

So bewusst und gründlich aber war sie nicht nur im Welthaften, in den selber gewählten Beziehungen, sondern auch in ihrer Beziehung zur eigenen Herkunftsgeschichte, zur mütterlich-jüdischen Herkunftsgeschichte als Hüterin der verbliebenen Dokumente ihrer Grosseltern aus Russland. Ich erinnere mich gut an den Nachmittag, als sie mir diese Dokumente zeigte, aber auch Fotos aus ihrer Kindheit und Jugend. Ich weiss, wie sehr sie sich bemühte, die innere Geschichte ihrer Mutter zu verstehen und ihr dadurch näher zu kommen. Und ebenso bewusst war sie auch in ihrer Selbstbeziehung als Frau, im Erinnern der Liebe zu Boris Vater, der Hoffnungen, des kurzen Glücks während der Anfangszeit in Palermo, der Enttäuschungen und der Einsamkeit, als sie nach dessen Tod allein mit dem Kind wieder in Basel lebte und das gemeinsame Leben organisierte. Die Beziehung zu den weit entfernt lebenden Schwiegereltern hielt sie aufrecht, insbesondere dem Schwiegervater blieb sie verbunden. Jede Beziehung nahm sie ernst, jede war eine gelebte Beziehung, nichts, scheint mir, war sie belanglos oder zufällig.

Als sie sagte, es sei ein Abschiednehmen, und es sei für so schwer, wusste ich, das war ein Abschiednehmen nicht nur für sie. Seither weiss ich es täglich von neuem. Ich kann sie nicht mehr anrufen, nicht mehr sehen, kann ihr die “Rundschau” nicht mehr schicken, höre ihr besonders hübsches Lachen nicht mehr, nicht mehr ihre getragene, klare, dunkle Stimme, all dies nicht mehr. Aber es bleibt ein Wissen um sie, das mit ihrem Tod in keiner Weise geringer wird, etwas unzerstörbar Liebevolles, das bleibt. In diesem Wissen wünsche ich ihr, dass sie in Frieden ruhe.

 

Maja Wicki / Zürich, Anfang Juni 1999

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