Die Schönste des Universums – oder: Wie war das mit dem Urteil des Paris?
Die Schönste des Universums – oder: Wie war das mit dem Urteil des Paris?
Es ist noch nicht lange her – denn die mythologischen Zeiten messen sich in Unendlichkeitsepochen -, da heirateten auf dem Olymp Peleus und Thetis. Peleus hatte schon ein gerütteltes Männerleben hinter sich, mit Jagden, Schuld und Flucht, mit Frauenintrigen und Frauenleid: Seine erste Frau, Antigone, hatte sich erhängt, aus nachtschwarzem Leid. Thetis dagegen war aus anderem Geschlecht, eine Nereide war sie, verspielt und eigensinnig, mit ihren neunundvierzig Schwestern hatte sie sich in allen Verwandlungs- und Uebermutskünsten ausgetobt und den höchsten Adel in Entzücken versetzt. Zeus und Poseidon – übrigens Grossvater und Grossonkel des Peleus – waren ihre prominentesten Verehrer, ausgebrannte Frauenhelden, vor denen die weise Titanin Themis, eine Grosstante der jungen Thetis, zu Recht warnte. Und sie vertrieb sie, indem sie weissagte, der Sohn der Thetis werde einst um vieles stärker sein als der eigene Vater. Da bekamen es die alten Verführer mit der Angst zu tun, und Peleus konnte Thetis gewinnen, die ihm später Achilleus gebar. Aber damit greifen wir in der Geschichte ungebürlich voraus.
Zur prunkvollen Hochzeit v0n Peleus und Thetis waren alle geladen, die Rang und Namen hatten, alle – ausser die finstere, ungeliebte Eris. Gerade sie war vergessen worden, und das war fatal: Wutentbrannt tauchte sie am Fest auf, warf einen goldenen Apfel unter die Gäste, mit der Aufschrift “Der Schönsten” und entfernte sich hohnlachend. (Man muss wissen, dass Eris, die Schwester des Haudegen und Kriegsgottes Ares, zu Recht ungeliebt war, sie war die Göttin der Zwietracht, und mit dem Apfel, den sie warf, dachte sie für alle Zeiten Zwietracht zu säen unter den Frauen).
Denn – wer war die Schönste?
Paris, der troische Königssohn, der weit ab von allem Menschengewühl auf dem Berg Ida aufwuchs, sollte entscheiden. (Homer schildert ihn als hübsch und weichlich). Die drei aussichtsreichsten Kandidatinnen wurden von Hermes, dem Götterboten, zu Paris geleitet, und jede von ihnen versuchte, den jungen Schiedsrichter zu beeinflussen: Hera versprach ihm Macht über Götter und Menschen, Athene höchsten Feldherrenruhm und Aphrodite – die schönste Frau des Universums!
Und man weiss, wie es kam: Paris entschied sich für Aphrodite, und damit nahmen jene unseligen Geschichten ihren Anfang, die noch in aller Erinnerung sind: Paris, der mit Oinone verheiratet war, verliebte sich in Helena, die Frau des Menelaos, und entführte sie (mit ihrem Einverständnis) von Sparta nach Troia, worauf der zehn Jahre dauernde Krieg losbrach, den schliesslich die Griechen dank der List des Odysseus gewannen, in dem aber die besten Männer starben, auf beiden Seiten. Paris tötete mit einem Pfeil Thetis’ Sohn, Achilleus, und wurde selbst durch einen Giftpfeil tödlich verwundet. Oinone hätte ein Heilmittel gekannt, sie war in den Heilkünsten bewandert, aber sie weigerte sich, dem treulosen Mann zu helfen. Als er aber dann qualvoll gestorben war, bedeutete auch ihr das Leben nichts mehr und sie gab sich selbst den Tod, während Helena, die Schöne, zusammen mit den gefangenen Troerinnen nach Sparta überführt wurde. Menelaos, der für seine abtrünnige Frau die härtesten Strafen ausgedacht hatte, verliebte sich von neuem in sie, und ein zweitesmal wurde sie Königin von Sparta.
Helena muss von grösstem Liebreiz gewesen sein, das steht fest. Ob sie aber helles oder dunkles Haar hatte, gekraustes oder glänzend gerades, ob sie gross oder klein gewachsen war, stattlich oder zierlich, das weiss niemand. Keiner der damaligen Kommentatoren, nicht einmal der beste, Homer, übermittelt von ihr ein genaues Bild. Alle sprechen nur vom bezwingenden Glanz ihrer Ausstrahlung, von ihrer unwiderstehlichen – Schönheit.
Schönheit?
Mit dem Urteil des Paris und allen, Folgen, die daraus erwuchsen, wurde Schönheit zum erstenmal d a s Weltthema. Und seither werden die Lebenspraktiker und die Lebenstheoretiker nicht müde, sich den Kopf zu zerbrechen, was Schönheit bedeutet. Dabei bilden sich zwei deutlich unterschiedene Lager: Die Lebenspraktiker verbinden Schönheit mit Liebreiz. (Man sagte heute Sex-Appeal, und meint eigentlich dasselbe). Sie entscheiden wie Paris: Schön ist, wer (oder was) Liebe weckt. Bei D.H.Lawrence, der einer von ihnen ist, heisst es, die “Glut des Geschlechtlichenu mache die Schönheit aus, und, subtiler, wenn “Glut zu Glanz” werde, tue sich Schönheit kund. Und in der Tat, wir verlieben uns und lieben Menschen, manchmal kurz und manchmal ein Leben lang, weil dieser Glanz uns trifft und uns blendet, weil er uns selbst entflammt. Denn Schönheit hat mit dieser Erfahrung zu tun, Schönheit ist kein allgemeiner Wert wie Harmonie oder Ebenmass oder Gleichgewicht der Teile im Ganzen, Schönheit ist ein Erlebnis, bewegt uns, verändert uns, löst Entzücken aus und schöpferische, drängende, jubelnde Kräfte.
Doch gewiss nicht allein da, wo sich das “Geschlechtliche” kundtut, teilt sie sich mit, sondern immer auch da, wo das unverwechselbar Menschliche in seiner besondern Wärme und Lebendigkeit uns begegnet. Dieses Schöne – und damit übernehmen wir die Position des zweiten Lagers, ist keine Zutat und kein Zusatz zu etwas, das ist, sondern offenbart sich unmittelbar, frei von Absicht und Zweck als Schönheit. Kant ist der bedeutendste Vertreter dieses Lagers. Nicht Begehren weckt die Schönheit, sondern Staunen und Ehrfurcht, sagt er: Schönheit ist das, was man nicht verändern möchte.
Vergangene Woche machte eine andere Schönheitswahl Schlagzeilen, nicht als Folge einer Göttinnen-Verstimmung, sondern als eingespielte Uebung und handfestes Geschäft: “Die Allerschönste kommt aus Venezuela”, Miss Universum, Barbara Palacios; sie hat dunkles Haar, ist 22 Jahre alt, 1,72 Meter gross, wiegt 54 Kilogramm und “die Endausscheidung des Wettbewerbs fand auf der Basis von Badeanzug, Abendkleid und persönlichem Interview statt”, liest man in der Meldung der Depeschen-Agentur, eine ernüchternde Präzisierung. Ob Barbara Palacios auch “Liebreiz” hat, alles und alle überstrahlenden, wie Helena? Ich schaue das Bild ihrer “Krönung” an, und das Bedürfnis überkommt mich, sie zu trösten ob all der demütigenden Fragen und Indiskretionen über Masse und Daten. Wie ein Hascherl erscheint sie auf dem Agenturbild, kurz vor dem hysterischen Zusammenbruch, mit der kleinen, noch kindlichen Hand vor dem übergrossen, weit geöffneten Mund. Neben ihr steht mit verbissenem Lächeln die hintangesetzte blonde Zweitschönste, und man denkt an den Fluch der bösen, selbst übergangenen Eris, dass Frauen untereinander entzweit sein sollen durch den männlichen Wahlspruch und die eigene Hintansetzung.
Ob es die weltweit Allerschönste tatsächlich gibt oder nicht, scheint ohne Bedeutung, ob sie einem Schönheitstrend entspricht oder ob sich nach ihr ein Trend bildet, ist eigentlich auch nebensächlich. Wichtig scheint mir, dass das Urteil des Paris auf den Fluch der Eris hin durchschaut werde, und dass es endlich den Stachel der Zwietracht verliere. Die Hoffnung ist gross, dass damit die Frauen die Angst voreinander aufgeben, die scheele Bitterkeit; dass sie einander gegenseitig stark machen in der Sicherheit, dass jede in ihrer eigenen Besonderheit “die Schönste” sein kann, sofern sie ihre Lebensglut, ihre Wärme vor lauter Angst und Unsicherheit nicht erstickt, sofern sie vor lauter Trend und Zweckdenken ihren Liebreiz nicht verliert, sofern sie ihre stolze Freiheit, den Entscheid zur eigenen Menschlichkeit und den Willen zur eigenen Wahl nicht aufgibt, sofern sie schliesslich die fordernde, zutiefst berührende Begegnung nicht scheut, dies scheint mir wichtig!