Brauchen wir Religion? – Einführung in das Aulagespräch vom 29. Januar 1991 mit Robert Leuenberger und Hermann Lübbe, Universität Zürich
Brauchen wir Religion? – Einführung in das Aulagespräch vom 29. Januar 1991 mit Robert Leuenberger und Hermann Lübbe, Universität Zürich
Auch ich begrüsse die beiden Teilnehmer am Podiumsgespräch, die Herren Professoren Robert Leuenberger und Hermann Lübbe, und Sie, liebe Anwesende, herzlich und danke Ihnen für Ihr Interesse an unserem philosophisch-theologischen Diskurs. Das Thema unseres Gesprächs “Brauchen wir Religion?” ist eine Provokation, für alle, die hier sind: – für die Theologen, weil damit die Selbstverständlichkeit der Mensch-Gott- und Gott-Mensch-Beziehung zur Frage gemacht wird. – für die Philosophen, weil damit die Arbeit von Aufldärung und Religionskritik wieder aufgenommen werden muss, die doch, scheint es, getan und erledigt ist, nachdem Feuerbach die Götter als Schöpfung der menschlichen Phantasie demaskiert hat, als Abbild der Wünsche und Bedürfnisse der Menschen, das zu sein, was sie nicht sind; – für uns alle, die wir hier sind, ist die Frage schliessllich eine Provokation, weil “wir”, wir als selbstverantwortliche Subjekte, zugleich als Individuen und als Glieder der “polis” auf unser religiöses Bedürfnis hin befragt sind, auf unsere existentielle Bedürftigkeit hin, die uns in eine – vielleicht – notwendige Gott- und Gemeindebeziehung einbindet oder die uns dieser – vielleicht – entbindet, dank eines ausreichenden Vertrauens in Vernunft und in funktionierende zivile und politische Institutitonen – je nachdem.
“Brauchen wir Religion?” – so oder so, die Frage ist eine Provokation, insbesondere angesichts der Tatsache, dass die grossen tradierten europäischen Religionen sich heute in einer akuten Krise befinden, dass sie einerseits einen grossen Mitgliederschwund zu beklagen haben, andererseits aber auch eine neue Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit Fragen des Glaubens und der sozialen Verpflichtung der Kirchen vorfinden, ferner angesichts der Tatsache, dass im atemraubenden Umbruch des vergangenen Jahres die Länder des “real-existierenden Sozialismus”, in denen die sogenannte “religiöse Frage” scheinbar überwunden und gelöst war, nicht nur in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht sich neu zu strukturieren suchen, sondern auch in religiöser Hinsicht in ihre Herkunftstraditionen zurückfinden oder zurückfallen je nachdem. Angesichts der Tatsache sodann, dass gerade heute Religionen in ihrer fanatisierten Form zur Rechtfertigung von Feindseligkeit zwischen Völkern, selbst von Krieg “gebraucht” werden.
Die Frage “Brauchen wir Religion” mag für die Teilnehmer am Podium allein schon in begrifflicher Hinsicht eine Provokation sein. Ohne uns allerdings allzu lange im begrifflichen Diskurs zu verstricken und zu verlieren, ist es vorgängig doch wichtig zu klären, ob Sie, Herr Lübbe, und Sie, Herr Leuenberger, mit dem Begriff “Religion” dasselbe Phaenomen meinen, ob Sie “Religion” in derselben Bedeutung verwenden oder ob sich schon diesbezüglich eine Differenz auftut. Weiter, ob “Religion” im Singular, im Sinn von “Religion haben”, dasselbe meint wie “eine” von vielen Religionen? Ich denke dabei an das Schiller’sche Epigramm: “Welche Religion ich bekenne? Keine von allen, die du mir nennst. – Und warum keine? – Aus Religion.”
Herr Lübbe, was verstehen Sie unter Religion? – Herr Leuenberger?
– Sind Religionen im Sinn organisierter Gemeinschaften, die ein gemeinsames Bekenntnis teilen, notwendigerweise auf einen persönlichen Gott hin ausgerichtet? Oder können sich auch Weltanschauungen und diffuse Heilslehren als “Religionen” verstehen, Herr Leuenberger?
– Wie unterscheiden Sie, Herr Lübbe, “Religion” und “Ideologie”?
– Ist das, was Herr Lübbe in seinen Büchern “Zivilreligion” nennt, nämlich der Gebrauch religiöser Formeln für zivile, nicht-religiöse Zwecke, etwa am Anfang der Staatsverfassung, die auch heute noch unter den Namen Gottes gestellt wird, oder bei der Bekräftigung von Eiden, ist das für Sie, Herr Leuenberger, ein Missbrauch des Glaubens und des gläubigen Sprechens?
Und wie gross, denken Sie, ist noch die religiöse Bedeutung von Ritualen, die von den Kirchen übernommen und ausgeführt werden, die jedoch für die meisten Menschen vor allem Passagerituale des zivilen Lebens sind? – wie die offizielle Feier des Eintritts ins Leben – die Taufe bei allen Christen – , dann die verschiedenen Rituale des Erwachsenwerdens – Konfirmation, Firmung, Bar-Mitzwa – , die Heirat als feierliche Bekräftigung des Paarlebens von Mann und Frau, Beerdigungsrituale nach dem Tod eines Menschen, früher gab es noch mehr. Wie gross ist deren religiöse Bedeutung noch?
– Gibt es religiöse und nicht-religiöse Menschen? Mit anderen Worten: Ist Religion im Sinn der gläubigen Beziehung zu einer transzendenten persönlichen Macht, die wir Gott nennen, ein existentiales Bedürfnis und mithin in jedem Menschen angelegt oder ist sie Resultat von Erziehung und tradierten Lebensformen? Was denken Sie, Herr Leuenberger? Herr Lübbe?
– Herr Lübbe, “Praxis der Kontingenzbewältigung” ist vor allem als “Orientierungshilfe”, als Verhaltenshilfe zu verstehen. Denken Sie, dass mit zunehmendem Fortschritt, das heisst mit dem Fortschreiten aufklärerischer Wissensvermittlung und Autonomiestärkung die Religion auch diese Funktion verlieren wird und gänzlich überflüssig werden wird?
– Was sagen Sie zu dieser finalen Erklärung – nicht der “Religion”, nach Ihrem Begriffsverständnis -, Herr Leuenberger, sondern der Kirchen? Haben diese für die einzelnen Menschen, für die Gläubigen, vor allem eine normative Funktion in der Vermittlung von Handlungsanweisungen, von moralischen Masstäben? Wie verhält sich denn diese normative oder präskriptive Funktion zur Freiheit des einzelnen gläubigen Menschen?
– Haben die Kirchen die Funktion der “Orientierungshilfe” nicht weitgehend an Psychotherapie und Psychanalyse abtreten müssen? Ist dies eine Folge der Aufklärung, Herr Lübbe?
– Wie verstehen Sie das Verhältnis von Religion respektive Glauben und Psychoanalyse, Herr Leuenberger?
– Zu allen Zeiten waren Religionen mit der Gefahr ihrer Fanatisierung verbunden, mit der Hypostasierung und Missbrauch ihres Richtigkeitsanspruchs. Unter diesem Anspruch wurden Andersgläubige befehdet, ja vernichtet. Auch heute sind in manchen Religionen fanatisierte fundamentalistische Regresse festzustellen. Wie erklären Sie als Theologe und als Sie als Philosoph religiösen Fanatismus?
– Marx bezeichnete Religion bekannterweise als Instrument der Täuschung, als “Opium” für das Volk, geeignet, die revolutionäre Ungeduld gegenüber ungerechten sozialen und ökonomischen Verhältnissen mit dem Trost auf ein besseres jenseitiges Leben zu besänftigen, mit anderen Worten, er bezeichnete Religion als Instrument der Disziplinierung und Repression in den Händen der Herrschenden. Die religiösen Sozialisten, im Gegenteil, verstanden Religion als Instrument des sozialen Fortschritts, als Begründungs- und Rechtfertigungsinstrument im Kampf um soziale Gerechtigkeit, eine Deutung, die auch heute in der Befreiungstheologie so verstanden wird.
Wie erklären Sie diesen Antagonismus aus philosophischer Sicht, Herr Lübbe?
Und wie verstehen Sie als christlicher Theologe das Verhältnis von Glaube respektive Kirche und Sozialismus, Herr Leuenberger?
– Der Wandel in den osteuropäischen Ländern, den wir in der Einleitung schon antönten, geht offensichtlich mit einem Rückfall in Herkunftstraditionen, in nationale und in religiöse, vor sich. Sehen Sie hierin eine positive oder eine gefährliche Entwicklung, Herr Lübbe? Herr Leuenberger?
– Immer wieder wurde von der “Agonie” der Religionen gesprochen. Die Realität aber widersprach ständig diesen Prognosen. Was erhält die Religionen am Leben? Ist es so, dass ”wir Religion brauchen”? Was ist Ihre Einschätzung, Herr Leuenberger? Herr Lübbe?
Falls Zeit bleibt, Fragen aus dem Publikum durch die Referenten beantworten lassen. Abschliessender Dank für die Teilnahme.