“Mein Banner aus erstickten Rufen” – Die Araber vor der Herausforderung ihrer verletzten Identität
“Mein Banner aus erstickten Rufen” – Die Araber vor der Herausforderung ihrer verletzten Identität
Der tunesische Arzt und Menschenrechtskämpfer Moncef Marzouki ist im arabischen Kultur- und Sprachraum hoch angesehen – und angefeindet, je nachdem. Trotz Zensur und anderer politischer Hindernisse nimmt er kein Blatt vor den Mund, um politische und soziale Misstände aufzuzeigen. Seit rund zehn Jahren sind von ihm eine Reihe von Büchern auf arabisch und französisch erschienen, eines der jüngsten mit dem Titel “Arabes, si vous parlez … ” (Verlag Lieu commun, Paris). Darin untersucht er in achtzehn Essays die Hintergründe der Ausweglosigkeit, in der sich die arabischen Völker befinden, und deren Folge kulturelle Lähmung, innerarabische Zerwürfnisse, Fanatismus und Aggressionen gegen andere Völker sind. Maja Wicki hat daraus eine Textauswahl getroffen und übersetzt.
Araber, wenn ihr doch endlich sagtet, was ihr auf dem Herzen habt, wenn ihr doch all das, was ihr über unsere Gesellschaft, über die Mächtigen bei uns, über unsere Theologen wisst, nicht länger verschwieget, unsere Welt würde zweifellos ihr Antlitz verändern.
Selbstverherrlichung und Selbstschmähung verursachen heute die bedeutendsten Störungen in der arabischen Volksseele. Nicht selten sind die beiden Haltungen, deren Macht ebenso aus Tatsachen wie aus Wahnvorstellungen gespiesen wird, gleichzeitig vorhanden.
Bei der Selbstverherrlichung wird der Ruhm eines Volkes gesungen, das der Welt eine der wichtigsten Religionen, eine der vollendesten Kulturen und eine der reichsten Sprachen geschenkt hat. Dabei kommt dieHoffnung zum Ausdruck, dass dieser Nation, die mit ihrer Bevölkerung von – bald -250 Millionen ein Territrrium von neun Millionen Quadratkilometern in Europa, Afrika und Vorderasien besiedelt, die Zukunft gehört, dank ihres Kinderreichtums und dank ihrer mineralischen und landwirtschaftlichen Schätze.
Im Eigenlob wird der ganze Rest vergessen. Diesen Rest indes ruft die Selbstschmähung mit morbider Genüsslichkeit in Erinnerung. Vielleicht gibt es keine andere Nation, die die Selbstverachtung so weit getrieben hat. Das Wort “Araber” ist nicht nur im Mund gewisser Fremder zum Schimpfwort geworden, sondern auch für viele unserer arabischen Mitbürgerinnen und Mitbbürger. Wenn es eine verabscheuenswürdige Haltung gibt, so diese der Selbstanschwärzung und Selbsterniedrigung. Sie löscht alle Errungenschaften und Hoffnungen aus; von Belang ist allein noch das Ausmass unserer Misserfolge. Es ist unbestritten, dass diese zahlreich sind. Die Misserfolge lassen sich in drei Rubriken unterteilen:
– In kultureller Hinsicht haben wir unser Eintrittsexamen in die Moderne verpasst, im Gegensatz zu den Japanern, Russen, Chinesen und Indern. Weil wir alles unter einen Hut zu bringen suchten, gelang es uns weder, unserer überlieferten Kultur treu zu bleiben, noch “Lokomotiven” einer neuen Weltzivilisation zu werden. Wir konnten – oder durften – nicht wählen, und so scheinen sich nun Gegenwart und Zukunft ohne uns zu entscheiden.
– Was die arabische Einheit betrifft, die allein unserer Nation ihr Gewicht in der Welt und die Mittel zur politischen Durchsetzung gäbe, so ist der Misserfolg noch offensichtlicher. Nicht nur haben wir seit einem Jahrhundert keinen einzigen Schritt vorwärts gemacht, sondern im Gegenteil lauter Rückschritte. Im Libanon, in Syrien, im Irak, im Sudan, in der Sahara und anderswo lauert die Gefahr der Balkanisierung. Indem wir auf dem Weg zur Einheit scheiterten, haben wir unsere soziale, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung bis zum heutigen Tag aufs Spiel gesetzt.
– Der dritte Misserfolg schmerzt noch mehr, denn er trifft jeden arabischen Menschen persönlich. Es ist der Misserfolg der Freiheit.
In den fünfziger und sechziger Jahren hiessen die Schlüsselwörter unseres kollektiven Bewusstseins “Nationalismus” und Sozialismus”. Unter Nationalismus verstanden wir sowohl das Streben nach Unabhängigkeit unserer Länder wie deren Vereinigung als letzte Stufe der Befreiung. Und Sozialismu reimte mit Utopie: Da ging es um soziale Gerechtigkeit, um Planwirtschaft und um ähnliches. Ein einziges Wort fehlte in der Aufzählung, auf erschreckende Weise: “Demokratie”.
Man erwähnte es von Zeit zu Zeit, gewiss, aber nur zum Spott. “Demokratie” stand für formale Freiheiten, für den Werbezirkus der amerikanischen Wahlen, für mafiose Wahlprozeduren. Kurz, die Generationen, die unter dem Wahlspruch von “Nationalismus und Sozialismus” aufwuchsen, setzten diese Werte mit den gegenwärtigen arabischen Regierungen gleich. Welch ein Resultat!
Das Getriebe funktionierte eine Weile, dann lief es sich heiss. Autoritäre Staatsformen bremsten, lähmten und schalteten im Namen von Nationalismus und Sozialismus überall die lebendigen Kräfte der Nation aus. Als Zugabe erlebten wir alle übrigen Misserfolge: die Niederlagen in den Kriegen mit Israel, die Verschleuderung unserer Bodenschätze, die Zwietracht der Mächtigen in unseren Hauptstädten und mehr.
Im Geist der Selbstschmähung besiegelt dieses vielfältige Scheitern den Verfall, ja das Ende der arabischen Nation. Die arabische Poesie der letzten zwanzig Jahre ist eine Weltuntergangspoesie, eine Poesie der Apokalypse, ein Trauerlied auf eine tote Nation.
So begegnet der Iraker Abdelhuahab EI-Bayati (geboren 1926) in seinem “Gasthaus des Schicksals” “dem blinden Mond im Bauch des grossen Fischs, und dir, der Heimat fern, der du nicht leben kannst, nicht sterben. Erloschen ist das Licht der Weisen.
Der Syrer Adonis dagegen (geboren 1930) bekennt in seinen “Liedern des Damaszeners Mihyar”: “Ich übergab den Steinen und dem Echo mein Banner aus erstickten Rufen, ich überliess es einem kleinen Fort aus Staub, dem Stolz der Ablehnung und der Niederlage” .
Schaut man genauer hin, wird einem bewusst, dass diese Selbsterniedrigung nur eine verschleierte oder umgepolte Form masslos verletzten Stolzes ist.
Wonach die Araber jedoch heute suchen – bewusst oder unbewusst – , sie, die so lange Reden und Tun verwechselt haben, ist, sich durchzusetzen. Es mag daher sein, dass sie sich fortan anders äussern werden, aufbegehrend und selbstkritisch. Zu sagen, dass diese Auseinandersetzung mit der Realität und diese Suche nac Durchsetzung ihrer selbst ein langer und schmerzlicher Prozess ist, käme einer Binsenwahrheit gleich.
Manchmal denkt man, Demokratie für die Dritte Welt zu erhoffen, insbesondere für die arabische und islamische Welt, sei nicht anders als zu hoffen, dass auf einem Eisberg eine Kokospalme wachse… Politische und religiöse Tyrannei haben seit Jahrhunderten den Boden unserer Kultur geschaffen und alle Keime der Freiheit erstickt.
Man versteht daher, dass das Los dieses fremden Samenkorns, das Demokratie heisst, nicht gerade viel versprechend erscheint. Aber es wäre voreilig, deswegen die Hände in den Schoss zu legen und zu behaupten, es gäbe eine grundsätzliche Unvereinbarkeit (zwischen Arabern und Demokratie), oder Demokratie auf später aufzuschieben, wo wir – nach dem beliebten Ausdruck gewisser Drahtzieher – dafür “reif” sein werden, das heisst auf den Sankt Nimmerleinstag.
Wir müssen eine strenge Bilanz über den Zustand der Demokratie in unseren Ländern ziehen und deren leere Fassaden demontieren… was jedoch den Misserfolg der Demokratie bei uns zu verkörpern scheint, erscheint zugleich auch als das Gegenteil: als der historische Moment, der nicht zu allen, abe zu vielen Hoffnungen berechtigt.
Ich wiederhole, wie um das Unglück zu beschwören, dass es bei uns Erstarrung und Rückschritte gab selbst eine furchtbare Verstärkung der Diktaturen (nicht zuletzt wegen des Einsatzes von Fernsehen und Informatik); ich wiederhole aber auch, dass darin nichts Unvermeidliches liegt und dass die Demokratie die grösseren Chancen hat, vorausgesetzt dass wir uns alle in die Zügel legen, um diese Chancen zu verstärken.
Der historische Reifeprozess, der Prozess der Vereinfachungen, Verwicklungen und der Verselbständigung der gesellschaftlichen Strukturen schafft die notwendigen Bedingungen für die Demokratie, aber er zwingt sie nicht auf. Damit die chemische Reaktion einsetze, bedarf es eines weiteren Unterstützungsmittels: der bewussten und überlegten Lenkung dieser Prozesse auf ein bestimmtes Ziel hin. Heute ist das Hauptproblem in der arabischen Welt weniger die Frage der Institutionen (etwa des Mehrparteiensystems), als dieses gesellschaftlichen Willens, mit allen autoritären Staatsformen aufzuräumen. Dieser Wille wird es zur gegebenen Zeit schaffen, eine echte politische Demokratie an die Macht zu bringen, das heisst eine gegenseitige Kontrolle der – tatsächlich – getrennten Gewalten und eine echte Aufteilung der politischen Verantwortung unter Männer, Frauen und Parteien.
Es herrscht etwa die Meinung, es sei Zufall, dass die höchstentwickelten Länder auch die demokratischsten seien und umgekehrt. Das ist jedoch kein Zufall, sondern eine Gesetzmässigceit. Demokratie ist vielleicht nicht eine genügende Voraussetzung für Entwicklung, aber eine notwendige. Mit Hilfe der Demokratie die Zwangssysteme in der Politik, am Fernsehen, in den Fabriken, Universitäten, Schulen und Haushalten brechen, heisst, allen Kräften die Möglichkei geben, sich auszudrücken, schöpferisch zu wirken, zu überprüfen, zu berichtigen, sich zu entfalten und voranzukommen …
In der uns umgebenden Verwirrung sind wir verpfl ichtet, auf eine Vorzugshypothese zu setzen und an deren Verwirklichung zu arbeiten. Der andere Ausweg ist der islamische Integrismus, gestiefelt oder nicht.
Liest man gewisse westliche Zeitungen, so hat man den Eindruck, dass nach dem Kommunismus ein neues Gespenst den Westen verstört: der islamische Integrismus.
Es ist jedoch so, dass der Integrismus am meisten uns selbst ängstigt und trifft. In Tunesien zeigt er sich zum Glück mit einem helleren und friedlicheren Gesicht als im Nahen Osten oder selbst in Algerien, doch ist die grundsätzliche Frage, die der Islamismus aufwirft, hier dieselbe wie überall.
Worum handelt es sich dabei? Um eine vorübergehende Erscheinung, dem Nasserismus vergleichbar, die eine Weile sich in Krämpfen aufbäumt und dann erschöpft zusammenbricht? Um eine Grundwelle, die die arabischen Gesellschaften überflutet und sie ein paar Jahrhunderte zurückwirft? Oder um eine echte Freiheitsbewegung des arabischen Menschen? …
Zuallererst ist der islamische Integrismus eine Reaktion auf den doppelten Misserfolg der Moderne, der pro-westlichen ebenso wie der pro-sozialistischen …
Unsere ganze Geschichte während der vergangenen vierzehn Jahrhunderte ist geprägt durch Versuche, den “wahren Islam” einzuführen. Ueberall jedoch, wo dies gelang, wurde lediglich ein absolutistisches Machtsystem eingeführt. Wenn nun heute versuchsweise der “wahre Islam” oder der “ganze Islam” in gewissen arabischen Ländern eingeführt wird, gibt es dafür keine besseren Erfolgschancen als früher …
Die islamistische Antwort auf den doppelten Misserfolg der Moderne, ist, gemischt mit arabischem Totalitarismus, völlig unangebracht, da sie ein Uebel durch ein noch grösseres zu heilen sucht…
Was wir heute dringend brauchen, ist nicht der “wahre Islam”, sondern Demokratie. Der amerikanische Soziologe Arthur Toeffler hat zu Recht bemerkt, dass diese in einer komplexen Gesellschaft nicht eine ethische Forderung ist, sondern eine technische. Niemand bestreitet, dass selbst die Demokratie verderbliche Wirkungen zeitigen kann. Doch keine zeitgenössiche Gesellschaft ist mehr in der Lage, Fortschritte zu machen – oder selbst nur zu funktionieren – ohne Aufgabenteilung, ohne regionale und gemeindemässige Autonomie, ohne Gewaltentrennung, ohne ständige Weiterentwicklung ihres politischen und wirtschaftlichen Getriebes …
Hinter dem unfruchtbaren und unfruchtbar machenden autoritären Machtsystem, unter dem die arabische Gesellschaft leidet, steht eine autoritäre Ideologie, ob es die alte sei oder diejenige, die heute als Ersatz angeboten wird. Um demokratische Machtverhältnisse in unserer Gesellschaft einzuführen und zu wahren, ist es daher vor allem nötig, das innerste Heiligtum, die Quelle aller Gläubigkeiten, Einstellungen und Verhaltensweisen zu bekämpfen: die Ideologie. Da wird sich die Aussage des französischen Philosophen Althusser bestätigen, dass jeder ideologische Kampf ein politischer Kampf ist, in der Abschirmung einer Lehrmeinung …
Die intellektuelle Struktur der Ideologie, deren Voraussetzungen, Gegebenheiten und Techniken sind zwar bekannt, doch deren affektive Struktur wurde viel seltener untersucht. Das ist zu bedauern. Denn das Geheimnis der Ideologie liegt gerade in ihrem Gemütsgehalt. Dieser Gemütsgehalt ist allerdings schwer pathologisch, besteht er doch aus Verneinung und Verweigerung, aus Zwang – und aus Gewalt.
In unserer Kultur hat sich die ideologische Schreckensherrschaft alle denkbaren Masken und Formen zugelegt. Sie zeigt sich als Herrschaft des religiösen Dogmatismus, des antireligiösen Dogmatismus, des politischen Parteiendiktats, als mindere und degradierte Form von Erlösungsideologien.
Sie trägt eine schwere Verantwortung für unsere kulturelle Unterentwicklung, die zugleich Ursache und Folge der generellen Unterentwicklung ist… Und diese Unterentwicklung macht die Schwäche der arabischen Welt aus, deren Selbstentfremdung, deren Demütigung.
Wie können wir davon loskommen?…
Wie können wir ein offenes, versuchsfreudiges, vorsichtig abwägendes, zugleich leistungsorientiertes und bescheidenes Denken fördern, das ein demokratisches Handeln begründen könnte, das wiederum durch diese Begründung in einem spezifischen Denken für uns Araber keine Illusion, kein Trugbild mehr wäre?
Die Völker, nicht weniger als die einzelnen Menschen, können anscheinend auf kein Experiment und auf keine Erfahrung verzichten. Mit dem Iran reicht es nicht, leider. Der Iran ist ja auch nicht arabisch…
Wir verstehen noch immer nicht, dass die politischen Erfahrungen, die andere Völker gemacht haben, für alle gelten, und dass wir Araber daraus lernen müssen.