China und Irak überlastet, Wartezeit 1 Stunde
China und Irak überlastet, Wartezeit 1 Stunde
Frauenstimmen, welche rund um die Uhr, in allen weichen und rauhen schweizerdeutschen Klangfarben Auskunft erteilen, nur Frauenstimmen, man hat sich daran gewöhnt, meistens Stimmen von jungen Mädchen, selten reifere, dunklere Stimmen, auch daran hat man sich gewöhnt: Nummer 191, welche alle Adressen und Telephonnummern in allen fremden Ländern herausfinden kann, und Nummer 111, diese Nummer für alle Fälle und alle Bedürfnisse, dieser eiserne Bestandteil des Ueberlebens, wenn alle anderen Abrufmöglichkeiten aus dem unzuverlässigen Gedächtnis-Abrufspeicher-Kasten versagen, aus Eile, aus Aufregung, aus Gedankenlosigkeit oder aus Schock, immer Nummer 111. Früher war es Nummer 11, als ich ein Kind war, ich erinnere mich dankbar; Damals war die doppelte Eins auf der runden Telephonscheibe letze Hilfe bei nichtlösbaren Rechenaufgaben und Geographiearbeiten, und zuverlässiger Lexikonersatz für die alte Bekannte im Nachbarhaus, die kaum mehr lesen und gehen konnte, beim Ausfüllen des wöchentlichen Kreuzworträtsels, sodass diese, dank der damals noch allwissenden Nummer 11, in ihrem hohen Alter ein Preisrätsel gewann und von ihrem Leibblatt zu einer Schwarzwaldrundfahrt im Bus eingeladen wurde. Heute ist auch bei Nummer 111 die Art der Auskünfte begrenzt, an kochunkundige Studenten dürfen keine Würstchenrezepte mehr abgegeben werden, aber die Liste der Auskünfte ist immer noch atemraubend lang und vielfältig, die mir Ruth Brunner, die ranghöchste Telephonistin aller kreisdirektionen der Schweiz, Betriebsleiterin in der Abteilung manuelle Dienste der Fernmeldekreisdirektion Zürich, bereitwillig in die Hand legt: Neben Adressen und Telephonnummern aller in der Schweiz Domizilierten alle Auskünfte über nacht- und sonntagsdiensthabende Apotheken, über Museumsöffnungszeiten, Kino, Konzert und Theaterprogramme, über Bahnabfahrts- und -ankunftszeiten, wenn die SBB-Auskunftsstelle nicht arbeitet, dann die Nummern der Blindenverbindungen, der Blindgängerstellen, der Rechtsauskunftstellen für Gastarbeiter, der Lawinenhundvermittlung, aller Wochen- und Warenmärkte, aller denkbaren Pikettdienste, kurz alle ungezählten Auskünfte von allgemeinem Interesse und jede Hilfe in Notfällen.
“Manuelle Dienste” bedeutet im PTT-Fachjargon, was für uns nutzniesserische Unwissende und Zerstreute Nummer 111 und Nummer 191 bedeutet, “manuelle Dienste” in der Tat, und ich kann nicht umhin, beim Rundgang durch die grossen Arbeitsräume eine der auskunfterteilenden Frauen zu fragen, ob nach dem 8 Stundentag hinter dem Bildschirm sie nicht die Fingerkuppen beider Hände schmerzen. “Weniger die Finger als der Rücken und die Augen” gesteht sie, und eine andere Frau räumt ein, dass ihr manchmal nach der Arbeit der Kopf dröhne von all den Stimmen, die von überall her zu ihr dringen, immer an ihr Ohr, unablässig ihre Aufmerksamkeit erfordern, sie aus der Ferne zum Reagieren bringen, zum Antworten, Suchen, Raten, Erraten, immer Stimmen von Unbekannten, von unbekannten Antwortsuchenden, von denen viele, vor allem tagsüber, eher aus Bequemlichkeit denn aus Notwendigkeit die Nummer 111 anrufen, weil dreimal die Nummer 1 zu drücken schneller geht als im Telephonregister nachzuschauen, wie die Telephonnummer der gewohnten Bäckerei im Quartier lautet oder die eines Geschäftsfreundes oder des Kinos um die Ecke. Wie dem auch sei, allein in Zürich werden von den manuellen Diensten monatlich 1,2 Millionen Ausklinfte verlangt, es gibt Spitzentage, an denen die rund 300 unermüdlich arbeitenden Telephonistinnen mit Anfragen buchstäblich bombardiert werden; aber auch an gewöhnlichen Arbeitstagen zeigen beständig wechselnde Leuchtziffern an beiden Stirnseiten der zwei grossen Arbeitssäle von Nummer 111 die Anzahl Wartender an, die, wie Frau Brunner sagt, wegen Ueberlastung “in der Schlange stehen”. Die ganze Schwere des Daseins scheint sich im Ausdruck einiger Mädchen zu sammeln, die unausgesetzt Auskunft erteilen und trotzdem die Anzahl der”Schlangestehenden” nicht verringern können, “schwierig, so nicht in Stress zu geraten, bei dieser Ueberschwemmung mit Anrufen”. Bei Nummer 191 klärt ein wechselndes Schriftband die Telephonistinnen auf, welche Länder auf welche Zeit hin “überlastet” sind: “China und Irak 1 Stunde”, “Jordanien 1 Stunde” steht es menetekelgleich an der Wand geschrieben und verschwindet wieder.
Für den Direktor der Fernmeldekreisdirektion, Anton Widrig ist diese Anrufe-Flut ein schwer zu lösendes Problem, das nach Korrekturen ruft (zum Beispiel nach zunehmender Mechanisierung der Auskünfte, wie sie vorläufig und versuchsweise bei Anfragen zum Wohnortwechsel und neuer Telephonnummer von Abonennten im Zürcher Wohnkreis Hottingen eingeführt ist) denn viele der “schlangestehenden” Abonennten werden vor lauter Warten ungeduldig und überreizt, vergessen ihre gute Kinderstube, insultieren die fleissigen Telephonistinnen, wenn endlich eine Verbindung zustandekommt, und sind dadurch mitverantwortlich für zahlreiche Nervenzusammenbrüche und Arbeitswechsel. Im Schnitt bleiben die “Töchter”, wie Direktor Widrig sie wohlwollend nennt, nur zwei Jahre beim Fernmeldeamt, ein alarmierend kurzer Einsatz bei einer darin eingeschlossenen Ausbildungszeit von einem Jahr und bei einem guten Lohn von Anfang der Lehrzeit an, vom ersten bis sechsten Monat schon über tausend Franken und vom siebten bis zwölften Monat an schon mehr als tausendsiebenhundert Franken, wobei noch zweihundert Franken Zuschuss an die Wohnkosten erfolgen, wenn die Lehrtöchter nicht bei ihren Eltern wohnen können. Dies ist häufig der Fall, denn für die rund 120 offenen Lehrstellen jährlich allein in Zürich bewerben sich mehrheitlich sechzehn bis siebzehnjährige Mädchen aus ländlichen Gegenden, die durch lokale Zeitungsinserate rekrutiert werden, junge Mädchen, denen einerseits ein PTT-eigenes Wohnheim zur Verfügung steht, denen aber auch bei der externen Zimmersuche geholfen wird. Ebenfalls mitschuldig am häufigen Arbeitsabgang ist die unregelmässige Arbeitszeit beim manuellen Dienst, die für viele, vor allem für junge Frauen schwer zu ertragen ist, andern aber gelegen kommt. Eine Welschschweizerin zum Beispiel, die während mehr als zwanzig Jahren nicht mehr im Beruf war und die in einem zweimonatigen Umschulungskurs mit der Such- und Beantwortungstechnik mittels Bildschirm vertraut gemacht wird, gesteht, dass vor allem in der Nachtschicht jede Stimme ihr wie eine Ueberraschung vorkomme; unwirsch zu werden gelinge ihr so nie.
Wer allen Belastungen zum Trotz dem Auskunftsdienst nicht davonläuft, kann nach bestandener Schlussprüfung mit zahlreichen Prämien und Aufstiegsmöglichkeiten rechnen: Mit jährlichen Gehaltserhöhungen, Auslandaufenthalten in fremden Sprachgebieten zur Erlernung oder Perfektionierung einer fremden Sprache, Zusatzausbildung zur Befähigung in einem zweiten Dienst oder zur Assistentin einer Ausbildnerin, zur Ausbildnerin selbst (heute gibt es zehn Ausbildungsklassen) oder zur “Aufseherin” (d.h. zur Cheftelephonistin, denn die alte Bezeichnung ist heute verpönt, obwohl sie noch in Gebrauch ist. Aufseherinnen gibt es auf rund dreihundert Telephonistinnen etwa dreissig bis fünfunddreissig, und sie haben die Aufgabe, bei besonders kniffligen oder zeitraubenden Anfragen ihren “gewöhnlichen” oder unerprobteren Kolleginnen zur Seite zu stehen. Schliesslich gibt es Dienstleiterinnen (immer je eine für den nationalen und für den internationalen Auskunftdienst) und zuoberst je eine Betriebsleiterin pro Fernmeldekreisdirektion, hier in Zürich eben Ruth Brunner, die seit 33 Jahren bei der PTT arbeitet. Für alle diese Frauen gilt, wie für die übrigen PTT-Beamten, ab dem l.Juni die 42-Stundenwoche; für sie besonders aber, wegen der starken nervlichen Belastung, der sie ausgesetzt sind, das Vorrecht, schon mit dem fünfundfünfzigsten Altersjahr in Pension gehen zu dürfen, vorausgesetzt, dass sie während fünfunddreissig Dienstjahren beim Auskunftsdienst oder in einem Ausweichdienst, zum Beispiel in der Administration, wo regelmässigere Arbeitszeiten gelten, ausharren.
Ausharren? Ist das Ausharren eine besondere Frauentugend?
Wieder die Frage, warum allein Frauen diesen Job ausüben. Und es ist so, seit die PTT im Jahre 1880 den Auskunftsdienst eröffnet hat, zuerst für kurze Zeit noch an der Bahnhofstrasse, dann bald schon im grossen Verwaltungsgebäude an der Brandschenkestrasse, wo er heute noch die ganze vierte Etage ein nimmt. “Die Frauenstimme selbst” sagt Anton Widrig, der Fernmeldekreisdirektor, “die Frauenstimme selbst ist schon Grund genug”. Nach einer Weile räumt er ein, dass Frauen eben eher bereit seien, nicht in einem Erfolgsjob zu arbeiten. Unterordnung also? Die herkömmliche Dienerinnenrolle der Frau in einer männlich dominierten Erfolgsgesellschaft? Nein, meint Ruth Brunner, und sieht die Ausschliesslichkeit als ein Vorrecht der Frauen an. “Wo kämen wir hin, wenn wir Frauen nicht zueinander halten würden?” und in der Tat, eine freundliche Solidarität, die auch als Stimmung in den Arbeitssälen erfasst werden kann, lässt die nah beieinander sitzenden und arbeitenden Frauen Nähe auch als etwas Positives erfahren: als Möglichkeit, Absprachen zu treffen über Verschiebung oder Abtausch von Arbeitszeiten, als Möglichkeit auch, Infirmität oder Fremdheit zu überwinden. Sowohl im nationalen wie im internatio nalen Auskunftsdienst.gibt es Frauen, die im Rollstuhl arbeiten, die bedeutende Bewegungs- oder Sehbehinderungen haben, und es gibt zahlreiche Ausländerinnen, auch unter den Vorgesetzten (wobei die Ausländerinnen allerdings in der Schweiz einen Realschul-, Sekundarschul- oder gleichwertigen Schulabschluss gemacht haben müssen).
Frau Brunner gibt mir zu verstehen, dass das Berufsselbstbewusstsein all dieser Frauen hoch ist, und dies mag für viele zutreffen. Trotzdem stimmen die Antworten einzelner, die ich am Telephon nach dem Grund der ausschliesslichen Frauenarbeit gefragt habe, nachdenklich. “Wie kommt es”, fragte ich sie, “dass keine Männer diese Arbeit machen?” Da waren Frauen, die es gar nicht wagten, eine eigene Meinung zu haben oder diese mitzuteilen und die mich gleich mit der aufsichthaltenden Cheftelephonistin verbanden, die ihrerseits auch nicht auf die Frage eingehen mochte. Andere dagegen zögerten und meinten mit einem Lachen in der Stimme, das sei eine gute Frage, über die sie noch nie nachgedacht hätten; wiederum andere zögerten zwar auch, fanden dann aber die Frage nicht unberechtigt, denn “ein Herr könnte wohl kaum in dieser Arbeit Befriedigung finden”. Ein “Herr”, nicht ein Mann! Und die Frauen? fragen sich die Frauen selbst, ob sie darin “Befriedigung” finden? “Für mich ist es eine Arbeit, bei der ich vielen helfen kann”, antwortet mir ein junges Mädchen im Rollstuhl mit kecker Stimme, “ich arbeite hier gern”. Ein anderes Mädchen aber wünscht sich, so bald wie möglich von der bedrängenden Ungeduld und Anonymität der Stimmen wegzukommen, und wäre es nur, um in einem Hotel als Telephonistin zu arbeiten, wo es sich einen persönlicheren Kontakt zu den Nenschen und deren Stimmen verspricht, die während der langen Arbeitszeit mit den banalsten und den ungewöhnlicheten Anfragen an es gelangen.
Anton Widrig weiss, dass die PTT-Telephonistinnen in der Privatwirtschaft gesuchte Arbeitskräfte sind. “Mit der gründlichen Ausbildung, die wir bieten, leisten wir den privaten Betrieben grosse Dienste. Aber es ist ein Geben und Nehmen. Auch wir sind ja auf gute Spezialisten, zum Beispiel auf Elektroniker angewiesen, die draussen ausgebildet werden.” Trotzdem schwingt ein Bedauern mit, und es wird von der Fernmeldekreisdirektion manche Anstrengung unternommen, um die Arbeitsbedingungen beim manuellen Dienst attraktiver zu gestalten, und um so die Anstellungsdauer der Telephonistinnen zu verlängern. Da wird der Ausbau der Kantine geplant, da stehen Erholungsräume für die kurzen zwanzig Minuten Pause auf je vier Arbeitsstunden oder für dienstfreie Zwischenstunden zur Verfügung, getrennte Räume für Nichtraucherinnen und für Raucherinnen, und da ist ein Ruheraum mit bequemen Liegestühlen, in dem weder geraucht noch geplaudert noch Musik gehört werden soll. Für den Dienst selbst werden jetzt neue Arbeitsräume mit breiteren und übersichlicheren Arbeitsplätzen gebaut, die etwa in einem Jahr beziehbar sind; ab Mitte 1987 werden auch die computergesteuerten neuen Systeme zur Verfügung stehen, die schon vor zwei Jahren bestellt wurden. Es sei also kein Grund vorhanden, der PTT den Vorwurf zu machen, sie schlafe, während die Technologie davonsause, schliesst Anton Widrig seine Ausführungen.
Doch hängt das Berufsselbstverständnis ausschliesslich von den technischen Neuanschaffungen ab? Und wird die Tätigkeit im manuellen Dienst, ob hinter dem Bildschirm oder mit der grösseren Bewegungsfreiheit im internationalen Auskunftsdienst, wo immer noch “von Hand” aus langen, bunten Reihen von Telephonbüchern – roten für Frankreich, grünen für Deutschland und so fort – die Adressen und Nummern der Abonennten hervorgesucht werden, wird die Tätigkeit auch in Zukunft ausschliesslich Frauen vorbehalten bleiben? Niemand weiss es. Ruth Brunner verweist auf die Vorarbeiten der PTT-Generaldirektion in Hinblick auf ein neues Berufsbild, das sich auf ein erweitertes Unterrichts- und Wissensangebot abstützen soll, das weniger einen Job als eben einen Beruf zu vermitteln suche. Vielleicht liegt in diesem Unterschied die Erklärung für die zögernde Identifikation der Frauen mit ihrer Arbeit; denn dass ein Job schwerlich auf die Länge befrieidigen kann, ob Mann oder Frau, befremdet nicht, ist ein Job doch auf die Kürze konzipiert, auf schnelles Geldverdienen ohne Engagement. Diese Frauen aber, mit ihrer buchstäblichen An-Rufbarkeit rund um die Uhr leisten mehr, und so liegt es in der Tat daran, durch Anerkennung der besonderen Leistung das Berufsbild so zu verändern, dass man als Frau eifersüchtig die Ausschliesslichkeit dieser Frauenarbeit verteidigen möchte!