“Wir waren so erfüllt von unserem Helfenmüssen, dass wir auch andere mitrissen” – Frauenpolitik im Dienst der Flüchtlingshilfe vom zweiten Weltkrieg bis heute
“Wir waren so erfüllt von unserem Helfenmüssen, dass wir auch andere mitrissen” – Frauenpolitik im Dienst der Flüchtlingshilfe vom zweiten Weltkrieg bis heute
“Wir waren von unserem Helfenwollen derart getragen, dass wir alle Vorsicht vergassen; wir waren so erfüllt von unserem Helfenmüssen, dass wir auch andere mitrissen” hielt Nettie Sutro, die Gründerin und Leiterin des Schweizerischen Hilfswerks für Emigrantenkinder (SHEK) in ihrem Rückblick “Jugend auf der Flucht” fest. Dieses Bekenntnis hat die Bedeutung einer Schlüsselerklärung für das politische Handeln von Frauen im Dienst von Flüchtlingen und Verfolgten, von entwurzelten und in ihrer Existenz bedrohten, schutzbedürftigen Kindern, Frauen und Männern. Es gibt Aufschluss über die Motivation zum Handeln bei den einzelnen Frauen ebenso wie über die ansteckende und weitertragende, eben die politische Wirkung individuellen Handelns. Immer stand am Anfang die zwingende Gewissenspflicht, die, weil sie ernstgenommen wurde, auch die Befähigung schuf.
Maja Wicki (SFH)
Politisches Handeln beginnt nicht mit der Zuerkennung politischer Rechte. Es beginnt mit dem Erwachen des politischen Bewusstseins, das heisst mit der Erkenntnis, auf unabwendbare Weise in eine Gemeinschaft und in eine Zeitzugehörigkeit einbezogen zu sein, und mit der aus dieser Erkenntnis entstehenden moralischen Verpflichtung, nicht abseits stehen zu dürfen, sondern handeln zu müssen.
Politisches Handeln auch ohne politische Rechte
Politisches Handeln hängt nicht von Verfassungs- und Gesetzesbestimmungen ab, sondern vom Gewissen. Frauen in der Schweiz haben daher nicht gewartet, bis sie handeln durften, sie haben nicht erst mit der 1971 zuerkannten politisch-rechtlichen Gleichstellung begonnen, sich in die Flüchtlingspolitik einzumischen und diese zu verändern, im Gegenteil. Schon in der Zeit des Ersten Weltkriegs und nach dessen Beendigung, als ungezählte Vertriebene, Waisen und Heimatlose zusätzlich zu Millionen hungernder Arbeitslosen der Hilfe bedurften, insbesondere als in den dreissiger Jahren der Spanische Bürgerkrieg losbrach, und als die nationalsozialistische Verfolgungs- und Vernichtungspolitik Hundertausende von Menschen jüdischer Herkunft aus Deutschland und wenig später, nach Ausbruch des Kriegs, aus fast allen europäischen Ländern an Leib und Leben bedrohte, als zusätzlich überzeugte Kommunisten und Kommunistinnen in der Flucht die einzige Rettung sahen, sodann nach Beendigung des Kriegs, als Überlebende aus den Konzentrationslagern, Kriegsvertriebene und Waisen neue Flüchtlingsprobleme schufen – in all diesen Jahren und Jahrzehnten war es zum grössten Teil der Unerschrockenheit, der Initiative und dem unermüdlichen, zumeist unentgeltlichen Einsatz von Frauen zu danken, dass, entgegen staatlich festgelegter Interessen, Einschränkungen oder gar Abschottungstendenzen, gegen die Ohnmachtserklärungen der Mächtigen und gegen den Meinungsstrom der Mehrheit, Flüchtlingshilfe auf unbürokratische, grossherzige Weise effektiv geleistet wurde.
“Das gute Herz allein hat die Welt noch nie einen Schritt weitergebracht”, hatte Regina Kägi-Fuchsmann in ihrem Lebensrückblick notiert. Alle Frauen, die sich seit den dreissiger Jahren in der Flüchtlingshilfe engagierten, wussten dies. Sie gaben sich nicht mit Mitleidsgefühlen zufrieden, sondern handelten. Sie wussten, dass Absichts und Mitleidserklärungen allein nichts taugen, solange diese mit Zuschauen, statt mit Tun verbunden sind, dass für das Nichttun ebenso wie für das Tun Verantwortung besteht, dass diese Verantwortung nicht an den Staat delegiert werden konnte und kann, politische Rechte hin oder her. Sie handelten, weil sie “helfen mussten”, wie Nettie Sutro festhielt, in eigener Verantwortung, gestützt auf verpflichtende religiöse und politische Grundsätze, die niclit Theorie bedeuteten, sondern einfach gelebt wurden.
Alle Aktionsberichte, Briefe, Lebensrückblicke und Erzählungen von Zeitgenossinnen machen deutlich, dass dieses gelebte Leben sich nach zwei übergeordneten Richtlinien des Handelns ausrichtete, die miteinander verknüpft sind.
Richtlinien für das politische Handeln der Frauen
Die erste Richtlinie entspricht einem bestimmten Menschenbild, die zweite einem ethischen Grundwissen.
- Die erste bedeutet, dass e i n Menschenbild für alle Menschen gleichermassen gilt, unabhängig von Herkunft, Religion oder irgendwelchen weiteren Merkmalen, die zur Bestimmung von So und Anderssein, von Differenz, Fremdsein und Gleichsein, kurz von Identität dienen. Sie bedeutet, dass dieses Menschenbild nicht für einen selbst beansprucht werden darf, wenn es anderen Menschen abgesprochen wird. Wer dieser Richtlinie folgte, konnte von keiner rassistischen, im besonderen von keiner antisemitischen Propaganda verführt oder angesteckt werden. Dies gilt auch für die heutige Zeit.
Die zweite entspricht einer der ältesten ethischen Maximen. Sie ist sowohl in den Zehn Geboten eingeschlossen, sie findet sich in den Anfängen der europäischen Philosophie als d i e massgebliche sokratische Norm des Handelns ebenso wie als übergeordnete Handlungsanweisung in aussereuropäischen religiösen Ethiken, zum Beispiel in der buddhistischen: Dass Böses nicht durch anderes Böses zu entschuldigen ist, respektive dass es besser ist, erfahrenes Böses nicht mit Bösem zu beantworten. “Böses” bedeutet dabei ganz eindeutig menschenverachtendes Handeln, das heisst Handeln, das mit dem für alle Menschen geltenden Menschenbild unvereinbar ist.
Diese Maxime bedeutet einerseits, dass totalitäre und faschistische Propaganda erkannt und durchschaut werden konnte. Andererseits, dass es bezüglich des so verstandenen Bösen, das heisst bezüglich menschenverachtender politischer Praxis, keine Unentschiedenheit und kein Abseitsstehen, mithin auch keine politische Neutralität geben kann.
Die beiden Richtlinien bestimmten und bestimmen auch heute noch ein politisches Handeln der Eigenverantwortlichkeit und des Widerstandes gegen “bequemere” Handlungsangebote gewiss nicht allein für Frauen, sondern auch für Männer.Trotzdem muss festgehalten werden und dies gilt für die Schweiz bis zum Jahr 1971 , dass allein durch die Tatsache, dass Frauen von der politisch-rechtlichen Mitbestimmung ausgeschlossen waren, das heisst dass sie aktiv an der Ausgestaltung von Gesetzen und an der offiziellen politischen Praxis nicht teilhaben durften weil die die machthabenden Männer ein elitäres Menschenbild allein für sich beanspruchten und Frauen davon ausnahmen, dass mithin Frauen sich im eigenen Land selbst wie “Fremde” fühlten, abhängig von Männerinteressen, von Männermacht und Männerpolitik. Allein schon diese Tatsache und die damit verbundenen Erfahrungen befähigten sie in stärkerem Mass, auf aktive Weise mit den Fremden und Rechtlosen solidarisch zu sein, das heisst Flüchtlingshilfe nicht nach Massgabe der staatlichen Gesetze, sondern nach Massgabe der beiden übergeordneten ethischen Richtlinien zu leisten.
Unentgeltliche und freiwillige Flüchtlingsarbeit trotz offizieller Abwehrpolitik
Obwohl die Frauen heute die politische Verantwortung sowohl in der Wahl der Mitglieder der gesetzesbestimmenden und ausführenden Gremien mittragen, sind die effektiven politischen Verhältnisse in der Schweiz nach wie vor patriarchalisch bestimmt. Es erstaunt daher nicht, dass besonders Frauen weiterhin bereit sind, Flüchtlingshilfe gemäss ihrer Überzeugung und ihrer Eigenverantwortlichkeit manchmal auch heute noch im Widerstand gegen gesetzliche Restriktionen und Massregelungen in nach wie vor häufig freiwilligen und unentgeltlichen Einsätzen zu wagen.
Die nun folgende Übersicht kann lediglich an Hand von Beispielen das gesamthaft viel breitere und vielschichtigere Frauenengagement im Dienst der Flüchtlinge aufzeigen. Sie soll vor allem dazu dienen, die Namen nicht nur der wenigen Frauen, die der öffentlichen Erinnerung erhalten blieben, sondern zusätzlich einer Anzahl jener, die vergessen gingen, erneut ins Bewusstsein zu rufen.
Der gesetzliche Rahmen für die Aufnahme von Flüchtlingen wurde in der Schweiz während der Zwischenkriegszeit geschaffen: durch Einführung von Visumzwang und Anmeldepflicht für Ausländer und Ausländerinnen, durch die Schaffung der Eidgenössischen Fremdenpolizei sowie durch die 1924 erlassene Botschaft des Bundesrates, die die Abwehr von Fremden damals schon auf Grund einer deutlich geschürten “Überfremdungsangst” zur Grundlage der Ausländerpolitik machte. Die bundesrätliche Botschaft von 1924 war gleichsam die Rohform, aus der heraus das am 26. März 1931 durch das Parlament verabschiedete “Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer” (ANAG) entwickelt wurde, das im Prinzip bis heute gilt.
Das war die gesetzliche Situation in der Schweiz, als Adolf Hitler und die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 in Deutschland an die Macht kamen. Zwei Monate später erklärte Bundesrat H. Häberlin, die Schweiz könne für Flüchtlinge nur Transitland sein; “wesenfremde Elemente” seien abzuwehren. Diese Politik verstärkte sich trotz der zunehmenden und immer offeneren antisemitischen Hetze bis zum Kriegsbeginn 1939, dauerte im Prinzip auch während des Krieges an und wurde erst 1944 gelockert.
1936, als der Spanische Bürgerkrieg ausbrach, schlossen sich auf Grund der bedrohlichen internationalen Situation die wichtigsten 13 Hilfswerke zur “Schweizerischen Zentralstelle für Flüchtlingshilfe” zusammen. Eine der Mitbegründerinnen war der Schweizerische Zweig der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit. Im Lauf der Kriegsjahre traten zusätzliche Organisationen dem Dachverband bei, andere lösten sich wieder von ihm. Heute nennt sich der Dachverband “Schweizerische Flüchtlingshilfe” (SFH) und umfasst noch die sechs vom Bund anerkannten Flüchtlingshilfswerke Caritas, den Christlichen Friedensdienst (cfd), das Hilfswerk der Evangelischen Kirchen (HEKS), das Schweizerische Arbeiterinnenhilfswerk (SAH), das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) und den Verband der Schweizerischen Jüdischen Fürsorgen (VSJF) sowie das Liechtensteinische Rote Kreuz und den Internationalen Sozialdienst der Schweiz. Präsidentin der SFH ist augenblicklich Angeline Fankhauser, zugleich Zentralsekretärin des SAH.
Unter den vielen Frauen, die sich bei der Zentralstelle eingesetzt haben, muss die heute 92jährige Hedy Hotz genannt werden, die 1925 bis 1928 in Boston als Sozialarbeiterin ausgebildet und diplomiert wurde und die ihr ganzes Leben in den Dienst der Flüchtlinge gestellt hatte. Während sie zuerst jahrzehntelang für internationale Flüchtlingsorganisationen tätig war, leitete sie von 1955 bis 1965 die Abteilung Flüchtlingshilfe bei der Zentralstelle, als Nachfolgerin von Milly Furrer, die mit beispielhaftem Einsatz während Jahren unentgeltlich als Zentralsekretärin gewirkt hatte. Hedy Hotz sah sich, kaum ein Jahr nach ihrer Amtsübernahme, mit den Koordinationsproblemen der Unterbringung und Betreuung der über 10’000 Flüchtlinge aus Ungarn konfrontiert, für welche die Schweizer Bevölkerung eine fast unbegrenzte Aufnahmebereitschaft zeigte. Auch die kleinen Gruppen tibetischer Flüchtlinge, die Anfang der sechziger Jahr in die Schweiz einreisen durften und für deren Integration sie mitverantwortlich war, wurden wohlwollend aufgenommen.
Von der Spanienhilfe der Arbeiterbewegung zur Rot-Kreuz-Kinderhilfe
Doch blenden wir wieder in die dreissiger Jahre zurück. Von Beginn des Spanischen Bürgerkriegs an suchte Regina KägiFuchsmann, eine sozialistisch und feministisch engagierte Lehrerin, Tochter litauischjüdischer Emigranten, die 1933 das Sekretariat des Proletarischen Kinderhilfswerks übernommen hatte (aus dem das Schweizerische Arbeiterhilfswerk (SAH) entstand, das sie bis 1952 leitete), gemeinsam mit sozialistischen Frauengruppen, für die Kinder im republikanischen “Lager” Hilfe zu organisieren. Schon damals stellte man sich die Frage, die bis heute die Verantwortlichen in den Hilfswerken beschäftigt: obes zu verantworten sei, die Kinder von den Müttern zu trennen, sie aus Schutzgründen in fremde Länder und Kulturen zu versetzen. Im Fall der spanischen Kinder entschied Regina Kägi-Fuchsmann, dass es besser sei, sie in weniger gefährdeten Landesteilen in Kinderheimen unterzubringen und sie von der Schweiz aus zu versorgen. Von Anfang an fanden sie und der gemeinsam mit ihr arbeitende Fritz Wartenweiler Unterstützung beim Caritasverband, bei den Quäkern, bei der “Centrale sanitaire” und beim schweizerischen Zweig des Internationalen Zivildienstes. Dank der Inititative des Sekretärs des letzteren, Rodolfo Olgiati, Iiess sich ein Zusammenschluss mit der von Regina Kägi-Fuchsrnann geleiteten Hilfsaktion finden. So wurde die “Ayuda Suiza” gegründet, die während drei Jahren vielfältigste Hilfe leistete, unter anderem Tausende von Kindern und Müttern mit speziellen (von Karl Ketterer entwickelten) Camions aus bombardierten Städten evakuierte. Aus der “Ayuda Suiza” entwickelte sich unter der Initiative der gleichen Persönlichkeiten ab Januar 1940 die “Arbeitsgemeinschaft für kriegsgeschädigte Kinder”, die anfänglich 14, schliesslich 21 Schweizerische Hilfswerke einschloss und die in Frankreich unter anderen Hilfstätigkeiten ein Säuglingsheim und mehrere Kinderheime betrieb, in denen während der Kriegsjahre über 10’000 Kinder Aufnahme fanden, die in den südfranzösischen Konzentrationslagern von Gurs, Recebedou und Rivesaltes sich um die Kinder kümmerte, die in mehreren französischen Städten mit fliegenden Kantinen die zunehmende Mangelernährung der Kinder zu korrigieren suchte, die auch Kinderflüchtlinge aus Polen und Finnland, die in Litauen eine vorläufige Aufnahme fanden, unterstützte, die schliesslich die drei bis sechsmonatigen Ferienaufenthalte für besonders bedürftige und gesundheitlich gefährdete Kinder insbesondere aus Frankreich, aber auch Belgien, Luxemburg, Österreich, Ungarn und Serbien in Schweizer Familien organisierte. Regina KägiFuchsmann bereiste selbst die kriegführenden und von den Nazis besetzten Länder, um zu wissen, wo und für wen Hilfe am dringendsten nötig war. Im französischen Pyrenäenlager Gurs wohnte sie erschüttert einem Freitagabendgottesdienst elsässischer jüdischer Deportierter bei. Unter ihren zahlreichen mutigen Mitarbeiterinnen sind Anna Siemsen, Christine Ragaz und insbesondere Elsbeth Kasser zu erwähnen. Elsbeth Kasser war während dreier Jahre im KZ von Gurs, in diesem trostlosen Wartelager vor der Deportation in die Vernichtungslager, für die jüdischen Kinder tätig, für die sie in einer der fensterlosen Baracken ein Schulzimmer einrichtete und für die sie im sumpfigen Gelände Blumen pflanzte. Sie wurde “der Engel von Gurs” genannt. Später holte sie mitten im Bombenhagel Kinder aus französischen Städten heraus, um sie für Ferienaufenthalte in die Schweiz zu bringen.
Auf Grund der wachsenden, kaum mehr zu lösenden Aufgaben fusionierte im Dezember 1941 die “Arbeitsgemeinschaft” mit dem Schweizerischen Roten Kreuz zur “Rot-Kreuz-Kinderhilfe” zusammen, die sich fortan auf die Unterstützung der Landesregierung und der gesamten Schweizerbevölkerung abstützen sollte, damit den wachsenden Erfordernissen der Unterbringung von Kindern, der Kleider und Nahrungsmittelhilfe entsprochen werden konnte. Zwar konnte auf diese Weise tatsächlich ein umfassendes Hilfsnetz aufgebaut werden, von dem auf die eine oder andere Weise Hundertausende von Kindern profitieren konnten; allein · zwischen dem 16. September und dem 10. November 1944 reisten 14’000 Kinder und 2’000 Mütter aus Frankreich, sowie rund 1000 Kinder aus dem italienischen Val d’Ossola ein. Die Kinderflüchtlingshilfe war allerdings seit der Gründung der “Kinderhilfe” der Kontrolle und Einmischung des Bundesrates ausgesetzt, der auf Grund einer häufig ängstlich und kleinlich. verstandenen Neutralitätspolitik sich nicht gegen die antijüdischen Massnahmen der deutschen Besatzungsmacht in Frankreich querstellen wollte und die Einreise jüdischer Kinder zuerst verbot, dann zögernd, in Ausnahmefällen, zuliess. Beim Aufbau der “Kinderhilfe” hatten Clara Nef und Frau Martig grosse Verdienste, nicht zuletzt durch ihre offene Kritik an den Männern an der Spitze des Roten Kreuzes, denen insbesondere Clara Nef vorwarf, in erster Linie das Prestige der Institution im Auge zu haben statt die Dringlichkeit der Aufgabe selbst. “Es sind grösstensteils ältere ‘Semester’, manche etwas verknöchert, manche in ausgefahrenem Geleise arbeitend, konservativ; allem neuem mit Misstrauen begegnend, nicht beweglich genug, um eine neue Aufgabe mit Vehemenz aufzugreifen”.
An der Spitze der RotKreuzKinderhilfe standen also diese von Clara Nef zum Teil heftig kritisierten Männer, im operationellen Bereich aber waren während des ganzen Kriegs Hunderte von Frauen tätig, zum Teil mit übermenschlichem Einsatz, so etwa Odette Micheli, die in der besetzten Zone, und Frau Morax, die in der unbesetzten Zone Frankreichs zuerst die “Arbeitsgemeinschaft”, dann die “Kinderhilfe” koordinierte, Schwester Rosa Naef, die das Kinderheim von La Hille leitete und sich unentwegt für die Rettung der ihr anvertrauten jüdischen Kinder einsetzte, ebenso wie Frau Homel und Fräulein Farny im Heim von St Cergues, die es gefährdeten jüdischen Jugendlichen ermöglichten, in der Gegend von Genf schwarz über die Schweizer Grenze zu gelangen.
Das Hilfswerk für Emigrantenkinder Fraueninitiative auf allen Ebenen
Schon Jahre bevor es zum Zusammenschluss der “RotKreuzKinderhilfe” kam, hatten sich kleinere Hilfsorgansiationen um die Kinderflüchtlingshilfe gekümmert und setzten diese Aktivität auch innerhalb des Dachverbands eigenständig fort. Eine Organisation, die sich fast ausschliesslich auf Fraueninitiative abstützte, war das schon 1933 durch die Historikerin Nettie Sutro und zwanzig Frauen aus Zürich gegründete “Cornite suisse d’aide aux enfants d’emigrés”, das sich wenig später “Schweizer Hilfswerk für Emigrantenkinder” (SHEK) nannte. Anlass zur Gründung des Werks war der erschütternde Bericht einer Französin über die Elendsverhältnisse, in denen die aus Deutschland emigirierten Menschen insbesondere die Kinder in Paris lebten. In kurzer Zeit war nicht nur in Zürich, sondern in zehn weiteren Städten eine eigene Sektion tätig, die für die Finanzierung, für die Unterbringungsmöglichkeiten, für die Betreuung und die Weiterreise der Flüchtlingskinder verantwortlich war. Das Zentralsekretariat in Zürich wurde durch Nettie Sutro selbst geleitet, die 1952, fünf Jahre nach Auflösung SHEK, einen genauen Bericht über dessen grosse vernetzende Hilfstätigkeit veröffentlichte. Sie hält fest, dass von 1933 bis 1939 rund 5000 Emigrantenkindern vorübergehend durch das SHEK geholfen wurde. Nach dem l.September 1939 reisten 4868 Kinder illegal oder legal in die Schweiz ein und wurden durch das SHEK betreut. 4145 von ihnen waren 1947 wieder ausgereist.
Eine der engsten Mitarbeiterinnen seit 1940, Liselotte Hilb, lebt heute noch in Zürich. Sie erinnert sich der Namen vieler der in den Sektionen verantwortlichen Frauen, wobei die Zahl derjenigen, die sich als Mitarbeiterinnen engagiert hatten und zum grössten Teil unentgeltlich arbeiteten, viel grösser war. Sie erwähnt in Baden Frau EicheleDune, in Basel Georgine Gerhard und Frau Reintje, in Bern Frau Grütter, in La ChauxdeFonds Madame Ullmann, in Genf Bertha von Hohermut sowie die heute noch tätige Elisabeth Bertschi, in Luzern Frau Sachs und Frau Triner, in Lausanne Madame Dreyfus, in St. Gallen Dora Rittmeyer, im Tessin Doris Hasenfratz, in Winterthur Frau Bachmann, in Zürich noch Frau Monakoff, Frau Gonzenbach und insbesondere Marguerite Bleuler, die gegen den Antisemititsmus ihrer aristokratischen Familie antrat und zur “Zionistin des SHEK” wurde.
Liselotte Hilb setzte sich auch nach Auflösung des SHEK für Flüchtlinge und Vertriebene ein, und zwar im Rahmen der Schweizerischen Europahilfe (Nachfolgeorganisation der Schweizer Spende), zuerst auf dem Sekretariat in Bern, dann als Delegierte in Griechenland, mit Unterbrüchen bis 1959. (Die Schweizer Europahilfe war 1948 durch Regina KägiFuchsmann, die Zentralsekretärin des Schweizer Arbeiterhilfswerks SAH, gemeinsam mit Pfarrer Hellstem, der sei 1946 das Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz HEKS leitete, gegründet worden. Unter den vielen Mitarbeiterinnen erinnert sich Liselotte Hilb insbesondere an Rosa Leutenegger, die unvermittelt, mitten aus der Arbeit heraus, an Krebs starb.
Die Tausenden von Schweizer Frauen, die angesichts der Not bereitwillig Kinder für kürzere oder längere Zeit in ihre Familien aufnahmen, müssen an dieser Stelle erwähnt werden. Kein einziges Hilfswerk hätte ohne deren Grossherzigkeit Hilfe realisieren können. Immerhin konnten während des Kriegs rund 60’000 Kinder vorübergehend für einen Erholungsaufenthalt oder für längere Zeit in die Schweiz einreisen.
Geheime Adressen und Unterschlupfmöglichkeiten
Wenn schon die Hilfe für die Kinderflüchtlinge trotz der Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung und trotz der offiziellen Zustimmung nur gegen grosse Hindernisse zu realisieren war, so war die Hilfe an die erwachsenen Flüchtlinge noch um ein Vielfaches erschwerter. Die offizielle Politik des Bundesrates war offen antisemitisch. Nach dem Anschluss Österreichs an Deutschland am 12. März 1938 erliess Heinrich Rothmund, der Chef der Eidgenössichen Fremdenpolizei, die Weisung, Menschen mit deutschen, tschechoslowakischen und ungarischen Pässen, die “wahrscheinlich” jüdisch seien, zurückzuweisen; Anfang Oktober führte die Schweiz den JStempel ein. Ein Jahr später, unmittelbar nach dem Einmarsch Hitlers in die Tschechoslowakei, auf den wenige Monate später die Besetzung Polens folgte, erliess die Fremdenpolizei die Weisung, dass alle illegal eingereisten Ausländer und Ausländerinnen sofort in ihr Herkunftsland auszuschaffen seien. Während der Kriegsjahre wurden gemäss offiziellen Zahlen gegen 10’000 Flüchtlinge an der Grenze zurückgewiesen; tatsächlich waren es wohl sehr viel mehr. Diejenigen, denen es trotzdem gelang, sich über die Schweizer Grenze in vorläufige Sicherheit zu bringen, bedurften eines Notlagers, Kleider und warmer Mahlzeit, Papiere und Geld zur Weiterreise. Anna Elisabeth OttMarti, die im Zürcher Friesenbergquartier aufwuchs und die später zur grossen Kennerin tibetischer Flüchtlingsschicksale wurde, erinnert sich, wie bei ihnen zu Hause nachts nie die Haustür geschlossen war, wie sie jeden Morgen als Kind jemanden auf dem Lager vorfand, der auf geheimen Wegen aus Deutschland, Österreich oder Italien in die Schweiz gelangt war, sich in einem der kleinen Genossenschaftshäuser versteckte und eines Nachts wieder verschwand. Die Adressen der ungezählten Unterschlüpfe überall in der Schweiz, im Jura, in der Gegend von Genf, Basel und Schaffhausen ebenso wie in den grösseren Städten wurden auf geheime Weise immer wieder den hilfebedürftigen Flüchtenden zugespielt. Eine der wichtigen Adressen unter vielen waren auch, in Zürich, Alice Valangin und Vladimir Rosenbaum sowie Emmi Oprecht und ihr Mann Emil Oprecht, die sich unentwegt für Hilfesuchende, insbesondere für verfemte und verfolgte Schriftstellerinnen und Schriftsteller einsetzten.
Die jüdische Flüchtlingshilfe
Auf die jüdischen Gemeinden der Schweiz kam seit 1933 eine kaum zu bewältigende Aufgabe zu. Die zentrale Verantwortung für die Betreuung, Unterbringung und Weiterreise jüdischer Flüchtlinge oblag ab jenem Jahr dem Verband Schweizerischer Israelitischer Armenpflegen (VSJA), der von 1943 an Verband Schweizerischer Jüdischer Flüchtlingshilfen (VSJF) genannt wurde. Um zu erwirken, dass möglichst vielen Verfolgten in der Schweiz vorübergehendes Asyl geboten werden konnte, erklärte der Schweizerische Israelitische Gemeindebund SIG den Behörden gegenüber, dass sie ihr Flüchtlingshilfswerk mit Hilfe des JOINT selbst finanzieren würden, ohne staatliche Mittel zu beanspruchen. Zu Beginn des Jahres 1939, noch vor Ausbruch des Kriegs, behauptete Heinrich Rothmund, es hielten sich etwa 3000 mittellose Jüdinnen und Juden in der Schweiz auf, für die der SIG monatlich rund 250’000 Franken aufzubringen habe. Bis 1942 wurden diese Verfolgten Emigranten und Emigrantinnen genannt, erst nach 1942 wurden sie als Flüchtlinge bezeichnet. Von diesem Zeitpunkt an erhielten sie auch eine individuell unterschiedliche Beitragsleistung durch den Staat, für deren Auszahlung aber ein unendlicher Papierkrieg notwendig war.
Ende Juli 1942, als der Bundesrat auf Grund eines Berichts von Robert Jezler, dem Stellvertreter Heinrich Rothmunds, schon Kenntnis von den Vernichtungslagern im Osten hatte, wurde trotz der Warnungen Jezlers die vollständige Schliessung der Schweizer Grenzen angeordnet. Damals befanden sich weniger als 10’000 Zivilflüchtlinge in der Schweiz, auch diese nur als Transitflüchtlinge.
Laut einer sorgfältigen Zusammenstellung der Flüchtlingszahlen hielten sich während des Kriegs für kürzere oder längere Zeit insgesamt etwa 300’000 Schutzsuchende in unserem Land auf, darunter 105’000 Internierte; etwa 55’000 waren Zivilflüchtlinge im engeren Sinn, ungefähr 10’000 gehörten zur Gruppe der Emigranten und Emigrantinnen. Die grösste Anzahl zugleich in der Schweiz anwesender Flüchtlinge wurde im Mai 1945 gezählt; es waren rund 115 ‘000 Menschen. Beim VSJF waren 1944 23 ‘000 Emigranten, Emigrationen und Flüchtlinge notiert, von denen 11 ‘000 teilweise oder voll unterstützt wurden.
Während die Namen der verdienstvollen Männer an der Spitze der jüdischen Flüchtlingshilfe Saly Braunschweig, Silvain Guggenheim, Erwin Hüttner und Saly Mayer bekannt sind, gingen jene der Frauen, ohne deren Einsatz die Arbeit nicht zu bewältigen gewesen wäre, zumeist vergessen.
Eine der bedeutenden Zeuginnen jener Zeit ist Edith Zweig-Weiss. Sie selbst gelangte im Dezember 1943 mit ihrer Tochter illegal über die verschneiten Berge bei Poschiavo in die Schweiz, kannte die überfüllten Auffanglager, die Arbeitslager, die demütigenden Kontrollen und alle übrigen Bedingungen eines Flüchtlingslebens. “Wir nahmen alles in Kauf, überglücklich, ‘dem dort’ entronnen zu sein”, sagt sie. Dank der im VSJF engagierten Helly Dreyfuss konnte Edith Zweig für die Jüdische Flüchtlingshilfe arbeiten. Die Leitung der gesamten Fürsorgearbeit oblag damals der 1938 noch legal aus Deutschland eingereisten Sozialarbeiterin lrene Eger. Nach deren Tod übernahm Edith Zweig die Leitung bis zum Jahr 1984. In ihrer Nachfolge ist nun Yolanda Gross tätig, die 1968 nach dem Zusammenbruch des “Prager Frühlings” aus Bratislava in die Schweiz gelangte. “Von den vielen Tausenden von Flüchtlingen, für die ich verantwortlich war, nach den jüdischen die ungarischen, die tschechoslowakischen, die vietnamesischen, gab es keinen, den ich nicht selbst kannte und von dem ich nicht wusste, wie er lebte”, erklärt Edith. Unter vielen anderen, die sich für die vertriebenen und zum Teil seelisch und körperlich kranken Menschen einsetzten, muss Marianne Lothar-Kater erwähnt werden, die, selbst aus Deutschland geflüchtet, sich vor allem um spanisch sprechende kommunistische Flüchtlinge kümmerte und die später nach Santo Domingo weiterreisen musste, da auch für sie die Schweiz nur Transitland war, ebenso Betty Schwarz, die in Eigeninitiative koschere Mahlzeiten an die kranken Flüchtlinge in den Spitälern verteilte und verteilen liess, auch die heute noch in Genf lebende Alida de Jager. Wie Edith Zweig waren viele der in der Flüchtlingshilfe aktiven Frauen selbst als Flüchtlinge in die Schweiz gelangt. Nicht zuletzt als Übersetzerinnen leisteten sie wichtige Dienste, so etwa Janina Kapcynska, die 1944 in die Schweiz kam und seither bis heute unentgeltlich als Übersetzerin aus dem Polnischen wirkte, ebenso Sonja Baranovska oder Halszka Vincenz Pontiatovska.
Hilfe über die konfessionelle Zugehörigkeit hinaus
Alle Religionsgemeinschaften setzten sich gegen das Unrecht von Krieg und Rassenverfolgung ein, in einer grossen Anzahl von kleinen und grossen konfessionellen und überkonfessionellen Flüchtlinghilfswerken. Während der Schweizerische Caritasverband (später Caritas Schweiz) sich vor allem um die katholischen Flüchtlinge kümmerte und die Evangelische Flüchtlingsfürsorge (später Teil des Hilfswerks der Evangelischen Kirchen HEKS) um die protestantischen, waren die religionslosen, die muslimischen und orthodoxen Flüchtlinge ohne spezielle Betreuung, bis 1945 die “Kommission für orthodoxe Flüchtlinge” (KoF) gegründet wurde, die später, unter dem Patronat der Christkatholischen Kirche, zur “Schweizerischen oekumenischen Flüchtlingshilfe” (SoeF) wurde. Jahrzehntelang, bis zur Auflösung des Werks im Jahre 1992, setzte sich in dessen Leitung die Puschlaverin Silvia PlüssPozzi ein, während langer Zeit unterstüzt durch Heidi Wiesner und Milly Furrer. Silvia PlüssPozzi und Milly Furrer waren auch in der Leitung des Zentralsekretariats der SFH jahrelang tätig gewesen.
Schon Ende 1938 konstitutierte sich für diese gemischte Gruppe von Flüchtlingen unter der Leitung von Gertrud Kurz das Flüchtlingshilfswerk der Kreuzritter, das sich später Christlicher Friedensdienst (cfd) nannte. In ungezählten Interventionen bei den Behörden versuchte Getrud Kurz, Hunderte, wenn nicht Tausende von Menschenleben zu retten, ohne dass sie jedoch offen gegen die unmenschliche Abschottungs und Rückschaffungspolitik der Regierung Stellung bezogen hätte. Sie stellte Autorität grundsätzlich nicht in Frage wie die meisten der aus religiösen Gründen in der Flüchtlingshilfe aktiven Frauen. Dies führte zu einer Sowohl-als-Auch-Haltung zwischen Widerstand und Zusammenarbeit mit den Behörden, von denen sie im Willen zur Zusammenarbeit auch missbraucht wurde etwa als Botengängerin für unangenehme und unerfreuliche offizielle Mitteilungen an die Flüchtlinge. Diese Haltung fand nach dem Krieg nicht nur Verständnis. Dass Gertrud Kurz nicht grundsätzlich die staatliche offen antisemitische Flüchtlingspolitik in Frage stellte, wurde ihr zum Teil vorgeworfen, jedoch nicht nur ihr, sondern den meisten Verantwortlichen der Hilfswerke.
“In den Vorständen sassen die Männer, die Frauen machten die Arbeit”
“In den Vorständen sassen die Männer und befahlen, die Frauen machten die Arbeit”, sagte mir lachend eine meiner betagten Interviewpartnerinnen. Dies galt vor allem für die grossen konfessionellen Flüchlingsorganisationen, ganz besonders auch für den Schweizerischen Caritasverband und die Flüchtlingsfürsorge der Evangelischen Kirchen. Im Hintergrund standen die religiösen Frauenverbände, deren Mitglieder bei der wochen- und monatewährenden Aufnahme und Betreuung der Kinder überall im Land Grosses leisteten, ebenso mit Kleidersammeln, Stricken und Backen und Liebesgabenpaketen an die internierten Flüchtlinge. Frau Wehrle-Keckeis vom Schweizerischen Katholischen Frauenbund unterstützte zum Beispiel namhaft die Gründung und den Aufbau der Rot-Kreuz-Kinderhilfe. Bei meinen Nachforschungen stiess ich wohl auf einige Namen von Frauen, doch gab es mit Sicherheit bedeutend mehr, die sich mit selbstlosem Einsatz hervortaten. Beim Caritasverband muss insbesondere Marianne Gottlieb erwähnt werden, die, wie sie selbst erzählte, in der Nachfolge von Fräulein Studer und Anna Gutzwiller von 1944 an, gleich nach ihrem Diplom als Sozialarbeiterin, die Caritas-Kinderhilfsteile leitete, welche später in die Familienhilfe integriert wurde. Marianne Gottlieb, die im besonderen auch Adoptionen betreute, lebt heute noch in Zürich. Sie berichtet, es seien vor allem Kinder aus dem Elsass und aus Domodossola gewesen, die einerseits in Zusammenarbeit mit der Rot-Kreuz-Kinderhilfe, andererseits mit dem Seraphischen Liebeswerk in Zug, wo Gusti Kaufmann bei der Betreuung von Flüchtlingskindern Bedeutendes leistete, vor allem in katholischen Kinderheimen untergebracht worden seien. Hedy Mäder leitete eine Weile die CaritasFlüchtlingshilfe in Luzern, sodann war Clara Reust, Glarus, während Jahren für die Flüchtlingshilfe tätig. Dreiunddreissig Jahre lang, von 1959 an, setzte sich Virginia Geiser für CaritasZürich ein. Auch sie kann selbst noch befragt werden, über die Aufnahmeaktionen für Flüchtlinge aus dem Tibet in den frühen sechziger Jahren, über die willkommenen Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei im Jahre 1968, über die Aufnahme von 200 Flüchtlinge indischer Herkunft aus Uganda während der Schreckensherrschaft Idi Amins, über die Schwierigkeiten mit den Bundesbehörden bei der Aufnahme chilenischer Flüchtlinge nach dem Militärputsch gegen Präsident Allende, über das Elend der vietnamesischen “Boatpeople”, der kambodschanischen und laotischen Flüchtlinge, von denen die Schweiz zwischen 1976 und 1980 insgesamt etwa 8000 aufnahm.
Etwa um die gleiche Zeit, Mitte der fünfziger Jahre, begann auch Johanna Gamsjäger für die CaritasFlüchtlingshilfe zu arbeiten, sie auf der Zentralstelle in Luzern. Sie war damals etwas über zwanzig Jahre alt, heute ist sie 65. Sie hat ihr ganzes aktives Leben für die Entwurzelten und Heimatlosen eingesetzt. “Es waren tausend Schritte nötig, auf allen Ebenen”, sagt sie. Viele Kantone hätten sich geweigert, Flüchtlinge zu integrieren, aus Angst, sie nicht mehr loszuwerden.
Frauenarbeit im Dienst der Flüchtlinge heute
Heute sind die Schwierigkeiten nicht geringer, im Gegenteil. In dringenden Notsituationen, wie etwa zu Beginn des noch immer wütenden Kriegs in BosnienHerzegowina, war innerhalb der Bevölkerung ein starker Wille zu helfen spürbar. Doch gleichzeitig werden die Stimmen, die “das Boot ist voll” schreien, immer lauter. Immer noch leisten Frauen überall in der Schweiz als Freiwillige grosse Arbeit, ob bei Freiplatzaktionen, bei der privaten Betreuung von Flüchtlingen (zum Teil auch von solchen, denen Ausweisung droht und die versteckt werden), in örtlichen Basisgruppen, die sich bei der Beratung von Asylsuchenden und Flüchtlingen engagieren, oder innerhalb der SFH, wie etwa die Koordinatorinnen des jährlich stattfindenden Flüchtlingstags, so, unter vielen anderen, Verena Zindel aus Graubünden, Pia Püntener aus dem Aargau, Vreny Mohr aus Bern, Elke Baliarda aus dem Appenzell oder Josi Weber Hausheer aus Luzern, sodann als Leiterinnen und Betreuerinnen in kantonalen und hilfswerkseigenen Durchgangszentren. Während eines knappen Jahres 1991/92 arbeitete Regula Renschler als Zentralsekretärin der SFH. Deren Präsidentin ist, wie oben schon erwähnt, Angeline Fankhauser, die zugleich als Zentralsekretärin des ArbeiterInnenhilfswerks und als Nationalrätin für eine weitherzige Flüchtlingspolitik wirkt. Beim HEKS leitet Rosmarie Oetiker das Zentralsekretariat. Präsidentin des VSJF ist Myrthe Dreyfuss, und Gaby Rosenstein ist unentgeltlich als Leiterin der jüdischen Flüchtlingshilfe tätig. Beim cfd nehmen Carmen Jud und Madeleine Strub die leitenden Funktionen an der Spitze des Hilfswerks ein, und Franziska Läderach steht der Flüchtlingsbteilung vor. Bei der CaritasZentrale ist heute Barbara Walther in leitender Funktion für die Unterbringung und Betreuung von Asylsuchenden tätig. Auch bei kleineren Organisationen, die nicht der SFH angeschlossen sind, sind in der Flüchtlingsarbeit Frauen an (Basel) oder die Nationalrätin Leni Robert als Präsidentin der Stiftung Pestalozzidorf.
Für Frauen und Männer, die sich heute in der Flüchtlingshilfe einsetzen, wird das Klima immer härter. In über 50 Ländern der Welt finden Kriege statt, die Verelendung, politische Desintegration und nationalistische Aufhetzung in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion nimmt auf beängstigende Weise ständig zu. Hunger, Arbeitslosigkeit und politische Gewalt in den Ländern der Dritten Welt bewirken, dass Millionen von Menschen unterwegs sind, zwischen Heimat und nirgendwo. Das UNHCR rechnet, dass weltweit etwa 30 Millionen Menschen als Flüchtlinge Hilfe brauchen. Die Aufnahme und Hilfsbereitschaft in den Ländern der westlichen Hemisphäre, so auch bei uns, wird jedoch infolge der zunehmenden wirtschaftlichen Probleme immer kleiner, und kurzsichtig chauvinistische und gefährliche rassistische Tendenzen nehmen wieder überhand.
Es müssten sich die gescheitesten, erfahrensten und innovativsten Denkerinnen und Denker mit den verantwortlichen politischen Entscheidungsträgerinnen und trägern zusammensetzen, um Handlungskonzepte zu entwickeln, mit denen den Ursachen für Krieg, Gewalt und äusserste Verarmung entgegengewirkt werden könnte, damit Heimatlosigkeit, Entwurzelung und Fürsorgeabhängigkeit nicht mehr das Schicksal von Millionen von Menschen wäre. Wenn nicht, wird die weltweite Zukunftperspektive zum Albtraum.
Bibliographie:
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Carl Ludwig. Die Flüchtlingspolitik der Schweiz in den Jahren 1933 bis 1955. Bericht an den Bundesrat zuhanden der Eidgenössischen Räte.
Marksteine. Schweizerische Zentralstelle für Flüchtlingshilfe (SFH) 1936 1986. Chronologie von Irina Lerch-Bortoli, Textbeiträge u.a. von Silvia Plüss-Pozzi und Edith Zweig.
Anna Elisabeth Ott-Marti, Tibeter in der Schweiz. Kulturelle Verhaltensweisen im Wandel. Eugen Rentsch Verlag. ErlenbachZürich 1971
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Silvia Plüss-Pozzi. Vierzig Jahre im Dienst der Flüchtlinge in der Schweiz 1945 1985. Bericht der Schweizerischen Oekumenischen Flüchtlingshilfe. SoeF Bern 1985
Esther Schärer. Croix-Rouge Suisse, Secours aux Enfants en France 1942 1945. Memoire de licence en histoire nationale, Université de Geneve 1986 (unveröffentlicht)
Rolf Schlatter. Kirchliche Stellungnahmen zur Flüchtlings und Asylproblematik in der Schweiz 1939 1989. Akzessarbeit in Sozialethik, Theologische Fakultät der Universität Zürich 1990 (unveröffentlicht)
Streitfall Friede. Christlicher Friedensdienst 1938 1988. 50 Jahre Zeitgeschichte. Mit Textbeiträgen u.a. von Catherine Boss und Simone Chiquet. cfd Bern 1988
Nettie Sutro. Jugend auf der Flucht 1933 1948. Europa-Verlag. Zürich 1952